Читать книгу Solange die Löwen nicht schreiben lernen - Christoph Keller - Страница 6

Solange die Löwen nicht schreiben lernen Poetikvorlesungen 2020 der Universität St. Gallen

Оглавление

Herzlich willkommen zum Eröffnungsvortrag der öffentlichen Poetik- und Literaturvorlesungen der Universität St. Gallen. Ich bedanke mich, dass ich eingeladen worden bin, und ich bedanke mich, dass Sie gekommen sind. Das ist nicht selbstverständlich – die Zeiten sind pandemisch, es braucht etwas Mut. Trauen wir uns diesen zu, tragen wir uns Sorge, indem wir respektvoll Abstand halten, und an jene denken, denen es nicht möglich ist, hier zu sein, die uns aber über Livestream von zu Hause aus folgen. Es sind schwere Zeiten, für mich auch privat: Ich möchte diese Vorlesungen meinem kürzlich verstorbenen Bruder Michael widmen.

Drei Abende gilt es, hier zu sein, sichtbar und unsichtbar. Ich stelle mir diese in etwa so vor – halt! «In etwa» deutet bereits einen meiner literarischen Tricks an, jenen der Abschweifung – nochmals halt! Warum so salopp «Trick» sagen und nicht etwa, wie es sich bei einer or­­dent­lichen Vorlesung gehört: «literarisches Verfahren»? Weil Schriftsteller, halten sie etwas auf sich, Trickster sein müssen, keine, welche die Buchhaltung fälschen, sondern ­solche, die das Leben mit Tricks aufmischen, verfälschen, also möglicherweise verbessern, und neu, also besser, anrichten, wie es diese in zahllosen Mythologien anzutreffende Figur tut – und die deshalb so geliebt wird, weil ihr spielerisch nicht ganz zu trauen ist – ah!, geliebt werden will der Herr Schriftsteller auch noch: Fällt ihm keine bessere Methode ein, Freundinnen und auch gleich Feinde zu gewinnen als – aber ich schweife ab.

Doch darum, ums schelmische Erzählen, wird es heute Abend am Beispiel einiger meiner Romane und anderer erzählender Werke gehen – mit Ab­­schweifungen, Tricks und hoffentlich einigen gut abgehangenen Erkenntnissen und anderen Überraschungen.

Noch eine Vorbemerkung. «Freundinnen und auch gleich Feinde»: Sie haben es gemerkt, mir liegt daran, gendergerecht zu sein. Man und frau und auch manfrau und fraufrau mögen mir verzeihen, gelingt mir nicht immer die beste Lösung. Das Gendersternchen, den Dop­pelstrich oder andere aus dem Text ragende Zeichen möch­­te ich vermeiden und es mit ausgleichender Gen­dergerechtigkeit versuchen, hier weiblich, dort männlich, abwechselnd. Was allerdings zu problematischen Fällen führen kann: «Vielleicht müssen Schriftsteller Narzisstinnen sein.» Ich werde mein Bestes tun, die guten und schlechten Rollen gendergerecht fair zu verteilen, gibt es doch von allen alle: ruchlose Helferinnen, selbstlose ­Mörder.

Doch richtig ist richtig. Wer, wie zum Beispiel die «Stu­dentenschaft» der Universität St. Gallen, das un­belehr­bar anders sieht, liegt historisch falsch. Ihnen empfehle ich das Gedicht «Mythos» der amerikanischen Lyrikerin Muriel Rukeyser, der Gleichberechtigung in Leben und Werk Sauerstoff war.

Noch lange wanderte Ödipus herum, alt und geblen­det. Ein Geruch kam ihm vertraut vor. Es war die Sphinx. ­Ödipus sagte: «Ich möchte eine Frage stellen. Weshalb habe ich meine Mutter nicht erkannt?» «Du hast die falsche Antwort gegeben», sagte die Sphinx. «Aber das war es doch, was alles möglich gemacht hat», sagte Ödipus. «Nein», sagte sie. «Als ich fragte: Was geht morgens auf vier ­Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei, da hast du gesagt: Mann. Von Frau hast du nichts ge­­sagt.» «Wer Mann sagt», sagt Ödipus, «meint Frau stets mit. Das ist doch sonnenklar.» «Das glaubst ­vielleicht du», sagte sie.

Solange die Löwen nicht schreiben lernen

Подняться наверх