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Ohne die Fähigkeit, der Gesellschaft immer wieder Wut- oder Schmerzensschreie zu entlocken, kann Theater einpacken

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Im März 1998 erhielt der Schauspieler Josef Bierbichler den Gertrud-Eysoldt-Ring 1997. Die mit 20 000 DM verbundene Ehrung ist der höchstdotierte Schauspielerpreis im deutschsprachigen Raum und wird auf Vorschlag der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste vergeben. Bierbichler bekam den Ring unter anderem für seine Darstellung des Kasimir in Horváths KASIMIR UND KAROLINE (Regie: Christoph Marthaler).

Im Folgenden seine Rede anläßlich der Preisverleihung im Parktheater von Bensheim in vollständigem Wortlaut:

Ich bedanke mich bei der Stadt Bensheim für das Preisgeld, ich danke der Akademie der Darstellenden Künste für den kunstvoll gearbeiteten Ring, und ich bedanke mich bei der dreiköpfigen Jury für ihre Entscheidung zu meinen Gunsten. Insgesamt danke ich allen für alles. Ich habe lange genug Bauernarbeit gemacht, um zu wissen, daß Ernten mehr Mühe macht als Säen. Da bin ich vielleicht nicht eitel genug. So bin ich jetzt hier, um einen nicht unbeträchtlichen Geldbetrag in Empfang zu nehmen, und dieser Geldbetrag scheint so etwas wie die Mitgift für die eigentliche Zeremonie, den Ringtausch, zu sein. Ich stehe vor der Vermählung mit der Stadt Bensheim und vor der Akademie der Darstellenden Künste als der Kupplerin. Aber weder die Stadt noch ich wissen, ob wir uns überhaupt mögen, und da beginnen die Mühen des Erntens.

Im Schreiben des Bürgermeisters, Herrn Stolle, in dem er mich zum Preis beglückwünschte, werde ich auch mit einem offenbar zentralen Bestimmungssatz des Preisstifters Ringelband vertraut gemacht, »daß mit diesem Preis das Ansehen des Schauspielerstandes, das durch Skandale zweitklassiger Vertreter herabgewürdigt wird, gehoben werden soll«.

Jeder Orden ist ein Fangstrick, das weiß ich nicht als Erster, und viele Spitzfindigkeiten sind schon erdacht worden, um der Schlinge wenigstens verbal auszukommen. Aber in diesem Fall muß ich die Einladung des Bürgermeisters so lesen, daß mit dem Glückwunsch auch eine gewisse Verhaltensempfehlung gegeben wird. Und dazu mag ich ein paar Sätze sagen.

Letztes Wochenende hat einer der diesjährigen Juroren, Professor Everding, in München ein Symposium organisiert, bei dem die Frage diskutiert wurde: »Gewalt, Blut und Sperma: Darf Theater alles?« Ein paar skandalöse Fachleute waren geladen und anwesend, von Hochhuth über Kresnik zu Schleef, und nur der momentan skandalöseste – Schlingensief – blieb aus. Jeder der genannten Herren darf als erstklassiger Vertreter seines Fachs gesehen werden, und jeder der Herren hat mindestens einmal in seinem Berufsleben für ein Bühnenereignis gesorgt, das danach unter dem Begriff »Skandal« diskutiert wurde. Laut MÜNCHNER ABENDZEITUNG vom 2. März 1998 kam die Gesprächsrunde, an der auch noch einige andere Herren beteiligt waren, zu mehreren, aber in etwa gleich lautenden Schlüssen: daß politisches Theater heute in Deutschland absolut keine Chance mehr habe; daß es keine Tabus mehr gibt; in einer entgöttlichten Welt kann man alles sagen; die Grenzen sind dem persönlichen Schamgefühl überlassen. Und auch Prof. Everding kam zu dem Schluß, daß die Verrichtung der Notdurft auf einer Bühne dann doch vollzogen werden sollte, »wenn das Stück dramaturgisch ohne Haufen nicht weitergeht«, und erinnerte sich damit seiner wilden Phantasie während der eigenen Studentenzeit.

Ich erzähle Ihnen das, weil das Gesprächsergebnis den Schluß nahelegt, daß es gar nicht mehr darum geht, ob Theater Skandale erzeugen darf, sondern darum, daß es das ganz offenbar gar nicht mehr kann. Da aber widerspreche ich den in der Diskussion genannten Ursachen.

Die Selbstzensur der meisten Theaterleute unter dem immer größer werdenden finanziellen Druck auf die Theaterhaushalte hat sich mittlerweile ganz offenbar so hoch entwickelt, daß die Geistesschärfe mehr und mehr verkümmert, die nötig wäre, den immer dicker werdenden gesellschaftlichen Panzer zu durchstechen, um einen Aufschrei auszulösen. Aber ohne die Fähigkeit, der Gesellschaft immer wieder Wut- oder Schmerzensschreie zu entlocken, kann Theater, das sag’ ich aus tiefer Überzeugung, einpacken. Das agoniehafte Verharren finden Sie in allen Wohnzimmern vor den Fernsehern. Wenn dieses halbtote Dahindämmern auch noch die Theaterreihen füllt, sollten wir uns verabschieden. Wenn Empörung und Wut nur noch im gesellschaftlichen Konsens entstehen, anstatt ihn zu spalten und so Grundlage für kontroverse Auseinandersetzungen zu sein, dann wissen wir, daß auch das letzte Refugium für alltäglichen öffentlichen Streit und bewußter Konsensverweigerung von der kapitalistischen Konsumkrake leergesaugt ist. Wenn wir auch anfangen, uns zu verbiegen, um geliebt und geduldet zu sein, so wie Politiker das mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit machen, um gewählt zu werden, dann hat Demokratie wirklich keine Funktion mehr.

Wenn dann auch noch die Theaterkritik, die sich bisher insgesamt als zuverlässige Verteidigerin des Theaters als – sagen wir es einfach mal so – moralische Anstalt erwiesen hat, einer so aufregenden, weil unterhaltsamen und schmerzhaften Neudeutung der FLEDERMAUS durch Castorf im Hamburger Schauspielhaus in einer fast bösartig wirkenden Einhelligkeit die Anerkennung versagt, dann ist auch noch die letzte Lobby eines inspirierten Theaters gegenüber einer kraftlosen, nur noch wirtschaftlich denkenden Kulturpolitik und einem wankelmütig nach Werten der Überlieferung suchenden Publikum im Begriff verlorenzugehen.

Die Leute, die dem Theater seinen Schweißgeruch nehmen wollen und es mit Lachpulver parfümieren, um es spaßig und konsumierbar zu machen, die werden immer mehr. Und gerade im Schauspielerstand – um wieder auf den Personenkreis zurückzukommen, dessen Ansehen mit dem Eysoldt-Ring gehoben werden soll – schwindet immer mehr das Bewußtsein, daß dieser Beruf mehr Möglichkeiten birgt als nur eitles Kasperl-Larifari-Getue. Die großen Theaterhäuser werden immer mehr zu Wartehallen, in denen die nationale Verblödungsanstalt Fernsehen und die noch blöder machenden Spaßfilmproduzenten ihr Menschenmaterial parken, auf Abruf. »Ohne Selbstbewußtsein gibt es kein Bewußtsein. Aber es gibt viel Selbstbewußtsein ohne Bewußtsein.« (Achternbusch) Der breite Wirkungsgrad, den ein Schauspieler oder eine Schauspielerin über die Medien erreichen kann, führt zwar zu unglaublichen Selbstüberschätzungen, aber die Frage nach den Zusammenhängen, warum alles so seicht und reibungslos geworden ist, während im wirtschaftlichen Gefüge die Widersprüche immer unerträglicher werden, die taucht in den Köpfen gar nicht mehr auf, wird nur in den Bäuchen noch gelegentlich als Unbehagen wahrgenommen, das bei der nächsten Preisverleihung schon wieder zerstreut ist. Der Schauspieler M. von den Kammerspielen in München bezeichnet im Interview dann das Theater als seine künstlerische Heimat, wohin er immer wieder gerne zurückkehrt, so als würde er sagen, am Wochenende fahr’ ich auch gern mal aufs Land, weil da die Leute noch alle so gesund sind. Als was würde er seine Tätigkeit, der er in der Zwischenzeit beim Fernsehen oder Spaßfilm, unzüchtig hochdotiert, nachgeht, denn dann bezeichnen, frag’ ich ihn, wenn nicht als legale Korruption? Und krieg’ keine bedenkenswerte Antwort mehr, weil er keine mehr hat.

Und hier ist es jetzt an der Zeit, die Namensgeberin des Preises reden zu lassen, die den Verlockungen einer Medienwelt zweifellos noch nicht im heutigen Maß ausgesetzt war, aber mit ihrer Selbstbetrachtung sehr eindrucksvoll an eine vielleicht bald endgültig verschwundene Berufsauffassung erinnert: »Das Herz meiner Künstlerschaft und Lebensauffassung ist Mut. Das Revolutionäre pflege ich. Ohne Mut verliert sich die Kunst in der Konvention, und der Künstler wird eingefangen von der Gesellschaft. Der Künstler soll auch an keinem Besitz hängen – alles das macht ihn bürgerlich. Für die Kunst muß er Leidenschaft haben, viel Gutes im Leben liegen lassen können – nicht alles aufheben wollen –, sich nicht in Abhängigkeiten begeben, nur sich auf seinen Zustand verlassen. Ein alter Schauspielerspruch heißt: Talent muß man haben.«

Viel mehr wollte ich auch nicht sagen, ich kann es nur nicht mehr so selbstverständlich genau ausdrücken, weil ich das Ethos dieser Vergangenheit auch nicht mehr habe.

Im Widerspruch zum Preisstifter und diese Sätze von Gertrud Eysoldt im Gefüge, behaupte ich, es sind die Fähigkeit und der Wille, Skandale zu erzeugen, die dem Schauspielerstand etwas von seiner Würde zurückgeben würden, die er in seiner haltlosen Hingabe ans Fernsehen und den Komödienterror immer unwiederbringlicher einbüßt. Und mit Skandal meine ich nicht irgendeine vordergründige Provokation, mit der nur mediales Aufsehen erregt werden will. Ich meine damit die Unruhe, die von einem geschärften Gedanken ausgelöst werden kann, wenn er eindringt in einen gefälschten gesellschaftlichen Konsens, um diesen zu entlarven.

Das löst dann bei den Verwaltern des demokratischen Lügengebäudes immer hysterische bis grobe Gegenbewegungen aus und wird so erst zum Skandal. Wer Spaß daran hat, kann so was provozieren und dient dabei vielleicht sogar seiner Kunst.

Ich halte dafür, Ziel von Theaterarbeit kann es nur sein, der Mühseligkeit des Denkens Attraktivität zu erspielen. Dafür muß Theater unterhaltsam sein. Dafür sind manchmal auch große Gefühle nötig, genauso wie scheinbar kleinkarierter, aber aushöhlender Witz. Und dafür muß manchmal auch der vorgegebene Rahmen durchbrochen werden. Und glauben Sie mir: Man braucht nur etwas Mut dazu, aber dann macht es großen Spaß, auch dem Publikum; für den größeren Teil zumindest kann das sehr unterhaltend sein.

Ich weiß, es klingt alles sehr moralisierend, belehrend, vormundschaftlich. Aber ich kann nicht abheben und fliegen, um alles nur von oben zu sehen, von wo aus alles viel schöner aussieht, manchmal sogar verführerisch schön und nach nichts mehr riecht, so weit ist es weg.

Ich kann’s nicht. Es zieht mich immer wieder hinunter. Und da ist es nun mal so eng, daß jede Berührung wie eine tödliche Verletzung klingt.

Das Bedürfnis, dieser gesundheitsgefährdenden Nähe zu entkommen, ist auch bei mir vorhanden, und gerade Theater ist ja auf der Suche nach einer begehbareren Wirklichkeit. Und da ist die Gefahr nicht gerade gering, daß die Wirklichkeit ganz aus den Augen verschwindet. Ich bin gegen diese Gefahr nicht mehr sehr gefeit. Das Leben gefährdet auch meine geistige Gesundheit immer mehr. Deshalb möchte ich den Geldbetrag, der der Ehre unter die Arme greifen will, nicht selbst nehmen, da ich kein Programm mehr habe, um ihn im Sinne Eysoldts zu investieren, und schon der Gefahr ausgesetzt bin, diesem Preis im Sinne seines Stifters und dessen Verweser gerecht zu werden. Das halte ich aber, wie ich versucht habe zu erklären, für falsch.

Ich gebe den größeren Teil des Geldbetrages weiter an einen Film/Theatermenschen, der noch die Kraft hat, zu sehen und danach zu handeln, daß der wahre Fluchtweg aus der Wirklichkeit ganz unaufhaltsam in diese hineinführt. Ausweglos.

Ich gebe das Geld weiter an Schlingensief, der unter dem tiefreligiösen und gerade darum hochtheatralischen Titel »Tötet Helmut Kohl« ein Programm gestartet hat, das nun unter dem Titel »Rettet Helmut Kohl« oder »Chance 2000« weiterläuft, und vor allen Dingen versucht, wieder eine Wirklichkeit in den Theaterzusammenhang einzubeziehen, die die meisten anderen Theaterleute schon längst ausgegrenzt haben: die Wirklichkeit einer immer größer werdenden Masse von Menschen, deren Räume im gesellschaftlichen Gesamtverbund immer kleiner und unbedeutender werden – die Arbeitslosen.

Betrachten Sie es nicht als billige Provokation, wenn ich ihm das Preisgeld überlasse für seine Arbeit, mit der er darauf aufmerksam machen will, daß fünf Millionen Arbeitslose mit immer geringer werdender sozialer Absicherung, in einer der reichsten Gesellschaften der Erde, einen Zustand markieren, der aus kommenden Geschichtsbüchern heraus vielleicht als getarntes Elend zurückscheinen wird, das für den ungehemmten Selbstlauf eines zerstörerischen Wirtschaftssystems bewußt einkalkuliert wurde. Und wir wissen nicht, ob diese Geschichtsschreiber, das wären dann unsere Kinder, nicht bereits aus ungetarntem Elend berichten werden.

Mein/Ihr Geld also an Schlingensief, weil er einen skandalösen gesellschaftlichen Konsens aufzeigt, der von Demokraten getragen und geduldet wird, und er dafür selbst zum Skandalon erklärt wird. Amen.

Weil das ja alles eine Feierstunde sein will und man da das Gemütliche drin und das Ungemütliche draußen haben will, erzähle ich Ihnen noch eine kurze Geschichte, eine lustige, davon, wie schwierig es für Theaterleute sein kann, in den alltäglichen Banalitäten der grauen Wirklichkeit zu bestehen. Ich muß dafür noch einmal Professor Everding traktieren, den man auch zuweilen Kulturgeneral nennt, ohne Grobheiten, ich verspreche es.

Im Jahr 1979, auf einer Zugfahrt nach Stuttgart zu Proben ans Schauspielhaus, saß ich morgens um 7 Uhr im Quickpickselbstbedienungswaggon der Deutschen Bundesbahn, getrennt durch alle im Waggon vorhandenen Tische, dem Kulturgeneral gegenüber, der sich nach abgeleisteter Premierenfeier an der Oper zu München auf dem Weg nach Stuttgart befand zu neuen Proben an der Oper und den ich zwar kaum kannte, aber er mich nicht. Ich holte mir mein Selbstbedienungsfrühstück, bezahlte, ging zurück zum Tisch und begann mit dem Verzehr.

Nach einiger Zeit des Wartens bat der Kulturgeneral die Frau am Selbstbedienungstresen, seine Bestellung aufgeben zu dürfen, und bekam durch die Frau die Funktion des Quickpickselbstbedienungswaggons mitgeteilt. Danach stand er selbst auf, stellte sich selbst sein Frühstück zusammen und erbat, selbständig den Ort zu erfahren, wo die Frühstückseier versteckt lägen. Die Frau am Quickpicktresen forderte den Kulturgeneral auf, das bis dato zusammengestellte Frühstück zu seinem Platz zu tragen und schon mal mit dem Verzehr zu beginnen, sie müsse das Ei erst kochen und würde es danach am Tisch servieren. Die nächsten Vorgänge entwickelten sich ihrer Bestimmung gemäß. Nach fünf Minuten servierte die Frau das Ei im Quickpickplastikeibecher, bewaffnet mit einem Quickpickplastiklöffel. Der Kulturgeneral nahm den Quickpickplastiklöffel und begann auf das Ei im Quickpickplastikeibecher einzuklopfen. Das Ei blieb gegenüber dem Qickpickplastiklöffel jedoch hart und zersprang nicht. Die Klopfbewegung des Generals wurde immer heftiger, bis sie einen Höchstgrad an Häufigkeit und Zuschlagskraft erreicht hatte. Die Schale des Eis zersprang trotzdem nicht. Aus der Heftigkeit seiner Anstrengung heraus wandte sich der Kulturgeneral an die Frau am Tresen und sagte: Das Ei geht nicht auf.

Daraufhin kam die Frau hinter dem Tresen hervor, ging zum Kulturgeneral, nahm das Ei aus dem Quickpickplastikeibecher, schlug mit der Spitze des Eis einmal kurz auf den Quickpicktisch, die Schale des Eis zersprang, die Frau stellte das Ei mit der bauchigen Seite wieder in den Becher und ging wortlos wieder an ihren Arbeitsplatz. Der Kulturgeneral entschälte das Ei und begann es auszulöffeln, wie immer. Danach fuhr der IC München-Hannover im Augsburger Bahnhof ein.

Es lebe das Ei und die Frau hinter dem Quickpicktresen der Deutschen Bundesbahn, es lebe General Everding, der für uns dieses Ei gegessen hat, Bensheim soll leben und die Akademie der Darstellenden Künste, Helmut Kohl sowieso, denn tot können wir ihn nicht mehr retten, und natürlich soll das Fernsehen leben, mit den Theaterschauspielern und seinen -Innen als hauptamtliche Zuschauer. Aber nur so!

Josef Bierbichler

Engagement und Skandal

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