Читать книгу Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters - Christoph Türcke - Страница 6

Die »Wegbereiter«

Оглавление

Mittelalter, Renaissance, Neuzeit: diese Begriffe sind erst im 19. Jahrhundert zu historischen Orientierungsmarken geworden. Luther und seinen Zeitgenossen waren sie unbekannt. Sie hätten nichts damit anfangen können. Sie fühlten sich einer großen christlichen Gesellschaft zugehörig, die sie als ebenso alternativlos erlebten wie im Zerfall begriffen. Von klein auf waren sie in christliche Riten und Vorstellungen eingeübt worden, die als Grundmuster ihrer gesamten Weltwahrnehmung fungierten. Um so bedrückender, daß ihre soziale Umgebung so schlecht in diese Muster paßte. Ständig gab es irgendwo Streit zwischen christlichen Fürsten, zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen verschiedenen Auffassungen der christlichen Lehre. Schließlich spaltete sich im Jahr 1378 sogar die oberste christliche Instanz. Päpste und Gegenpäpste bekämpften einander mit Worten und Waffen. Und doch blieb der Streit innerhalb des christlichen Paradigmas. Man wußte nichts Besseres als christliche Konzilien, um ihn zu schlichten. Einige davon endeten erfolglos. Erst dem Konzil, das 1414 nach Konstanz einberufen wurde, gelang es, drei amtierende Päpste durch einen neuen zu ersetzen. Die Wiedervereinigung der Kirche unter seiner Oberhoheit wurde feierlich besiegelt durch die bestialische Verbrennung des Führers einer kirchlichen Oppositionsbewegung, der ersten, die nationale Züge trug – böhmische.

Die Rede ist von Jan Hus. Er mißtraute dem neuen Papst nicht minder als seinen Vorgängern und wollte sich lediglich vom »Gesetz Christi« leiten lassen, das er allein in der Bibel niedergelegt wähnte. Dort stand nichts davon, daß die Hirten der christlichen Gemeinde in Saus und Braus leben, hohe Abgaben einziehen, Kreuzzüge anzetteln und prunkvolle Kirchen und Paläste errichten sollten, und auch nichts davon, den Gläubigen beim Abendmahl den Wein vorzuenthalten. Das Grundübel der Christenheit sah Hus in einer skandalösen Selbstüberhebung des Klerus, besonders der Kurie. 1412, als eine hanebüchene päpstliche Bulle, die zur Vernichtung des Königs von Neapel aufrief und ein paar junge Leute, die dagegen protestierten, auf dem Scheiterhaufen enden ließ, hatte er seiner Gemeinde auf tschechisch zugerufen: »Christus befahl Petrus, daß er einen sündhaften Menschen wie einen Heiden und Zöllner meide […], aber er befahl ihm nicht, ihn zu foltern und zu morden. Unsere Päpste und Nachfolger Petri aber haben sich zu Henkern und Scharfrichtern ausgebildet und aufgeschwungen; einen treuen Christen heißen sie einen Ketzer und verbrennen ihn auf dem Scheiterhaufen. O Herr Jesu Christ, bleibe bei uns für Zeit und Ewigkeit!«3

Mit solchen Predigtworten brachte sich Hus in eine Lebensgefahr, die bis zu seinem eigenen Tod auf dem Scheiterhaufen nicht mehr aufhören sollte. Seine Worte waren kühn, aber seine Gedanken nicht neu. Seit im 11. Jahrhundert der große Kirchenbau begonnen hatte und der Klerus in der Erfindung von Abgaben und Ablässen, die ihn finanzieren sollten, höchst kreativ geworden war, hatte es immer wieder kleine Gruppen gegeben, die lieber so arm sein wollten, wie das Neue Testament Jesus und seine Jünger schilderte, als den Trend der Kirche zu Prunk und weltlicher Macht mitzumachen. Sobald sie allerdings »apostolische Armut« als die einzig angemessene christliche Lebensweise predigten (und nicht nur, wie Franziskaner und Dominikaner, als eine mönchische Option), wurden sie gnadenlos verfolgt. Schon Mitte des 12. Jahrhunderts wurden die Armutsbewegungen von Köln und Périgueux so gründlich aufgerieben, daß sich nicht einmal die Erinnerung an einen Namen aus ihren Reihen erhalten hat. Die Waldenser gehörten schon zur zweiten Generation der Verfolgten. Wer sich zu ihnen und später zu den Spiritualen (einer Abspaltung von den Franziskanern) hielt, die sich demonstrativ die Armut Jesu zum Vorbild nahmen, der wußte: Er riskierte sein Leben. Und als das Papsttum mit seiner Übersiedlung von Rom nach Avignon in seine korrupteste Phase trat und die Schmach, aus der heiligen Stadt in die französische Provinz versetzt worden zu sein, durch Prunk und ein erpresserisches Ämterversteigerungssystem kompensierte, nahm am nordwestlichen Ende des Abendlands, in Britannien, die Empörung darüber politische Formen an. Das »Gute Parlament« erklärte 1376 die päpstlichen Maßnahmen für widerchristlich. England war der Kurie nicht nur geographisch fern. Es war auch der Hauptfeind Frankreichs, der Schutzmacht des Avignon-Papsttums. In England atmete der Klerus einen weit schärferen Gegenwind weltlicher Mächte als auf dem Kontinent. Und pünktlich im Jahr 1378, als das »Schisma«, die Spaltung der Kirche unter mehrere Päpste, begann, gewann auch die Lehre des Engländers John Wyclif ihre signifikante Schärfe: die Konturen einer ersten protestantischen Theologie.

»Als Fundament des Glaubens nahm ich, daß Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, und diesem Fundament fügte ich zweitens alle seine Taten und Worte, wie sie im Evangelium und anderswo aufgezeichnet sind, bei. Und drittens nahm ich hinzu, daß alle jene Berichte oder Taten der Unterweisung der irdischen Kirche dienen sollen.« Kaum in Jerusalem angekommen, ging Christus »sogleich zum Tempel und reinigte ihn zu allererst von den üppig wuchernden Mißständen, die infolge der Habsucht der Priester entstanden waren. Da also ›alle Taten Christi unsere Unterweisung sind‹, müssen wir desgleichen tun. In diesem Falle legte ich die Armut Christi zugrunde, wonach der Herr der Welt« »zum Vorbild für seine Kirche und insbesondere für die Oberen des Klerus eindeutig im höchsten Maße arm gewesen ist.«4 »Und hieraus schließe ich, daß jeder Gläubige dem Papst oder einem Heiligen nur insoweit nachfolgen darf, als dieser seinerseits dem Herrn Jesus Christus Nachfolge geleistet hat.«5 »So soll sich also sein Stellvertreter nicht schämen, in der Kirche zu dienen, da er der Diener Christi ist oder sein soll. Denn die Abweichung von der Redeweise der Heiligen Schrift und der Hochmut weltlicher Herrschaft samt seinem aufreizenden weltlichen Stil scheint mir die Blasphemie und die Überheblichkeit des Antichrists anzubahnen«.6 »Die Jünger Christi haben keine Vollmacht, durch Kirchenstrafen auf dem Wege staatlicher Zwangsvollstreckung Steuern einzutreiben.« (271) Und wenn sie es dennoch tun? Dann muß die weltliche Macht einschreiten. Deshalb wendete sich Wyclif ans englische Parlament: »Wenn Gott ist, so können die weltlichen Herren mit Recht und Verdienst der Kirche, wenn sie sich vergangen hat, die irdischen Güter wegnehmen.« (267)

Darauf brach ein Sturm der Entrüstung im englischen Klerus los. Solche Töne hatte noch niemand gewagt. Nur weil Wyclif den Schutz eines mächtigen Herzogs genoß, konnte er sein Schreiben an das englische Parlament überleben und seine Lehre sogar noch zuspitzen. Da »das Wort ›Papst‹ ein Begriff ist, der sich innerhalb des Zeugnisses der Schrift nicht findet«, so wäre es »für die Kirche heilsam, wenn es keinen Papst oder Kardinäle gäbe, denn der Bischof der Seelen, der Herr Jesus Christus, samt seinen treuen Knechten, würde ohne einen solchen Papst und die übrigen Prälaten die Kirche auf Erden viel besser regieren.«7 Priester sollten »weder ihre Gebete verkaufen noch weltliche Händler werden noch sich mit Wucher oder anderen verbotenen Geschäften abgeben. Mein Wunsch wäre es indessen, daß sie sich der Predigt oder einer Handarbeit wie dem Schreiben oder einer anderen körperlichen Arbeit widmen« (282), wie es Paulus tat, der sich als »Zeltmacher« (283) verdingte. Er war »einst ein Pharisäer, verließ diese Sekte in weiser Voraussicht aus freien Stücken um der Gefolgschaft Christi willen. Warum müssen die Priester nicht heute ebenso handeln? Daher müssen die Mönche, gleichgültig welcher Sekte oder Regel oder welchem Eid sie verbunden sind«, »aus freiem Entschluß diese Bindungen verlassen und aus freiem Entschluß in die Gefolgschaft Christi eintreten.« (285 f.)

Wie viel reformatorische Substanz steckt doch in diesen wenigen Worten! Da ist die Feststellung, daß das Papsttum nicht nur antichristlich mißbraucht wird, sondern als Institution überhaupt nicht biblisch fundiert ist; da ist die Kritik am Ablaßwesen; die Erklärung des Mönchtums als Fehlweg; die Rückbesinnung aufs Evangelium als einzige verbindliche christliche Richtschnur; der Notruf an die weltliche Macht (interessanterweise ans Parlament, nicht an den König) als die einzige Instanz, die noch übrig ist, um die geistliche Macht in die Schranken zu weisen und zum apostolischen Dienst zurückzuführen. Hinzu kommt, daß Wyclif die erste Übersetzung der lateinischen Bibel in eine europäische Volkssprache auf den Weg brachte. Das Neue Testament begann er allein ins Englische zu übertragen, das Alte nahm er sich gemeinsam mit einem Mitarbeiter vor. Die Übersetzung blieb unvollendet und gelangte nicht in Umlauf. Doch die Idee, daß das Volk unabhängig vom Klerus in seiner Sprache direkten Zugang zum Evangelium haben sollte, wurde populär – wie Wyclifs Lehre insgesamt. Besonderen Zuspruch fand sie beim niederen Klerus, den »Lollarden«, die ihrerseits den englischen Bauernaufstand von 1381 förderten. Der hohe Klerus machte Wyclif für diesen Aufstand verantwortlich, verhörte ihn und verbot ihm seine Lehrtätigkeit in Oxford. Aber er wagte ihn nicht zu exkommunizieren.

Das tat erst das Konzil zu Konstanz, gut dreißig Jahre nach Wyclifs Tod. Der Papst, der Hus verbrennen ließ, ließ auch Wyclifs Gebeine exhumieren, verbrennen und verstreuen. Aber zu Lebzeiten kam Wyclif unerhört glimpflich davon. Seine Gedanken gärten freilich auch nach seinem Tod weiter. Unerwarteten Auftrieb bekamen sie durch eine Königshochzeit. Karl IV., der Prag 1344 zur Kaiserresidenz und 1348 zur Universitätsstadt gemacht hatte und Böhmen als Zentrum seines Reichs, sozusagen als kontinentales Widerlager zur Kurie in Avignon auszubauen trachtete, verheiratete seine Tochter Anna mit dem englischen König Richard II. Diese Heirat sollte das antipäpstliche und antifranzösische Bündnis zweier Achsenmächte stärken. Sie setzte aber auch einen bemerkenswert regen Studentenaustausch zwischen Prag und Oxford in Gang. Es blieb nicht aus, daß einige Prager Scholaren bei ihrer Rückkehr aus Oxford Wyclifs Lehre mitbrachten. Sie fand in Prag einen überaus fruchtbaren Boden. Böhmen gewährte länger schon versprengten Waldensern und Spiritualen Zuflucht, wie es auch Volkspredigern Raum gab, die zu Buße und Armut aufriefen. Einer von ihnen, Konrad Waldhauser, war sogar Beichtvater Karls IV. geworden. In dieser Umgebung war man für Wyclifs Gedanken ungemein empfänglich. Hus flog geradezu auf sie. »Mich ziehen seine Schriften an, durch die er alle Menschen zum Gesetz Christi zurückzuführen sucht, besonders die Geistlichen, daß sie die Pracht und Herrschaft der Welt fahren lassen und mit den Aposteln leben«. »Es zieht mich an die Liebe, die er zum Gesetz Christi hat, indem er dessen Wahrheit behauptet, daß es auch nicht in dem geringsten Punkt falsch sein könne.« Nur den Laienkelch8 hatte Wyclif noch nicht ausdrücklich verlangt. In diesem Punkt ging Hus weiter als er. Alles andere, worauf Hus bis zum Feuertod beharrte, kommt bei Wyclif bereits vor.

Hus war ein bewundernswert standhafter, aber kein besonders origineller Geist. Und Luther? Offenbar längst nicht so originell, wie die Reformationslegende suggeriert. Gut ein Jahrhundert vor seinem »Durchbruch« finden sich die meisten seiner Einwände gegen die Papstkirche bei Wyclif und Hus bereits in gleicher Grundsätzlichkeit und ähnlicher Schärfe. Was kommt bei Luther noch hinzu? Das Priestertum aller Gläubigen? Nun, der Sache nach steckt das bereits im Laienkelch. Daß alle Gläubigen am ganzen Abendmahlssakrament teilhaben sollen, besagt doch nichts anderes, als daß vor Gott jeglicher Statusunterschied zwischen Laien und Priestern entfällt. Und war dieser Gedanke nicht auch schon bei Wyclif präsent, als er Päpste, Kardinäle und den gesamten Mönchsstand für überflüssig und ohne Basis in der Bibel erklärte? Luthers Position ragt wenig darüber hinaus. Zudem ist sie weit weniger radikal als das, was zwei Jahrhunderte zuvor bereits ein großer Mystiker formuliert hat: Meister Eckehart. Theologische Mystik hat stets eine antiklerikale Spitze. Sie unterstellt, daß wahrhaft Gläubige auf direktem Wege mit Gott eins werden können und dazu nicht der Vermittlung von Priestern bedürfen. Und Eckehart, der exponierteste Dominikanerprediger seiner Zeit, der nach Stationen in Erfurt und Straßburg schließlich die Leitung des Studium generale seines Ordens in Köln übernommen hatte, hatte den Gedanken der Einswerdung so wörtlich genommen wie niemand zuvor: Wenn Menschen ein Bild anfertigen, hat es mit dem Abgebildeten günstigstenfalls große Ähnlichkeit. Als Gott den Menschen »sich zum Bilde« schuf, machte er ihn sich in einem übermenschlichen Maße gleich. Er hauchte ihm seinen Odem, seinen Geist ein. »So gleich ihm selber hat er des Menschen Seele gemacht, daß im Himmelreich noch auf Erden unter allen herrlichen Kreaturen, die Gott so wundervoll geschaffen hat, keine ist, die ihm so gleicht wie des Menschen Seele. Hierum will Gott diesen Tempel leer haben, auf daß denn auch nichts weiter darin sei als er allein.« Deshalb habe Jesus die Händler und Geldwechsler aus dem Jerusalemer Tempel vertrieben: um ein Gleichnis für die Reinigung des Seelentempels zu geben. Jeglicher Händlergeist soll daraus verschwinden. »Seht, alle die sind Kaufleute, die sich hüten vor groben Sünden und wären gern gute Leute und tun ihre guten Werke Gott zu Ehren, wie Fasten, Wachen, Beten und was es dergleichen gibt, allerhand gute Werke, und tun sie doch darum, daß ihnen unser Herr etwas dafür gebe oder daß ihnen Gott etwas dafür tue, was ihnen lieb wäre«. Sie »wollen auf solche Weise markten mit unserm Herrn. Bei solchem Handel sind sie betrogen.« »Willst du der Kaufmannschaft gänzlich ledig sein, so daß dich Gott in diesem Tempel belasse, so sollst du alles, was du in allen deinen Werken vermagst, rein nur Gott zum Lobe tun«. »Du sollst gar nichts dafür begehren. Wenn du so wirkst, dann sind deine Werke geistig und göttlich«.9

Ist das nicht nahezu wörtlich Luthers Grundgedanke zu den guten Werken? Er findet sich bereits zwei Jahrhunderte zuvor bei Eckehart. Allerdings mit einem Überschuß: Die Seele, in der nur noch Gott wohnt, ist nicht nur über jeden Unterschied von Priester und Laie hinaus, sondern: »Gottes Sein ist mein Leben. Ist denn mein Leben Gottes Sein, so muß Gottes Sein mein sein und Gottes Wesenheit meine Wesenheit, nicht weniger und nicht mehr.«10 War das nicht eine Ungeheuerlichkeit, nämlich menschliche Selbstvergottung – zudem ausgebreitet in deutschen Predigten vor den Ohren des Volks? Eckehart verstand darunter gerade das Gegenteil: maximale menschliche Selbstentäußerung als Antwort darauf, daß Gott sich bei seiner Menschwerdung bis zur Neige seiner selbst entäußert habe. Doch der Erzbischof von Köln war empört und eröffnete ein Inquisitionsverfahren gegen Eckehart. Der wehrte sich und trug das Verfahren selbst zur höchsten Instanz: zur Kurie nach Avignon. Er reiste eigens dorthin, um vor einer päpstlichen Kommission seine Version der mystischen Vereinigung von Gott und Mensch zu verteidigen. Doch alsbald verwarf eine Bulle Johannes’ XXII. Eckeharts Auffassung und vermerkte zudem, er habe alle beanstandeten Sätze seiner Lehre widerrufen. Bald darauf ist er unter ungeklärten Umständen gestorben, weshalb der Verdacht, daß die Methoden der Inquisition seinem Widerruf und seinem mysteriösen Ende nachgeholfen haben, nie erloschen ist.

Luther hat Eckehart nicht gelesen, nur dessen Schüler Johannes Tauler. Auch der hat deutsche Predigten verfaßt, aber seine Mystik ist längst nicht so radikal wie die seines Lehrers. Einswerden mit Gott heißt für ihn vor allem Willenseinheit. »Du sollst deinen wandelbaren Willen einsenken in den göttlichen Willen, der unbeweglich ist, damit deiner Schwachheit aufgeholfen werde.«11 Darin, »daß nämlich der Mensch seinen eigenen Willen haben will auch an allen göttlichen Dingen«, besteht seine »Gefangenschaft«, der er nur entkommt, wenn er sagt: »Nein, Herr, nicht nach meiner Gnade oder Gabe oder Willen gehe es, sondern, Herr, wie du willst, Herr, so nehm ich es, oder so will ich es«. »Unendlich viel nützlicher als alles, was der Mensch nach seinem eigenen Willen haben kann, es sei Gott oder Kreatur, ist es ihm, es willig und demütig zu entbehren« »und dem eigenen Willen in Gelassenheit zu entsagen«. Erst solches Loslassen des Eigenwillens öffnet das Seeleninnere für den heiligen Geist, »und alle Gnade und alle Seligkeit wird davon eingegossen, und der Mensch wird ein göttlicher Mensch«. »Göttlich« wird hier ein Mensch allerdings nicht mehr, wie bei Eckehart, dank der Wesensgleichheit seiner Seele mit Gott, sondern nur noch durch Auflösung seines Eigenwillens in den Willen Gottes, aus dem er in sündhafter Abspaltung hervorgegangen ist. Einswerdung mit Gott ist nur noch als einseitiges Aufgehen in Gott, als Unterwerfungsakt gedacht, nicht mehr als wechselseitiges Aufgehen von Gott und Mensch ineinander. Nur für solch einseitige Mystik konnte Luther sich erwärmen – und nie bis zum Siedepunkt. Eins werden mit Gott: wie sollte das gehen, selbst bei vollkommener Hingabe? Man blieb doch als Sünder tief unter ihm. Die enorme Aufwertung des menschlichen Individuums, die die deutsche Mystik dadurch vollzog, daß sie die Gottebenbildlichkeit des Menschen12 in bestimmter Hinsicht als Gottgleichheit interpretierte, war Luther entschieden zu kühn.

Bleibt am Ende als Luthers Alleinstellungsmerkmal lediglich seine Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch Gottes Gnade übrig? Nur, mit Verlaub, was ist daran genuiner Luther? Das Entscheidende steht doch schon beim Apostel Paulus. Die Menschen »sind allzumal Sünder […] und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist«.13 Hatte der Katholizismus das vergessen? Keineswegs. Allen Kirchenvätern und Scholastikern ist der Gnadengedanke unverzichtbar. Augustin hat ihm gar eine ganze Serie von Schriften gewidmet und ein scharfes Bewußtsein für das Vertrackte daran entwickelt. Wenn Gnade einzig durch Gottes ebenso vorausschauenden wie unerforschlichen Ratschluß zuteil wird, kann niemand sie sich selbst beschaffen; andrerseits kann niemand an ihrem Empfang ganz unbeteiligt sein. Und diese Beteiligung, diese Empfänglichkeit ist das Problem. In welchem Maße ist sie passiv, in welchem aktiv? Wie weit reicht sie? In welchem Grad gewinnt sie den Status einer Mitwirkung? Diese Fragen trieben schon Paulus um. Er konnte den Gnadenbegriff gar nicht verwenden, ohne ihn sogleich gegen das Mißverständnis zu schützen, der mit Gnade Beschenkte müsse sich nicht mehr bemühen. Mit der Gnade steht, ob man will oder nicht, zugleich ihr Verhältnis zur menschlichen Natur, zum freien Willen, zu den Tugenden und guten Werken zur Debatte, und die Scholastiker haben dies Verhältnis nach allen Regeln der Kunst auszubalancieren versucht. Stets ist Paulus einer ihrer Kronzeugen gewesen.

Es kann keine Rede davon sein, daß die biblischen Schriften im Mittelalter verschüttet waren und erst Luther sie wieder ausgegraben hat. Als er seine ersten Vorlesungen über die Psalmen und den Galaterbrief hielt, bewegte er sich durchaus im Rahmen des theologischen Curriculums. Er entdeckte nicht etwa den Gnadenbegriff wieder, sondern gab ihm lediglich einen eigenen Akzent und neuen Nachdruck. Deshalb fiel es den damaligen päpstlichen Theologen so schwer, zu verstehen, warum ihnen der Poltergeist aus Wittenberg so vehement die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade entgegenhielt. Die bestritten sie doch gar nicht. Und deshalb fiel es der Kurie von 1999 relativ leicht, mit den Lutheranern eine gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre herauszugeben. Das war doch ihre eigene Lehre. Nur löste sie nicht automatisch das Mitwirkungsproblem. Dem stellte sich der Katholizismus besonnener als Luther, der überall, wo menschliche Beteiligung an Gnade und Rettung auch nur erwogen wurde, bereits die diabolische Versuchung der Selbstgerechtigkeit witterte.

Allein durch Gnade; allein die Schrift; das Abendmahl in beiderlei Gestalt; das Priestertum aller Gläubigen; der Appell an die weltliche Macht, die Ordnung der geistlichen wiederherzustellen: das sind die fünf Wahrzeichen der Lutherschen Reformation. Doch Luther hat keines davon erfunden. Sie waren allesamt schon vorher da. Ihn selbst störte das nicht. Er verstand sich nicht als Erfinder. Patentamt und Urheberrecht waren keine Kategorien seiner Epoche. Um so größer ist das Ärgernis für Lutheraner. Der reformatorische Durchbruch soll nicht die originäre Tat eines religiösen Genies, sondern mit lauter fremden Federn geschmückt gewesen sein? Wie wehrt man sich dagegen? Ganz einfach. Jene kühnen Geister, die längst Einsichten hatten, zu denen dann auch Luther kam, erklärt man zu seinen Vorläufern. Sie sollen für ihn etwas ähnliches gewesen sein wie Johannes der Täufer für Jesus: Wegbereiter. So hatte schon das Markusevangelium die Dinge gedreht. Jener Bußprediger und Täufer, dessen Jünger der historische Jesus gewesen war und von dem er sich, wie alle andern, »zur Vergebung der Sünden« in den Jordan hatte tauchen lassen, wird zu Jesu Herold umgedeutet, der nichts im Sinne hatte als ihn anzukündigen und auf ihn vorzubereiten. »Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Steige richtig.«14

Ähnlich nimmt die lutheranische Weltsicht die gegen den mittelalterlichen Klerus gerichteten Armutsbewegungen, die radikalen Vertreter der deutschen Mystik und die Reformatoren Englands und Böhmens wahr: als Herolde, die den Weg Luthers bereitet haben. So kühn und bahnbrechend sie sich auch geäußert haben mögen – sie haben lediglich anklingen lassen, was erst ihm auszuführen vorbehalten war. Wie aber, wenn es gerade umgekehrt wäre: daß sie die eigentlichen Bahnbrecher waren und dafür in vielen Fällen mit Verfolgung und Tod bezahlten, während Luther nur als ein später Nachfahre und Nutznießer ihres Martyriums, sozusagen als »ungebratener Lorenz«15, das ungeheure Glück hatte, bereits geebnete Wege gehen zu dürfen, Gedanken, an die sich die Zeitgenossen in einem gewissen Maße gewöhnt hatten, lediglich mit neuem Nachdruck formulieren zu können, und eine überaus günstige historische Konstellation vorzufinden, in der sie schließlich zündeten? Wyclif und Hus als die authentischen Reformatoren, Luther als ihr Megaphon? Undenkbar fürs Luthertum. Es kann Reformation gar nicht anders als in den Koordinaten der Wegbereiter-Theorie wahrnehmen. Ja, diese Theorie ist weit über das konfessionelle Luthertum hinaus wirksam geworden. Das Mittelalter, die Neuzeit, die Reformation als Scheide zwischen beiden und Luther als der Reformator: ohne dieses Begriffskonstrukt kann man sich im Geschichtsepochendiskurs überhaupt nicht mehr verständlich machen. Die Umbrüche im Jahrhundert vor Luther sind damit automatisch als vorreformatorisch definiert. Sie werden von einer Grundeinstellung aus wahrgenommen, die Walter Benjamin als »Einfühlung in den Sieger«16 bezeichnet hat. Die »eigentliche« Reformation ist erst die, die sich durchgesetzt hat. The winner takes it all.

Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters

Подняться наверх