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Einleitung

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»Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«, sagt das deutsche Grundgesetz. Doch wer ist dieses »Volk«? Dass ihm Personen jeden Geschlechts, die in einem Land dauerhaft wohnen, ab einem Mindestalter zuzurechnen sind, leidet keinen Zweifel. Aber wann ist das Mindestalter erreicht, was heißt »dauerhaft wohnen« und ab wann trifft Letzteres auch auf Migranten, Flüchtlinge, Asylanten zu? Das ist nach wie vor strittig. Zwar gilt als unhintergehbarer demokratischer Standard, dass das Volk das Parlament wählt und dieses die Regierung, während ein oberstes Gericht darüber wacht, dass Parlament und Regierung verfassungsgemäß handeln. Aber wann hat das Parlament zu viel Befugnisse, so dass die Regierung handlungsunfähig wird, wann zu wenig, so dass sie selbstherrlich walten kann? Wann wacht das oberste Gericht lediglich über die Verfassung, wann beginnt es, sie als Hebel zu nutzen, um selbst politisch einzugreifen? Diese Fragen flammen in jedem Konfliktfall neu auf. Das rechte Maß demokratischer Kontrolle und Ausgewogenheit ist bis heute nicht erreicht.

»Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?«, fragte Immanuel Kant 1783 und antwortete: »Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.«1 Entsprechend gilt heute: Wir leben nicht im Zeitalter der Demokratie; günstigstenfalls in einem der Demokratisierung. Die aber ist ständig von Rückschlägen bedroht. Längst wurde von »Postdemokratie«2 gesprochen: vornehmlich im Hinblick auf die globalen Finanzmärkte, bei denen sogar die vergleichsweise reichen und demokratieaffinen westlichen Staaten dermaßen verschuldet sind, dass ihre Regierungen und Parlamente immer mehr Entscheidungsspielraum verlieren. Durch »Schuldenbremsen« versuchen sie, gegenzusteuern – und sind nun durch die Coronapandemie zu horrenden Neuverschuldungen genötigt, deren Langzeitfolgen für die Finanzierbarkeit von Gesundheits- und Bildungssystem, von Sicherheitskräften und Verkehrsinfrastruktur noch ganz unabsehbar sind. Wenn die privaten Gläubiger dieser Billionensummen den Geldhahn zudrehen oder Börsenrallyes auf Staatsbankrotte anzetteln, dann können die parlamentarischen Entscheidungsprozesse noch so demokratisch angelegt sein; sie laufen leer. Gleichwohl lässt das Wort »Postdemokratie« einen irreführenden nostalgischen Ton mitschwingen, als ob es, ehe sich die Finanzmärkte in den 1970er Jahren auftaten, irgendwo auf dem Globus eine rundum intakte Demokratie gegeben hätte. Genau genommen sind auch die demokratieaffinsten Staaten nie mehr als »Prädemokratien« gewesen – nirgends weiter gekommen, als der kapitalistische Weltmarkt es zuließ.

Vom Weltmarkt ist allerdings fast nur noch in Nachrichten zum Stand der Börsen und der globalen Lieferketten die Rede, kaum mehr im Demokratiediskurs. Den fesseln heute entschieden kleinteiligere Formate, die erst das Internet mit sich gebracht hat. Ermöglicht es doch jedem, mit ein paar Klicks ganze Datensätze »ins Netz zu stellen« und sich direkt öffentlich zu artikulieren – vorbei an allen Volksvertretungen, Regierungen, Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehenanstalten; vorbei an allen Repräsentanten und Vormündern, die sich für entscheidungsbefugt darüber halten, ob das, was öffentlich artikuliert wird, auch öffentlichkeits-würdig ist. Seither gibt es neue Formen politischer Direktmanifestation. Gern nennt man sie basisdemokratisch; etwa wenn sich Menschen bemerkbar machen und Beachtung verlangen, die in Parteiprogrammen und öffentlichen Diskursen zuvor gar nicht vorkamen; Menschen, die anders sind als die Mehrheit: andere Hautfarben, andere sexuelle Orientierungen, andere Konfessionen, andere kulturelle Gepflogenheiten, andere Bedürfnisse aufgrund von Behinderungen haben. Noch nie konnten sie sich so nachdrücklich und vielfältig öffentlich artikulieren wie zu Internetkonditionen. Doch seit sie das können, gibt es auch einen Unmutsdiskurs darüber, wie wenig sie das können, wie sehr der neue Weg der Direktmanifestation, auf dem nun jeder so ziemlich alles Beliebige »ins Netz stellen« darf, ihre besonderen Belange untergehen lässt. Was nützen ihnen die technischen Mittel zur öffentlichen Direktartikulation, solange sie damit nicht durchdringen, solange ihr Anderssein nicht gebührend respektiert wird, solange Parteien und Parlamente es nicht durch rechtliche Gleichstellungsmaßnahmen schützen, die es »sichtbar« machen?

Wie Coca-Cola einen besonderen Durst nach Coca-Cola erzeugt, so das neue Gleichstellungsmedium einen besonderen Durst nach sichtbarer Gleichstellung. Internetgestützte Basisdemokratie läuft auf eine Politik der Gleichstellung der gesamten Minderheitenvielfalt hinaus. Sie geht mit einer neuen Utopie schwanger. In dem Maße, wie in Parlamente, Regierungen, Unternehmensleitungen, Gewerkschaften, Aufsichtsräte, Akademien, Polizeidirektionen, Offizierscorps und Börsen eine paritätische Geschlechts- und Minderheitendiversität einzieht, hören Benachteiligung und Ausgrenzung auf, schwindet die binäre patriarchale Weltordnung, wächst die Vielfalt, gleicht sich die Gesellschaft demokratisch aus, entstehen »diskriminierungsfreie Räume«. Was kümmert da noch der Weltmarkt oder der Klimawandel, den der Zwang zum wirtschaftlichen Wachstum vorantreibt? Auch sie werden sich durch Paritätsverhältnisse moderieren lassen, in denen die Andersheit der anderen respektiert und niemand mehr »abgewertet« wird.

Eine geradezu biedermeierliche Utopie in digitalem Gewand, diese diskriminierungsfreie Paritätsdemokratie. Doch wie soll man in einer komplexen Gesellschaft Paritäten feststellen? Man wird leider nicht umhinkommen, sie auszurechnen – sie wohl oder übel gegeneinander aufzurechnen. Spätestens dabei wird es ungemütlich. Soll nur das Quantum der Betroffenen zählen oder auch die Schwere und die zeitliche Länge ihrer Benachteiligung? Jede Berechnung fußt auf Bewertungen, die man auch anders gewichten könnte. Jedes Verfahren der Paritätsermittlung beflügelt den Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit, Einfluss und finanzielle Zuwendung. Unterm Strich stehen dann Prozentzahlen: Quoten. Bei ihnen setzt dieses Büchlein an. Angeblich schaffen sie mehr Gerechtigkeit und festigen das demokratische Fundament der Gesellschaft. Dabei tun sie eher das Gegenteil.

Quote, Rasse, Gender(n)

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