Читать книгу Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik - Christoph Winkler - Страница 10
Оглавление3 Begriff, Aufgaben, Funktionen und Bereiche der sonder- und heilpädagogischen Diagnostik
Lernziele
1. Den Begriff „Psychodiagnostik“ kennen lernen.
2. In der Lage sein, zwischen Psychodiagnostik und sonderpädagogischer Diagnostik zu differenzieren.
3. Die Einsicht gewinnen, dass der Aufgabenbereich sonderpädagogischer und heilpädagogischer Diagnostik in unmittelbarem Zusammenhang mit dem pädagogischen Feld, d. h. mit Problembereichen von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen, Störungen, Behinderungen und behindernden Bedingungen steht.
4. Erkennen, dass sonder- und heilpädagogische Diagnostik primär „Förderdiagnostik“ sein sollte.
Zur Orientierung: In diesem Abschnitt wird es um die Klärung des Begriffes Psychodiagnostik, um die Abgrenzung der sonder- und heilpädagogischen Diagnostik von der Diagnostik im Bereich der Medizin, aber auch der Psychologie gehen; schließlich werden Aufgabenbereich und Funktion sonderpädagogischer Diagnostik im Hinblick auf den Aspekt Förderdiagnostik thematisiert.
3.1 Zum Begriff „Psychodiagnostik“
Der Begriff „Diagnose“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Unterscheidung“, „Entscheidung“. Im medizinischen Sinne ist das Erkennen einer Krankheit gemeint oder ganz allgemein die Erkenntnis der Beschaffenheit eines psychischen oder physischen Zustandes aufgrund von Symptomen. Bei der medizinischen Diagnostik handelt es sich – obgleich gegenwärtig sehr viel von „Vorsorge“ gesprochen wird – mehr oder weniger um die Feststellung eines momentanen Zustandes.
Dagegen soll die Psychodiagnostik im Allgemeinen überdauernde Eigenschaften bestimmen. Die Psychodiagnostik ist daher weitgehend nicht nur Diagnose, sondern auch Prognose (Vorhersage) (Schmidt-Atzert / Amelang 2012, 4). Ein eher traditionelles Vorgehen in der Persönlichkeitsdiagnostik zielt auf ein Verstehen der dem Individuum zugrunde liegenden Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften ab, um auf diesem Weg Verhalten vorherzusagen. Es ergibt sich die Frage, ob die Psychodiagnostik, vor allem die traditionelle Psychodiagnostik, mit der Vorhersage von Verhalten nicht in hohem Maße stärker eine „Selektionsstrategie“ im Sinne einer Optimierung durch geeignete Auswahl von Personen und / oder Bedingungen betrieb als eine „Modifikationsstrategie“ im Sinne einer „Optimierung durch eine Veränderung des Verhaltens und / oder von Bedingungen“ (Pawlik 1982, 15 f.).
Selektionsstrategie im Zusammenhang mit Personenselektion würde im engeren Sinne realisiert, wenn es z. B. um Aufnahme oder Ablehnung, um die Platzierung eines Bewerbers bei der Personaleinstellung oder im pädagogischen Bereich um die Selektion durch Vorschultestung (Schulreife) oder um die Aufnahme in eine Förderschule geht.
Zu fordern wäre auf jeden Fall im pädagogischen Bereich eine Betonung der Modifikationsstrategie, obgleich die Realität teilweise nur eine „Mischstrategie“ zuzulassen scheint. Nachdem an dieser Stelle der Problemkreis „Strategien der Psychodiagnostik“ nur tangiert werden kann, sollen einige Forderungen an die Psychodiagnostik im pädagogischen Bereich in akzentuierter Form angeführt werden:
Die Verwendung psychodiagnostischer Methoden muss dem jeweiligen Problemfall angepasst sein. So kann z. B. die Intelligenzleistung eines Kindes mit einer Sprachstörung nicht erschöpfend mit dem WISC-IV / HAWIK-IV (2011; 2010) erfasst werden. Weiterhin darf das Ergebnis einer psychodiagnostischen Untersuchung für die betroffene Person nicht „Festlegung“ bedeuten, vielmehr den Ansatz zur Hilfe, zur Förderung und zur Emanzipation der Persönlichkeit. Diagnostik muss also Information zwecks Förderung, ggf. Therapie, d. h. effektive Hilfe für die betroffene Person bedeuten.
Diagnose und damit auch Prognose implizieren den Impuls zu weiteren diagnostischen Maßnahmen in einem späteren Zeitpunkt. So versteht bereits Pawlik alternativ zur „Diagnostik als Messung“ die Diagnostik in einem „übergreifenden Ansatz als Einbringen von Information für und über Behandlung […]. Zielsetzung bei der Konstruktion psychodiagnostischer Verfahren und bei ihrer Gütekontrolle muss daher der Gewinn (Nutzen, „utility“) sein, den diese diagnostische Information 1. für die Auswahl einer geeigneten Behandlung der untersuchten Person und / oder 2. für die Beurteilung der Effektivität der danach realisierten Behandlung bringt. Dabei ist mit „Behandlung“ […] jede Handlung gemeint, die der Psychologe, der Proband selbst und / oder andere Personen mit Wirkung für den Probanden setzen“ (Pawlik 1982, 34).
Welcher Methoden bedient sich nun die Psychodiagnostik? Diagnostiziert wird aufgrund von Anamnese (med. Aspekt: Ermittlung der Krankengeschichte; psychol. Aspekte: Erhellung des Lebenslaufes im Hinblick auf eine Störung, Ermittlung der Lebensgeschichte einer Person; objektive Daten über die Entwicklung: Geburtsverlauf, vorschulische Phase, Schulbesuch, Krankheiten, Berufsausbildung …), Exploration (das Aufsuchen, Erforschen, Erfragen psychischer oder physischer Besonderheiten; heute mehr durch Gespräch, Interview als Stellungnahme zu den erhobenen Anamnesedaten, zu Testdaten sowie zu dem jeweiligen Problem gedacht), Verhaltensbeobachtung, durch vorliegende Befunde und ganz allgemein durch Tests (Methoden der Psychologie thematisiert informativ und anwendungsbezogen speziell Kap. 5). Der Tests, in all ihren Formen, bedient sich die Psychodiagnostik je nach vorliegender Fragestellung in verschiedener Auswahl immer häufiger, ja ausschließlicher, um möglichst objektive und umfassende Informationen zu erhalten. Historisch gesehen entstand die Leitidee von einer Wissenschaft der psychologischen Diagnostik im Zusammenhang mit der Entwicklung des Testbegriffes. Seit der Erscheinung des Rorschachbuchs mit dem Titel „Psychodiagnostik“ im Jahre 1920 setzte sich dieser Begriff immer mehr durch. Rorschach verstand sein Verfahren einmal als „Test“ oder „Prüftest“, zum anderen aber auch als „wahrnehmungs-diagnostisches Experiment“, d. h., aufgrund der Art der Wahrnehmung sollten psychische Krankheiten erkannt werden. In der Folgezeit erschienen Werke über „psychologische Diagnose“, Lehrbücher wurden geschrieben mit den Titeln „Psychodiagnose“, „psychologische Diagnose“, „diagnostische Psychologie“. Unter diesen Bezeichnungen und speziell unter dem Begriff psychologische Diagnose versteht man die Gesamtheit aller Verfahren, welche der Erkundung der individuellen psychischen Struktur eines Menschen dienen.
Die Diskussion der Frage, ob durch diese „Erkundung“ und durch Vorhersage von Verhalten nicht „festgeschrieben“, „selegiert“, statt modifiziert wird, erfolgt an anderer Stelle.
3.2 Gegenstands- und Aufgabenbereich sonderpädagogischer Diagnostik
Am besten gelingt der Zugang zu dem angesprochenen Problembereich, wenn zunächst die Personengruppe beschrieben wird, mit der die sonderpädagogische Diagnostik konfrontiert wird.
Traditionell gesehen lässt sich die sonderpädagogische Diagnostik dadurch kennzeichnen, dass sie es mit – möglicherweise – psychisch-kognitiv oder auch physisch behinderten Kindern und Jugendlichen zu tun hat, die in ihrer geistigen, emotionalen, sozialen, möglicherweise auch motorischen und sensomotorischen Entfaltung beeinträchtigt, gestört oder behindert sind, d. h. von sogenannten durchschnittlich entwikkelten oder nichtbehinderten Kindern hinsichtlich Lern- und / oder Sozial- und Emotionalverhalten abweichen. Dabei ist auf die Problematik des Verständnisses und damit auf die Relativität und auf das unterschiedliche Verständnis von „Störung“ und „Behinderung“ hinzuweisen. Im Zusammenhang mit Schülern mit Lernbehinderungen z. B. wird von einer Gruppe gesprochen, die unterhalb der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit liegt, wobei sonderpädagogischer Förderbedarf nach den KMK-Empfehlungen von 1994 eben nicht nur an speziellen Sonder- oder Förderschulen eingebracht werden kann, vielmehr an allen Schulen denkbar ist, z. B. im Bereich der Grund- und Hauptschule bis hin zu Gymnasien etwa bei vorliegenden Lern-, Leistungs- und Verhaltensstörungen, wie auch immer verursacht. Die spezielle Bedürfnis- und Problemsituation von Kindern fordert gegenwärtig verstärkt vor allem im Präventivbereich psychologische, speziell diagnostische und allgemein didaktisch-fachliche Kompetenzen im Hinblick auf Diagnose und Erkennung der Problematik sowie Unterstützung des Kindes und der Erziehungspersonen und mit der Zielrichtung Förderung ggf. Lerntherapie (Bundschuh 2008, 32–36; 2019).
Wenn auch die Gruppe der Schüler mit Lernbehinderungen (Förderbedarf Lernen) und / oder Verhaltensstörungen (Förderbedarf Verhalten, soziale und emotionale Entwicklung) den größten Bereich der mit sonderpädagogisch-diagnostischen Maßnahmen zu Konfrontierenden umfasst, geht es nicht allein und primär um diese Gruppe, vielmehr steht die Frage der Hilfe, Unterstützung und Förderung aller Kinder mit einem besonderen Förder- und / oder Lerntherapiebedarf im Vordergrund der Überlegungen.
Traditionell gesehen hat es die sonderpädagogische Diagnostik mit allen Personen zu tun, mit denen sich die allgemeine Sonderpädagogik beschäftigt, also mit allen „Formen der Beeinträchtigung“, wie sie von Bach beschrieben wurden (1995, 8 f.). Wenn man vom Schweregrad ausgeht, müsste man die teilweise nicht oder kaum objektiv feststellbare Form der „Gefährdung“ (Auffälligkeit) sowie das Bedrohtsein von Behinderung an den Anfang stellen und als gravierende Form die Behinderung nennen.
Bach definiert „Beeinträchtigung“ als „die Erschwerung“ der Personalisation und Sozialisation eines Menschen. Sie ist durch besondere Herausforderungen an Erziehung und Förderung bei Erziehungsprozessen in Familie, Schulen, ggf. auch in Heimen gekennzeichnet.
Liegt noch keine objektive Feststellung vor, wird erst von bloßer Auffälligkeit gesprochen. Der Übergang zwischen regelhaften und erschwerenden, unregelhaften Gegebenheiten des Erziehungsprozesses ist fließend, Beginn und Ausmaß der einzelnen Beeinträchtigungen sind nicht präzise zu fixieren. Beeinträchtigungen müssen unter dem Aspekt subjektiver, sozialer, situativer und temporärer Relativität gesehen werden.
Im diagnostischen Bereich wird es notwendig sein, die Probleme eines Kindes sowie die behindernden Bedingungen im Umfeld in differenzierter Form zu erkennen und zu analysieren. Traditionell gesehen wurde zwischen einzelnen Formen von Beeinträchtigungen unterschieden, demgemäß zwischen Schweregraden von Beeinträchtigungen.
Kinder mit Behinderungen waren auf der Basis der Überlegungen des Deutschen Bildungsrates der 1970er Jahre dadurch gekennzeichnet, dass ihre individuellen Beeinträchtigungen, „umfänglich“, (d. h., mehrere Lernbereiche sind betroffen), „schwer“ (d. h., graduell mehr als ein Fünftel unter dem Regelbereich liegend) und „langfristig“ (d. h. eine Angleichung an den Regelbereich ist voraussichtlich innerhalb von zwei Jahren nicht möglich) waren. Die Frage wäre natürlich, ob z. B. alle „Lernbehinderten“ „behindert“ waren im Sinne dieser Definition.
Heute beschäftigt sich die Diagnostik im Arbeitsfeld Sonder- und Heilpädagogik vor allem mit der Problemsituation des einzelnen Kindes im Kontext Beeinflussung durch das Umfeld, speziell mit der Frage nach dem individuellen Förderbedarf – im Unterschied zu Klassifizierungen und Zuordnungen zu „Schweregraden von Beeinträchtigungen“.
Die sonderpädagogische Diagnostik befasst sich auch mit Kindern mit Lern- und Verhaltensstörungen bzw. -auffälligkeiten. Bach definiert Störungen als „individuale Beeinträchtigungen, die partiell (d. h. nur einen Lernbereich betreffend), oder weniger schwer (d. h. graduell weniger als ein Fünftel vom Regelbereich abweichend) oder kurzfristig (d. h. voraussichtlich in bis zu zwei Jahren dem Regelbereich anzugleichen) sind“ (1995, 9 f.). Auch hierbei geht es in erster Linie – wiederum traditionell betrachtet – um Zuordnungen.
Bei Kindern mit Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten kommt der sonderpädagogischen Diagnostik primär die Aufgabe zu, Störungen hinsichtlich ihrer Ätiologie, vor allem im Kontext behindernder Bedingungen zu analysieren, das Kind zu stützen und eine für das Kind positive Veränderung im Umfeld zu bewirken.
Die nächste Personengruppe, mit der sonderpädagogische Diagnostik konfrontiert wird, sind Kinder und Jugendliche mit Gefährdungen. Gefährdungen bezeichnet Bach als
„Beeinträchtigungen, die in der Form somatischer, ökonomischer oder sozialer Lernbedingungen mit erschwerendem Charakter Störungen oder Behinderungen zu bewirken oder zu verstärken angetan sind“ (1995, 10).
Im Zusammenhang mit Gefährdungen sind vor allem „Prävention“und „Prophylaxe“ von Bedeutung (Bundschuh 2009, 26–30). So ist es dringend notwendig, dass im vorschulischen Stadium (Kindergarten, Vorschule, Schulkindergarten oder schon früher) Gefährdungen erkannt und aufgrund von Verhaltensbeobachtungen und des Einbezugs von Entwicklungsskalen Möglichkeiten kompensatorischer Erziehung und Förderung im Hinblick etwa auf Lernreize und soziales Verhalten entworfen und realisiert werden.
Schließlich ist es auch notwendig, „Sozialrückständigkeiten“ zu diagnostizieren, d. h. Beeinträchtigungen der Gesellschaft, die in der Form von Einstellungen, Verhaltensweisen, Gepflogenheiten, materiellen Bedingungen und gesetzlichen Regelungen, Gefährdungen, Störungen und Behinderungen teils verursachen, teils steigern und teils ignorieren und damit mögliche Hilfestellungen verhindern (Bach 1995, 19). Die „Diagnose behindernder Bedingungen“ (Bundschuh 2019, 101–105) wird seit einigen Jahren verstärkt gesehen und erforscht.
Es ist darauf hinzuweisen, dass die angeführten Formen der Beeinträchtigung häufig in Verbindung unterschiedlicher Kombinationen mit wechselseitigem Verstärkungscharakter auftreten und dass zwischen Behinderungen und Störungen, zwischen Störungen und Gefährdungen und zwischen Gefährdungen und Sozialrückständigkeiten fließende Übergänge bestehen können.
Aufgabe des vorliegenden Buches ist es nicht primär, über eine Grundlageninformation hinausgehend, Probleme und Kritik der aufgezeigten „Beeinträchtigungen“ mit der Vielfalt wechselseitiger Bezüge und Verflechtungen zu diskutieren und zu erörtern. Hierzu sei auf kritische Literatur im Bereich Sonderpädagogik verwiesen, die sich mit Detailfragen bezüglich Beeinträchtigungen, Störungen und Behinderungen unter dem Aspekt historischer und gegenwärtiger Problemstellungen auseinandersetzt.
Resümierend ist hervorzuheben, dass es nicht nur zum Gegenstandsbereich sonderpädagogischer Diagnostik gehören kann, besondere Strategien der Diagnose in Anlehnung an verschiedene Arten und Schweregrade vorkommender Beeinträchtigungen zu entwickeln, vielmehr wird der Schwerpunkt auf der differenzierten und individuellen Diagnose der kindlichen Problematik und der Bedürfnisse (Bundschuh 2010, 169–178; 2019, 32–42)unter Einbezug des Umfeldes im Sinne des Helfens, Förderns, Kompensierens und des Lernens liegen. Demnach wird die sonderpädagogische Diagnostik in flexibler, dynamischer und differenzierter Weise aktiv werden im Rahmen einer Erziehung unter „erschwerten Bedingungen“ bei vorliegender Behinderung, im Rahmen einer „Fördererziehung“ bei vorliegender Störung, im Rahmen einer „Vorsorgeerziehung“ bei Gefährdung und im Rahmen der „Gesellschaftserziehung“ bei vorliegender Sozialrückständigkeit mit dem Schwerpunkt der Analyse behindernder Bedingungen im Umfeld des Kindes unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen.
Aufgrund dieser weiten Aufgabenbereiche kann es nicht genügen, wenn der im Bereich der Sonderpädagogik tätig werdende Diagnostiker nur psychologisch-diagnostisch „in Aktion tritt“ oder handelt, er muss vielmehr zuerst auch als pädagogischer und didaktischer Fachmann ausgewiesen sein (Bundschuh 2008, 232–241), d. h. es geht um die Vermittlung zwischen Lernausgangslage und Lernen bzw. Lernfortschritt.
Zusammenfassend gesehen umfasst das sonder- und heilpädagogische Arbeitsfeld unter Berücksichtigung institutioneller Entscheidungsbereiche primär die folgenden Personengruppen:
1. Kinder, die in früher Kindheit und im vorschulischen Alter als auffällig, teilweise auch als „entwicklungsverzögert“ bezeichnet werden. Pädagogisch relevante Stichworte sind „Früherkennung“, „Früherfassung“ und „Frühbetreuung“, wobei in diesem Zusammenhang auf die ungelöste Problematik der frühen Erkennung bzw. Diagnose und Förderung hinzuweisen ist, d. h. Behinderungen können auch durch Diagnosen erzeugt werden (Bundschuh 2008, 314, 326 ff.).
2. Kinder, die bei der Einschulung individuellen sonderpädagogischen Förderbedarf aufweisen wie z. B. bei offensichtlichen geistigen, sozialen, emotionalen oder körperlichen Beeinträchtigungen.
3. Kinder, die in der Regelschule auffällig werden infolge partiellen oder auch generellen Nichtleistenkönnens (Leistungs- und Schulversagen im Hinblick auf den vorgegebenen Lehrplan, an sich ein „Versagen“ der Schule) in Unterrichtsfächern, wobei keinesfalls gesagt ist, dass diese Kinder in eine „besondere Schule“ / Förderschule aufgenommen werden müssen. Andere Möglichkeiten spezieller Hilfe und Förderung wären unterrichtliche Maßnahmen, Änderung der Einstellung von Eltern und Lehrern gegenüber dem Kind, Überweisung an eine Erziehungsberatungsstelle, therapeutische Maßnahmen. Optimal wären wohl Förder- und Stützmaßnahmen durch Regel- und Sonder- bzw. Förderschullehrer in der Grund- und Hauptschule nach einem gemeinsam erstellten Förder- und Therapieplan.
4. Kinder, die aufgrund ihres Verhaltens in der Regelschule „als nicht mehr tragbar“ gelten. Zu denken wäre dabei an erziehungsschwierige oder verhaltensgestörte Kinder.
5. Kinder, die irgendwelche die Lernleistung und das Sozialverhalten beeinträchtigende Sinnesschädigungen aufweisen (Hör- und Sehstörungen bzw. -behinderungen);
6. körperbehinderte oder hinsichtlich ihrer Motorik beeinträchtigte Kinder;
7. sprachgestörte und -behinderte Kinder;
8. beeinträchtigte Schüler, die vor der Berufswahl stehen. Ihnen sollte bei der Berufsfindung und -ausbildung geholfen werden.
9. Allgemein gesehen Kinder, Jugendliche und Eltern, die sich im Rahmen von Erziehung und Unterricht (Lernen) in einer Problemsituation befinden, vielleicht unter behindernden Bedingungen wie z. B. Armut leben, individuelle Beratung, Hilfe und Unterstützung in Erziehungs- und Lernfragen suchen.
Diagnostik von Behinderung hängt auch von Rahmenbedingungen (auch Langfeldt 2006, 626 ff.) ab, nämlich davon, was man unter „Behinderung“ verstehen möchte. Der Deutsche Bildungsrat (1973, 32) definierte: „Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung.“
Es ist sehr fraglich, ob diese Definition in Zeiten des Bemühens um Integration und Inklusion noch eine Gültigkeit hat. Diese Definition weist auf zweierlei hin:
– Nicht ein funktionales Defizit macht die Behinderung aus, sondern die Einschränkung, die sich daraus für die gesellschaftliche Integration ergibt.
– Es besteht eine uneingeschränkte ethische Pflicht zur Förderung.
Die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) hingegen konzentriert sich weniger auf ein medizinisches Verständnis von Behinderung und Defekten als die traditionelle Beschreibung von Behinderung, sondern berücksichtigt deren soziale Konstruktion. Die der ICF zugrunde liegenden, in Wechselwirkung stehenden Komponenten „Körperfunktionen und –strukturen“, „Aktivitäten und Partizipation“, „Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren“ (Hollenweger / Kraus de Camago 2013, 36 ff.) ermöglichen die Verwendung sowohl positiver wie negativer Begriffe und setzen damit auch deutliche ressourcen- und kompetenzorientierte Akzente. Darüber hinaus werten Göttgens und Schröder (2014, 36) die ICF als „Schlüssel für eine gelingende interdisziplinäre Zusammenarbeit, da das Klassifikationssystem eine gemeinsame Sprache für die am förderdiagnostischen Prozess beteiligten Professionen ermöglicht“.
Tab. 1: Anzahl der schulpflichtigen Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Bundesrepublik im Jahr 2002
Anzahl | Prozent | |
schulpflichtige Schüler der Klassen 1 bis 10 insgesamt | 8.941.561 | 100,000 |
darunter Behinderte mit Förderschwerpunkt: | ||
Lernen (Lernbehinderte) | 262.389 | 2,934 |
Sehen (Sehbehinderte und Blinde) | 6.613 | 0,074 |
Hören (Schwerhörige und Gehörlose) | 14.518 | 0,162 |
Sprache (Sprachbehinderte) | 44.891 | 0,502 |
Körperliche und motorische Entwicklung (Körperbehinderte) | 26.483 | 0,296 |
Geistige Entwicklung (Geistigbehinderte) | 70.451 | 0,788 |
Emotionale und soziale Entwicklung (Verhaltensgestörte) | 41.012 | 0,459 |
Förderschwerpunkt übergreifend bzw. ohne Zuordnung | 19.295 | 0,216 |
Kranke | 9.592 | 0,107 |
Behinderte insgesamt | 495.244 | 5,539 |
Pragmatisch lässt sich festhalten, dass Kinder, die dem Bildungsgang der Regelschule (Grund- und / oder Hauptschule) nicht zu folgen vermögen, als „behindert“ gelten und deshalb in besonderer Weise gefördert werden müssen. Sie stellen einen Teil der Klientel der sonderpädagogischen Diagnostik dar, deren Umfang gegenwärtig fast eine halbe Million Schüler betrifft (Tab. 1). Jährlich werden schätzungsweise 50.000 Kinder und Jugendliche diagnostiziert und begutachtet. Nimmt man allerdings den Präventionsbereich und die damit verbundene wichtige Aufgabe des Lern- und Leistungsbereiches mit hinzu, dürfte sich die Zahl der zu untersuchenden Kinder wohl eher verdoppeln.
Zur Erziehung und Unterrichtung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder verfügt die Bundesrepublik über ein differenziertes System unterschiedlicher Förderschulen. Es gibt Förderschulen (für Blinde, Sehbehinderte, Gehörlose, Hörgeschädigte, Körperbehinderte und für Kranke), die in Analogie zum Regelschulwesen zu sehen sind. In ihnen ist es wenigstens prinzipiell möglich, bis zur Hochschulreife zu gelangen. Schulen für den Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung und für den Förderbedarf Sprache streben nach entsprechendem therapeutischem Erfolg eine Rückführung in das Regelschulsystem an. Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen hingegen vermitteln einen eigenen Abschluss und bieten die Option einer externen Hauptschulabschlussprüfung. Schulen für Kinder mit Förderbedarf geistige Entwicklung führen meistens in eine beschützende Einrichtung. In einigen Bundesländern gibt es nachdrückliche Bemühungen, diese Differenzierung zu überwinden und Kinder mit Behinderung bzw. mit einem speziellen Förderbedarf in Regelschulen „integrativ“ zu fördern. Insgesamt werden gegenwärtig fast 66.000 (13,3 %) der Schüler mit Behinderung in Regelschulen integrativ unterrichtet. Die Integrationsquote variiert jedoch in Abhängigkeit vom Schweregrad der Behinderung, der Behinderungsart oder auch von der Höhe des Förderbedarfs beträchtlich (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2003). Im Zusammenhang mit der Integrations- und Inklusionsdebatte wird in der erziehungswissenschaftlichen Literatur und im Praxisfeld zunehmend der Begriff „behindert“ zu Gunsten der Umschreibung „Person / Schüler mit besonderem / speziellem Förderbedarf“ ersetzt.
Anforderungen an die Diagnostik
Primäres Ziel der sonderpädagogischen Diagnostik ist die Feststellung des besonderen Förderbedarfs mit einer anschließenden Entscheidung über den angemessenen Förderort (Förderschule oder Regelschule). Das dabei von Lehrkräften der Sonder- bzw. Förderschulen durchzuführende Verfahren ist weitgehend durch Verordnungen der Bundesländer geregelt, in denen u. a. eine medizinische und eine sonderpädagogisch-diagnostische Überprüfung verbindlich vorgeschrieben werden. Soweit es sich auf schulische Entscheidungen bezieht, ist das Verfahren für die verschiedenen Gruppen von Kindern mit Behinderung formal weitgehend gleich und von der Wahl des späteren Förderortes unabhängig. Verantwortlich für seine korrekte Durchführung ist die Schulaufsicht.
Spezielle Förderung kann darüber hinaus auch an Regelschulen unter Einbezug mobiler sonderpädagogischer Dienste an Sonderpädagogischen Förderzentren erfolgen. Die Regelschule hat an sich auch die Aufgabe, Schüler zu fördern. Hierzu ist ein von einem Kompetenzteam erstellter Förderplan hilfreich (Bundschuh 2019, 231–247, Kap. 6.6.3), d. h., auch an der Regelschule kann individuelle Förderung mittels eines Förderplanes durchgeführt werden.
Bei Kindern mit Sinnesbeeinträchtigung (-schädigung) oder Kindern mit Körperbehinderung erfolgt eine einschlägige Diagnostik bereits im Kleinkind- oder Vorschulalter (Kap. 5.2.2). Sie ist im Rahmen von Frühförderung teils medizinisch, teils pädagogisch-psychologisch an den Möglichkeiten sensorischer oder motorischer Förderung orientiert (Bundschuh 2019, 256–267). Bei Kindern mit Sprachstörung ist eine Diagnostik der Sprachentwicklung (Sprachdiagnostik), die in logopädische Therapien münden kann, schon im Vorschulalter möglich. Bei vorliegendem Förderbedarf geistige Entwicklung (traditionell „geistige Behinderung“) steht pädagogisch-psychologisch betrachtet die Diagnostik des Entwicklungsstandes mit Hilfe von Entwicklungsskalen und Entwicklungstests, speziell auch unter Anwendung diagnostischer Verfahren für verschiedene Schweregrade von Behinderung, und darüber hinaus die Diagnostik adaptiver Kompetenzen im Vordergrund (Kap. 5.2.2.2 bis 5.2.2.4). Entwicklungsstörungen, speziell auch Förderbedarf geistige Entwicklung, zu diagnostizieren bedeutet, sich an pädagogischen Prinzipien der Frühdiagnostik und Frühförderung zu orientieren.
Obwohl Verhaltensstörungen relativ frühzeitig diagnostiziert werden können, wird die Diagnose für viele Kinder erst im Grundschulalter relevant, wenn sie mit den Regeln für angemessenes schulisches Verhalten kollidieren. In der schulischen Praxis werden Aufmerksamkeitsstörungen (Aufmerksamkeitsdiagnostik) und soziale sowie emotionale Störungen (Bundschuh 2003, 159–180; 2019, 193–206, 219–229) häufig als dominierend beschrieben.
Förderbedarf Lernen tritt in der Regel im Gegensatz zu den übrigen Förderbedürfnissen (traditionell: Behinderungsarten) erst im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beschulung auf. Aus diesem Grund ist es grundsätzlich diskussionswürdig, inwieweit Lern- und / oder Verhaltensprobleme mit den Ressourcen des Kindes zusammenhängen oder als institutionelles Versagen der Schule zu betrachten sind.
Die Diagnostik von Kindern mit einem speziellen Förderbedarf erweist sich häufig als komplex, denn es muss meist auch die Kind-Umfeld-Diagnose einbezogen werden, teilweise verbunden mit der Problematik „Grenzfälle“ und Mehrfachbehinderung. Kinder mit Lernschwierigkeiten zeigen häufig auch Verhaltensstörungen; Kinder mit Sprachstörungen haben teilweise auch Schwierigkeiten im Lernen; sinnes- und / oder organgeschädigte Kinder können ebenso verhaltensgestört, sprachgestört oder lernbehindert sein wie sensorisch und körperlich gesunde Kinder. In solchen Fällen kann die vorgesehene Beschulung dann eher von äußeren Umständen (z. B. Erreichbarkeit von Schulen) als von konkreten Ergebnissen der Diagnostik abhängen.
Gerade die Diagnostik von „Lernbehinderung“ galt lange Zeit und gilt heute noch als problematisch im Kontext umstrittener Praxis.
Im Jahre 1973 verabschiedete der Deutsche Bildungsrat eine einflussreiche Definition von Lernbehinderung, die unterdurchschnittliche Intelligenzleistung und schwerwiegendes, umfängliches Schulversagen als bestimmende Merkmale von Lernbehinderung vorsah (Deutscher Bildungsrat 1973, 38). Die Diagnose Förderbedarf Lernen umfasst weit mehr als Intelligenzdiagnostik und Schulleistungsdiagnostik.
Die angeführte Definition von Lernbehinderung stimmt nicht, wie man vermuten könnte, mit dem überein, was im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch unter „learning disabilities“ verstanden wird. Diese werden als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher und unterscheidbarer Störungen (oder Schwierigkeiten) verwendet, die das Lernen beeinträchtigen können. Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Rechenschwierigkeiten oder Aufmerksamkeitsstörungen gehören beispielsweise dazu. Learning disabilities werden vorwiegend als isolierte Teilleistungsstörungen bei durchschnittlicher Intelligenz betrachtet, die nicht zu „umfänglichem Schulversagen“ führen müssen. Sie fallen daher nicht unter den Begriff der Lernbehinderung.
Je umfänglicher der Förderbedarf – „das Schulversagen“ – eines Kindes ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere Teilleistungsstörungen gemeinsam auftreten.
Insofern bedeutet eine Diagnostik von Lernbehinderung auch Sprachdiagnostik, Aufmerksamkeitsdiagnostik und Diagnostik von Lernstörungen.
Dies stimmt mit einem differenzierten Beschreibungsversuch von Kanter (1980) überein, in dem Lernbehinderung einerseits auf niedrige Intelligenz zurückgeführt wird und andererseits auf chronifizierte Lernstörungen, die neurologisch, konstitutionell, psychoreaktiv und / oder sozio-kulturell bedingt sein können. Es handelt sich demnach bei den Schülern mit einem speziellen Förderbedarf Lernen (bisher „Lernbehinderung“ genannt) um eine heterogene Gruppe. Dies zeigt sich auch an den Inhalten der diagnostischen Gutachten.
Aus Sicht der Psychologie unterscheidet sich der diagnostische Prozess bei Kindern mit einem hohen Förderbedarf (Kinder mit Behinderung) nicht grundsätzlich von sonstiger pädagogisch-psychologischer Diagnostik, allerdings liegt der Schwerpunkt auf der sonder- und heilpädagogischen Verantwortung. Im außerschulischen Kontext arbeiten Psychologen u. a. mit (Kinder-)Ärzten, Kinder- und Jugendpsychiatern, Kindertherapeuten, Logopäden oder Physiotherapeuten zusammen. Dabei geht es um individuelle Diagnostik und Therapie, die in der Regel als unmittelbare Hilfe wahrgenommen werden. Im schulischen Kontext dagegen sind auch schwierige institutionelle Entscheidungen zu treffen, dabei sind Sonderpädagogen die professionellen Interaktionspartner.
In Ablehnung einer Diagnostik, die Selektionsentscheidungen im Schulsystem unterstützen oder gar legitimieren sollte, entwickelte sich das Programm Förderdiagnostik (Bundschuh 1994; 2007; 2019). Es geht dabei zunächst um das (Fremd-) Verstehen der Kinder, um Beziehungsgestaltung, ganzheitliche, qualitative und / oder prozessorientierte-systemische Sichtweisen. Quantitative Diagnostik (standardisierte Tests oder Kategoriensysteme) spielt vor allem im institutionellen Bereich eine Rolle. Darüber hinaus leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Erkennung von Ursachen (z. B. Wahrnehmungsstörungen, Ängste, psychische Probleme allgemein) und kann damit auch im Dienste einer differenzierteren Analyse einer Lern-Leistungs- und / oder Verhaltensproblematik und der sich daraus abzuleitenden Fördermaßnahmen stehen.
Man muss davon ausgehen, dass Behinderungen nicht isoliert auftreten, dass sie sekundäre Beeinträchtigungen im Gefolge haben. So kann man sagen, dass jedes Kind mit einer Behinderung auch „mehrfachbehindert“ sein wird, denn auch soziale und emotionale Bereiche sind in der Regel betroffen (Bundschuh 2003). Daraus ergibt sich die Aufgabe, durch Förderpläne und Einleitung kompensatorischer Maßnahmen Folgebeeinträchtigungen orientiert an vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen vorzubeugen.
Aber auch nach der Beseitigung einer Störung werden weitere Betreuung und Fürsorge notwendig sein, dafür müssen behindernde Bedingungen im Umfeld des Kindes analysiert und neutralisiert werden.
Man kann wie folgt den Gegenstand sonderpädagogischer Diagnostik beschreiben: Gegenstand einer sonderpädagogischen Diagnostik ist der Mensch / das Kind, der / das bezüglich einer (optimalen) Entfaltung seiner Möglichkeiten im geistigen, sozialen, emotionalen oder physischen Bereich gefährdet, bedroht, gestört oder behindert ist, wobei Prozesse der Isolation von der Aneignung der Welt (behindernde Bedingungen) stets mitgedacht werden müssen.
Einbezogen werden demnach in den Gegenstandsbereich die Sozialrückständigkeiten der Gesellschaft, die in der Form von Einstellungen, Verhaltensweisen, Gepflogenheiten, materiellen Bedingungen und gesetzlichen Regelungen, Gefährdungen, Störungen und Behinderungen teils verursachen, teils steigern, teils ignorieren und damit mögliche Hilfestellungen verhindern.
Aus diesem komplexen Gegenstand ergibt sich für die sonderpädagogisch-psychologische Diagnostik ein weites Aufgabenfeld.
3.3 Aufgabenbereiche sonder- und heilpädagogischer Diagnostik im Rahmen institutioneller und organisatorischer Entscheidungsfelder
Innerhalb unseres Schulsystems stehen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der individuellen Schulkarriere institutionelle Entscheidungen über den weiteren schulischen Werdegang an. Dabei stellt die Entscheidung für oder gegen den Förderschulbesuch eines Kindes oder Jugendlichen eine Besonderheit dar. Sie verlangt die Durchführung eines formellen Verfahrens, in dessen Verlauf eine pädagogisch-psychologische Diagnostik und Begutachtung erfolgt. Dieses Tätigkeitsfeld wird in der deutschen Sonderpädagogik als eine genuin pädagogische Aufgabe betrachtet, bei welcher der Psychologie nur der Status einer Hilfswissenschaft zugesprochen wird. In der Praxis werden daher in der Regel ausschließlich Lehrer für Sonderpädagogik mit dieser Aufgabe betraut; die Beteiligung von Diplom-Psychologen stellt eine Ausnahme dar, wenngleich Kooperation stets wünschenswert ist.
(1) Sie bemüht sich um die Diagnose des Erscheinungsbildes von „Beeinträchtigungen“ (Gefährdung, Störung, Behinderung, sonstige Probleme). Mit dem Erkennen einer Form der Gefährdung ist zugleich die Erforschung der Ätiologie des Phänomens unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes, speziell der Erziehungsfelder (Familie, Pflegefamilie, Heim, Schule) und der materiellen Umwelt sowie ökonomischer Bedingungen verbunden. Hinweise und Informationen oder nur Informationen erhält man durch Fremd- und Eigenanamnese (Kap. 5.3), durch Befragung von Eltern, Lehrern, weitere Bezugspersonen, Kind, durch vorliegende Schülerakten, manchmal auch durch den Einsatz von Testverfahren (Angst, Motivation, Wahrnehmung …). Bei der Frage nach der Ätiologie ist der diagnostizierende Sonderpädagoge auf ärztliche Untersuchungsbefunde angewiesen. Allerdings werden vom Mediziner nur Aussagen über physische Bereiche erwartet. Der Arzt kann z. B. Hinweise auf organisch bedingte Störungen geben, die zur Erklärung einer Verhaltensstörung beitragen können, oder er kann verweisen auf Sinnesbeeinträchtigungen, die von ärztlicher und pädagogischer Seite zu entsprechenden Aktivitäten führen müssen.
Es sollte nicht die Aufgabe des Arztes sein, einen Förderbedarf festzustellen, sondern den allgemeinen Gesundheitszustand des Kindes sowie mögliche organische Ursachen einer Störung, insbesondere Sinnesbeeinträchtigungen, und Möglichkeiten einer ärztlichen Behandlung zu erkennen. Die Aufgaben, Probleme und Prinzipien der Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pädagogen werden immer wieder diskutiert, wobei folgende Aspekte im Vordergrund der Auseinandersetzung stehen:
1. Analyse der Aufgaben einer Zusammenarbeit und Präzision der Notwendigkeiten einer Kooperation;
2. Formen von Kooperation, Hintergründe von Problemen, Ansätze für erforderliche Veränderungen;
3. Ableitung von Prinzipien wirksamer Kooperation zwischen Ärzten und Pädagogen aus den gemeinsamen Aufgaben und den vorliegenden negativen und positiven Erfahrungen.
Dabei werden vor allem vier Formen unzweckmäßigen Verhaltens zwischen Medizinern und Pädagogen unterschieden: die Konfrontation, die Okkupation, Subordinationsansinnen und bloß additive Beziehungen.
(2) Die sonder- oder heilpädagogische Diagnostik entscheidet, ob ein Kind einer individuellen Betreuung und Förderung mittels Aufnahme in eine Förderschule bedarf oder ob möglicherweise auf der Basis von Beratung des Regelschullehrers oder der Eltern, vielleicht auch mit Hilfe „Mobiler Dienste“ individueller Förderunterricht oder Therapie genügen. Ein ganz besonderes Problem stellen Kinder dar, deren Leistungen sich im Grenzbereich bewegen. Dabei sei betont, dass ein Gutachten ohne Vorschläge für praktikable Fördermaßnahmen im Aufgabenbereich der sonderpädagogischen Diagnostik nahezu wertlos ist.
(3) Liegt sonderpädagogischer Förderbedarf vor, bedarf es der Entscheidung, in welcher Schule (Regelschule oder Förderzentrum) der Schüler am besten gefördert werden kann; bzw. ob eine spezielle Förderung durch ambulante Dienste oder eine Therapie, ggf. Lerntherapie, angezeigt erscheint.
Analoge Entscheidungen wären auch vor dem Schuleintritt bezüglich einer bestimmten vorschulischen Einrichtung zu treffen.
Bei Schülern mit Mehrfachbehinderungen i. e. S. ist die Frage der Aufnahme in eine bestimmte Schule nicht selten mit großen Problemen verbunden. Es gibt Kinder, die z. B. deutliche Merkmale einer Körperbehinderung, einer sprachlichen Behinderung oder einer geistigen Behinderung zeigen. Bei solchen Kindern sollte nicht in erster Linie nach der Offensichtlichkeit einer Behinderung entschieden werden, vielmehr sollten das Wohl des Kindes, seine Entfaltungsmöglichkeiten, vor allem der individuelle Förderbedarf bei der Wahl der Fördermaßnahmen dominieren.
(4) Eng verbunden mit der Diagnose ist die Prognose. Es werden gezielte und überlegte Hinweise auf die mögliche zukünftige Entwicklung gegeben. Es geht um die Fragestellung der Hilfe, Förderung, Förderaussichten, gegebenenfalls auch der Heilungschancen einer Krankheit oder auch um die Verschlechterung eines Verhaltens oder Zustandsbildes. Auch in diesem Fall muss überlegt werden, was optimal getan werden kann (z. B. Muskelschwund, Autismus, Hyperaktivität). Bei Kindern und Jugendlichen im Hauptschulalter kann mit der Prognose auch die Frage der Eignung für ein bestimmtes Berufsfeld verbunden sein; denn gerade im sonderpädagogischen Bereich müssen Spezialbegabungen im Hinblick auf geistige, soziale, körperliche Möglichkeiten besonders früh erkannt und gefördert werden.
Die Prognose hängt wesentlich von der Kenntnis des Umfeldes eines Kindes ab. Wichtige Momente sind beispielsweise die Flexibilität oder Rigidität, ganz einfach die Umstellungsfähigkeit der Eltern bei Erziehungsfehlhaltungen, die Wirkung einer Heimaufnahme, Fördermaßnahmen, therapeutische Einflüsse, die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule überhaupt.
Über die Probleme der „Prognose“ wird im Verlauf dieses Abschnittes eingehender diskutiert.
Die weiteren Aufgaben der sonderpädagogischen Diagnostik können nach den einführenden Beschreibungen in kurzer Form aufgezählt werden. Diagnostische Aktivitäten mit Gutachtenerstellung und Förderungsvorschlägen sind nötig:
(5) bei eventueller Rücküberweisung (Rückführung) an die Regelschule;
(6) bei einer Überweisung an eine andere (sonderpädagogische) Einrichtung bzw. Förderschule;
(7) jeweils am Ende eines Schuljahres für den Schülerbogen und den Förderplan (meist Kurzgutachten über Fortschritte, Verschlechterungen, psychische und soziale Auffälligkeiten, Verhalten allgemein);
(8) wenn die Eltern eine Verlängerung der Schulbesuchszeit beantragen, d. h., die Lehrer müssen beurteilen, ob eine Verlängerung pädagogisch sinnvoll ist;
(9) bei einer Heimeinweisung;
(10) bei Gericht und Jugendamt (Diebstahl, Vergewaltigung, Gewaltanwendung …)
(11) im Zusammenhang mit der Früherkennung und Früherfassung von Behinderung bedrohter Kinder (Weiterentwicklung des Gedankens einer möglichst frühen und intensiven Förderung gefährdeter und von Behinderung bedrohter Kinder in den letzten Jahren);
(12) aktive Mithilfe – auch durch den Einsatz diagnostischer Mittel – bei der Berufsfindung (Unterstützung des Arbeitsamtes; Kontakte mit Betrieben);
(13) im Rahmen eines Einbezugs förderdiagnostischer Aufgaben im Bereich erweiterter Aufgabenfelder wie Frühförderung und Regelschule.
Sonderpädagogik ist heute weitaus mehr als Sonderschulpädagogik, sie findet nicht nur in Förderschulen statt, sondern reicht weit in die Früherziehung und Vorschulerziehung sowie in die Bereiche der Regelschule hinein, gefordert durch Kinder und Eltern in Problemsituationen im Erziehungs- und Lernprozess. Es geht dabei zunächst primär um Prävention, Integration und Inklusion (vgl. Schäfer / Rittmeyer 2015).
Als übergreifende permanente Aufgabe wird Verhaltensbeobachtung Erziehungs- und Lernprozesse begleiten (Kap. 5.2.1).
Aus der Diagnose und Analyse der vorliegenden Problematik ergibt sich die Aufgabe, die Möglichkeiten der Erziehung und Bildung des jeweiligen Kindes zu eruieren. Sonderpädagogik muss sich beschäftigen mit der Frage nach dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung eines Kindes mit Behinderung, mit der Frage nach der optimalen Förderung, der Ermutigung, evtl. mit dem Problem, dass das Kind lernt, mit seiner Behinderung zu leben, mit dem Ausgleich einer Beeinträchtigung etwa auch auf anderem Gebiet, also mit der Frage der Kompensation (Alfred Adler).
Auch die Selbstregulierungstendenzen und die Selbstentfaltungskräfte im kindlichen Organismus sind zu beachten, d. h., ein Kind ist wandelbar im Laufe des Wachstums, es „entwickelt sich“ (Konstruktivismus) und wird nicht nur geprägt (Bundschuh 2008, 97 ff.). Im Zusammenhang mit der Diagnose gibt der Sonder- und Heilpädagoge Hilfestellung, beseitigt hemmende Einflüsse, behindernde Bedingungen und erstellt einen Förderplan (vgl. Kap. 6.6.3) und trägt damit zur Entfaltung der im Kind vorhandenen Möglichkeiten bei. Überforderungssituationen in der Grundschule werden im Zusammenhang mit helfenden und unterstützenden Maßnahmen abgebaut, Erfolgserlebnisse vermittelt, soziale Diskrimination durch den Anschluss an die Klassengemeinschaft (Integration, Inklusion) beseitigt. In unmittelbarem Zusammenhang mit den konkreten Aufgaben des diagnostizierenden Lehrers für Sonderpädagogik stehen noch einige wichtige Aspekte, wie z. B. die grundsätzliche Frage nach der Sicherheit bzw. Unsicherheit einer Diagnose, die Frage der Ätiologie und der einzuleitenden Förder- und Therapiemaßnahmen, ferner die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule für das Kind und die Familie. Die hier angeführten Aspekte sollen zumindest punktuell im Folgenden angesprochen werden.
Man kann sagen, dass eine Diagnose, die zugleich Fördermaßnahmen intendiert und impliziert, umso schwieriger wird, je stärker ein Mensch beeinträchtigt ist, etwa bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung oder mit schweren Verhaltensstörungen. Häufig wird die eigentliche Primärbehinderung (Grundbehinderung) von sekundären oder tertiären Behinderungen oder Störungen überlagert, die sich in der Folgezeit aufgebaut haben, wie das bei der Taubheit, Blindheit, bei körperlichen Beeinträchtigungen schlechthin der Fall ist oder im psychischen Bereich bei sozialen Störungen bis hin zur Neurose. Es kann vorkommen, dass sich im Verlauf einer psychologisch-sonderpädagogischen Untersuchung bei problematischen Kindern Widersprüche zeigen zwischen der intellektuellen Leistung, die im Intelligenztest erreicht wird, und der schulischen Leistung, zwischen den Aussagen des bisherigen Lehrers und den Ergebnissen der sonderpädagogischen Untersuchung (schlechte Leistungen in der Schule – relativ gute bei der Untersuchung). In einem solchen Fall müsste die Möglichkeit zu einer längeren Beobachtung eines Probanden, zu wiederholtem Testen mit verschiedenen Verfahren gegeben sein, vor allem auch mit möglichst „kulturfreien“ Verfahren, also mit Tests, deren Ergebnisse kaum von Lernprozessen, von Anregungen durch die Umwelt beeinflusst werden, um zu einer weitgehend gesicherten Information und Aussage über eine Förderung zu kommen.
Ungereimtheiten und Widersprüche im Verlauf einer Untersuchung sollten stets zu denken geben und nach Möglichkeit aufgeklärt werden.
Zum Aufgabenfeld des diagnostisch tätigen Lehrers für Sonderpädagogik gehören auch Fragen nach dem Zeitpunkt der Entstehung und damit eng verknüpft auch die Frage nach der Ätiologie (Ursache) einer Beeinträchtigung. Wichtig wäre es also zu klären, wann eine Störung oder Schädigung eingetreten ist:
1. pränatal (vorgeburtlich), etwa durch Röteln, infektiöse Hepatitis (Gelbsucht), toxische (giftige) Einflüsse, Sauerstoffmangelzustände, evtl. bereits durch Milieueinflüsse (mangelnde Hygiene, keine Vorsorgeuntersuchung …)
2. perinatal (während der Geburt), evtl. durch eine besondere Lage des Kindes im Mutterleib, Atemstillstand, Asphyxie (Sauerstoffmangel), besondere Umstände bei der Geburt …
3. oder postnatal (nach der Geburt), möglicherweise durch frühkindliche Gehirnschädigung, Unfälle leichter bis schwerer Art, Infektionskrankheiten, besondere Krankheiten oder vielleicht durch ungünstige Milieueinflüsse (soziokulturelle Benachteiligung, wenig Lernreize, schlechte Ernährung , Armut …).
Gerade im Zusammenhang mit einer Milieuschädigung spielt die Intensität und die Dauer eine wesentliche Rolle für den Schweregrad einer Störung oder gar Behinderung. Zu denken wäre z. B. an fortgesetzte Kindesmisshandlung, an ständige Ehekonflikte, die vor dem Kind ausgetragen werden, in die vielleicht das Kind einbezogen wird, an gravierende Fehleinstellungen der Eltern zum Kind …
Zeitpunkt und Ätiologie einer Beeinträchtigung können sicherlich nicht immer ganz exakt eruiert werden, dennoch darf das Bemühen um Klärung der genannten Aspekte nicht als zweitrangig betrachtet werden, da die Fördermaßnahmen in einem unmittelbaren Bezug zum Ursachenbereich stehen.
Die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule sollte für das Kind – und auch für die Eltern – nicht als gering angesehen werden. Die zunächst allgemeine Diagnose und das „ Urteil – förderschulbedürftig“ bringen eine Zuordnung zu einer Minderheit mit sich mit allen Konsequenzen für das spätere Leben. Man muss aber auch bedenken, dass ein Verbleiben an der Regelschule für die Lernbereitschaft und für die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit negative Folgen mit sich bringt, wenn das Kind ständig überfordert wird, immer wieder sein Nicht-Leistenkönnen erfährt und schließlich Schulangst entwickelt. Immer wieder wird die Problematik der Entscheidung „Förderschulbedürftigkeit“ im Zusammenhang mit Schülern im Förderbedarf Lernen zur Diskussion gestellt. Das niedrige Sozialprestige gerade bei der zahlenmäßig größten Gruppe, nämlich bei den Schülern mit Förderbedarf Lernen, zeigt sich nicht nur darin, dass vermeintliche Dummheit in unserer Gesellschaft leider immer noch Spott und Schande hervorruft, sondern auch deutliche Beeinträchtigungen der Entwicklungsmöglichkeiten vor allem nach Beendigung der Schulzeit zur Folge hat, die von der Gesellschaft gesetzt werden.
So bleiben Schülern mit Förderbedarf Lernen bestimmte Berufe verschlossen, denen sie begabungsmäßig durchaus gewachsen wären, wie z. B. die Beamtenlaufbahn des einfachen Dienstes bei der Post oder eine ganze Reihe von Lehrberufen.
Greift man wiederum die Gruppe der Schüler mit Lernbehinderung – jetzt Förderbedarf / -schwerpunkt Lernen – heraus, so muss man bemerken, dass bei keinem anderen Förderschultyp so viele Probleme auftreten, es vielleicht wegen der mangelnden Offensichtlichkeit der Beeinträchtigung dieser Kinder so viele Widersprüche und Anfechtungsklagen gegen Ein- und Umschulungsentscheidungen gab, wie bei Sonderpädagogischen Förderzentren (früher „Hilfsschule“, Schule zur individuellen Lernförderung genannt), weil die „Behinderung“ zu wenig offensichtlich, zu wenig prägnant und auffällig ist, weil sie eben häufig erst dann zutage tritt, wenn schulische Anforderungen an die Kinder gestellt werden. Deshalb sehen auch die Eltern manchmal die Notwendigkeit der Maßnahmen in Form einer „besonderen“ Beschulung ihrer Kinder nicht ein.
Sie wehren sich im Zusammenhang mit dem vielerorts diffamierenden Charakter dieses Schultyps gegen eine Aufnahme ihrer Kinder in eine Schule mit dem Schwerpunkt Förderbedarf Lernen. Der Begriff Lernbehinderung wurde traditionell betrachtet auch als „euphemistisch“, „relational“, „diffamierend“, „fixierend“, „simplifizierend“ und als „pauschalierend“ gesehen.
Gerade diese Aufgaben des diagnostizierenden Sonder- und Heilpädagogen im institutionellen Bereich haben viel zur Kritik an seiner diagnostischen Tätigkeit beigetragen. Die Frage bleibt offen, wer an seine Stelle tritt, wenn er diese Aufgabe nicht auf der Basis seiner sonderpädagogischen Kompetenz, seines pädagogischen Verständnisses und seiner heilpädagogischen Einstellung realisiert, vielleicht ein Mediziner oder ein Verwaltungsfachmann? Ohne gründliche, aber auch praktikable (!) innovatorische Reflexionen über „rein pädagogische“ Möglichkeiten im Rahmen eines Schulsystems sollte weder das Sonder-, jetzt Förderschulwesen aufgelöst noch der Beruf des Sonder- oder Förderschullehrers „abgeschafft“ werden (vgl. die unbefriedigende, in Einzelfällen schlimme Situation in Italien, über die 1982 Prof. Galliani von der Universität Padua berichtete). Die im folgenden Abschnitt zu thematisierende, pädagogisch akzeptablere Förderdiagnostik im Sinne einer Prozess- und Begleitdiagnostik, die speziell auch im Rahmen von Unterricht realisiert werden kann, erweitert nicht nur Perspektiven, sondern auch Möglichkeiten.
3.4 Sonderpädagogisch-psychologische Diagnose als Förderdiagnose
In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereits hervorgehoben, dass die Diagnose alleine im Hinblick auf das Kind wenig Relevanz besitzen würde, wenn nicht gleichzeitig gezielte, differenzierte Vorschläge zur Förderung eines in seiner Entwicklung beeinträchtigten Kindes gegeben würden. Das Moment der Förderung enthält eine so eminent wichtige Funktion, dass nicht darauf verzichtet werden kann, diesen Aspekt zu thematisieren und allen weiteren Ausführungen als Prinzip zugrunde zu legen. Es geht im Rahmen der sonderpädagogischen Diagnostik nicht in erster Linie um die Feststellung einer Störung, eines Defizits oder einer Behinderung, vielmehr ganz speziell um die „Herausstellung der für eine sonderpäd. Förderung geeigneten Ansatz- und Ausgleichsmöglichkeiten“ (Kap. 5.8), wobei man sich auch der ärztlichen Befunde bedienen sollte.
Die förderdiagnostische Untersuchung intendiert insbesondere Ansätze und Vorschläge für gezielte Maßnahmen zum Abbau und zur Kompensation von Beeinträchtigungen, zur Prävention von Störungen, zur Prophylaxe bei vorliegenden Beeinträchtigungen und Anregungen zur Entfaltung einer vorliegenden Spezialbegabung. In diesem Sinne führt die sonderpädagogische Diagnostik, die sich als Förderdiagnostik (Bundschuh 2019) versteht, immer zu einer Bildbarkeits-Diagnose. Der Sonder- und Heilpädagoge forscht gleichsam auch nach einem Begabungsbereich, der einer „Begabungsinsel“ gleichkommt und zur Emanzipation geführt werden soll. Es geht heute nicht mehr in erster Linie um eine „Feststellung“, nicht mehr um ein „Urteil“, nicht mehr um die „Einweisung“ in eine bestimmte „sonderpädagogische Einrichtung“, vielmehr geht es – zunächst allgemein ausgedrückt – um die Transformation förderdiagnostischer Erkenntnisse in die Entwicklung, in Lernprozesse, Unterrichtsprozesse (Curricula), in das Leben eines in seiner Entwicklung gefährdeten und beeinträchtigten Menschen schlechthin.
Förderungsspezifische Diagnostik soll dazu beitragen, erschwerte Lernprozesse zu erleichtern, massives Schulversagen soll so möglichst gar nicht erst entstehen bzw. gemildert oder überwunden werden:
– Zeitlich kann eine förderungsspezifische Diagnostik nicht auf die Überprüfungsperiode beschränkt bleiben. Sie muss stets dann angewendet werden, wenn Lernschwierigkeiten auftreten.
– Gegenstand der förderungsspezifischen Diagnostik sind nicht Merkmale des Kindes, sondern das gesamte Bedingungsgefüge des schulischen Erfolgs und Misserfolgs ist einzubeziehen.
– Als Methoden sind solche Verfahren vorzuziehen, deren Daten direkt Ansatzpunkte für pädagogische und therapeutische Interventionen liefern und nicht erst über verschiedene Arten von Schlussfolgerungen ein hypothetisches Konstrukt (wie es z.B. die „Intelligenz“ ist) quantifizieren.
Wir sind der Meinung, dass sich förderungsspezifische Diagnostik auch im Rahmen einer unmittelbaren Verbindung von indirekten und direkten Verfahren realisieren lässt.
„Indirekte Modelle“ sonderpädagogischer Diagnostik werden von Peter Barkey so beschrieben: Sie beziehen sich „weitgehend auf individuell zentrierte Defizitannahmen oder Feststellungen, die als individuelle Beschreibungsmomente wenig expliziten Bezug auf zu erreichende Lernziele nehmen“ (Barkey 1975, 21).
„Indirekte Modelle sonderpädagogischer Diagnostik benutzen als Vergleichsgruppe jahrgangsgleiche, nach biographischen und demographischen Kriterien homogenisierte Schülerpopulationen, die durch die Verteilung ihrer Lernleistungen gruppenspezifische Kriterien für bestimmte Auffälligkeiten repräsentieren. Unterschiedliche Lernbedingungen werden als Störvariable berücksichtigt, die sich durch entsprechendes Vorgehen bei der Auswahl der Bezugsgruppe – bei standardisierten Tests: Eichstichprobe – ausgleichen sollen. Indirekte Modelle sonderpädagogischer Diagnostik beziehen sich sehr häufig auf der Medizin entlehnte Analogien …“ (Barkey 1975, 21 f.).
Unter den indirekten Modellen sonderpädagogischer Diagnostik versteht man vor allem die Verfahren, die sich an die normorientierte Diagnostik anlehnen; d. h., sie werden mit dem Ziel angewendet, einzelne Untersuchungsergebnisse im Hinblick auf statistische Bezugswerte (Normen, Testnormen, Eichwerte) einer bestimmten Bezugsgruppe auszudrücken und zu interpretieren. Hierzu gehören alle Verfahren, die man als psychometrische Verfahren (messende Verfahren) bezeichnet, die den Vergleich einer Einzelleistung mit der Leistung einer größeren Bezugsgruppe zulassen. Dies könnten z. B. Intelligenztests, Schulleistungs-, Schulreifetests, Fähigkeitstests … sein.
Barkey sieht die „wohl wichtigste Dimension direkter Modelle sonderpädagogischer Diagnostik darin, dass sie bei einer Feststellung mehr oder weniger nicht erreichter Lernziele die Bedingungen für das Nichterreichen dieser Lernziele erkundet, damit neue gezielte Maßnahmen eingeleitet werden können.“ Diese Modelle „benutzen als Bezugsgruppe die Schüler, die in einer bestimmten Zeit und im Rahmen einer bestimmten pädagogischen Unterweisung gleiche Lernangebote für ein explizit genanntes Lernziel erhalten. Direkte Modelle versuchen bei Nichterreichen dieses Ziels Bedingungen für das Nichterreichen aufzudecken und daraus Handlungsanweisungen für zusätzliche pädagogische Hilfen abzuleiten.“ So stellen die direkten Modelle sonderpädagogischer Diagnostik „verstärkt die Möglichkeiten der Modifikation und Variation pädagogischen Handelns im Sinne etwa der Verhaltensmodifikation in den Vordergrund“ (Barkey 1975, 22).
Beispielhaft charakterisiert wird eine relativ flexible und variable Form der Verhaltensbeobachtung – empfohlen vor allem die „Situationsanalyse“ als eine Form der Beobachtung des Schülerverhaltens in spezifischen Lernsituationen und Lernprozessen.
Im Zusammenhang mit problematischen Kindern ist anzustreben, „die ohnehin vorhandenen Stigmatisierungen nicht noch durch wissenschaftlich aufgebauschte Nomenklaturen zu untermauern, sondern Kategorien zu finden, die in Bezug auf erzieherisch mögliche Interventionen dem Lehrer Hilfen für sein pädagogisches Handeln bieten“ (Barkey 1975, 27).
Barkey als Vertreter direkter Modelle meint, bei der Beurteilung schulischer Leistungen seien direkte Modelle der Leistungsprüfung vorzuziehen.
Direkte Modelle stellen die pädagogische Problemanalyse in den Mittelpunkt, wobei zwischen curricularem, Interaktions- und Modifikationsaspekt unterschieden wird.
Sonderpädagogische Diagnostik, orientiert an direkten Modellen, geschieht also auf der Grundlage der Analyse und Strukturierung der Lernziele und Kenntnisse des Unterrichtsverlaufsgeschehens. Die gegenwärtig diskutierten und auch versuchsweise erprobten alternativen diagnostischen Konzepte im pädagogisch-sonderpädagogischen Bereich orientierten sich in hohem Maße an dem aufgezeigten Gedanken direkter Modelle, wobei die wesentlichen Schwerpunkte in dem erweiterten diagnostischen Prozess, in den unmittelbar an die Diagnose anschließenden Interventions-, Handlungs- und Evaluationsstrategien liegen.
Verschiedene Beiträge vergleichen und bewerten herkömmliche Diagnostik mit neueren förderungsorientierten Ansätzen (Barkey 1975; Eggert 1975). Kautter (1975) hält die am Medizinischen Modell orientierte Diagnostik für Selektionsentscheidungen für den „gegenwärtigen Zustand“ und strebt eine an den Förderungsbedürfnissen orientierte Diagnostik an.
Kobi stellt (1977, 115–123) richtungsweisend in 28 Thesen „Einweisungsdiagnostik“ und „Förderdiagnostik“ gegenüber. Es fällt schwer, die wesentlichen Inhalte dieser sehr systematisch aufgezeigten Thesen hier darzulegen, denn alle implizieren hohe Relevanz. Es soll deshalb der Versuch unternommen werden, die aus der Sicht des Verfassers bedeutsamsten Momente der Förderdiagnostik (FD) vorzustellen:
– „Die Förder-Diagnostik entwickelte sich in kritischer Distanznahme von der Einweisungs-Diagnostik im Zuge verschiedener Theorien des Lernens und der Verhaltensmodifikation, des Integrationsgedankens, der Bestrebungen um Frühförderung, der Kommunikationsforschung etc.…“ (These 1).
– „Im Vordergrund stehen kriterienorientierte, curriculare und modifikatorische Interventionsfragen“ (These 2).
– „Paradigma für die FD ist die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, welche ein definiertes Lernziel mittlerer Reichweite anstreben“ (These 3).
– „FD findet ihre Zweckbestimmung in der Förderung und hat ihren Bezugsrahmen in einem Fluß-System. Je dynamischer, durchlässiger und anverwandlungsfähiger ein solches System (z.B. Gesamtschule) ist, umso eher kann FD individualisierte, ad personam konkretisierte und problemzentrierte Innovationen (z.B. orthodidaktischer oder verhaltensmodifikatorischer Art) vornehmen“ (These 6).
– „FD ist topologisch und relational orientiert. D.h., sie ist nach einem pädagogischen Denkmodell an der Ortung von Störungsherden und der Herstellung optimaler Arrangements interessiert“ (These 7).
– „Grundlegend ist ein ökologisches Interaktions-Modell; das zur Diskussion stehende Kind wird – wie alle übrigen Personen – als integrierendes Unterganzes eines Kommunikationssystems gesehen“ (These 9).
– „In der FD werden das Subjekt, seine Leistungen und sein Verhalten im Bezugssystem seiner gegenwärtigen Lebensumstände und deren Anforderungen gesehen und ,fest’ gestellt. FD ist an intraindividuellen Unterschieden interessiert“ (These 10).
– „Personen werden nicht auf einen Objektstatus reduziert, sondern als Subjekte interpelliert: sowohl während der Situationsanalyse wie auch während des Meinungsbildungsprozesses bzgl. des Interventionskonzepts“ (These 11).
– „Wichtiger noch als die (Leistungs-)Produkt-Analyse ist die (Lern-)Prozeß-Analyse: Der Frage, wie groß und welcher Art die Abweichungen von einer Erwartungsnorm sind, ist die Frage übergeordnet, über welche Wege und Marken derartige Abweichungen zustande kommen“ (These 13).
– „FD ist nicht ein Akt, sondern ein Prozeß. Kontinuierliche Situationsanalysen innerhalb der Interventionen weisen FD als Begleit-Diagnostik aus. Sie ermitteln Daten und Fakten, die in einem direkten Bezug stehen zu heilpädagogisch-orthodidaktischen Interventionen und Innovationen“ (These 14).
– „Subjektive Bezüge und die Eigenwelt der Person werden in ihrer existentiellen Bedeutung ernst genommen. Die Maske der Objektivität wird fallen gelassen; an deren Stelle tritt eine unverhüllte und möglichst dichte Subjektivität …“ (These 15).
– „FD begibt sich in den Lebens- und Erlebensraum ihrer Probanden oder Konfliktpartner, und sie versucht diesen auf den subjekthaften Realitätsebenen zu begegnen. Subjekte werden in jener Umgebung, von der sie sich abheben, interpelliert und zur Selbstdarstellung eingeladen …“ (These 16).
– „FD ist lifespace-(Lebensraum-)Diagnostik: Sie findet an jenem Ort und unter jenen Umständen statt, wo ein Kind angeblich versagt oder sich bewähren sollte“ (These 18).
– „Diagnostik und pädagogische Intervention bilden eine untrennbare Einheit innerhalb interaktionalen Kreis- und Gestaltungsprozessen“ (These 21).
– „Die diagnostische Situation ist offen: Kind, Eltern, Lehrer wird der diagnostische Prozeß einsehbar (transparent) gemacht. Es wird, wenn immer möglich, vermieden, daß zwischen den Beteiligten so etwas wie ein Arzt-Geheimnis Platz greift.,Offene Akten‘!“ (These 22).
– „(Etappen-)Ziele gelten als erreicht, wenn alle Beteiligten aufgrund einer Alternativen-Prüfung sich auf gemeinsamer Vertragsbasis einigen können und wenn eine Diagnose neue Perspektiven eröffnet“ (These 23).
– „Die Verantwortung ist grundsätzlich unteilbar – auch dann, wenn – gewisse Aufträge, klar umschrieben, an einzelne Personen abgegeben werden. Die Erfüllung des persönlichen Auftrags entbindet nicht von der Gesamtverantwortung! – Dem Kind, den Eltern, der Lehrerschaft, den Behörden wird je die Entscheidungssituation und die mit den getroffenen Entscheidungen verbundenen Konsequenzen transparent gehalten …“ (These 24).
– „FD sieht in ihrem Probanden einen Schüler (im weitesten Sinne), d. h. ein in einem Auszeugungsprozeß befindliches Subjekt, mit dem zusammen Lernperspektiven zu entwerfen sind. – Dieses werdende Subjekt ist der FD vieldeutig. Was sie vornimmt, ist eine Art Spektralanalyse, d. h. ein Aufweisen verschiedener Ziele und Wege, – zwischen denen das Subjekt im Extremfall nach einem analogen (fließenden, nahtlosen) Entscheidungssystem sich frei bewegen kann …“ (These 25).
– „FD zielt auf Fazilitation, erfaßt problemzentriert Interaktionsprozesse und ist durch ein systemanalytisches Vorgehen charakterisiert. Sie orientiert sich an einem Flußmodell, welches keine starren und unverrückbaren Grenzen aufweist“ (These 27).
– „FD kann sich hingegen in einem rigiden Schachtel-System kaum entfalten. Systemimmante Barrieren legen sich der Realisierung gezielter Förderprogramme hindernd in den Weg …“ (These 28).
Kobi zeigt damit bereits eine dynamische und prozessuale Vorgehensweise von Förderdiagnostik auf, deren Realisierung ohne Einschränkung wünschenswert ist. Die Hauptbarriere einer Verwirklichung solcher Gedanken liegt – wie Kobi bemerkt – in der Struktur der Schulsysteme. Der Autor meint abschließend zu den aufgestellten Thesen: „Es wird gezeigt, dass Förderdiagnostik aus heilpädagogischer Sicht zwar dringend notwendig wäre, innerhalb eines rigiden (Schul-)Systems jedoch nur geringe Entfaltungsmöglichkeiten hat“ (1977, 123).
Erfasst werden somit Veränderungen und deren Bedingungen. Weiterhin ergeben sich alle handlungs- und entscheidungsrelevanten Daten aus direkter Beobachtung aller am Interaktionsprozess beteiligten Personen, einschließlich des gesamten situativen Kontextes. Ziel der Diagnostik ist es, Informationen zur Optimierung schulischer Lehr-, Lern- und Interaktionsprozesse zu erhalten. Die zu stellende Frage lautet: Versucht nicht der interessierte, am Schüler orientierte Lehrer im Unterricht ohnehin eine Realisierung dessen, was mit „direkten Modellen“beschrieben wird? Der Lehrer informiert, lässt erarbeiten, diskutiert, evaluiert, setzt zusammen mit den Schülern neue Ziele, um nur einige Tätigkeiten anzuführen. Der angesichts bekannter Probleme in Schulen und Schulklassen versuchsweise schülerorientiert arbeitende Lehrer fühlt sich jedoch ständig überfordert.
Sonderpädagogische Diagnostik kann wohl nicht ganz auf die Verwendung normierter und standardisierter Verfahren verzichten. Der Gedanke der direkten Modelle erweist sich als sehr positiv.
Realistisch erscheint die Forderung, dass ein mit sonderpädagogischen Maßnahmen konfrontiertes Kind – sei es in der Vorschule, Regel- oder Förderschule – fortwährend hinsichtlich seiner Entwicklung beobachtet, dass es in prozessualer Form förderdiagnostisch begleitet wird, dass mindestens jährlich eine gründlichere förderdiagnostische Untersuchung mit allen Möglichkeiten der Neuorientierung angesetzt wird.
Förderdiagnose zielt hin auf Förderung und Hilfe im pädagogischen Bereich, auf Integration im sozialen Bereich unter Einbezug der Familie und der übrigen sozialen Umwelt, auf Entwicklung und Entfaltung im psychischen Bereich, auf Heilung und Therapie im Allgemeinen, soweit dies im sonderpädagogischen Feld möglich sein kann, wobei auf die enge Verflechtung und Verzahnung der angesprochenen Bereiche hinzuweisen ist. Förderung hat immer die Ganzheit eines Kindes und sein Umfeld im Auge zu behalten (Bundschuh 2019, 91–94).
Während sich im Zusammenhang mit Früherkennung und weiteren Maßnahmen bei Kindern mit Förderbedarf geistige Entwicklung, Förderbedarf Bewegung und Motorik und bei Kindern mit Sinnesbeeinträchtigungen „Förderdiagnose“ auf dem Weg der Realisierung befindet, müssen im Zusammenhang mit Kindern mit Förderbedarf Lernen Neuüberlegungen, Reformen, Neustrukturierungen, Veränderungen in Richtung Präventivmaßnahmen unter Einbeziehung der Familien, ferner Durchlässigkeit und Dynamik im Sinne integrativer Unterrichtung und Inklusion eintreten. Die neue Bezeichnung „Förderbedarf Lernen“ deutet dies an, diesen Bedarf haben an sich alle Kinder, häufig auch die Erwachsenen.
Zusammenfassung
Psychodiagnostik im herkömmlichen Sinn zielt auf Erkundung der individuellen psychischen Struktur, der einem Individuum zugrunde liegenden Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften. Sie bedient sich ganz bestimmter Verfahren (Anamnese, Exploration, Verhaltensbeobachtung, Tests, Fragebögen, Screenings).
Diese Diagnostik orientierte sich in hohem Maße am Medizinischen Modell, d. h., Störungen sind Sache des Individuums, sie werden durch bestimmte Ursachen im Bereich des Individuums hervorgerufen. Die Erkennung und Beseitigung dieser im Individuum liegenden Ursache führt zur Therapie (Bundschuh 2019, 47–49).
Tab. 2: Gegenüberstellung Einweisungsdiagnostik – Förderdiagnostik
Abgelöst wird diese Diagnostik, die Defizite und Störungen in der Person selbst sucht, durch eine an soziologische und sozialwissenschaftliche Gedanken orientierte Vorgehensweise, d. h. verursachende Momente einer Störung (Schulversagen, Verhaltensstörungen) werden vor allem im Kommunikationsbereich des Individuums gesucht, z. B. im Familienmilieu, im Bereich der Schule, in der sozialen Umwelt überhaupt durch Etikettierungs-, Stigmatisierungsprozesse und durch Rollenzuweisung („er ist aggressiv, unruhig, faul“; „er geht aus dieser Familie hervor“, „er kommt aus dieser Gegend“). Systeme können behindern (Bundschuh 2019, 64 ff.; 2008, 326–331).
Der Gegenstandsbereich der sonderpädagogischen Diagnostik steht in enger Beziehung zu in ihrer geistigen, emotionalen, sozialen, physischen Entwicklung gefährdeten oder beeinträchtigten Personen, wobei stets der Interaktions- und Umweltbereich impliziert ist. Zumeist wird es sich dabei um Kinder / Schüler handeln, die sonder- und heilpädagogische Diagnostik kommt jedoch auch bei Personen aller Altersgruppen zur Anwendung, Handlungsbedarf liegt jedenfalls im Kontext Beeinträchtigungen / Behinderungen – vor allem mit zunehmendem Alter – vor.
Die Aufgaben fordern vom Sonder- und Heilpädagogen neben einer Kenntnis der Entwicklungsprozesse (Bundschuh 2008, 87–168) Informationen über Verursachungsmomente, Bedingungen und Formen von Beeinträchtigungen sowie Möglichkeiten der Förderung und Therapie (Bundschuh 2008, 242–302).
Die ursprünglich als Hauptaufgabe gesehene Diagnose als Entscheidung für bestimmte Maßnahmen meist selektiver Art wird abgelöst durch den Prozess der Förderung. Diagnose und Förderung können nicht mehr getrennt gesehen werden, stellen eine Einheit dar und müssen permanent unter Einbezug der Umwelt und deren Interaktionen als Prozess stattfinden. Somit müssen die Tendenzen, im pädagogischen Bereich von einer Selektionsstrategie zu einer Modifikationsstrategie zu kommen, verstärkt und weiterentwickelt werden.
Der Sonderschullehrer trug mit „seiner Diagnose“ und Entscheidung „Sonderschulbedürftigkeit“ ein kaum vertretbares Maß an Verantwortung. Sollte sich der Gedanke der Förderdiagnostik auch im schulbürokratischen und schulbehördlichen Bereich hinsichtlich mehr Offenheit, Flexibilität und Dynamik auch hinsichtlich der Frage nach der Integration weiter durchsetzen, werden sich die Probleme, die sich bisher im Rahmen der „Überprüfung auf Sonderschulbedürftigkeit“, jetzt Förderschulbedürftigkeit bzw. Frage nach dem individuellen Förderbedarf, ergaben, erheblich neutralisieren. Sonderpädagogische Diagnostik erhält ihre Legitimation nur aus den Aspekten Verstehen und Förderung (Bundschuh 2007, 77–144), sie darf keinesfalls statischen, vielmehr nur dynamischen Charakter haben.
Alternativmodelle zur herkömmlichen Diagnostik orientieren sich in hohem Maße am schulischen Geschehen (Verhalten, Lernziele, Curricula). Es zeigt sich, dass es eine Reihe von Ansätzen gibt, die zahlreichen Probleme einer traditionellen Diagnostik, die sich weitgehend als statische Diagnostik, Selektionsdiagnostik, Merkmals- und Eigenschaftsdiagnostik erwiesen hat und somit eher Festschreibungen und defizitäre Beschreibungen im Zusammenhang mit sonder- oder heilpädagogischen Problemstellungen lieferte (anstelle von Förderungsimpulsen), zu überwinden.
Mit der Veränderungsdiagnostik verfolgt man das Ziel, durch den Vergleich zweier oder mehrerer Zustände im Zeitverlauf eine Aussage über Veränderungen oder Stabilität von Merkmalen zu treffen. Unter pädagogischem und psychologischem Aspekt betrachtet geht es dabei meist auch um einen Prozess zwischen Ist- und Sollzustand. In der Regel wird die erzielte Veränderung als Folge eines natürlichen Prozesses (z. B. Wachstum, Reifung, Lernen), einer Intervention (z. B. pädagogische Förderung, Psycho- oder Pharmakotherapie) oder situationsbedingter Variabilität (z. B. Tagesereignisse) interpretiert. Vorhaben zur Veränderungsdiagnostik setzen gezielte Annahmen über Entwicklungs- und Interventionsverläufe sowie Situationseinflüsse voraus. Diese Annahmen können nur überprüft werden, wenn adäquate, veränderungssensitive Erhebungsverfahren vorliegen, die Veränderungen – zuverlässig – abbilden können. Letztlich hängt die Entscheidung darüber, wann und wie oft eine Verhaltensweise bzw. auch ein Merkmal im Verlauf einer Zeitspanne erhoben werden soll, von bestimmten Annahmen über Entwicklungen und den damit zusammenhängenden psychologischen Prozessen ab, die erfasst werden sollen.
Die neueren Entwicklungen führen weg von der statischen, indirekten Vorgehensweise über den Einbezug behavioristischer, sozialwissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer und anthropologischer Einflüsse im weiten Sinne hin zu einer lernorientierten, „direkten“ Diagnostik. Häufig bestand nur Interesse an dem, was „ist“, im weitgehend statischen Sinn (Persönlichkeitsmerkmale und -eigenschaften). Dieser Aspekt erweitert sich nun in Richtung was „soll“, und wie dieses „Soll“erreicht werden kann. Der Schwerpunkt der neueren Ansätze liegt auf dem Moment der Information zwecks Handeln und Förderung, d. h., intendiert wird primär der Fortschritt der Persönlichkeit durch Erweiterung der Handlungskompetenz (Bundschuh 2008, 218–224; 2019).
Die Psychologische Diagnostik ist eng mit anderen Teildisziplinen der Psychologie vernetzt. Die Entwicklung psychodiagnostischer Methoden und Erhebungsstrategien im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld wird in hohem Maße von diagnostischen bzw. förderdiagnostischen Fragestellungen beeinflusst. Um dieses große Aufgabengebiet bewältigen zu können, bedarf es der engen Verbindung insbesondere zur Entwicklungspsychologie, der Pädagogischen Psychologie (Frage nach dem Lernen und Lernstörungen), der Klinischen Psychologie (Psychotherapien können zur Aufarbeitung und Beseitigung sozialer und emotionaler Störungen beitragen), der Medizinischen Psychologie und der Sozialpsychologie (Analyse der Kind-Umfeld-Bedingungen).
Abb. 1: Querverbindungen heilpädagogischer Diagnostik (Bundschuh 2008, 239)
Die Abb. 1 zeigt die Bedeutung der Förderdiagnostik im sonder- und heilpädagogischen Erziehungs- und Arbeitsfeld auf. Förderdiagnostik leistet einen Beitrag zum besseren Kennenlernen und Verstehen von Personen in einer Notsituation. Gegenstand der Förderdiagnostik sind nicht Defizite oder „Mängel“ des Kindes, einer Person, vielmehr die Notsituation selbst, die Entwicklungen behindernder Bedingungen, ins Stokken geratene Erziehungs- und Lernprozesse sowie die Erkundung der aus der Notsituation entstandenen speziellen Erziehungs- und Handlungsbedürfnisse. Verwiesen sei hierbei auf die pädagogische Verantwortung und die Berücksichtigung der anthropologischen, pädagogischen, sozialen, didaktischen, ganzheitlichen und ggf. therapeutischen Dimensionen der Förderdiagnostik (Bundschuh 2019, 75–105, 126–135).
Die sonderpädagogische Diagnostik hat zwar Methoden und viele Impulse aus der psychologischen Diagnostik entnommen, ist aber hinsichtlich ihrer speziellen Aufgaben, ihrer schwierigen, komplexen sowie herausfordernden Handlungsfelder und ihrer Ziele eigenständig (Bundschuh 2019). Unter sonderpädagogischer Diagnostik wird das Insgesamt aller Erkenntnisbemühungen im Dienste aktueller (heil-) pädagogischer Herausforderungen, Prozesse und Entscheidungen verstanden. Diagnostik im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld ist primär auf den Einzelfall unter Einbezug negativer, d. h. für die Entwicklung ungünstiger, aber auch positiver, d. h. förderlicher Umfeldbedingungen, fokussiert. In Anlehnung an die Definition „pädagogischer Diagnostik“ von Ingenkamp und Lissmann (2008, 13) umfasst sonderpädagogische Diagnostik alle diagnostischen Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Schülern bzw. Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, (gestörte) Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu verbessern bzw. zu optimieren, bei Bedarf auch Verhalten positiv zu beeinflussen. Zur sonderpädagogischen Diagnostik bzw. Förderdiagnostik gehören ferner die diagnostischen Tätigkeiten, die die Zuweisung zu individuellen Förderprogrammen bzw. Fördermaßnahmen unter Einbezug eines Förderplanes ermöglichen. Dies alles geschieht im Kontext gesellschaftlich verankerter Aufgaben der Ausbildung und Bildung kindlicher Persönlichkeit (Bundschuh 2012, 37–57).