Читать книгу Schwarz / Weiß. Der Tod hat zwei Gesichter. Ein London-Krimi - Christoph Wittmann - Страница 7

Kapitel 2

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Zehn Wochen vorher

Duncan McGregor schnellte mit einem Ruck in die Höhe, als er vom nervtötenden Geräusch seines Handys geweckt wurde. Er fluchte, als er in der Dunkelheit danach tastete und es vom Nachtkästchen wirft.

Ein nostalgisches Ring Ring erklang nun von irgendwo am Boden. Dazu tanzte rhythmisch in der Finsternis das blaue Licht seines Displays und erhellte zuckend sein Schlafzimmer.

Duncan fluchte erneut und griff danach.

„Ja … McGregor“, sagte er mürrisch und genervt ins Telefon, nachdem er es doch noch gefunden hatte.

„Durward Street? In Ordnung. Geben Sie mir wenigstens eine halbe Stunde bis fünfundvierzig Minuten. Es ist mitten in der Nacht.“ Duncan beendete das Gespräch und blieb einen Moment im Bett liegen. Er blickte auf das Display. 4:00 Uhr morgens.

McGregor atmete tief durch, stöhnte und fuhr sich mit der Hand durch seinen schwarzen Schopf.

Er ging ins Bad und drehte die Dusche heiß auf. Bevor er sich seine Bettwärme erhalten wollte, schaltete er die Kaffeemaschine an. Ohne Kaffee ging McGregor nie aus dem Haus. Einsatz oder nicht.

Sein Appartement in Whitcomb lag im Herzen von London. Die Durward Street liegt im East End. Aber an diesem Morgen machte ihm der Verkehr keine Sorgen. Sonntagmorgens um 4:20 war kein Mensch auf der Strasse. Abgesehen von Betrunkenen und sonstigen nachtaktiven und zwielichtigen Gestalten.

Duncan fuhr zügig durch die Straßen und Neil Young sang ihm dazu leise sein Heart of Gold. Ein Balsam für seinen Kopf, der nun nur noch leicht in den Schläfen pochte. Solange lebte er bereits in dieser Stadt und diente dem Scotland Yard. Nun schien sich all der Stress und wenige Schlaf zu rächen. Und das in Form von rasenden Kopfschmerzen. Gestern Nacht musste er früher von der Arbeit gehen, weil er nicht einmal mehr die Buchstaben auf den Berichten lesen konnte. Nach zwei Aspirin, einem kräftigen Schluck Scotch zum Nachspülen und einer Schlaftablette wurde der Schmerz erträglicher. Er schaffte es gerade noch ins Schlafzimmer. Sonst wäre er vermutlich noch im Wohnzimmer auf den Fußboden geknallt.

Es war eine nebelige Nacht. Ein typisch britisches Wetter.

McGregor ließ die Scheibe ein Stück hinunter und zündete sich eine Zigarette an. Er hustete und atmete die frische Nachtluft ein.

Die Fahrt auf der Whitechapel High Street bis zur Whitechapel Road ging zügig voran. In dieser Nacht war ungewöhnlich wenig los auf den Straßen. Vielleicht lag es ja am immer dichter werdenden Nebel, der sich nun über ganz East End ausbreitete.

Duncan bog bei Rot ab.

Die Durward Street war nicht sonderlich lang, aber dafür ziemlich gut versteckt. So wie es aussah, war McGregor der letzte, der am Tatort eintraf. Ein Meer aus Blaulichtern erhellte die ganze Straße. Jeweils zwei Streifenwagen blockierten die Zufahrt von der Brady Street und Vallance Road.

McGregor kurbelte die Scheibe ganz nach unten und zeigte dem Officer seinen Ausweis, der ihn daraufhin passieren ließ.

Er parkte seinen Wagen am Rand und ging zum Tatort, wo er gleich vom Gerichtsmediziner Stephen Riberio empfangen wurde. McGregor war kein kleiner Mann, aber Riberio überragte ihn noch einmal um eine Kopfgröße. Er hatte etwas Großväterliches an sich, wenn er mit seinen zerzausten, schütteren weißen Haaren dastand und sich seinen Vollbart kratzte.

„Detective Sergeant McGregor. Schön, dass Sie hier sind. Obwohl ich mir einen besseren Umstand und vor allem eine christlichere Zeit vorstellen kann, um mit ihnen zu plaudern.“

McGregor schüttelte ihm die Hand. „Die Freude ist ganz meinerseits, Doktor. Wie geht’s Ihrer Frau?“

„Monica geht’s gut, Detective. Danke der Nachfrage.“

„Also, was ist hier passiert?“

Das Lächeln aus Riberios Gesicht verschwand abrupt, als er McGregor bat, mitzukommen.

In einer kleinen, dunklen Seitengasse lag ein entblößter Frauenkörper. Duncan trat an die Leiche heran und kniete sich vor ihr auf den Boden.

Der Leichnam war lilienblass und wies nicht den kleinsten Makel auf. Sie war vollkommen nackt. Zwei kleine Blutlachen hatten sich unter ihrem Körper gebildet.

Zwei Wunden. Ein tiefer Schnitt durch ihre Kehle und die zweite Blutspur hatte ihren Ursprung zwischen den Beinen.

Ihr Gesicht sah irgendwie erstarrt aus und ihre langen, blonden Haare waren an manchen Stellen mit trockenem Blut verkrustet.

McGregor nahm zwei Latexhandschuhe aus dem Beutel in seiner Jackentasche und zog sie über seine Hände. Mit einem leisen Schnalzer passte er sie an.

Er griff mit seiner rechten Hand nach der toten Frau und spreizte ihr leicht die Beine.

McGregor wusste nur allzu gut, wie die Regionen einer Frau aussehen, aber das hier hatte nicht annähernd eine Ähnlichkeit mit dessen er sich normalerweise zu vergnügen wusste.

„Was war das bloß für ein perverses Schwein?“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu Riberio.

Riberio kniete sich neben ihn und warf einen Blick zwischen die Beine.

„Ich habe mir das vorhin schon angesehen. Von der Vagina ist nicht mehr viel übrig, wie es aussieht. Nähere Details über die Verstümmelung kann ich Ihnen erst sagen, nachdem ich sie auf meinem Tisch untersucht habe, Detective. Aber so viel kann ich Ihnen schon jetzt sagen. Er musste das Mädchen gehasst haben.“

Duncan nickte und erhob sich wieder aus seiner knienden Position.

„Wo ist eigentlich Matt?“, fragte Duncan und drehte sich dabei einmal um seine eigene Achse.

„Detective Peterson? Der muss irgendwo bei der Presse sein, denke ich.“ Riberio deutete mit der Hand in Richtung einer Menschenmenge.

Umringt von Blitzlichtgewitter stand Duncans Partner Matthew Peterson da und gestikulierte. Seine Gesten waren nicht gerade freundlich.

„Matt, was machst du da?“

„Ich erkläre den Pressetypen nur, dass sie sich zum Teufel scheren sollen.“

„Nun komm schon, lass Donelly das Statement abgeben. Wir haben Wichtigeres zu tun, Partner.“ Duncan zerrte ihn am Arm.

„Ja ja, schon gut. Wo warst du so lange?“, fragte ihn Peterson.

„Wo ich so … Nun hör mal. Es ist mitten in der Nacht und ich wohne ja nicht gleich um die Ecke. Wie lange bist du schon hier?“

„Ich war einer der ersten am Tatort. Ich hatte das Vergnügen, da ich in der Nähe war.“

McGregor stöhnte. „Schlägst du dir immer noch die Nächte um die Ohren?“ Duncans bemitleidenswerter Blick schien Matt peinlich zu sein.

„Seit Amy weg ist, kann ich nicht schlafen, das weißt du. Aber ich krieg das schon in den Griff. Mach dir um mich keine Sorgen, Kleiner.“

Duncan machte sich dennoch Sorgen um seinen Partner. Matts Frau Amy ist vor drei Monaten mit ihrem Anwalt, der nun zugleich ihr Scheidungsanwalt war, durchgebrannt.

„Ach scheiß drauf, Duncan. Ich weiß, wie ich aussehen muss.“

„Warst du schon wieder in Soho? Bei den Bordsteinschwalben?“

„Was soll ich denn bitte sonst machen? Soho, Whitechapel. Überall ist es besser als bei mir zuhause. Da fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich habe auch Bedürfnisse. Außerdem, ich liebe dich wie einen Bruder, aber das geht dich verdammt noch mal nichts an“, zischte Peterson mehr erschrocken, weil sein Partner ihn so gut kannte.

„Mir ist es egal, wie du Nacht für Nacht deine Befriedigung im Whisky oder bei einer Nutte findest, aber du solltest dich in Zukunft nicht mehr in diesem Milieu bewegen.“

„Wieso? Schlechtes Image?“

„Nein, aber du könntest ganz schnell auf der Abschussliste landen, oder hast du vergessen, dass dich Carlyle im Visier hat? Manche Kollegen reden schon und wollen dich lieber aus der Stadt jagen, als im Dienst sehen. Die meinen, du seiest nicht ganz bei der Sache.“

„Wenn du darauf hinaus willst, wie mich Carlyle bei unseren vorigen Ermittlungen in der Bar erwischt hat, solltest du dich auch fragen was der Chief in dem Viertel gesucht hat. Bestimmt nicht mich. Aber das hinterfragt ja niemand.“

Peterson war ein attraktiver Mann gewesen, aber das war längst vorbei. Die letzten Monate hatten tiefe Spuren in seinem Gesicht hinterlassen.

„Carlyle ist der Chief, Matt. Der sitzt am längeren Hebel. Außerdem wirfst du auch auf mich ein schlechtes Licht. Hör auf mit dem Scheiß, oder unser beider Arsch wird früher oder später auf Grundeis gehen.“

McGregors Worte trafen ihn wie ein Hammer.

„Scheiß auf Carlyle, auf die Kollegen. Ja, scheiß auf dich Partner.“ Petersons Augen waren feucht.

„Weißt du was, Matt? Du verträgst die verfluchte Wahrheit nicht. Wir beide haben eine Menge Scheiße durchgemacht. Du warst einer der verdammt besten Detectives in dieser Stadt. Aber die Betonung liegt auf war. Und jetzt sieh dich an. Deine Frau ist durchgebrannt. Na und? Du könntest jede in der verfluchten Stadt haben. Du könntest schon lange Detective Inspector, oder mehr beim CID sein. Du bist nicht mehr das, was du einmal warst. Weißt du, was du bist? Ein selbstbemitleidender, selbstsüchtiger Bastard.“

Peterson war wie versteinert. Er kannte Duncan schon seit der Polizeischule, doch solche Worte hatte er noch nie von ihm hören müssen.

„Zur Hölle mit dir“, sagte Peterson leise und holte zum Schlag aus.

„Ho, Detectives. Ich störe ja nur ungern eure Zärtlichkeiten. Aber die Spurensicherung wäre nun soweit fürs Erste und die Jungs wollen wissen, ob ihr die Leiche freigebt.“

Peterson beruhigte sich, als sie von Gerald Fitzpatrick, einem Officer, unterbrochen wurden.

„Ja, sag Riberio, dass er uns kontaktieren soll, sobald er etwas weiß“, sagte McGregor ruhig und ließ dabei seinen Partner nicht aus den Augen.

„Wir sehen uns am Revier.“ McGregor wandte Peterson den Rücken zu und begab sich zu seinem Auto.

Peterson blieb stehen – inmitten von all dem zuckenden Blaulicht – und starrte zu Boden.

McGregor wartete in seinem Büro auf Carlyle. Es war noch dunkel. Regen setzte ein und prasselte leicht an die Fensterscheibe. Er nahm ein Blatt Papier, ließ den Stift einen Moment darüber baumeln und begann mit seinem Bericht. Er brachte nur wenige Zeilen zu Papier. Sein Kopf war voller Gedanken. Gedanken über sein Leben, den Fall, aber hauptsächlich dachte er darüber nach, was er vor zwei Stunden zu seinem Partner gesagt hatte. Matt war für ihn wie ein Bruder, doch er hasste es zuzusehen, wie er sein Leben wegwarf. Wenn Superintendent Carlyle Matt suspendieren würde, dann würde auch er das nicht verkraften.

Das Morgenlicht besiegte indes die letzten Schatten der Nacht. McGregor blickte hoch und sah, dass Carlyle soeben zur Tür hereinschneite.

Duncan zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich in den Stuhl und wartete, bis ihn der Captain rufen würde.

„Nehmen Sie Platz, Inspector“, sagte Carlyle und sortierte nebenbei den Papierhaufen auf seinem Schreibtisch.

Scott Carlyle war Superintendent des Criminal Investigation Department. Und ein Mann, bei dem man nie so genau wusste, wo man dran war.

Fest stand, er war überlegen und wog einen in Sicherheit, bevor er explodierte. Etliche Male hatte McGregor das selbst schon am eigenen Leib verspüren müssen. Carlyle war Sir, und das nicht ohne Grund. Seine Verdienste für sein Land waren unumstritten, obwohl die wenigsten in seiner Umgebung glaubten, dass alles nach Vorschrift gelaufen ist. Er besaß eine Villa in der Stadt und war mit einer vierunddreißigjährigen Blondine verheiratet. Immerhin war sie gut siebenundzwanzig Jahre jünger als er. Auch wenn die meisten in der Abteilung darüber lästerten, niemand hätte es je gewagt ihm ins Gesicht zu sagen, dass Evelyn ihn nur wegen seines Geldes geheiratet hat. Carlyle achtete darauf, seine Frau von der Öffentlichkeit fern zu halten.

McGregor wartete geduldig, bis Carlyle die letzten Papiere wegräumte.

„Also McGregor. Wie sieht’s aus? Wissen wir schon etwas über die Identität der Leiche?“

„Nein, Superintendent. Noch nicht. Riberio meldet sich nach seiner Untersuchung. Fest steht, dass es das Werk eines brutalen Killers war.“

„Ach wirklich? Soso. Sind das nicht alle Morde, Inspector?“, sagte Carlyle lächelnd.

„Sie verstehen nicht ganz. Sie wurde nicht erschossen oder erwürgt. Sie wurde aufgeschlitzt und verstümmelt.“

„Ein Mord mit Hass also. Vielleicht ein Nebenbuhler, oder ein gehörnter Ehemann.“

„Ja, wir können zurzeit nur spekulieren.“

„Bleiben Sie am Ball. Sie unterrichten mich über jeden Schritt?“

„Natürlich Sir.“

McGregor wartete noch einen Moment. Aber Carlyle schien wieder beschäftigt zu sein.

„Ach noch etwas, McGregor.“ McGregor war fast aus der Tür hinaus. Aber das war Carlyles Art. Irgendetwas kam immer.

„Ist mit Peterson alles in Ordnung?“

McGregor wusste, dass diese Frage kommen würde.

„Ja, Sir. Es geht ihm gut.“

„Das glaube ich Ihnen zwar nicht, aber ich verstehe, dass Sie Ihrem Partner den Rücken stärken. Das respektiere ich. Loyalität, McGregor. Loyalität. Aber lassen Sie sich eines gesagt sein. Wenn er Scheiße baut, gehen sie im Schulterschluss mit ihm unter. Er wird Ihr Untergang sein.“

McGregor antwortete nicht. Er war noch nicht einmal wütend auf Carlyle. Das Traurige war, dass er vermutlich sogar recht hatte.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Detective?“

McGregor wankte.

„Ja, alles bestens. Nur meine Migräne hat mich fest im Griff. Sie wissen ja, der Stress.“

„Da gibt es etwas, das nennt sich Medikamente. Hier.“

Carlyle erhob sich und reichte McGregor eine Visitenkarte.

„Was ist das?“

„Das ist der beste Arzt in ganz London. Fahren Sie noch heute zu ihm und sagen Sie, dass ich Sie geschickt habe.“

McGregor klopfte zu Mittag an Petersons Bürotür. Er hatte gerade den Anruf vom Gerichtsmediziner erhalten. Er beobachtete Matt zuvor durch die Glastür. Sein Partner saß minutenlang auf seinem Stuhl und starrte die Wand an.

Als McGregor eintrat, nahm Peterson einen Stift zur Hand und kritzelte etwas auf Papier.

Ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich ihm gegenüber.

„Was gibt’s, Duncan. Ich hab eine Menge zu tun.“

„Auf uns wird noch eine Menge mehr zukommen.“

„Ja. Vermutlich.“

„Riberio hat mich gerade angerufen. Er hat die Leiche untersucht und wir sollen zu ihm kommen.“

Matt legte den Stift zur Seite.

„Duncan … es tut mir leid, was ich heute morgen gesagt und noch mehr was ich beinahe getan habe.“

Ein schier endloser Moment des Schweigens trat ein.

„Vergiss es, Partner. Wir sollten uns auf den Fall konzentrieren.“

Matt erwartete vermutlich ebenfalls einen Akt der Entschuldigung. Aber insgeheim wusste er, dass es für Duncan nichts zu entschuldigen gab. Er hatte recht.

„Hör zu, Matt. Wir klären das ein andermal. Du kannst mich nach diesem Fall immer noch schlagen. Aber jetzt lass uns fahren.“

Dr. Stephen Riberio wartete bereits auf die beiden Detectives. Der Raum war steril, kahl und ein stetiges Surren des künstlichen Lichts war das einzige Geräusch darin.

Mitten im Raum stand ein Nirosta-Tisch und darauf lag die Leiche der jungen Frau.

„So, Detectives. Mit meinen Untersuchungen bin ich durch.“ Riberio wusch und desinfizierte sich die Hände.

„Und? Wissen wir schon, wer sie ist?“

„Sie hat mir ihren Namen nicht verraten.“ McGregor und Peterson warfen sich nur einen ernsten Blick zu, während der Doktor über seinen eigenen Spruch lächelte.

„Tut mir leid. Irgendwie muss ich mich in diesem Job bei Laune halten. Nein, es wird auch niemand vermisst, der auf diese Beschreibung passt. Aber …“ Riberio begab sich zur Leiche und die Detectives folgten ihm.

„Aber … Sehen Sie hier.“ Er spreizte das linke Bein der Leiche zur Seite. Eine Tätowierung kam zum Vorschein. McGregor beugte sich nach vorn, um sie genauer zu betrachten. JJ’s Property stand in geschwungener Schrift auf der blassen Haut.

„JJs Eigentum?“ McGregor runzelte die Stirn.

„Wer zum Henker ist JJ?“, sagte Peterson.

„Entweder ihr Lover …“

„… oder ihr Zuhälter“, vollendete Riberio McGregors Satz.

„Ist das heutzutage schon üblich, dass man seine Huren wie Rinder kennzeichnet?“, warf sich Peterson ein.

„Was ist heutzutage nicht mehr üblich?“, entgegnete Riberio mit einem Grinsen.

„Ich bin zwar alt, aber ich gehe mit der Zeit. Mich wundert auf dieser Welt nichts mehr. Außerdem gibt es noch einen Hinweis, der darauf zurückführen könnte, dass unsere Lady hier ein leichtes Mädchen war.“

Riberio stapfte hinüber zu seinem Schreibtisch und nahm seine Mappe mit den Ergebnissen.

„Sie hatte Herpes genitalis und Tripper.“

„Ja aber in der heutigen Zeit muss man doch keine Nutte mehr sein, um sich so etwas einzufangen.“

„Das nicht, Detective Peterson. Aber es liegt an Ihnen herauszufinden, ob sie eine Asphaltprinzessin war.“

„Gut, Doktor Riberio. Vielen Dank erst mal für die schnelle Arbeit.“

Riberio nickte und gab McGregor ein Polaroid der Toten.

„Hast du schon was vor, Matt?“

„Wann?“

„Wie wär’s mit heute Abend?“

„Willst du mich anmachen?“

„Idiot. Wir sollten JJ suchen. Wenn es denn überhaupt einen Typen gibt, der sich so nennt.“

Die Detectives reichten dem Doktor die Hand und verschwanden.

Der Bezirk Whitechapel war nachts ein angesagter Ort für die verschiedensten Nachtvögel. Genau wie all die anderen Plätze in London auch. Das Leben scheint hier nie still zu stehen. Im Gegenteil. Nachts hatte man den Eindruck, dass noch mehr los ist als tagsüber. Besonders in den einschlägigen Lokalen.

Peterson parkte den Wagen.

„Also, Fürst der Nacht. Welche Bordelle gibt es hier in der Nähe?“

Matt verdrehte die Augen.

„Denkst du wirklich ich kenne in dieser Stadt jedes einzelne Freudenhaus?“

McGregor warf ihm nur einen alles sagenden Blick zu.

„Gut. Da vorne in dieser Gasse gibt es gleich zwei. Die gehören irgendwie zusammen. Ist aber ziemlich schäbig da drinnen.“

McGregor lächelte.

„Na, ist doch perfekt. Unsere tote Blondine war ja auch nicht gerade eine Schicki-Micki-Puppe. Lass uns mal einen Besuch abstatten. Mein letzter Bordell-Besuch war auf der Polizeischule.“

„Ich weiß, erinnere mich bloß nicht an diesen Abend“, seufzte Matt.

Die Fenster waren gekippt. Ein süßlicher Geruch drang heraus. Wahrscheinlich Haschisch.

Sie betraten den Schuppen, der den klingenden Namen Pink Pussy trug. ‚Wie originell‘, dachte sich McGregor.

Der Geruch war nicht nur süßlich, sondern es roch nach Schweiß. Es stank nach billigem Fusel und vor allem roch es nach Sex. Nach Latex. Matt schien der Geruch nicht sonderlich zu überraschen.

Die Räumlichkeiten waren wie erwartet. Schäbig. Ein richtiges Drecksloch würde es wohl eher treffen. Die Bar sah aus wie das El Dorado für alle Bakterien dieser Welt. Als die Detectives auf die Theke zusteuerten vermied besonders Duncan es, sich daran anzulehnen. Er betrachtete die verkrusteten Flecken mit einem Ausdruck tiefsten Ekels. Sein Gehirn weigerte sich den Ursprung dieser Flecken zu eruieren.

Hinter der Bar stand eine Frau Mitte Fünfzig. Vermutlich war sie aber um einiges jünger. Sie trug ihr fettiges Haar zu einem Zopf und hatte ein Oberteil an, dessen Wölbungen nur erahnen ließen, was sich darunter verbirgt. McGregor wünschte, er wäre blind gewesen.

„Was wollt ihr trinken?“

McGregor schüttelte vehement den Kopf. Er wollte auf keinen Fall ein Glas aus diesem Schuppen in der Hand halten, geschweige denn mit seinen Lippen berühren.

„Nichts, danke. Wir suchen jemanden.“

„Wir haben hier nicht so eine Auswahl“, antwortete sie.

„Nein nicht diese Art von Suche. Vermisst ihr hier eine … Angestellte?“

„Seid ihr etwa Bullen? Weil wenn ja, dann gibt’s Rabatt.“ Sie zwinkerte Matt zu.

„Ich weiß, aber …“, sagte Matt und erwiderte kurz den verwunderten Blick von Duncan.

„Vermisst ihr nun Personal, oder nicht?“

Die Barkeeperin, oder was sie sonst noch für Funktionen hatte, zündete sich eine Zigarette an und hustete nach dem ersten Zug rasselnd.

„Nein, verdammt. Nicht, dass ich wüsste. Also was ist jetzt? Entweder ihr trinkt etwas, oder ihr geht mit einer Süßen aufs Zimmer.“

Duncan beobachtete Matt, der sich umsah, geradeso, als suche er jemanden.

„Eine Frage noch, dann sind wir weg. Kennen Sie einen Typen namens JJ?“

Sie sah Matt in die Augen. „Was hat der kleine Pisser nun wieder angestellt?“

„Bingo“, sagte McGregor leise und beobachtete wie ein vollbärtiger, schmerbäuchiger Mann die Treppen hinunter kam und seinen Hosenstall schloss. Kurz darauf folgte ihm ein barbusiges Mädchen. Sie war bestimmt hübsch – wenn man die Schminke abtrug und sie für ein Monat auf Erholung schicken würde.

„Sie kennen diesen JJ?“, hakte Duncan nach.

„Ja, dieser Scheißkerl legt sich mit allen an. Jonas Jefferson heißt der Bastard mit vollem Namen. Hat seinen Schuppen in der Baker Street – falls er ihn noch hat.“

Sie nahm ein Glas, füllte es zu einem Drittel mit Whisky und leerte es in einem Zug.

„Gut, Danke. Und bleiben Sie bitte in der Stadt und halten Sie sich für etwaige weitere Fragen zur Verfügung.“

„Wo sollte ich denn schon hin?“, krächzte die Bardame.

McGregor nickte und zerrte Matt am Arm.

„Lass uns verschwinden.“

McGregor war froh, aus diesem Etablissement raus zu sein.

„In solchen Schuppen treibst du dich rum?“

Matt antwortete nicht. McGregor verstand. Es war nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit, um ihren Disput aus der Welt zu schaffen.

Das von der heruntergekommenen Barfrau beschriebene Bordell befand sich nur unweit von Madame Tussauds. Ein unscheinbares Gebäude mit einem blau leuchtenden Schriftzug:

Blue Orchid.

Zumindest sah es besser und freundlicher aus als das Pink Pussy in Whitechapel, wie McGregor fand.

Auch innen war es nicht so schäbig. Zumindest war die Bar sauber.

McGregor rechnete bereits mit einer neuen Erscheinung von Frankensteins Braut hinter der Theke. Aber zu seiner Überraschung stand ein Mann hinter der Bar. Er sah zwar nicht besser aus, aber wenigstens war er nicht freizügig angezogen.

Er trug seine Haare zu einem Zopf, einen dunklen gepflegten Vollbart und hatte eine auffallende Narbe an der Backe. An dieser Stelle wuchs kein Bart.

„Willkommen im Blue Orchid. Was darf’s denn sein?“ Es klang mechanisch, so als ob er diesen Spruch unzählige Male jede Nacht aufsagen würde.

„Wir suchen JJ“, sagte Peterson und beugte sich ein Stück über die Theke.

„Warum?“

„Wir haben ein paar Fragen an ihn.“

„Bullen?“

„Ja. Also wissen Sie, wo er ist?“

„Steht vor Ihnen.“

Er hob den Arm. JJ war am Handgelenk eintätowiert.

„Gut, vielleicht haben Sie schon von dem Mord gehört, in Whitechapel.“

„So etwas breitet sich aus wie ein Lauffeuer. Ich war’s nicht, wenn Sie deswegen hier sind“, sagte er trocken ohne eine Spur von Nervosität zu zeigen.

„Sie hatte ein auffälliges Tattoo an ihrem Oberschenkel. JJ’s Property. War sie Ihr Eigentum?”

„Lisa, die kleine Schlampe. Das ist lange her.“ JJ lächelte. „Hat sie es also nicht geschafft?“

„Na, Sie trauern ja nicht gerade und sind nicht sonderlich überrascht, dass sie tot ist“, sagte Peterson erstaunt.

„Hätten Sie sie gekannt, würde Sie das auch nicht überraschen. Wollt ihr Jungs auch einen Drink? Feinster Jameson.“ JJ hob die Flasche und sah die beiden Detectives fragend an.

McGregor vergewisserte sich ob die Gläser sauber waren. Nach einem prüfenden Blick nickte er.

„Warum nicht?“

JJ nahm drei Shotgläser und füllte jedes zu einem Drittel.

„Also, die junge Dame …“, setzte Peterson wieder an und JJ reagierte mit grunzendem Lächeln.

„Dame? Sie war eine Nutte.“

„Warum trug sie die Tätowierung?“

„Das ist lange her. Seht euch meinen Akt an. Einst gehörte Lisa zu meinem Stall. Damals trugen wir ein paar kleine Streitereien in unserer Branche aus. Lisa war so eine Schlampe, die für den arbeitete, der ihr das meiste Geld bot. Oder den besten Stoff. Auch ich war zu der Zeit ständig auf einem Trip. Doch jetzt bin ich clean. Und das schon seit einer Ewigkeit. Betreibe den Schuppen und füge mich den Vorschriften. Tja, aber damals war noch der böse JJ am Werk. Ich habe ihr das Tattoo verpasst, weil ich nicht wollte, dass sie für einen anderen arbeitet. Sie war mein bestes Pferd. Und mein Name ist bekannt, also verlor sie an Wert, wenn die Pisser sehen, dass sie mir gehört.“

„Für wen hat sie gearbeitet?“

„Keine Ahnung. Ich hab sie irgendwann rausgeworfen, als sie mich mit jedem Fick beschissen hat. Die kleine Schlampe nahm mich aus wie eine Weihnachtsgans. Das macht man nicht mit JJ. Hab’ mal gehört, dass sie selbständig arbeitete.“ JJ hielt sein Glas hoch, nickte den Detectives zu und leerte das Glas.

„Sonst noch was?“

„Was bekommen Sie für den Whisky?“

„Der geht aufs Haus. Aber kommt nicht wieder.“

McGregor und Peterson leerten ihre Gläser und verließen das Lokal.

„Also ein Nuttenmord“, sagte McGregor, als sie wieder im Auto saßen.

„Ja, da wollte wohl jemand nicht für die Nummer bezahlen.“

„Vermutlich.“

„Wir suchen also die Nadel im Heuhaufen.“ Peterson startete den Wagen.

„So etwas kommt immer wieder vor. Und wie viele von den Arschlöchern können wir dingfest machen?“

Peterson sah seinen Partner wortlos an. Die Aussicht auf eine Spur war äußerst gering. Wer würde schon eine Nutte vermissen?

McGregor griff nach seinem Päckchen Zigaretten und fischte dabei die Visitenkarte, die ihm Carlyle gegeben hatte, aus seiner Jackentasche. Dr. Geoffrey Preston stand darauf.

Gleich am nächsten Morgen suchte er ihn auf.

Schwarz / Weiß. Der Tod hat zwei Gesichter. Ein London-Krimi

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