Читать книгу DER MODDETEKTIV BESIEGT CORONA - Christopher Just - Страница 6

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Heute ist Birgit gestorben. Vielleicht auch gestern, er weiß nicht. Er hat ein Telegramm vom VNAPD bekommen: »Birgit verstorben. Beisetzung morgen. Hochachtungsvoll, Inspector Krambambo.« Das will nichts heißen. Es war vielleicht gestern. Vielleicht auch jemals.

»WHYYYYYYY!« schreiend, fuhr der Moddetektiv aus einem bereits hunderte Male durchlebten, immer an derselben Stelle endenden Traum hoch und fand sich mit tränenüberströmtem Gesicht und steil aufgerichtetem Oberkörper in den schweißgetränkten Laken seines Bettes wieder. Es dauerte mehrere Minuten, bis es ihm gelang, die klammen Fetzen seines finsteren Traumes abzuschütteln und die Fassung einigermaßen wiederzuerlangen.

Sein Kopf kochte, seine Augen pochten, seine Ohren sausten, seine Nase bebte. Sein Gaumen klebte, seine Kehle schnürte, sein Atem rasselte, seine Lunge stach, denn: Es war ein weiterer dieser elenden Tage, an dem seine Stirn schon am Morgen so heiß war, als wäre es bereits Vormittag, doch es war noch zeitig in der Früh, denn wäre es bereits Vormittag, wäre seine Stirn mindestens so heiß wie zu Mittag oder wie am Nachmittag, wo seine Stirn dann allerdings bereits so heiß wäre, als wäre es längst Abend oder er immer noch in New Orleans.

Mit einem Wort: Er fühlte sich miserabel. Und das schon seit Wochen. So konnte das unmöglich weitergehen. Ächzend hievte er sich aus dem Bett, schleppte sich mit wackeligen Knien Richtung Telefon. Der Weg ins Arbeitszimmer dehnte sich in unendliche Weiten, bewegte sich jedoch zugleich mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu und im selben Moment wieder von ihm fort, während um ihn herum die Stühle, Tische, Lampen – überhaupt alles – fortwährend tanzend die unterschiedlichsten Größen und Formen annahmen. Als er endlich den Schreibtisch erreichte und mit letzter Kraft den Hörer abnahm, kam ihm dessen Gewicht einer Zweihundertfünfzigkilogrammhantel aus Wolle gleich. Mit zittrigem Finger kurbelte er die meistgefragte Zahlenkombination des Universums in die Wählscheibe und machte sich, von supersofter Synthetiksaxophontonbandmusik eingelullt, auf eine längere Wartezeit gefasst.

FOUr HoURS LAtER

(drei Stunden später)

Das scharfe Knacksen eines völlig unerwarteten Abhubs riss ihn jäh aus einem fiebertraumartigen Dämmerzustand. Auf der Suche nach einem Anhaltspunkt blickte er hilflos um sich. Wie lange war er hier gelegen? Es mochten Stunden, Tage, vielleicht sogar Wochen vergangen sein – Minuten waren es jedenfalls nicht gewesen, die Sonne stand bereits im Zenit. Plötzlich beträllerte ein vor unangebrachtem Optimismus triefender Singsang seine Gehörgänge und ließ ihn die Überlegungen auf einen späteren Zeitpunkt vertagen.

»MyCorona, guten Tag, danke, dass Sie unsere 1450-Hotline in Anspruch nehmen, der Anruf kostet Sie neunzehn Dollar pro Minute und Sie sprechen mit Jutta Baumann. Was kann ich für Sie tun?«

»Hallo, Jutta, mein Name ist Der Moddetektiv – ich glaube, ich bin infiziert!«, stieß der Moddetektiv, vom stundenlangen Hängen in der supersoften Synthetiksaxophonwarteschleifenmusiklounge mürbe geworden, heiser hervor.

»So? Und warum glauben Sie das?«, frug ihn die augenblicklich mit einer Prise Skepsis bewürzte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ich fühle mich entsetzlich angeschlagen, habe starke Kopf- und Gliederschmerzen, wahrscheinlich hohes Fieber und –«

»Waren Sie in Italien?«, unterbrach ihn die Stimme mit der Eiseskälte professioneller Teilnahmslosigkeit.

»Ja, war ich!«, krächzte der Moddetektiv genervt.

»Sehr gut. Und wie lange ist das her?«

Der Moddetektiv überlegte. »Drei oder vier Jahre, vielleicht auch länger, ein Scooter-Run hatte mich nach Neapel –«

»Entschuldigen Sie bitte, Sir«, fiel ihm die myCorona-Lady scharf ins Wort, »ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor, meine Frage zielte darauf ab, ob Sie in jüngster Zeit in Italien waren, sagen wir mal, hmm, innerhalb der letzten drei Wochen?«

»Nein, war ich nicht«, grummelte der Moddetektiv kleinlaut und vermeinte am anderen Ende der Leitung das raue Kritzeln eines Kugelschreibers zu vernehmen, der ein Kästchen, neben dem »negativ« stand, ankreuzte.

»Also nicht in Italien gewesen …«, stellte die myCorona-Lady bedauernd fest. Um dann mit frischer Routine fortzufahren: »Und Tirol, Sir, waren Sie in Tirol?«

»Sagen Sie mal, Jette –«

»Jutta!«

»Meinetwegen Jutta, was soll das alles?! Ich spreche hier doch mit der myCorona-Hotline, oder bin ich etwa bei einem verdammten Reisebüro gelandet?!«

»Sir, ich muss Sie bitten, sich im Ton zu mäßigen und meine Fragen zu beantworten«, kam es reichlich reserviert retour. »Also, Sir, waren Sie in Tirol?«

»Tirol?«, stieß der Moddetektiv angeekelt hervor. »Nein, da war ich noch nie, und ich habe auch nicht vor, dort jemals je hinzu-«

»Tststs … Tirol also auch nicht«, murmelte es enttäuscht, während das knisternde Geraschel vertrockneter Dauerwellen ein mitleidiges Kopfschütteln und das im Anschluss folgende Kugelschreibergekrakel ein Ankreuzen des nächsten »Negativ«-Kästchens erahnen ließ. »Gibt es eine Person in Ihrem Haushalt, die an Corona erkrankt ist?«, lautete die im Anschluss an den Moddetektiv gerichtete Frage.

»Ich lebe allein.«

»Lebt allein …«, echote die Stimme am anderen Ende der Leitung verächtlich. Erneutes Kugelschreibernegativangekreuze. Um nach einer kurzen Nachdenkpause seufzend nachzuhaken: »Irgendjemand in Ihrem unmittelbaren Bekanntenkreis, der Symptome aufweist?«

»Allerdings!«, triumphierte der Moddetektiv. »Mrs. Krambambo!«

»Mrs. Krambambo?«

»Die Frau des Inspectors!«

»Haben Sie diese Mrs. Krambambo in letzter Zeit gesehen?«, frug die Telefonstimme nun argwöhnisch.

»Natürlich nicht! Niemand hat sie jemals gesehen, manch zynisch zerklüftete Zungen behaupten gar, sie existiere überhaupt nicht, vielmehr sei sie bloß eine Erfindung des Inspectors, um den Mörder mit bis zum Erbrechen liebenswerten Details aus seinem Privatleben so lange anzuöden, bis der Tunichtgut letztlich aufgrund blitzeblank gescheuerter Nervenstränge das Handtuch schmisse und alles gestehe, nur damit endlich sein Gesicht als Standbild sowie hernach die Schrift käme und es aus seie, verstehen Sie?«

»Ich verstehe, und, äh, dieser Inspector, haben Sie den in letzter Zeit gesehen?«

»Ebenfalls natürlich nicht, Inspector Krambambo zählt altersbedingt zu den Unberührbaren und ist, wie es sich gehört, selbstverständlich in Quarantäne. Niemand außer seiner Mrs. darf ihn sehen.«

»Von der wir allerdings nicht wissen, ob sie überhaupt existiert …«, gab die myCorona-Lady zu bedenken.

»Nur damit wir uns richtig verstehen: Das ist nicht meine Meinung!«, begohr der Moddetektiv auf, um jedoch gedeftet hintanzustellen: »Aber ja, es gibt diese Gerüchte.«

Letztmaliges, ablehnendes Kugelschreibergekritzel.

»So, das war’s auch schon, Sir. Bitte bleiben Sie in der Leitung, bis wir Ihren Test ausgewertet haben.« Supersofte Saxophonwarteschleifenmusik flutete den Hörer.

Test? Welcher Test?? Er hatte doch angerufen, um einen Test zu bekommen, da er sich entsetzlich angeschlagen fühlte, starke Kopf- und Gliederschmerzen hatte, zudem wahrscheinlich an hohem Fieber litt, sprich: eindeutig infiziert war! Keine drei Sekunden später meldete sich die my-Corona-Lady Jutta Baumann zurück.

»Sir, sind Sie noch dran?«

»Ja, bin ich!«

»Sir«, perlte es ihm freudig entgegen, »ich darf Sie zu Ihrem Testergebnis beglückwünschen, Sie sind Corona-negativ.«

»Wie bitte?? Welches Testergebnis? Ich wurde noch gar nicht getestet, genau deshalb rufe ich doch an, um endlich an einen dieser scheißverdammten Tests ranzukommen!«

»Sir, die Summe der Antworten auf die an Sie gestellten Nach-dem-Test-ist-vor-dem-Test-Fragen ergab eindeutig, dass Sie Corona-negativ sind und aus diesem Grund keinen weiteren Test benötigen.«

Es einfach nicht glauben könnend, schraubte sich die Stimme des Moddetektivs in kanzlerartige Höhen: »Bloß weil ich in jüngster Zeit nicht in Italien, nicht in Tirol, nicht bei Mrs. Krambambo, alles drei: gewesen bin, bescheinigen Sie, Jutta Baumann, mir, dem Der Moddetektiv, Coronanegativ und deshalb testunwürdig zu –«

Ein letztes Mal fiel ihm die myCorona-Lady mit liebenswürdig säuselndem Singsang ins Wort: »Danke, Sir, dass Sie sich an myCorona-1450 gewendet haben, wir hoffen, Ihnen geholfen zu haben, und wünschen Ihnen noch einen schönen Tag. Bleiben Sie gesund, und vergessen Sie nicht:

Gemeinsam schaffen wir das.«

Der Moddetektiv ballte die Fäuste, bis seine Fingerknöchel schneeweiß hervortraten, und sog, so tief es ihm in seinem momentanen Zustand möglich war, Luft in seine mit ziemlicher Sicherheit entzündete Lunge ein, um Jutta Baumann all seine Wut und Empörung um die Ohren zu brüllen – vergebliche Liebesmüh’, wie er aufgrund des mittlerweile teilnehmerlos an sein Gehör dringenden Tüt-tüt-tüts feststellen musste. Es immer noch nicht glauben könnend, ließ er den Hörer sinken und begab sich, von der Anstrengung des sinnlosen Telefonats stark geschwächt, wie in Trance in die Küche, wo er sich eine Tasse Earl Grant aufbrühte, um damit das erste Purple Heart* des Tages hinunterzuspülen. Als die ersten Wellen leiser Linderung an die Gestade seines geknechteten Gemüts schwappten, steckte er sich eine blaue Rothmans an, dann schlurfte er zurück ins Schlafzimmer, setzte sich aufs Bett und stierte zum Fenster hinaus, wo sich in gnadenloser Obszönität ein wolkenloser Himmel wie ein knallblaues Leichentuch über die sterbende Stadt gespannt hatte.

Er schaltete das Radio an.

»… wurden in Wien–Donaustadt erneut mehrere Personen zu Tode gebissen in ihren Wohnungen aufgefunden. Die Polizei geht davon aus, dass es sich dabei um das Werk sogenannter Plasma-Junkies handelt, die es auf die Antikörper im Blut bereits Genesener abgesehen haben. Zum Aufspüren ihrer Opfer machen sich die Plasma-Junkies die staatlich angeordnete myStatus-Pflicht-App zunutze. In einem eindringlichen Appell richtet sich der Oberarzt des KFJ Hospitals, Dr. Maryland, erneut an die Bevölkerung, und bittet inständig, von derartigen Praktiken abzusehen, da vom bloßen Trinken des Blutes als immun gekennzeichneter Personen keinerlei heilende Wirkung zu erwarten ist.

Des Weiteren häufen sich die brutalen Übergriffe von Anhängern der anfänglich als harmlose Irre eingestuften Sekte der Apokalyptischen Annieser. Wie bekannt wurde, kam es in letzter Zeit wiederholt zu Annies-Attacken, bei denen Mitglieder der Apokalyptischen Annieser, kurz AA genannt, nicht wie vorgeschrieben in ihre Armbeuge niesen, sondern zufällig des Weges kommende Passanten mit einem Trick, den die Polizei aus Sicherheitsgründen nicht bekanntgeben will, dazu veranlassen, den Schutzhelm abzunehmen, um ihnen im Anschluss mitten ins Gesicht zu niesen, zu spucken oder zu husten.

Für die Anhänger der Apokalyptischen Annieser steht laut einer Prophezeiung ihres Führers Coronald Covidel der Weltuntergang kurz bevor. Mitglieder der AA, die sich durch gegenseitiges Anniesen absichtlich infizieren, verweigern Virustests sowie das Tragen der staatlich verpflichteten Plexiglasniesschutzkugeln, verstoßen systematisch gegen die Ausgangsbeschränkungen und verspeisen illegal hergestellte Teigtaschen, die mit dem Auswurf Infizierter gefüllt sind, sogenannte Covideltascherl.

Der Gesundheitsminister rät, sich unbedingt von den Apokalyptischen Anniesern fernzuhalten und diese, sollten Sie ihnen begegnen, umgehend der Polizei zu melden sowie keinesfalls deren Covideltascherl – und sehen sie auch noch so schmackofatze aus – zu konsumieren.

Das waren die Nachrichten.

Und nun zum Wetter mit Verena Schöpfaaaaaaaaaaaaaaaaaa…

Er schaltete das Radio aus.

Was war da bloß so schiefgelaufen? Sogleich musste er mit einem von Bitterkeit zur Fratze verzerrten Grinsen desillusioniert den Kopf schütteln darüber, was denn diese an ihn selbst gestellte Frage sollte – er wusste es natürlich nur zu genau. Alle wussten es mittlerweile natürlich nur zu genau.

Viel zu früh hatte sich die von populistischen Politikern und meinungsmachenden Medien scharfgemachte, völlig bescheuerte Bevölkerung dieses idiotischen Landes kollektiv demaskiert, um die Shoppingmalls, Gartencenter und Parkanlagen zu Abertausenden zu stürmen, kaum dass die von den Wirtschaftsbossen weichgejammerte Regierung eine Lockerung der Ausnahmebestimmungen in Aussicht gestellt hatte. Verdächtig rasch hatte die Infektionskurve begonnen sich abzuflachen, fragwürdig schnell war euphorisch verlautbart worden, dass die Anzahl der Genesenen jene der positiv-getesteten Neuerkrankten überflügelte. Man brauchte bei Mod kein Detektiv sein, um zu erahnen, wie diese Jubelbotschaft zustande kam; man hatte einfach kontinuierlich weniger und weniger getestet, so gesehen also nicht einmal die Unwahrheit gesagt. Eine vom Gesundheitsminister medienwirksam angekündigte Studie, die an zweitausend vom Zufallsprinzip bestimmten Bürgern durchgeführt worden war, um Licht in die Dunkelziffer der unwissentlich Erkrankten zu bringen, wurde, als das Ergebnis feststand, klammheimlich unter den Teppich des Schweigens gekehrt, da sich die daraus gewonnenen Erkenntnisse vernichtend, weil gegenteilig zu der sich offiziell in schwungvoller Talfahrt befindlichen Kontaminationskrümmung ausnahmen. Denn eine Studie, die belegte, dass fünfzehnkommafünfmal so viele Infizierte wie angenommen begierig darauf warteten, endlich wieder Geld ausgeben zu dürfen, konnte man – wenn demnächst die Geschäfte wieder aufsperren sollten – so gut gebrauchen wie ein infektiologischer Oberarzt einen fingerlosen Handschuh aus Brüsseler Spitze.

Und endlich – immerhin hatte es endlose vier Wochen gedauert – durften die vom tatenlos ins Eigenheim einkasernierten, psychisch bereits schwer zerrütteten, dumpf vor sich hin fressenden und kackenden Familien, Lebens- und Wohngemeinschaften, Singles und Einzelindividuen die nicht einen einzigen weiteren Tag erträgliche Folter des Dolcefar-niente hinter sich lassen und hinaus in den Sommer, zurück in den als Normalität verkauften Shoppingirrsinn hüpfen, um endlich, endlich wieder Dinge jenseits von Teigwaren und Hygieneartikeln einzukaufen, endlich wieder überall in der Gegend herumzugehen (selbst wenn sie es zuvor nicht allzu sehr getan hatten), endlich wieder ihre Kredite für trendige Tops, schicke Chinos, freche Frisuren, bodenlange Bärte, bizarre Brillen, surreale Siebenmeilenstiefel, frische Fernsprechgeräte, erstklassige Elektronengehirne, eskapistische SUVs, rasante Rasenmäher, gewaltige Grillstationen, nachbarkeitsneidgenerierende Gartenlauben und so weiter und so fort, aufzustocken.

Und natürlich endlich, endlich, endlich!! – durften wieder alle Omas und Opas besucht werden (selbst wenn man es vor der Krise nicht so sehr getan hatte), die so tapfer in ihren Quarantänen ausgeharrt hatten. Wenn auch diese so lang ersehnten Wiedersehen in den meisten Fällen zum endgültig letzten Mal stattfanden … Denn: Nach kaum zwei Monaten kehrte die Seuche zurück und brach als »Corona 2.0 – THE SECOND WAVE« über die Welt herein. Und gegen diese zweite Welle war Corona Phase 1 bloß ein Gruß aus der Küche, ein Easy-Peasy-Lemon-Squeezy-Frühlingsspaziergang gewesen. Corona 2.0 schlug eine beinharte Bresche ungekannter Breite in die Bevölkerung, es schien, als hätte das verdammte Virus aus seinen Anfängerfehlern gelernt, sämtliche seiner Kinderkrankheiten ausgemerzt, um nun, flügge geworden, aus dem Ärmel zu schütteln, was es wirklich draufhatte.

Zuvörderst wurden die endlich wieder besucht werden gedurften Omas und Opas lückenlos dahingerafft, dicht gefolgt von den Betreibern, Angestellten und Kunden von Bau- und Gartenmärkten sowie den Inhabern der kleinen Läden, sprich: flinke Friseure, niedliche Nagelstudios, intime Waxingwerkstätten und Zeugs, also die, die als Erste wieder aufgesperrt hatten.

Dann waren die Gastronomen, Hoteliers samt ihrer freudig herbeigereisten Gäste sowie die Immobilienbranche an der Reihe; vom irrigen Gerücht, stark gefallener Miet- und Kaufpreise in Scharen angelockt, gaben die Makler den Interessenten bei Wohnungs- und Hausbesichtigungen das Virus im wahrsten Sinn des Wortes über die Türklinke in die Hand. Dicht gefolgt von den Schülern, Studenten und Lehrkräften. Im naiven Glauben, der Peak der Krise sei überwunden, und nicht zuletzt auf massiven Druck genervter Eltern waren die Tore der Bildungsanstalten nach kaum sechswöchiger Pause wieder geöffnet worden. Aus Maturaklassen Maturacluster machend, bediente sich die Seuche ungeniert an den als Speerspitze zurück an die Front geschickten Abiturienten sowie deren weiblichen Pendants. Das Resultat: Ein ganzer Maturajahrgang wurde ausgelöscht.

Enorme Verluste klarerweise auch im öffentlichen Dienst: Polizisten, Bus- und U-Bahnfahrer, Beamte, Müllmänner, Politiker, Ärzte und Krankenhauspersonal, klarerweise allesamt jedweden Geschlechts: zu Abertausenden von Corona 2.0 niedergestreckt.

Es folgte der Sport: Unter dem unglückseligen Begriff »Geisterspiele« wurden die ersten Teams und Athleten verfeinstofflicht, und als dessen ungeachtet auch die Fans wieder in die Stadien Einlass fanden, konnte das Virus nach Herzenslust aus dem Vollen schöpfen.

Wer daraufhin die blauäugige Hoffnung hegte, Corona würde zumindest im Bereich der schönen Künste Milde walten lassen, wurde bitter enttäuscht: Die Seuche entpuppte sich als wahrer Kulturbanause und verlustierte sich genüsslich an Künstlern, Publikum, Personal, Kritikern und Journalisten, kaum dass die Opernhäuser, Theater, Galerien, Museen, Kinos, Clubs und all die übrige bunte Kurzweil wieder in Betrieb genommen worden war.

Hatte er was vergessen? Ach ja, klar: Die Bauarbeiter, die waren schon sehr früh dran gewesen, die Baustellen hatten – sehr zu seinem Leidwesen – kaum eine Woche stillgestanden.

Fazit: Die zweite Coronawelle hatte die Bevölkerung Wiens um mehr als die Hälfte dezimiert.

Dementsprechend rigoros fielen die neuen Bestimmungen aus: Statt Masken (das Virus hatte, während es auf Urlaub war, nicht bloß faul am Strand rumgelegen, sondern die Auszeit genutzt, um ein paar von seinen Andockungsfitzelchen zu optimieren, und konnte nun mühelos durch Zellstoff- und Baumwollgewebe dringen) wurde nun das Tragen von Plexiglasniesschutzkugeln zur Pflicht, wenn man die eigenen vier Wände verlassen wollte.

Den Moddetektiv zog es ohnehin nicht nach draußen, er ekelte sich vor den Menschen. Immer schon war er den in der Überzahl ungepflegten Bewohnern dieser Stadt großräumig ausgewichen und hatte sich stets mit angehaltenem Atem nah an eine Hauswand gequetscht, oder war mit abgewandtem Gesicht an den Gehsteigrand geflüchtet, um an dessen äußerster Kante entlangbalancierend dem Geruchsradius eines dumpf stinkend auf ihn zusteuernden Passanten zu entkommen. Abstand halten war für ihn also nichts Neues. Und die Hände hatte er sich im Gegensatz zu den meisten Einheimischen, denen diese exotische Hygienemaßnahme erst via TV nahegebracht werden musste, auch immer schon gewaschen. Überhaupt hatte sich trotz des Ausnahmezustands für ihn nicht allzu viel verändert, lebte er doch seit der Trennung von Birgit ein Leben, das dem eines Einsiedlers um nichts nachstand. Seine kurzen Spaziergänge beschränkten sich auf die notwendigsten Erledigungen wie Friseurbesuche und Lebensmitteleinkäufe sowie ein gelegentliches Vertreten der unteren Extremitäten. Nur in Ausnahmefällen begab er sich zur Mariahilfer Straße, um ein Eis zu erstehen – doch auch das hatte sich mittlerweile erübrigt, Bortolotti sowie auch der Friseur hatten ebenfalls längst geschlossen.

Dennoch verstand er das ganze Geraunze wegen des Zu-Hause-bleiben-Müssens nicht, hatte es bereits bei der ersten Coronawelle nicht verstanden. Was war denn bloß mit den bescheuerten Leuten los? Da heulten sie fortwährend rum, ihr Leben nicht genießen zu können, weil sie von früh bis spät, tagein, tagaus bis zum Umfallen arbeiten gehen müssten, und wenn sie dann endlich mal daheimbleiben durften, fiel ihnen sogleich die Decke auf den Kopf. Okay, vielleicht war die Decke bei manchen ziemlich niedrig und man stieß sich bald einmal den Schädel an der hässlichen Halogendeckenleuchte an, zudem genoss nicht jeder den Luxus, allein in einer Hundertquadratmeteraltbauwohnung zu logieren, dennoch: Wussten die Leute denn gar nichts mit sich anzufangen? Ein Buch lesen, Musik hören, Schnaps brennen, geschlechtlich verkehren, Bomben bauen, Filme schauen, oder sonst irgendwas tun, was man immer schon hatte tun wollen, wozu einem bisher jedoch die Zeit gefehlt hatte. Nein, die – wie ihnen von der Regierung großzügig beschieden wurde – ach so freiheitsliebenden Bürger dieses Landes hatten mit von Gier geblähten Nüstern, unstet flackerndem Blick, derbei hufescharrend und an den zum Zerreißen gespannten Zügeln zerrend, unerträglich lange vier Wochen!! – das musste er sich mal auf der auf dem trockenen Gaumen klebenden Zunge zergehen lassen,v i e rW o c h e n!! – auf den erlösenden Startschuss gewartet, um, sobald dieser abgefeuert worden war, loszupreschen und zurück in ihre selbstauferlegte Knechtschaft des Kaufrauschs zu galoppieren.

Kaum dass die heruntergelassenen Rollläden eines Bonbonladens, dessen tristes Abbild bei unzähligen TV-Berichterstattungen zur Illustration der Krise herhalten hatte müssen, abermals hochgekurbelt waren, enterten etliche Tausend Einheimische die Räumlichkeiten der nun wiederauferstandenen Confiserie, um sich mit Süßem einzudecken. Und dies nicht, weil es sie danach gelüstete (denn klebriges Konfekt vertilgt hatten sie während der Quarantänezeit vor den Fernsehgeräten bis zur Verstopfung (hihi, welche Ironie, wozu nun all die Tonnen von Klopapier, die sich in jedem Haushalt bis an die niedrige, auf den Kopf zu fallen drohende Decke stapelten?)), sondern: weil es wieder möglich war. Und so verhielt es sich mit allen Dingen: topfrisiert und von Kopf bis Fuß neu eingekleidet speiste man begeistert auswärts, nachdem man Opernhäuser, Theater und Kinos besucht hatte, zu welchen man mit frisch geleasten SUVs gebraust war – so als wäre die Seuche nichts als ein kurzes Intermezzo, ein bereits in Vergessenheit geratenes Event gewesen. Jene Traumtänzer, die während der Krise von der Chance einer nachhaltigen Veränderung der Welt fantasiert hatten, wurden flugs eines Besseren belehrt, denn wenn sich etwas aus der Geschichte lernen ließ, dann war es dies, dass der Mensch nichts aus der Geschichte lernte, aus dem einfachen Grund, weil die Menschen eben die Menschen waren, und es so lange bleiben würden, bis auch der Allerletzte von ihnen vom Riesenratzefummel Gottes von der Weltkugel wegradiert worden sein würde.

Delfine in den Kanälen Venedigs, Rückgang der CO2-Emissionen um siebzig Prozent, erholsame Stille anstelle des Getöses von im Minutentakt über die Köpfe hinwegbrausenden Jumbojets? – Drauf geschissen! Was nützten einem die blöden Delfine, wenn man nicht hinfliegen konnte, um sie abzufotografieren …

Ein aufforderndes »Mrauz« unterbrach den Moddetektiv in seinem inneren Monolog. Kater Christian war zu ihm auf das Bett und sogleich wieder hinabgesprungen, um, gelegentlich einen vorwurfsvollen Blick zu ihm hochschickend, sich nun in Form eines Unendlichzeichens um und zwischen seinen Unterschenkeln entlangzuschmieren. Das possierliche Gehabe des schneeweißen Tieres mit dem azurblauen Silberblick zwang dem Moddetektiv ein mildes Lächeln ab. Christian … Birgits unfreiwilliges Vermächtnis.

Als ihr Auszug beschlossene Sache war, entsponn sich zwischen ihnen eine hitzige Diskussion über den zukünftigen Wohnsitz des Vierbeiners. Der Moddetektiv plädierte für einen Verbleib Christians, da seine, also des Moddetektivs Wohnung während dessen vierjährigen Aufenthalts in New Orleans längst zur neuen Heimat des Katers geworden war, und weil, wie man weiß, sich Katzen als stark ortsgebundene, kaum jedoch als sich dem Menschen verpflichtete Lebewesen verstehen. Birgit allerdings wollte von all dem nichts wissen, und da sie es gewesen war, die Christian, der ursprünglich zu den unzähligen Besitztümern ihres schwerreichen Onkels Emerald Westminster III gezählt hatte, welcher wie auch sein Komplize Lieutenant Lou Tenant-Tanner aufgrund einer rechtmäßigen Verurteilung zu dreihundertfünfundvierzig Jahren Zuchthaus in einer Anstalt für abnorme Rechtsbrecher verdonnert worden war, sich aus ebendiesem Grunde nicht mehr um das Tier kümmern konnte und es, selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, mit Sicherheit dennoch nicht getan hätte, da der Vierbeiner, sollte man der wirren Aussage des betagten Bösewichtes Glauben schenken, ihn zu sämtlichen jemals von ihm begangenen Verbrechen angestiftet und hernach eiskalt an die Polizei ausgeliefert hatte (der geneigte Leser jedweden Geschlechts mag sich entsinnen*), dementsprechend Christian also von Birgit in die gemeinsame Lebens- und Wohngemeinschaft eingebracht wurde, blieb dem Moddetektiv nichts, als sich ihrem Willen zu fügen, der da lautete: den Kater mit sich zurück in ihr ehemaliges Zuhause nach Westminster Mansion zu nehmen, in welchem sie nach der gescheiterten Beziehung mit dem Privatermittler ihr Turmzimmer im Westflügel wiederbezogen hatte. Punkt.

Der Moddetektiv wurde nachdenklich.

Wie hatte es bloß geschehen können, dass es so weit, dass es bis zum Äußersten und darüber hinaus gekommen war? Zum zweiten Mal an diesem Tag musste er mit einem von Bitterkeit zur tragischen Fratze verzerrten Gesicht desillusioniert den unfrisierten Kopf schütteln, darüber, was denn diese an ihn selbst gestellte Frage solle – auch in diesem Fall wusste er die Antwort natürlich nur zu genau. Was hatte er denn erwartet? Dass Birgit, während er in New Orleans einem Phantom namens Jerry hinterherjagte, daheim im sexy Negligé mit einem achtgängigen Menü auf den Knien seiner Wiederkehr entgegenfieberte? Und das ganze vier Jahre lang?? Denn so lange hatte seine anfänglich für ein paar Tage geplante Abwesenheit letztendlich gedauert. Er hatte sich zunehmend in etwas verrannt, war vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, den unsinnigsten Hinweisen gefolgt, hatte irrwitzige Zufälle als Zeichen gedeutet, die ihn auf kurz oder lang auf eine tedsichere Fährte führen würden.

Gut, da waren auch die verdammten Opiumhöhlen gewesen, in die er sich, von der trügerischen Hoffnung geleitet, im Rausch des Rauchs transzendente Erkenntnisse über den Verbleib des verschollenen Freundes zu erlangen, zu Beginn der NOLA-Years* gelegentlich, mit fortschreitender Zeitdauer regelmäßig und zuletzt ganztäglich geflüchtet hatte, um The Big Easy in der Horizontalen an sich vorüberziehen zu lassen. Und kein Ort der Welt war besser dafür geeignet gewesen als New Orleans, eine Stadt, in der die Zeit nahezu stillstand, und so gut wie nichts geschah, während in der restlichen Welt vier Jahre vergingen, in Tokio sogar acht.

Und wenn er sich selbst gegenüber schon mal so ehrlich war, und das war er: Er war nicht bloß wegen Jerry völlig überstürzt nach New Orleans aufgebrochen, auch wenn es ihm vorerst nicht bewusst gewesen war, und er es lange Zeit nicht wahrhaben hatte wollen: In echt hatte er es mit der Angst zu tun bekommen. Mit der Angst vor Zugeständnissen, mit der Angst vor einer Veränderung in seinem Leben, mit der Angst vor einer gemeinsamen Zukunft mit Birgit. Mit der Angst vor der Liebe seines Lebens. Angst, sich aufzugeben, sich zu verlieren und fortan nicht mehr der sein zu können, der er bisher gewesen war: ein einsamer Desperado, ein Outcast, ein Cowboy, der tut, was er tun muss, und es nur tun kann, wenn er lonesome bleibt.

Und so kam es, wie es kommen musste: Als er eines diesig über dem French Quarter dräuenden Morgens, nachdem er bei dem Versuch sich aus dem Bett zu hieven auf einem bananenschalengemusterten Teppich ausgerutscht war (wie tief war er eigentlich gesunken, wie ein billiger Clown auf einer Bananenschale auszurutschen, noch dazu einer unrutschigen, die bloß aus in einen hässlichen Teppich eingewebtem, gelbem Zwirn bestand???), um sich der Länge nach aufgeschlagen auf den staubigen Dielen des Schlafzimmers wiederzufinden, wo ihm ein durch die leise vor dem Fenster mit den Blättern flimmernden Kronen jahrhundertealter Platanen stiebender Windstoß gemeinsam mit dem schweren, öligen Duft des Mississippi die süßlichen, sämtlicher seiner Poren entsteigenden Opiatausdünstungen in die blutende Nase fächerte, und er sich wütend übers Gesicht fahrend, hart zwischen den geschlossen Backenzähnen »Es reicht … vier Jahre sind genug« hervorgestoßen hatte, New Orleans von einem Tag auf den anderen, Hals über Kopf verließ, war es alles andere als unverständlich, dass Birgit ihn bei seiner Rückkehr vor vollendete Tatsachen stellte.

Von den Jahren der ungewissen Warterei und den fortwährenden Enttäuschungen zusehends zermürbt, hatte sie schließlich ihr einst abgebrochenes Schauspielstudium zur Zerstreuung wiederaufgenommen und sich dort – sie hatte sich lange dagegen gewehrt, und es war erst im vierten Jahr der Abwesenheit des Moddetektivs dazu gekommen – in einen aufstrebenden Jungschauspieler verliebt. Aufstrebender Jungschauspieler … des Moddetektivs Zunge rollte sich noch jetzt zur Wutwurst, wenn er an das Kerlchen dachte.

Ob es etwas Ernstes sei, hatte er wissen wollen. Ja, sei es, denn habe sich eine Frau erst einmal entliebt, so sagte sie, sei dies unumstößlich und endgültig. Und zurück bleibe nichts als melancholische Erinnerungen und verbrannte Erde, da sei nichts mehr zu machen.

Wie auch immer, jedenfalls ging Birgits Plan, Christian bei ihrem Auszug mit zu sich zu nehmen, nicht auf, denn: Sie hatte nicht mit dem Eigenwillen des Tiers gerechnet. Der Kater verweigerte aus Protest hinsichtlich seiner Rückführung nach Westminster Mansion jegliche Art von Nahrung, schiss Birgit paradoxerweise jedoch zugleich das Turmzimmer bis an die Kuppel voll, so lange, bis sie klein beigeben musste, ihn in seinen Transportbehälter verfrachtete und zurück zum Moddetektiv brachte, ehe sie sich für immer aus dem Staub machte.

Und so war der Vierbeiner dem Moddetektiv, der sich – er musste leise lächeln – niemals nie als Katzenfreund gesehen hatte, mit der Zeit zum einzigen wahren Freund und treuen Begleiter avanciert. Inzwischen hatte er es sich sogar zur Gepflogenheit gemacht, gelegentlich mit Christian zu sprechen. Er resümierte: Menschen kamen und gingen, doch stets geblieben waren ihm die GS, der Parka, die Pillen, und nun auch der Kater.

In einem Anfall von ungestümer Liebe und Verbundenheit hob er Christian zu sich empor und presste ihn innig an seine Brust. Doch dem Tier stand der Sinn nach anderem, und es entwand sich mithilfe geschickt angestellter Verrenkungen der Umklammerung. Es wollte wohl gefüttert werden.

Der Moddetektiv hievte sich vom Bett hoch und trottete Christian lahm hinterher, der, indes von gewaltiger Gier gepackt, schrille Schreie schrecklicher Schmacht ausstoßend, mit steil aufgerichtetem Schweif eilig vorauslief, um hin und wieder stehen zu bleiben und hinter sich zu blicken, ganz so, als müsse er sich der nachwievorenen Verfolgung seines Futtergebers versichern, in dessen Schädel – die Wirkung des Purple Heart schien bereits nachzulassen – derweil jeder einzelne, noch so vorsichtig gesetzte Schritt auf dem langen Weg in die Küche in Form einer dumpf-stechenden Detonation seinen schmerzhaften Widerhall fand. Nachdem die Kochstube durchquert war, öffnete der Moddetektiv die Tür zur Speisekammer. Doch als er nach dem Sack Royal Canin Fibre Response griff, prallte er entsetzt zurück.

Oh Mod, der Beutel war leerer als die Nudelregale, nachdem die ersten Gerüchte über eine mögliche Ausgangsbeschränkung laut geworden waren. Mist, schon gestern war kaum noch Futter da gewesen, weshalb er in der Praxis der Tierärztin Frau Doktor Pearl Millonig angerufen und einen Termin vereinbart hatte. Denn Royal Canin Fibre Response war kein gewöhnliches Allerweltsfutter, wie man es in den schäbigen Super- und Drogeriemärkten bekam, Royal Canin Fibre Response war ein speziell für gelegentlich unter Verstopfung leidende, schneeweiße, azurblauäugig schielende Siamkatzen in jahrelanger Forschung kreiertes High-End-Produkt, das keinesfalls in die falschen Schlünde, zum Beispiel in jene von an Haarwuchs erkrankten Nacktkatzen, gelangen durfte, weshalb diese Spezialnahrung nicht einmal in den besseren Tierboutiquen, sondern einzig und allein und nur auf telefonische Vorbestellung bei der Tierärztin Frau Doktor Pearl Millonig erhältlich war.

Er konnte es drehen und wenden, so wie den leeren Futtersack, den er dem unverständig zu ihm hochblickenden Kater zur Verdeutlichung der aussichtslosen Situation in Begleitung eines bedauernden Achselzuckens vor die azurblauen Augen hielt: Ihm blieb nichts anderes, als sich außer Haus, hin zur Praxis der Tierärztin Frau Doktor Pearl Millonig zu begeben. Und wenn er schon einmal dabei war, konnte er auch gleich im Supermarkt und hernach bei Inspector Krambambo und seiner Mrs. vorbeischauen. Denn wie alle – nun die Unberührbaren genannten – alten Leute waren die beiden aufgrund der Quarantänebestimmungen auf die Unterstützung der Jüngeren angewiesen und hatten sicher nichts gegen ein paar frische Fressalien einzuwenden.

Er verordnete sich eine Tasse Earl Grant, mit der er ein Purple Heart hinabspülte, dann begab er sich unter die Dusche und föhnte sich aus den längst façoniert gehörenden Haaren (wie bereits angedeutet, hatte sein Free Sir Rawland wie alle anderen, jedoch ohnehin nicht zur Diskussion stehenden Haarabschneider auch, seit Monaten geschlossen) die Karikatur eines gerade noch passablen French Cuts zusammen, nachdem er der Nasszelle mit sauber gescheuerten Zähnen und vom klebrigen Nachtschweiß befreit, einigermaßen erfrischt entstiegen war. Ein Schuss Eau de Parfum? Warum nicht. Kaum hatte er sich gekonnt Kinnpartie, Hals und Handgelenke benetzt, musste er mit beträchtlicher Bestürzung zur Kenntnis nehmen, dass der von ihm seit jeher verwendete, in einer zartgelben Essenz konzentrierte Duft, welchen er der in den mittleren fünfziger Jahren erstellten Kreation eines Pariser Modehauses zu verdanken hatte, im Begriff war zur Neige zu gehen. Woraus ein Dilemma beträchtlicher Dimension erwuchs, hatten doch auch Parfümerien seit Beginn des zweiten Ausnahmezustandes ihre Pforten ehern geschlossen zu halten, und wann und ob sie jemals wieder aufgesperrt würden, stand, wenn überhaupt, nicht einmal in den Sternen.

Nun aber flugs ab ins Schlafzimmer, dunkelblaue Levi’s-Jeans, weinrotes Perry, schwarz und hellgrau berombte, beige Burlingtons. Dann in den Vorraum zur Garderobe, weinrote Loafers, Bomberjacke, hmm, oder doch besser eine wohltemperierte Panade, sprich den Parka? Er war ja krank, hatte wahrscheinlich stark erhöhte Temperatur, geschätzte neununddreißig Grad Fieber, vielleicht sogar viel mehr, doch Fiebermessen kam für ihn nicht infrage, denn: Würde eine hyperthermische Bestandsaufnahme seinen Verdacht bestätigen, fühlte er sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgrund des thermometrisch erbrachten Nachweises sogleich, als erhöhe sich seine Körpertemperatur augenblicklich um einige weitere Grade, woraufhin er zur Aktualisierung des Wertes um eine Folgemessung nicht herumkäme, derentwegen seine Körpertemperatur ob des abermals erbrachten Belegs seiner Vorahnung erneut umgehend anstüge, was unweigerlich eine weitere Temperaturbestimmung zur Folge hätte, die wiederum stark intensivierte Pyrexie nach sich zöge, und so weiter und sofort … ein exponentiell anwachsender Teufelskreis also, in den er sich keinesfalls begeben durfte und auch gar nicht konnte, da er gar kein Thermometer besaß. Nein, sämtliche der von ihm angestellten Überlegungen sprachen eindeutig für den Parka, selbst wenn ihm darob ein saumäßiges Safteln ins Haus stünde, was jedoch kaum, wenn nicht sogar gar nicht ins Gewicht fiele, da er es aufgrund seiner augenscheinlichen Maladie ja ohnehin tat – zwar noch nicht jetzt, doch schon sehr bald.

Und so nahm er mit dem jenem essenziellsten all seiner Kleidungsstücke geschuldeten Respekt den Original M52-Fishtail zärtlich vom Haken und befüllte dessen Inneres behutsam mit sich selbst. Glasigen Auges besah er sich im Spiegel: Ja, er sah ziemlich gut aus, wenn auch nicht ganz so ziemlich gut, wie wenn er kein Corona hätte.

Nichtsdestotrotz, einen Vorteil hatte die scheiß Seuche: Man musste zum Vespafahren keinen beschissenen Sturzhelm mehr tragen, da es ein Ding der Unmöglichkeit darstellte, diesen über die staatlich verordneten Plexiglasniesschutzkugeln zu stülpen, und so blieb zumindest die Frisur einigermaßen heil.

Die Straßen gähnten vor Leere, als der Moddetektiv auf seiner knusprig knisternden, voll verchromten Vespa 160 GS an verbarrikadierten Geschäften und geschlossenen Cafés vorbei durch die glühende Mittagshitze knatterte. Die ständig mit trommelfellzerfetzendem Sirenengeheul und grell blitzendem Blaulicht in selbstmörderischem Tempo an ihm vorbeibrausenden Rettungsfahrzeuge kaum mehr wahrnehmend, fühlte er sich in die Tage seiner frühen Jugend, wenn nicht gar Kindheit zurückversetzt, als er weder Vespafahrer noch Mod und noch längst nicht Detektiv gewesen war.

Auch damals hatte sich, insbesondere in den Monaten Juli und August, die von der sengenden Sonne auf großer Flamme geröstete Stadt vollkommen menschenleer gezeigt, und in den vor Glut verbogenen Straßen waren die abgeschlagenen Rollläden sämtlicher Geschäfte und Gasthäuser bis auf die Trottoirs herabgezogen gewesen. Wie auf den Gehsteigen der Asphalt, schmolz zwischen den Pflastersteinen der Teer, an den Schwellen der Stadtbahnschienen und auf den Sandhaufen stillgelegter Baustellen spross der Löwenzahn, und in ausgetrockneten Flussbetten keimte meterhoch das Mariengras. Und während die erbarmungslos auf die apathisch darniederliegende Stadt heruntersengende Sonne dermaleinst allerorts unbeachtet herumliegende Hundescheißehaufen zu karnickelkleinen, weißen Köteln bar jeglichen Geruchs ausbleichte, stand, vom selben wütenden Himmelsgestirn wachgeküsst, schwer und süßlich der stechende Gestank des rücksichtslos vor den Hauseingängen abgeschlagenen Urins in der vor Hitze flimmernden Luft.

Es hatte nichts zu tun gegeben, das es zu tun gegeben hätte in dieser absoluten Ödenei, alles und jeder war in der zähflüssigen Melasse von Lethargie und Langeweile versunken, zwei ganze Monate lang, und es war herrlich gewesen. Zumindest erschien es dem Moddetektiv aus heutiger Sicht so. Fiel er möglicherweise seiner eigenen, über die Jahre anwachsenden nostalgischen Verklärtheit zum Opfer? Mitnichten. Konnte es denn etwas Gediegeneres geben als ganze zwei Monate des planlosen Zeittotschlagens, des von tatenloser Trägheit bestimmten Sich-treiben-Lassens, des zum reglosen Verweilen Gezwungenseins in einer zum Stillstand gekommenen Welt? Und dies ganze, sich bis an den Rand der Unendlichkeit dehnende, acht Wochen lang – bis schließlich der September und mit ihm der Schulbeginn gekommen war.

Er hatte ihn stets von ganzem Herzen gehasst, und hasste ihn heute noch, obgleich er längst nicht mehr zur Schule zu gehen hatte. Er konnte es kaum in Worte fassen, so sehr hatte er ihn verabscheut, diesen Septemberanfang, mitsamt seinem, gemeinsam mit den Urlaubern zurückgekehrten Ernst des Lebens, für ihn grausam verkörpert durch die mit Schultaschen wie Tüten schwer bepackten, dem Bus hinterherhetzenden Kinder, den vordem autoleeren, höchstenfalls von einem einsamen Purzelgesträuch gequerten, nun wieder bis an den Rand verstopften Straßen, dem muffigen Geruch erwärmten Staubes, der den wieder in Betrieb genommenen Heizkörpern entströmte, und allem voran seinem, wie es so schön heißt: lebhaft auffrischenden Ostwind, der auf den Tag genau – man konnte seine Garderobe danach ausrichten – pünktlich mit dem ersten Schultag kalt schneidend durch die Straßen pfiff und die noch nicht mal welken Blätter von den Bäumen fegte. Wie eine Ohrfeige war ihm dieser beschissene, lebhaft auffrischende Hurendrecksostwind vorgekommen, wie eine mit der flachen Hand zügig ausgeführte, schmerzhafte Korrekturmaßnahme zur erniedrigenden Erinnerung daran, dass nun alles wieder in die gewohnten Gänge zu kommen hatte.

Er erinnerte sich an ein ihm zu dieser Zeit top-exquisit erschienenes Hawaiihemd, dass er sich in der zweiten Augustwoche des Jahres 1981 angeschafft hatte, und auf dessen Zurschaustellung vor wiederversammelter Schulkameradschaft er sich an jedem einzelnen Tag der noch verbleibenden Ferienzeit gefreut hatte. Als es endlich so weit und der erste Schultag gekommen war, hatte die Temperatur fristgerecht um fünfundzwanzig Grad abgekühlt, es regnete in Strömen, munter aufbrandende Windböen stülpten die zum Zerreißen gespannten Schirme scharenweise schlechtgelaunt durch die Düsternis hastender Passanten der Breite nach um, und das kurzärmelige Hawaiihemd war aufgrund seines luftdurchlässigen Gewebes, vor allem aber wegen seines dem finsteren Weltuntergangswetter diametral entgegengesetzten Palmenmusters so fehl am Platze wie ein Bunte-Luftballons-zu-lustigen-Hunden-verknotender-Clown an einem bis zum Rand mit Seuchenopfern angefüllten Massengrab. Er trug sie dennoch, seine tropische Trophäe, wenn er auch den ganzen Tag über fortwährend mit den Zähnen zu klappern sowie sich fröstelnd die gänsebehäuteten Arme zu reiben hatte.

Am Ende des gedanklichen Exkurses in die Vergangenheit angelangt, verband er diesen mit dem Gegenwärtigen zur quintessenziellen Erkenntnis: Neben der Abschaffung der Helmpflicht zugunsten der staatlich verordneten Plexiglasniesschutzkugel hatte die Seuche noch einen weiteren, nicht von der Hand zu weisenden Vorteil mit sich gebracht, kam sie doch einer Zeitreise in jene Tage gleich, als die Welt, allem voran die hochsommerliche Stadt Wien, sich neben totalem Stillstand noch durch endlose Ereignislosigkeit, infinite Fadesse und unaufhörlichen Ennui ausgezeichnet hatte. Und diese für immer verloren geglaubte Stimmung der Stagnation war nun, wenn auch von pandemischen Zwängen begünstigt, zumindest ansatzweise wiedergekehrt. Wenn es nach ihm ginge, könnte es ewig so weitergehen.

Von seinen Überlegungen zur Gänze in Beschlag genommen, hatte der Moddetektiv, ohne es zu bemerken, einen Zwischenstopp bei der Tierärztin Frau Doktor Pearl Millonig eingelegt und einen Sechskilosack Royal Canin Fibre Response auf den Gepäcksträger des Rollers gewuchtet, war anschließend zu einem auf dem Weg liegenden Spar-Gourmand weitergefahren, in welchem er für den Inspector und seine Mrs. all jene Köstlichkeiten erstand, die ihm das wuschellockige, weit über einundsiebzig Fälle gelöst habende, sizilianisch eingewanderte Schmitzgesicht am Vortag per telefonischer Anweisung einem langwierigen Überredungszeremoniell folgend (»… danke, Moddetektiv, aber uns fehlt es an nichts, wir sind ja schon alt und essen kaum noch, schon gar nicht, seit unsere Enkelkinder nicht mehr zu Besuch kommen dürfen … was sagen Sie? … Wir haben gar keine Enkelkinder? Also jetzt, wo Sie’s sagen, also wo Sie recht haben, haben Sie recht, manchmal frag ich mich, wo ich nur wieder mit meinen Gedanken bin … Wie? Klopapier? Du liebe Güte, ich werd noch mal meinen Kopf vergessen, an Klopapier hab ich ja schon bei der letzten Bestellung zu denken vergessen, ich weiß tatsächlich nicht, wie lange ich noch den Trenchcoat dazu … ach ja, und wenn ich Sie schon dranhabe: Ein paar Kartonagen Cannelloni alla Mama Alfredo wären auch nicht falsch …«) mit knorriger Stimme zu übermitteln bereit gewesen war und hatte schließlich zügig eines der zahlreichen anderen Enden der Stadt erreicht, die GS zum Stillstand gebracht, und war, weiterhin seinen sentimentalen Überlegungen nachhängend, vor dem kleinen Einfamilienhäuschen der Krambambos abgestiegen. Erst als er das freundliche Ding-Dong der Türglocke vernahm – auch sie musste er ganz in Gedanken versunken, ohne es auch nur im Geringsten zu registrieren, in völliger Selbstvergessenheit betätigt haben –, wurde ihm bewusst, was wir bereits längst wissen, nämlich dass er sich vor der muranoglasüberdachten Eingangstür des für italienische Einwanderer dritter Generation so typischen, da recht kitschigen, aber dessen ungeachtet umso liebevoller dekorierten Einfamilienhäuschens eingefunden hatte.

Und schon flog die Tür auf, und der Inspector stand, sich die schwarzlockige Wuschelbirne schuppig raufend, verschmitzt schmunzelnd und mit seinem ungläsernen Auge humorvoll zwinkernd (während dessen artifizieller Zwilling teilnahmslos an einen unbestimmten Punkt jenseits des Moddetektivs starrte), mit dem abgelutschten Stummel einer längst erloschenen Zigarre zwischen den Fingern im Pyjama und mit Hausschlappen an den Füßen vor ihm. Den für ihn ach so charakteristischen, legendären, von Fett-, Kaffee- und Fäkalienflecken völlig übersäten, einst beige gewesenen, mittlerweile in allen nur erdenklichen Gelb-, Braun- und Grautönen changierenden, in seiner ramponierten Ausgetragenheit an einen zerschlissenen Staubsaugersack erinnernden Trenchcoat hatte der Inspector sich entweder der Form halber oder des Moddetektivs zu Ehren eilig über die Schultern geworfen. Unter einem weiteren Zwinkern hob er die Hand zum Gruß hinter den Kopf und knusperte launig: »Na, wen haben wir denn da, den Moddetektiv, wenn mich nicht alles täuscht!« Trotz des durchaus amikalen Empfangs taumelte dieser jedoch wie vom Blitz getroffen mehrere Schritte rückwärts und schrie mit sich hysterisch überschlagender Stimme: »Krambambo! Sind Sie der Verblödung feister Fang?! Alte Leute wie Sie zählen zur Höchstrisikogruppe, Sie des Lebens Überdrüssiger!! Noch dazu, wenn sie einem Sich-seit-Tagen-entsetzlich-angeschlagen-Fühlenden, Starke-Kopf-und-Gliederschmerzen-Verspürenden, überdies wahrscheinlich hohes, wenn nicht gar sehr hohes Fieber Habenden, also Mit-neunundneunzigkommaneunprozentiger-Sicherheit-infiziert-Seienden-nichtsdestotrotz-keinerlei-Test-Bekommenden gegenübertreten – Sie von sämtlichen gütigen Gespenstern Entvölkerter! Gehen Sie sofort wieder rein und machen Sie die verdammte Tür vor sich zu, ehe ich mich vergesse!!!«

Der Inspector tat, wie ihm empfohlen, denn das Türzumachen konnte er gut. Auch wenn er sie für gewöhnlich gleich wieder aufmachte, um seinen unfrisierten Kopf durch den Spalt zu stecken, weil er nur noch eine kleine Frage hätte, ihm noch eine Kleinigkeit – nichts Besonderes, etwas, das nur ein paar winzige Minuten dauern werde, nachdem er dann auch gleich wieder weg wäre – eingefallen war. Doch das ließ er diesmal bleiben. Stattdessen raunte es gedämpft durch die nun verschlossene Haustür: »Verzeihen Sie, Moddetektiv, manchmal frag ich mich, wo ich nur mit meinen Gedanken bin, ich werd noch mal meinen Kopf wo vergessen, sagt Mrs. Krambambo immer …«

»Schon klar, Inspector … aber dass mir das nicht noch einmal vorkommt, verstanden?«, entgegnete der Moddetektiv scharf.

»Alles gut, Moddetektiv«, flötete es beschwichtigend.

Worauf sich der Moddetektiv wider Erwarten aufs Neue echauffierte: »INSPECTOR!! Wenn ich was überhaupt nicht ausstehen kann, dann das, wenn man mich und meine berechtigte Besorgnis mit einem despektierlich herabmildernden ›Alles gut‹-Geflöte abtut! Besonders wenn nämlich so gut wie alles, alles andere als gut ist, WEIL NÄMLICH GAR NICHTS GUT IST!! Die zweite Welle einer Seuche ungekannten Ausmaßes hält die Welt eisern an der Lunge, die Menschen sterben wie Fliegen, allem voran die alten, und obwohl sich die Wissenschafter die findigen Finger fahrig forschen, ist es mehr als ungewiss, dass jemals je ein Gegenmittel erfunden wird.« Voller Zorn nahm der Moddetektiv die Plexiglasniesschutzkugel ab, zückte erbost seine blauen Rothmans und zündete sich kopfschüttelnd deren eine an. Kein leichtes Unterfangen, sollte man meinen, doch er behorsch es geil. Als sich die größten Wogen seiner Wut geglättet hatten, und es ihm bereits ein klein wenig leidtat, dass er den Inspector so angefahren war, frug er sanft: »Wie geht’s Ihnen denn so?«

Nach einigen mit raschelnden Kopfkratzgeräuschen und Stille befüllten Minuten räusperte sich der Inspector, dann seufzte er leise: »Was soll ich sagen, Moddetektiv, seit ich wegen des ärgerlichen Fehlurteils im Rosaplüschhandschellenserienmörderfall – wie Sie wissen, bin ich ja der festen Meinung, dass dieser Jason, der Chauffeur, nicht der Täter gewesen sein kann – um meine Pensionierung angesucht habe*, ist mir ehrlich gesagt ein bisschen langweilig. Ein Tag gestaltet sich wie der andere, und gelegentlich fällt mir ein klein wenig die Decke auf den Kopf, vor allem seit die Mrs. und ich in Quarantäne sind. Verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich genieße ich die mir jetzt im Übermaß zur Verfügung stehende Zeit mit Mrs. Krambambo, aber wenn Sie’s genau wissen wollen, das VNAPD geht mir ganz schön ab.«

»Ich verstehe Sie gut, so einem alten Haudegen wie Ihnen, einem Weitüber-einundsiebzig-Fälle-gelöst-Habenden, einem Noch-einer-noch-von-der-alten-Garde-Seienden, fällt es natürlich schwer, loszulassen und von einem Tag auf den anderen nur noch Zeitung zu lesen und den Rasen zu mähen, statt mit einer als ahnungslose Schusseligkeit und wirrer Ungepflegtheit getarnten, perfiden Ermittlungstaktik den Mörder mit kontinuierlichem Hinausgegehe und Sogleichwiederhereingekomme so lange zu verwirren, bis dieser, leichtsinnig geworden, das Handtuch wirft, sich selbst verrät und man sein verdattertes, manchmal auch wahnsinnig gewordenes Gesicht als Standbild sieht, bevor die Schrift kommt und es aus ist.«

»Sie sagen es, Moddetektiv.«

»Na gut, aaaaber: Haben Sie schon mal daran gedacht, Ihre Memoiren zu schreiben? Da gibt’s doch jede Menge spannenden Stoffs zu erzählen, und wer weiß, vielleicht wird eines Tages sogar eine Fernsehserie mit weit über einundsiebzig Folgen daraus gemacht?«

»Ach, ich weiß nicht, schwer vorstellbar, dass das jemand interessiert …«

»Also ich kann mir das ganz gut vorstellen.«

Es wurde still. In weiter Ferne heulten unaufhörlich die Sirenen der Rettungswagen, und während das schrille Zirpen der Zikaden die zunehmend zäh werdende Zeit in zahllose Scheiben zerzupfte, schwoll wie bei einem alten Videofilm, in dem gerade niemand spricht, das Hintergrundrauschen unerträglich laut an.

Der Moddetektiv hatte nicht gedacht, dass es ihm mit dem Inspector so schnell langweilig würde. Immerhin hatten sie sich seit Wochen nicht mehr gesehen. Aber es stimmte schon, seit Krambambo in Rente gegangen war, fehlte ihnen irgendwie die gemeinsame Gesprächsbasis, war ihnen die unter Vollprofis kurz CE genannte Criminal Energy abhandengekommen, die den ganzen verdammt kniffligen Fällen innegewohnt hatte, über die sie sich früher immer so gut hatten unterhalten können.

Und außerdem: Ist es nicht oft so, dass, wenn man jemanden nach langer Zeit wiedersieht, einem viel weniger einfällt, über das man sprechen könnte, als wenn man sich ständig begegnet? Man entfremdet sich eben, jeder geht seinen eigenen Dingen nach, hängt seinen eigenen Gedanken hinterher, lebt sein eigenes Leben, und am Ende hat man einander nichts mehr zu sagen. Eigentlich traurig, dachte sich der Moddetektiv heimlich. Doch dann fiel ihm wieder etwas ein, und das mittlerweile zu einem unerträglich brausenden Tosen angewachsene Hintergrundrauschen ebbte schlagartig ab.

»Sagen Sie mal, Inspector, glauben Sie, wird die Seuche die Gesellschaft verändern? Also falls wir die ganze Sache überhaupt überleben …«

»Na, Sie können vielleicht Fragen stellen, aber jetzt, wo Sie’s schon mal erwähnt haben – ja, da bin ich mir ziemlich sicher!«

»Und inwiefern?«, wollte der Moddetektiv sogleich wissen.

»Ich denke, die Seuche wird eine Verasiatisierung der ganzen Welt nach sich ziehen.«

»Verasiatisierung?«

»Sie haben mich richtig verstanden, Moddetektiv, Verasiatisierung. Die Menschen werden wesentlich höflicher, respektvoller und zuvorkommender miteinander umgehen. Der Einzelne wird sich zugunsten der Gesellschaft zurücknehmen. Das hat natürlich Vorteile, aber auch Nachteile: Man wird sich in Zukunft distanzierter, vorsichtiger, möglicherweise auch misstrauischer gegenübertreten. Überhaupt ist zu erwarten, dass die Postcoronaten konservativer sein werden als die Präcoviden. Aber nichtsdestotrotz: Im Miteinander und im Umgang werden die Leute freundlicher als vor der Katastrophe sein.«

Der Moddetektiv, seit jeher ein glühender Verfechter des scharfsinnigen Diskurses, nahm, von der gewagten Theorie Krambambos mäßig beeindruckt, sogleich die Position des Skeptikers ein: »Na, da wär ich mir nicht so sicher. Zumindest was Wien betrifft. Es liegt einfach nicht in der Mentalität der Bewohner dieses offiziell als unhöflichste Stadt der Welt anerkannten Ortes begründet, zuvorkommend, höflich und respektvoll zu sein. Jaja, mag schon sein, vielleicht für eine gewisse Weile, aber mit der Zeit wird sich bei den Leuten ein gewaltiges Potenzial an unterdrückter Unhöflichkeit aufstauen und sich so lange hochschaukeln, bis eines schönen Tages – dann, wenn keiner mehr damit rechnet – es aus dem Ersten, der es nicht mehr länger zurückhalten kann, einem Tourette-Anfall nicht unähnlich, herausplatzt, und er sein Gegenüber genussvoll eine ›ausgeschiedene Anusöffnung‹ heißen wird. Und der als defäkierte Rosette Verunglimpfte wird das nicht lange auf sich sitzen lassen und es stinkenden Fußes mit ›betagtes Skrotum‹ quittieren. Was unweigerlich eine gesellschaftliche Kettenreaktion zur Folge haben wird, im Zuge derer auf kurz oder lang wieder alle so unhöflich sein werden, als hätte es Corona nie gegeben.«

»Na, wir werden ja sehen.«

»Das werden wir.«

Nachdem sie noch ein wenig über Mod und die Welt schwadroniert hatten und die Stille aufs Neue über sie hereinzubrechen drohte, deutete der Moddetektiv dezent an, jetzt dann mal langsam zu glauben, zu werden …

»Jaja, machen Sie nur, Sie haben sicher noch jede Menge zu tun«, sagte der Inspector, doch der traurige Klang in seiner Stimme schnitt dem Moddetektiv tief ins Herz. Viel Einsamkeit lag darin. Damit der Abschied einen nicht allzu betrüblichen Ausklang nahm, stellte er eine Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf den coronageschuldet nicht in vollster Blüte stehenden Lippen brannte: »Wie geht es eigentlich Mrs. Krambambo?«

»Den Umständen entsprechend, ich darf wegen der Ansteckungsgefahr natürlich nicht zu ihr ins Schlafzimmer, was ehrlich gesagt nicht immer ganz einfach ist. Wir sind zwar schon alte Leute, nichtsdestotrotz pflegen wir nach wir vor ein reges Sexu-«

»Schweigen Sie augenblicklich, Krambambo, davon will ich absolut nichts wissen!«, rief der Moddetektiv, derbei jäh erschauernd. Der Inspector war ihm ein guter Freund und untadeliger Kompagnon, doch das bizarre Bild eines Krambambo, der sich als blutvoller Beischläfer in ekstatischen Zuckungen auf seiner Mrs. umherwand, bereitete ihm beträchtliche Pein.

»… ihr die Cannelloni vor die Tür und verkrümle mich dann«, war der Inspector derweil wieder in thematisch seichtere Gefilde gesegelt, »… wobei, da fällt mir ein: Wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie doch hergekommen, um der Mrs. und mir ein paar Köstlichkeiten vorbeizubringen, oder lieg ich da falsch?«

»Nicht im Geringsten, Inspector.«

»Dacht ich’s mir! Und da frag ich mich doch, verzeihen Sie, Sir, aber das lässt mir einfach keine Ruhe, und ich weiß, dass mich das um drei in der Nacht aus dem Schlaf holen wird, wenn ich da jetzt nicht nachbohre, also: Wie machen wir das mit der Übergabe, wenn ich doch hier im Vorzimmer hinter der geschlossenen Haustür stehe und Sie draußen auf der anderen Seite davor?! Bin gespannt, wie Sie mir das erklären!«

Es tat dem Moddetektiv in der Seele weh, mitanhören zu müssen, wie der Inspector die von ihm selbst in jahrzehntelanger, akribischer Kleinarbeit ausgeklügelte, perfide, eigens zur Überführung der gewieftesten Gesetzesbrecher entwickelte Ermittlungstaktik nur noch bei den banalsten Alltagsdingen wie dem Entgegennehmen von Einkaufstaschen zur Anwendung kam. Nun war äußerste Sensibilität gefragt, um dem Auf-dem-beruflichen-Abstellgleis-Gelandeten nicht auch noch das letzte bisschen Würde zu nehmen. Dessen eingedenk, offenbarte der Moddetektiv eine perfide Strategie: »Was halten Sie von folgender Taktik: Während Sie weiterhin die Stellung halten, begebe ich mich zum Roller, hole die Einkäufe und stelle sie genau auf der Position ab, auf der ich mich jetzt befinde. Damit das klar ist: Auch wenn Sie raschelnde Geräusche oder ein Stöhnen der Anstrengung hören – und das werden Sie! –, bleiben Sie ruhig und machen Sie keinesfalls die Tür auf! Anschließend ziehe ich mich augenblicklich aus dem Gefahrenbereich zurück und begebe mich wieder zu meinem Roller, wo ich dreimal die Hupe betätigen werde. Das ist für Sie das Zeichen, dass die Luft rein ist. Sie öffnen dann die Tür und holen zügig die Einkäufe ins Haus, und vergessen Sie keinesfalls, die Tür danach wieder zu schließen. Alles andere kann fatale Folgen nach sich ziehen. Wenn, so Gott will, alles nach Plan verlaufen ist, begeben Sie sich ans Wohnzimmerfenster und bestätigen mir den erfolgreichen Verlauf der Aktion mittels eines launigen Zuwinkens.«

»Also so was, dass mir das nicht gleich eingefallen ist!«, knusperte es gleich darauf durchs Schlüsselloch und ein Patschgeräusch ließ vermuten, dass sich der Inspector mit der flachen Hand auf die Stirn klatschte.

»Okay – sind Sie bereit?«

»Bin bereit, Moddetektiv.«

»Gut. Dann lassen Sie uns die Sache jetzt durchziehen.«

Der Moddetektiv war bereits auf dem Weg zum Roller, als ihn ein plötzlicher Gedanke herumwirbeln, kehrtmachen und zurück zur Tür kommen ließ. »Inspector?«

»Ja?«

»Vielleicht ist das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Sentimentalitäten, aber was ich noch sagen wollte, falls irgendwas schiefgeht: Es war mir eine Ehre, mit Ihnen zusammengearbeitet zu haben, Sir.«

»Mir auch, Moddetektiv, bringen wir das Ding jetzt über die Bühne. Wird schon schiefgehen.«


Und klarerweise ist es genau derselbe wolkenlose Himmel, der sich in geradezu gnadenloser Obszönität wie ein knallblaues Leichentuch über die sterbende Menschheit spannt, und von dem eine senfgelb rotierende Sonne so erbarmungslos herunterleckt, dass man fast glauben muss, es gäbe mittlerweile zumindest zwei von denen, unter dem Birgit am anderen Ende der im Sirup des Virus paralysiert dahinschmurgelnden Stadt schon ganz schwummerig wird, weil ihr die Hitze so brutal auf die Plexiglasniesschutzkugel brennt, aber auch weil sie sich, nachdem die sympathische Schwester Stella sie aus dem fensterlosen Büro hinaus durch ein paar rotbuchenholzimitatausgekleidete, stark nach Desinfektionsmittel riechende Kunststoffkorridore zu einer kleinen Terrasse und von dort hinaus in den hübschen Garten hinüber zu dem feschen Herrn geführt hat, der dort jeden Nachmittag – natürlich nur bei Gutwetter – im Schatten einer uralten Linde mit einem Sauerstoffschlauch in der Nase im Rollstuhl sitzt, denkt, dass das jetzt wieder so eine Geschichte ist, von der man glaubt, dass sie nur dem Gehirn eines ausgesprochen gut aussehenden Kultromanautors entsprungen sein kann.

Zufälle gibt’s, die gibt’s gar nicht, hakt Birgit gedanklich noch einmal nach. Dass sie – weil sie gefunden hat, dass es so einfach nicht mehr weitergehen kann und sie, jetzt wo eh alles den Bach runterzugehen droht, irgendwas Sinnvolles mit ihrem Leben anfangen sollte, irgendetwas Soziales tun muss und es außerdem wegen der Pandemie mit dem wiederaufgenommenen Schauspielstudium ohnehin Essig ist, zumal ihr obendrein das Gspusi mit dem aufstrebenden Jungschauspieler auch schon schön langsam auf den appetitlichen Achtersteven geht, weil der Bub den ganzen Tag bloß depressiv in ihrem im Turmzimmer herumsitzt und raunzt und quengelt, dass es wegen der scheiß Seuche wahrscheinlich vorbei ist mit seiner Schauspielkarriere, bevor die überhaupt so richtig angefangen hat – sich also ausgerechnet in diesem Pflegeheim um eine ehrenamtliche Stelle beworben hat und dann auch noch ausgerechneter jemandem zugeteilt worden ist, den sie kennt.

Vielleicht hat sich die Schwester Stella ja gedacht: »Jö, schau, so ein hübsches Fräulein, diese Birgit, die erinnert mich doch sofort an diese französische Schauspielerin mit dem Swimming Pool und dem Mundgeruch, und vielleicht erinnert das wiederum den Herrn Chris auch an irgendwas, wenn er die sieht … also falls er überhaupt was sieht … Nein, das kann einfach nicht falsch sein, wenn man dieses hübsche Fräulein Birgit mit der Beaufsichtigung des armen Herrn Chris betraut, vielleicht bewegt die ja was in seinem Inneren, und er wird wieder gesund.«

»Herr Chris, das ist das Fräulein Birgit«, sagt die Schwester Stella jetzt lieb, »die wird sich ein bisschen zu Ihnen setzen.« Und dann fügt sie in gespielter Strenge noch hinzu: »Und dass Sie sich ja anständig benehmen!« Und dabei zwinkert sie der Birgit belustigt zu, weil der Herr Chris ja schon seit mittlerweile drei Jahren weder spricht noch zuhört noch sonst was macht, außer in eine unbestimmte Ferne zu starren. Von gutem oder schlechtem Benehmen also keine Rede.

»Knocked-out-Syndrom nennt man das«, hat die Schwester Stella der Birgit vorhin im Büro bei einer raschen Einschulung erklärt. »Das ist, wenn einer zwar bei Bewusstsein, jedoch geistig ganz woanders und körperlich fast vollständig gelähmt, zudem unfähig ist, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen. Ob und was so einer sieht …«, und dabei hat die Schwester Stella »ob« und »was« deutlicher als den Rest ausgesprochen, ganz große, geheimnisvolle Augen gemacht und die Hände gehoben, als ob sie sich für was entschuldigen müsste, »… der den ganzen Tag in eine unbestimmte Ferne starrt, kann beim besten Willen niemand sagen, genauso wenig, wie ob ein solcher jemals wieder zurückfinden oder für immer dort …«, und da hat die Schwester Stella ein leises Seufzen von sich gegeben, »… wo immer ›dort‹ auch sein mag – bleiben wird. Dass ihn jetzt auch noch das Virus erwischt hat, macht die Sache natürlich nicht einfacher. Jedenfalls kümmern wir uns hier gut um ihn, der Ruf unseres Hauses ist nämlich ausgezeichnet, ist ja auch nicht ganz billig. Aber Mister Paul Stanley, vielleicht kennen Sie ihn ja, ein berühmter Rockstar und sehr guter Freund des Herrn Chris, kommt dafür auf.«

Birgit überlegt. Soll sie der Schwester Stella sagen, dass sie zwar nicht diesen Paul Stanley, dafür aber den Herrn Chris kennt? Dass er sie vor drei Jahren in der kleinen Papierhandlung von der Frau Erika angesprochen hat? Dass er sie mäßig originell gefragt hat, ob sie mit ihm was trinken gehen will? Was trinken … natürlich hat er was ganz anderes mit ihr gewollt, etwas, das für sie damals ganz sicher nicht in die Frage kam, weil sie da noch mit dem Moddetektiv gegangen ist. Der Moddetektiv … hach … blöder Depp.

Sie sieht ihn jetzt wieder ganz genau vor sich, nein, nicht den Moddetektiv, den Chris, wie er da vor ihr gestanden ist, etwas fahrig und ein bissl nervös, andauernd herumgezappelt ist er in seinem komischen Rolling-Stones-Anzug. Der war doch auf irgendwas drauf! Und später, wie sie wieder daheim war, hat sie noch eine ganze Weile über ihn nachdenken müssen, und sich über sich selbst gewundert, weil dieser Chris es geschafft hat, sich in ihren Gedanken einzunisten. Wo Männer mit Vollbart doch sonst gar nicht ihr Typ sind.

Und, daran erinnert sie sich noch ganz genau, dass das der Moment gewesen ist, wo der aus ihrer Liebe zum Moddetektiv geschmiedete Schutzpanzer den ersten haarfeinen Riss abbekommen hat. Trotzdem ist sie dem Moddetektiv weiterhin honett geblieben, und den Chris hat sie seither nicht mehr wiedergesehen. Bis zum heutigen Tag. Und jetzt fällt ihr die Kinderschultasche ein, von der die Frau Erika gemeint hat, dass die doch ganz sicher was wär’ für den feschen Herrn Chris, weil auf der auch so ein Rolling-Stones-Zungenmuster drauf ist wie auf dem todschicken Anzug, den der Chris an diesem Frühsommerabend angehabt hat. Worauf sie die Frau Erika angestachelt hat, die Schultasche unbedingt aus dem Lager zu holen, bevor sie frech grinsend die Papierhandlung verlassen und diesen Chris in seinem blöden Anzug stehen gelassen hat.

Wie sie dann das nächste Mal in die Papierhandlung gekommen ist, war die Schultasche immer noch dort. Der Herr Chris, so erzählte ihr die Frau Erika, hat sie zwar bezahlt, aber nicht warten können, bis sie den Kinderranzen im Lager aufgestöbert hat. Weshalb er gebeten hat, ihn der Birgit für ihn mitzugeben, wenn sie das nächste Mal ins Geschäft kommt. Das hat er natürlich nicht gemacht, weil ihm die Schultasche so gut gefallen hat und er sie unbedingt hat haben wollen, sondern weil er darauf spekuliert hat, dass die Birgit sich deswegen mit ihm in Verbindung setzen wird. Und seine Adresse hat er auf einen Zettel geschrieben, damit sie ihm dann die Schultasche zu Hause vorbeibringt – Frechheit! Aber auf dem Zettel ist gar keine Adresse draufgestanden, sondern nur irgendwas Unsinniges, ihr fällt beim besten Willen nicht mehr ein, was. Ist auch egal, sie hat den Zettel zerrissen, und damit ist das Thema Chris für sie erledigt gewesen.

Jetzt lässt sie der Gedanke nicht mehr los, und es wurmt sie. Was ist da bloß auf dem Zettel gestanden?? Irgendwas, das mit Romantik, aber auch mit einer Katastrophe zu tun hat … Herrschaft, es ist immer das Gleiche, gerade die blödesten Sachen merkt man sich doch für immer und ewig, aber wenn man einmal eine von diesen Unsinnigkeiten braucht, dann kommen sie einem auf Biegen und Brechen nicht mehr in den Sinn. Wurscht.

Und jetzt sitzt er da, dieser Chris, mit einem Schlauch in der Nase und im Rollstuhl unter dem alten Lindenbaum im Garten des Sanatoriums, bei dem sie sich ehrenamtlich beworben hat, und weiß wahrscheinlich nicht, wo oben und wo unten ist. Und die Seuche hat er sich überdies auch noch eingefangen. Armer Teufel.

Sie beugt sich zu ihm hinunter, schiebt sich – soweit es die blöde Plexiglasniesschutzkugel zulässt – in sein Blickfeld, legt ihm die Hand auf den Arm und versucht ihm in die Augen zu schauen. Und obwohl sich ihre Blicke treffen, schaut er sie dennoch nicht an, sondern nur durch sie hindurch.

Schöne Augen hat er schon, das ist ihr damals als allererstes aufgefallen. Ein Blau, so blau wie der atlantische – nein, wie der pazifische Ozean. Wo die jetzt wohl hinsehen …? Also setzt sie sich auf das Bankerl neben ihn, und fängt an ihm zu erzählen, wie sie sich damals vor drei Jahren in der Papierhandlung von der Frau Erika begegnet sind. Und dabei beobachtet sie ganz genau, ob er vielleicht auf irgendwas reagiert. Aber da ist kein Wimpern-, kein Finger-, kein Garnichtszucken. Deppat.


Wie ein aus Fernambukholz gefertigter, mit ungebleichten Schimmelhengsthaaren bespannter Goldbogen, der die Albinoschafdarmsaiten einer 1724er Ex-Szigeti Stradivari liebkost, strich, von der mit Altersflecken übersäten, dürren Hand nahezu schwerelos geführt, die diamantenbesetzte 18-Karat-Weißgoldschleiffläche der dem Hause Riche et Lieux entstammenden Bestgestelltennagelfeile über den Halbmond seines Ringfingers, um in hauchzart geführten Schwüngen mikroskopisch kleine Hornpartikelchen abzutragen, während er jene, von unglaublicher Dramatik getragenen, wenigen Augenblicke stiller Spannung zwischen Präludium und Fuge genoss, ehe das Thema in einzelnen Tönen zu erklingen begann, um dann mit sich selbst auf Stufen wachsender Komplexität geradezu unheimliche, erlesene Harmonien hervorzubringen. Wenn es auch schwierig für ihn sein mochte, es in Worte zu fassen, so bestand doch stets eine höchst subtile Beziehung zwischen den beiden, denn selbst wo Präludium und Fuge nicht das gleiche melodische Thema besaßen, so gab es doch immer eine unfassbare, abstrakte Eigenschaft, die sie so eng miteinander verknüpfte wie ein, er überlegte, ja, ein endloses, geflochtenes Band.

Präludien und Fugen gab es viele, und er kannte sie alle, und kaum etwas war für ihn so aufregend wie dieses flüchtige Zwischenspiel von Schweigen. Denn es war der Moment, in dem er versuchte, dem alten Bach auf die Schliche zu kommen. Was würde das Tempo der Fuge sein, Allegro oder Adagio, würde es 6/8 oder 4/4 sein, würde das Stück vier Stimmen haben, oder gar fünf, oder bloß drei …? Ein exquisiter Augenblick höchst erlesener Qualität, der –

KLACK!

Das scharfe, metallische Geräusch der Schließvorrichtung ließ Emerald Westminster III die Nagelfeile beiseitelegen und verärgert den schrumpeligen Kopf heben. Welch unmusikalisches Schweinsohr besaß die unerhörte Respektlosigkeit, ihn während der Nachmittagsruhe zu behelligen, die er, wie jeder hier im Hause zu wissen hatte, stets dazu verwandte, zu den Kontrapunkten und Kanonen des Präludiums samt Fuge in Es-Dur aufs Sorgfältigste seiner täglichen Maniküre nachzugehen?!

La Porcelaine de déjeuner war längst abgetragen, und zum Souper waren es noch etliche Stunden hin. Und nach einem Casse-Croûte hatte es ihn nicht verlangt – was sollte also die ganze Putain de merde?!? Ungeachtet dessen bestand die unumstößliche Vereinbarung, ihm jeglichen Besuch im Vorfeld per Telefon zu avisieren.

Unter einem entsetzlichen Kreischen, das dem empfindlich gewordenen Alten wie eine Säge durch Mark und Bein sowie hinab bis ins letzte Glied schnitt, schob sich nun die massive Stahltür auf, und im unerträglich grellen Widerschein der Flurbeleuchtung manifestierten sich die Umrisse einer Gestalt.

»Nicht so laut, nicht so laut, ich kann diesen Lärm unmöglich ertragen!«, stöhnte Westminster derweil mit schmerzverzerrtem Gesicht und schlug die Hände vor die geblendeten Augen.

»Hab dich nicht so, alte Vogelscheuche!«, gurgelte es ihm fettig vom Eingang entgegen.

Nanu?! Das tranige Timbre im klebrigen Klang der verschlurten Stimme schien Westminster nicht ganz unbekannt, verband er doch augenblicklich ausgesprochen Abträgliches mit ihm. Er ließ irritiert die Hände sinken und kniff zur Ansichtnahme misstrauisch die mausgrauen Äuglein zusammen. Konnte es denn die Möglichkeit sein? War der feiste Kerl, dessen zwischen Bulligkeit und Korpulenz angesiedelte Silhouette den Eingang verfinsterte, tatsächlich der beschissen blöde, immens inkompetente, über alle Maßen verhasste und doch eigentlich mit ein paar ausgesprochen gut gebauten Herren in einer nicht einmal sechs Quadratmeter großen Wohngemeinschaft auf Staatskosten lebenslang sitzen sollende Lieutenant Lou …

»… Tenant-Tanner, erraten«, vollendete der Eindringling Westminsters Gedankengang und ließ damit die Vorahnung des Alten, es mit einem wahrhaften Schweinsohr zu tun zu haben, zur grausamen Gewissheit werden, während sich mit abermaligem Kreischen die Tür im Rücken des ehemaligen Oberbullen schloss und er mit einem selbstgefälligen Grinsen nähertrat. Wie vom Tabernakel gestochen, fuhr Westminster empört von seinem Stuhl hoch, sank jedoch, auf halbem Wege von seinen Kräften im Stich gelassen, wieder zurück.

»Es stört Sie doch nicht, wenn ich das Gefiedel ausmache?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte Tenant-Tanner zum Grammophon und zog in Begleitung eines schmerzhaft-scharfen Geräuschs die Nadel genüsslich quer über Platte, ehe er mit einem harten Pock! den Tonarm abhob, um mit unschuldiger Stimme zu säuseln: »Oooops, da muss ich wohl noch ein wenig üben, wenn ich auf DG umsatteln will.«

»DJ, Sie Trottel!«, fauchte der Alte gehässig und schüttelte entrüstet den Kopf.

»Kack drauf, ohnehin ein brotloser Job seit dem endgültigen Shutdown«, konterte der Lieutenant ungerührt und begab sich mit interessiertem Blick und hinter dem Rücken verschränkten Händen auf einen kleinen Rundgang durch Westminsters Bleibe. »Hübsch haben Sie es hier, sieht ganz so aus, als hätten Sie in der Direktion des Danube Island State Prison ein paar ziemlich wohlgesinnte Freunde.« Womit er, man konnte es drehen und wenden, nicht ganz unrecht hatte.

Durch ein mit barock anmutenden, von Könnerhand geschmiedeten Goldstäben vergittertes Fenster, dessen für einen Ort wie diesen unübliche Dimension schlechthin die gesamte Rückwand einzunehmen verstand, fiel in einem geradezu Vermeer’schen Winkel hell und warm reichlich Sonnenlicht auf eine reichhaltig gepolsterte Bettstatt in King-, wenn nicht gar Emperorsizeformat, und erstreckte sich über den mittels eines japanischen Paravents diskret im Verborgenen gehaltenen Lokus bis hin zu einer frei im Raum thronenden, auf possierlich geschwungenen Löwentatzen fußenden, gusseisernen Badewanne. Des Weiteren barg die mit üppigen orientalischen Teppichen wie auch französischen Tapisserien edelster Machart ausgelegte, in feinem Elfenbein getünchte Räumlichkeit, deren Ausmessung einer kleinen Turnhalle um nichts nachstand, von Grammo-, Tele-, Dikta- und Xylophon abgesehen (seit seinen Jugendtagen pflegte der Alte sich zur Entspannung gelegentlich der Improvisation von Jazz-Standards zu überlassen), einen mit blattgüldnen Intarsien versehenen, antiken Louis-Seize-Rokoko-Sekretär aus schwarz glänzendem Ebenholz, der mitsamt einem dahinter hervorprotzenden, ausladenden Ohrensessel zielgenau das Zentrum der Örtlichkeit markierte sowie eine aus einem Dutzend raumhohen Mid-Century-American-Bookshelfs bestehende, an den Seitenwänden entlangführende, sich aus unzähligen in hochwertiges Leder eingebundenen Büchern zusammensetzende Bibliothek. Dem nicht genug, beherbergte die (der bedrückende Terminus »Zelle« wurde der Unterkunft nicht im Ansatz gerecht, demzufolge wollen wir das zu Emerald Westminsters Unterbringung dienende Refugium zumindest mit »Eremitage« betiteln), hortete also diese Eremitage, deren vertikale Expansion der Annahme Zunder gab, dass die der nächsthöheren Etage bislang als Boden dienende Decke abgetragen worden war, um mit dem ehedem darübergelegenen Kabuff zu einem einzigen hohen Raum zu verschmelzen, neben einem in früheren Tagen so manch biederem Meier gedient haben mögenden Kredenzchens, auf dem in edlen Kristallkaraffen allerlei hochprozentige Destillate in den unterschiedlichsten Bernsteintönen funkelten, eine mit virtuos gedrechselten Schnecken verzierte Staffelei samt aufgespannter Leinwand, welche eine in der Fertigstellung begriffene, dem Original da Vincis getrost das Wasser reichen könnende, noch feucht glänzende Reproduktion der Mona Lisa, deren in eine angrenzende Hobelbank eingespannter Rahmen gelassen seiner baldigen Fertigstellung entgegensah, offerierte. Weitere, augenscheinlich von der zittrigen Hand des Alten meisterhaft zu Papier gebrachte Aquarelle der Rialtobrücke von Venedig, des Campagnile Penissi di Marchesa di Parma Luisa Rocco Matilda di Alfredo und des Weißen Hauses von New York (um nur einige der Artefakte anzuführen) sowie zahlreiche mit Bleistift oder Rötelkohle brillant ausgeführte Zeichnungen, die naturalistische Studien von Schmetterlingsflügeln und Vogelschwingen der weiter oben bereits erwähnten funkelnden Kristallkaraffen, aber auch das Licht und Schattenspiel zarter Gräser wie komplex verschlungenen Blattwerks täuschend echt wiederzugeben verstanden, waren mit bescheidenen Reißzwecken ans Gemäuer affichiert.

Der Lieutenant zeigte sich von alldem jedoch reichlich unbeeindruckt und zuzelte stattdessen wie zum Trotz unter ausgesprochen ungustiösen Ziepgeräuschen eine Fleischfaser aus seinen Zähnen. Nachdem er sie mit seiner zerklüfteten Zunge auf seinen Finger befördert und einer beiläufigen Betrachtung folgend zu einer Kugel gewuzelt und hernach irgendwohin in den Raum geschnippt hatte, gurgelte er grantig: »Hätt ich mir ja denken können, dass Sie es sich in den noch verbleibenden zweihundertsechsundneunzig Jährchen Ihrer dreimal lebenslangen Haftstrafe gemütlich einrichten. Wenn ich das mit meiner Sechsmannzelle vergleiche …« Er schürzte die fleischigen Lippen und stieß einen Pfiff aus.

»Wenn ich mich richtig entsinne, entspricht die Zeitdauer des von Ihnen ausgefassten Arrests exakt der meinen – warum zum Teufel also sitzen Sie nicht mit Ihren Zellenkumpanen beim trauten Schutzmaskenkleben?«, geiferte Westminster nach wie vor fassungslos.

»Tja, Alterchen, schon mal was von gelockertem Vollzug wegen der beschissenen Seuche gehört?« Tenant-Tanner schob das rechte Bein neckisch nach vor, lüpfte die Hose seines kanariengelben Anzugs und präsentierte stolz seine Fußfessel.

»Und da kommt Ihnen nichts Besseres in den Sinn, als gegen die Auflagen zu verstoßen, hierherzuspazieren und mir die Atemluft streitig zu machen«, sagte Westminster und zog verächtlich die Mundwinkel herab.

»Papperlapapp«, wischte der Lieutenant die Beschwerde grob beiseite. »Ob Sie’s glauben oder nicht, auch ich verfüge über gute Kontakte, speziell zur Überwachungsabteilung.« Er trat einige Schritte näher, baute sich mit vor der Brust verschränkten Armen und einem selbstsicheren Grinsen vor dem Stuhl des Alten auf und sagte: »Da ist Ihnen ja ganz schön einer ausgekommen.«

Von der unerwarteten Aussage Tenant-Tanners irritiert, nahm Westminster, ohne den Blick von seinem Gegenüber zu lösen, eine leicht zur Seite geneigte Position ein, legte die Hand auf den Oberschenkel und ließ sie so unauffällig wie nur möglich nach hinten an den betagten Achtersteven gleiten. Sein Gehör war nicht mehr das Beste, und ab und an von argen Winden geplagt, bestand durchaus die Möglichkeit, dass ihm gelegentlich das eine oder andere kleine, bedauerlicherweise auch größere Malheur widerfuhr, von dem er erst Kenntnis nahm, wenn er des Abends die Tagesbekleidung gegen Nachthemd, Meerschaumpfeife und Schlafmütze tauschend, einer degoutanten Spur in seiner Unterhose ansichtig wurde. Altern war bei Gott kein Segen. Doch zu seiner Erleichterung schien die entsprechende Stelle seines Beinkleides unbenetzt, weshalb er leise aufatmend sagte: »Auch wenn meine Zeit in diesen, mir per Gesetz zugewiesenen vier Wänden nahezu unbeschränkt ist, liegt es dennoch, wie ich meine, in unserer beider Interesse, die Unterhaltung auf einen möglichst kleinen Zeitraum zu begrenzen. Demgemäß möchte ich Sie bitten, mir zu erläutern, was Sie mir mit der von Ihnen bemühten Phrase ›einer ausgekommen‹ versuchen zu verstehen zu geben.«

»Fragen Sie nicht so scheinheilig, na, der Virus natürlich!«

»Das Virus, Sie Eiernacken.«

»Umgangssprachlich kann man sehr wohl ›der‹ sagen, und da ich, wie Sie wissen, ein ausgesprochen umgänglicher Mensch bin, hehe …«, gab sich Tenant-Tanner semi-amüsant.

»Umgänglich?«, konterte Westminster, »Das trifft es nicht ganz. Gestatten Sie mir, Ihnen ein D und ein M zu offerieren!«

Die Visage des Lieutenants strotzte vor Unverständnis.

»Dummgänglich ist der gesuchte, Sie aufs Vorzüglichste zu determinieren wissende Begriff, würde ich mir erlauben vorzuschlagen, hikhikhik«, amüsierte sich der Alte erstmalig an diesem Nachmittag und erinnerte sich mit leiser Wehmut an all die erheiternden, kleinen Quälereien, die er sich, wann immer ihm der Sinn danach gestanden war, gestattet hatte, dem Lieutenant anzutun, als dieser noch in seinem Sold gestanden hatte, um für ihn die Drecksarbeit zu erledigen.

Von wunderlichem Harfengeschwurbel begleitet, tat sich vor ihm eine Szene aus längst vergangenen Tagen auf, und man sah erst verschwommen, doch bald an Schärfe gewinnend, wie er und Tenant-Tanner in Schwarz-Weiß und mit viel Hall vor nunmehr vier Jahren in der Bibliothek von Westminsters Anwesen beisammengesessen waren. Der Oberbulle hatte sich, dabei seine Hose sorgsam lüpfend, soeben niedergelassen, da war auch schon Westminsters schneeweißer Siamkater herbeigestrolcht und hatte sich – nicht ohne sich zuvor ausgiebig an den dunkel bestofften Unterschenkeln des Gesetzeshüters entlangzuschmieren – mit einem zufriedenen »Mrauz« auf dessen Schoß platziert. Tenant-Tanner hatte den verwöhnten Vierbeiner gehasst, wogegen der Kater die Besuche des stämmigen Mannes, dessen Körper ein Geruch entströmt war, der an das säuerliche Odeur schlecht getrockneter Putzlappen erinnerte, durchaus zu schätzen wusste. Was Westminster III sogleich mit beträchtlichem Genuss sich nicht gescheut hatte zu artikulieren: »Er mag Sie, weil Sie stinken, Lou!«

Der Lieutenant hatte beobachtet, wie sich eine milchige Haut über die azurblauen Augen des knusprig schnurrenden Katers geschoben hatte, dessen von einer lang gezogenen, in gerader Linie direkt in einem prähistorisch anmutend hervortretenden Stirnwulst mündenden, von grotesk hervortretenden Wangenknochen eingefassten, viel zu langen Nase und fächerartig hochstehenden, unverhältnismäßig großen, vom Lichteinfall durchscheinend gewordenen, rosig leuchtenden, zudem rot geäderten Ohren dominierter Schädel ihn eher an einen Ziegenbock oder kleinen Affen als an eine Katze hatte denken lassen, und der damals, während beachtlich große Vorderpfoten unter fortwährendem Krallen-ein-und-aus-Gefahre kleine Löcher in seine Hose zu stoßen nicht müde geworden waren, seinen Genitalbereich zum Ruhekissen auserkoren hatte.

Westminster indes hatte an seinem Whiskey genippt, gekichert und, abwechselnd seinen Gast und den Vierbeiner betrachtend, gesagt: »Ja, Lou, Sie stinken, hihihi, und er mag das. Wissen Sie das, Lou?«

»Ja, Mister Westminster, weiß ich«, hatte Tenant-Tanner mit beherrschter Stimme entgegnet, während er sich, einem Elefanten nicht unähnlich, jede einzelne der Niederträchtigkeiten gut einprägte. Um eines schönen Tages, wenn Westminster III am wenigsten damit rechnen würde, in einem vernichtenden Gegenschlag für alles Erduldete Rache zu nehmen.

Westminster hatte weiter gekichert. »Jaja, Sie stinken, hihi … Lou, ich will das von Ihnen hören. Sagen Sie, dass Sie stinken!«

»Ich stinke«, hatte der Lieutenant gegrummelt, denn ein ganz klein wenig hatten es die stichelnden Arglistigkeiten doch vermocht, durch seine dicke Elefantenhaut zu dringen.

»Ach, kommen Sie, Lou, seien Sie nicht so unhöflich, das können Sie doch besser, sagen Sie: ›Ja, Mister Westminster, ich erlaube mir auch heute wieder zu stinken‹, dann lass ich Sie auch gleich in Frieden!«

Artig hatte Tenant-Tanner den ihm abverlangten Satz wiedergegeben: »Ja, Mister Westminster, ich erlaube mir heute zu stinken.«

»Ach, Lou, Sie haben das wieder und zudem das auch vergessen, das geht natürlich nicht, denn Sie stinken ja nicht erstmalig, sondern immer, und das sollte Ihre Aussage unbedingt zur Geltung bringen. Also, noch mal: ›Ja, Mister Westminster, ich erlaube mir auch heute wieder zu stinken.‹«

»Ja, Mister Westminster, ich erlaube mir auch heute wieder zu stinken«, hatte Tenant-Tanner folgsam repetiert.

Westminster hatte hysterisch gegackert, als er nach seinem dösenden Kater gesehen und gesagt hatte: »Hikhikhik, hörst du das, Christian? Der Lieutenant erlaubt sich auch heute wieder zu stinken, hikhikhik, als ob er es sich manchmal verbieten würde, hikhikhik.« Dann hatte er sich wieder dem Polizisten zugewandt. »Lou, tun Sie sich keinen Zwang an, wieder zu stinken, stinken Sie ruhig auch heute.« Anschließend hatte er einen kleinen Schluck Malt genommen.

»Lou, darf ich Sie etwas fragen?« – »Ja, Mister Westminster.« – »Lou, sind Sie eine blöde Kuh?«

Die Szene verschwamm und löste sich in Luft auf, und während Westminster sich in der bunten Gegenwart wiederfand, kam er nicht umhin, sich zu fragen, was wohl mit dem Kater geschehen war, der ihn später so schändlich verraten hatte. Der Erinnerungen an Vergangenes überdrüssig, streifte er sie ab wie die Zellophanhülle eines Truthahnsandwichs. Sich nun wieder dem Hier und Jetzt widmend, sagte er: »Also Lou, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie sich die Mühe gemacht, mich aufzusuchen, um mir mitzuteilen, dass Sie der meines Erachtens etwas merkwürdigen Annahme sind, mir sei aufgrund eines Virus, wie nannten Sie es? – ›einer ausgekommen‹?«

»Jetzt tun Sie nicht so scheinheilig!«, begohr Tenant-Tanner sogleich auf. »Denken Sie, ich hab nicht mitbekommen, dass Sie damals zur Umsetzung Ihrer kranken Pläne die gesamte Menschheit zu vernichten, neben Prism Break und Lotion9 auch an einem hoch ansteckenden, unglaublich tödlichen Virus herumbasteln ließen? Und wie man weiß, wird in den Ostlabors Sauberkeit nicht gerade großgeschrieben, kein Wunder also, dass denen das Ding irgendwann ausgebüxt ist. Speziell bei den Millionen von Fledermäusen, die in Syldavien durch die Gegend segeln und die, nachdem sie als Labortiere gedient haben, an die chinesische Feinschmeckerszene verkauft werden. Ich musste also nur noch eins und eins zusammenzählen, um mir zusammenzureimen, wer hinter der ganzen Misere steckt, die mittlerweile die ganze Welt in den Abgrund reißt. Aber …«, der Lieutenant war während seiner Ausführungen großspurig gestikulierend umhergestapft und mittlerweile mit dem Rücken zu Westminster stehen geblieben, nun riss er pathetisch den Arm in die Höhe und rief mit galliger Stimme: »… der Erschaffer des Virus kennt natürlich auch die Formel für das Gegenmittel, und deshalb –«, er wirbelte jäh in einer plumpen Halbpirouette herum, verlor jedoch die Balance, kippte seitwärts und landete unter hilflosem Armrudern auf seinem ausladenden Gesäß. Das Malheur zur Improvisation nützend, hob er, weiterhin auf dem Boden kauernd, langsam den Kopf. Das Gesicht zur dämonischen Fratze verzerrt, stieß er seinen Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung des Alten: »UND SIE SITZEN HIER SEELENRUHIG HERUM UND WARTEN, BIS DIE KACKE SO RICHTIG AM STINKEN IST, UM SICH DANN – TATATATA – ALS DER GROSSE RETTER MIT DEM GEGENMITTEL AUFZUSPIELEN!« Er ließ den Arm langsam sinken und erhob sich ächzend. Sein Gesichtsausdruck hatte wieder die gewohnt dumpfen Züge angenommen, und nachdem er sich dürftig den Staub vom Hintern geklopft hatte, sagte er mit ruhiger Stimme: »Und Sie werden natürlich wieder mal Billiarden an Dollars damit verdienen.«

Emerald Westminster III, der der eindringlichen Inszenierung des Lieutenants interessiert gefolgt war, hob ungeachtet des kleinen Ausrutschers die hageren Ärmchen und klatschte ein paar Mal schwächlich in die Hände. Nachdem das Echo seiner Beifallsbekundung in den Wänden versickert war, verzog er die blutleeren Lippen zu einem zwischen Anerkennung und Süffisanz spielenden Lächeln. »Lou, ich muss zugeben, ich habe Sie unterschätzt. Sie sind ja doch nicht der dumme Scheißlieutenant, für den ich Sie stets – mit Leidenschaft wäre zu viel gesagt, aber immerhin recht gerne – gehalten habe. Chapeau! Wenn auch ich mir erlauben möchte, Sie hinsichtlich einer klitzekleinen Petitesse in Ihren Auslegungen zu korrigieren, ein Trugschluss hinsichtlich meiner Person, der mir zwar schmeichelt, jedoch, so leid es mir tut, nicht den Tatsachen entspricht. Doch eins nach dem anderen: Wie Sie durchaus richtig erkannten, ließ ich parallel zu Prism Break das Covid 19-Virus entwickeln, um es dann, wenn die Zeit dafür reif wäre, unter die Menschen zu bringen. Und wie Sie weiters vollkommen zutreffend feststellten, hat mir eine syldavische Fledermaus den distributiven Dienst abgenommen, was die Sache zusätzlich vereinfachte. Und ja, abermals trifft Ihre Hypothese mitten ins Schwarze, mein Plan bestand in der vollkommenen Heilung und Errettung der Welt, wenn auch – und hierin besteht der infinitesimal fatale Fehler Ihrer Milchmädchenrechnung – auf eine geringfügig andere als die von Ihnen erhoffte Spielart, denn …«, die Zuseher daheim an den Fernsehgeräten hörten auf mit ihren Chipstüten zu rascheln und hielten gebannt den Atem an, da der Alte zwecks geschicktem Spannungsaufbau ein paar lange Sekunden der Stille verstreichen ließ, ehe er die Katze aus der Kiste stieß, »… denn, mein lieber Lieutenant, das Gegenmittel ist bereits im Umlauf, Sie und jeder andere auch kennt es, und es heißt: CORONA. Da schauen Sie, was? Ja, Corona ist die allumfassende Arznei, das durchschlagende Pharmakon, das einzig taugliche Therapeutikum gegen die echte und wahre Pest und desaströseste Seuche, die diesen Planeten jemals heimgesucht hat, nämlich: die Menschheit selbst!

Ich hatte also niemals vorgehabt, wegen ein paar lächerlicher Billiarden Dollars dann, wenn – wie drückten Sie es auf Ihre schlichte Art so plakativ aus? – ›die Kacke so richtig am Stinken‹ wäre, als Erretter der Welt in Erscheinung zu treten, um die Menschheit mit einem Gegenmittel zu beglücken! Au contraire, mon cher Lieutenant Louis Ténante-Ténier, ist es mein bescheidener letzter Wunsch, die mir noch verbleibenden Tage damit zu versüßen, hier gemütlich am Single Malt nippend zu sitzen und genüsslich dabei zuzusehen, bis auch der allerletzte Vertreter der Gattung Mensch sein überflüssiges Leben ausgehüstelt hat und mit ihm die so lange Zeit geknechtete Erde von ihrem Geschwür erlöst worden ist. Ja, Lieutenant Lou Tenant-Tanner, dies ist mein, wie ich meine, höchstmoralischer, ausgesprochen nachhaltiger Beitrag zum finalen Kapitel des Homo sapiens. Opera ad acta. Ich erwarte mir keinerlei Absolution, doch sei zu meiner Exkulpation gesagt: Es hätte eine kleine, wenn auch verschwindend geringe Chance gegeben, denn man soll mir hinterher nicht nachsagen, ich sei ein unfairer Spieler gewesen. Wobei unklar ist, wer ›man‹ noch sein könnte, nachdem Corona seinen Dienst getan hat, hikhikhik … wie auch immer, sollen sich doch die Theologen darüber die Köpfe zerbrechen. Hätte man also mein Amuse-Gueule in Gestalt der ersten Welle ernst genommen und sich demgemäß zu einem radikalen, weltumfassenden Umdenkprozess durchgerungen, sich zu einer Abkehr von der immer schneller kreiselnden Spirale zerstörerischer Profitgier und ewiger Gewinnmaximierung entschlossen, wäre das Comeback unseres kleinen Freundes Covid unter Umständen vermeidbar gewesen. Doch es war ja so absehbar, dass bei den ersten Anzeichen, die Seuche sei einigermaßen unter Kontrolle, wenn nicht gar bereits überwunden, alles wieder seinen gewohnten Gang nehmen würde, und die Menschen – zugegeben, von den eigenen korrupten Regierungen dazu angestachelt –, anstelle sich zu besinnen und in Demut zu üben, in ihrer maßlos arroganten Selbstüberschätzung, Gier und Habsucht die Baumärkte, Restaurants, Vergnügungsparks, Reisebüros, Bet- und Freudenhäuser wie die Lemminge stürmen würden, als sei nichts geschehen und die erste Seuchenwelle nur eine kurz unangenehm zwickende, bereits im Vergessen begriffene Zwischenepisode gewesen.

Doch Corona ist ein schlaues Kerlchen, das bestrebt ist, sich fortwährend zu optimieren, die zweite Welle ist ungleich raffinierter und ihrer Herr zu werden ist ein dermaßen aussichtsloses Unterfangen, dass mittlerweile selbst dem naivsten Balkonclaqueur das Klatschen gehörig vergangen ist. Vielleicht mögen Sie sich fragen: Warum den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen, da sich das Thema Menschheit ohnehin in absehbarer Zeit von selbst erledigt hat? Ganz einfach: Die Begleitschäden wären zu groß, der gesamte Planet würde mit ins Verderben gerissen. Meine Lösung ist also eindeutig die bessere, so effizient und sauber wie ein scharf geführter Schnitt mit dem Skalpell.«

Augenscheinlich bester Laune, verfiel der Alte vorübergehend in einen vergnügten Singsang: »Und so nehmen die Dinge ihren Lauf, die Erde blüht auf und die Menschheit geht uuunter, da hilft auch kein oberschlauer Lieutenant Lou Tenant-Tuuuunter, fidiralala …« Um mit dem der Sache geschuldeten Ernst zum Schlussakkord anzusetzen: »Dies alles aus der schmallippigen Spargelspalte eines schwerstreichen Immobilientycoons zu vernehmen, vermag verwundern, doch glauben Sie mir, mein Guter, mit dem Alter entwickelt man seltsame Neigungen, man verweichlicht, wird zunehmend sentimentaler, besinnt sich vermehrt auf die sogenannten wahren Werte und entwickelt infolge das dringende Verlangen, etwas Bedeutenderes als bloß ein unüberschaubares Vermögen zu hinterlassen. Zudem ist mir bereits des Längeren fad. Noch Fragen, Sie Fatzke?«

Tenant-Tanner, der Westminsters Offenbarung mit offen stehendem Frittenverspachtler gefolgt war, schien einen Augenblick ratlos, dann fing es hinter seiner zigarettenschmalen Stirn zu ratterten an, bis es ihm zu den Ohren herausqualmte, und er nach einem Geräusch, dass sich wie das Fallen eines Groschens anhörte, folgenden Satz ausspuckte: »Okay, alles schön und gut, Sie mephistophelischer Methusalem, aber jetzt, wo ich hinter Ihr Geheimnis gekommen bin, gibt’s eine kleine Planänderung. Sie setzten sich schnurstracks mit Ihren syldavischen Laborratten in Verbindung und veranlassen, dass die Produktion des Gegenmittels anläuft. Und zwar auf Hochtouren, wenn ich bitten darf, denn mit jedem neuen coronalen Abnippler geht uns Kohle durch die Klauen. Überdies haben Sie sicher nichts dagegen, wenn das Präparat aufgrund meiner zuhöchst humanen Initiative unter dem Namen Loutenantanin auf den Markt kommt. Also, keine Tattrigkeit vorschützen, hängen Sie sich an die Quasselstrippe, Sie … Opa

Gelassen entgegnete Westminster: »Sie als ehemaliger Oberbulle sollten das eigentlich in der Polizeischule gelernt haben: Wie lautet die Definition für Erpressung?«

»Bei der Erpressung versucht jemand, sich selbst rechtswidrig durch Gewalt oder durch Androhung eines empfindlichen Übels zulasten eines anderen zu bereichern«, leierte der Lieutenant brav seinen Text herunter und kam sich sogleich etwas blöd vor, sich selbst dermaßen vorgeführt zu haben.

»Exakt, Lou, nun mangelt es in Ihrem Falle jedoch an dem eben von Ihnen erwähnten empfindlichen Übel, welches Sie zur Unterbreitung eines für mich nicht ablehnbaren Angebots imstande sein sollten, mir anzudrohen.«

»Da brauch ich nicht lange zu überlegen, wenn Sie nicht mitspielen, werde ich auspacken, und die ganze Welt wird davon erfahren!«

»Und dann? Was soll mir passieren, vielleicht dass man meine Haftstrafe um weitere dreihundert Jahre verlängert? Man mich vor ein Kriegsgericht stellt?«

Nach kurzer Überlegung gab Tenant-Tanner hart Konter: »Es könnte sein, dass Ihrer süßen Nichte Bettina –«

»Birgit

»… meinetwegen Birgit, dass Ihrer entzückenden Birgit ein unvorhergesehenes Unglück widerfährt!«

»Wird es ohnehin, so traurig mich das auch macht, Lou, die Seuche drückt auch bei entzückenden Nichten kein Auge zu.«

Also versuchte es Tenant-Tanner auf die sanfte Tour: »Jetzt überlegen Sie mal, wir werden Billiarden verdienen, Sie können darauf bestehen, aus der Haft entlassen zu werden, und Ihren Lebensabend –«

»Lou, haben Sie vorhin nicht aufgepasst? Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Kein noch so schnöder Mammon ist imstande, den Genuss aufzuwiegen, welchen mir die Betrachtung des Untergangs der menschlichen Rasse beschert. Außerdem fühle ich mich hier nicht unwohl. Kommen Sie wieder, wenn Ihnen was eingefallen ist, das es versteht, meine Neugier zu wecken.«

Mit einer Geste, die sich bei der Expatriierung leidiger Hexapoden großer Beliebtheit erfreut, erklärte Westminster das Gespräch für beendet.

Tenant-Tanner ballte wütend die Fäuste und sog scharf Luft durch die Nase ein. Was sollte das ganze Gefasel, vielleicht musste er dem Alten einfach mit ein paar schlagkräftigen Argumenten auf die Sprünge helfen … Nein, besser nicht, der Kerl war zäh wie australisches Trockenfleisch, besser Kräfte sparen, da war im Moment nichts zu holen, Westminster saß eindeutig auf dem längeren Ast. Zum vorläufigen Rückzug entschlossen, ließ er die Hände sinken und stapfte finsteren Blicks Richtung Ausgang, bremste sich jedoch vor der Leinwand mit Westminsters meisterhafter Reproduktion der Mona Lisa ein. Zumindest einen kleinen Triumph würde er sich gönnen! Er ergriff einen der zahlreichen Pinsel, tunkte diesen tief in schwarze Ölfarbe und verpasste der florentinischen Schönheit mit dem geheimnisvollen Lächeln mittels zweier zügiger Striche und in Begleitung eines schäbigen Grinsens eine fette Moustache. Mit seinem Werk augenscheinlich zufrieden, legte er vergnügt den Pinsel beiseite, trat zwei Schritte zurück und glotzte erwartungsvoll zum Alten hinüber. Westminster jedoch zeigte sich unbeeindruckt. Stattdessen frug er mit einem Lächeln so fein wie ein Spinnenbein: »Ist Ihnen Duchamp ein Begriff?«

»Klar, die Stadt in Frankreich, wo der Senf herkommt.«

»Dacht ich’s mir«, sagte der Alte und ließ sich saturiert in die Lehne seines ausladenden Armstuhls zurücksinken. Denn er wusste, was jeder einigermaßen kultivierte Mensch weiß, ergo auch wir wissen, Lou Tenant-Tanner jedoch nicht im Mindesten wusste: Von sämtlichen anderen Individuen dieses Planeten, einschließlich des unter dem Namen Hockte Tons zu Weltruhm gelangten, malenden Affen verrichtet, wäre dieser primitive Akt des Vandalismus ohne Bedeutung geblieben und hätte nichts als mitleidiges Kopfschütteln, wenn nicht gar Empörung nach sich gezogen. Bei der Unperson des Lieutenants handelte es sich jedoch um einen hinsichtlich der feinen Künste zur Gänze unbeleckt gebliebenen Ignoranten, der, zwar von gemeiner Zerstörungswut geleitet, nichtsdestotrotz aus purer Intuition, ohne es auch nur im Ansatz zu erahnen, exakt denselben subversiven Pfad beschritten hatte, den der größte Konzeptkünstler aller Zeiten einst gegangen war. So gesehen, mit dem identischen Genius wie der vom Ahnungslosen weiter oben irrigerweise für eine Moutarde-Metropole gehaltene, Urinal-signierende Erfinder des Ready-made ausgestattet, dies jedoch nicht im Geringsten erfassend, wäre Lieutenant Lou Tenant-Tanner, hätte er seinen radikalen Bildersturm bloß um ein einziges Jahrhundert früher vollzogen, zum meistbedeutenden Protagonisten der Kunstgeschichte avanciert.

Doch der dumme Sack hatte von all dem nicht den blassesten Schimmer, und so blieb er bloß ein verflucht stinkender, kontinuierlich von einem Fettnäpfchen ins nächste tölpelnder, vom Schicksal auf alle Tage verlacht werdender, da niemals auf die Butterseite des Lebens fallen sollender, stattdessen aufgrund etlicher schleißig verübter Verbrechen in hohem Bogen aus dem VNAPD geworfener, nur dank einer seuchenbedingten Hafterleichterung nicht für alle Ewigkeit eingebuchtet gebliebener und nun nicht einmal mittels einer einfachen Erpressung sich zu bereichern befähigt seiender Scheiß-Ex-Lieutenant.

Und exakt dieses Wissen verschuf Westminster Genugtuung in höchstem Maße.

Nachdem Tenant-Tanner sich verkrümelt hatte und die Stahltür wieder fest verschlossen in ihren Angeln ruhte, erhob sich Westminster und begab sich, derbei das eine oder andere fidele Tanzschrittchen vollführend, zu seinem Getränketischchen. Er befüllte einen klobigen Tumbler zweifingerschmal mit Single Malt, setzte das Grammophon erneut in Gang und überließ sich, mittlerweile an den Schreibtisch und in den Lehnstuhl zurückgekehrt, wie in Gedanken versunken, in Begleitung der aufs Neue erschallenden Kontrapunkten und Kanonen des Präludiums samt Fuge in Es-Dur seinen Überlegungen.

Dieser Lieutenant war ihm vielleicht einer! »Was denn für einer?«, hörte er die kleine Stimme in seinem Inneren sogleich keck fragen. Keine Ahnung, so einer halt, wusste Westminster nicht so recht weiter … Eine Knalltüte jedenfalls! Wie kam dieser extraordinäre Kretin bloß auf die hanebüchene Idee, er, Emerald Westminster III, hätte irgendetwas mit der unsinnigen Seuche zu schaffen? Schon richtig, er hatte vor einiger Zeit an einer chemischen Keule herumbasteln lassen, die zur Reinigung frisch angekaufter Immobilien von uneinsichtigen Mietern hätte dienen sollen. Doch die Versuche waren über das Anfangsstadium nicht hinausgekommen. War es das, was der Lieutenant aufgeschnappt hatte? Wenn er sich ehrlich war, fühlte er sich geradezu geschmeichelt, dass ihm Tenant-Tanner, ohne mit dem Gimpel zu zucken, die Auslöschung der gesamten Menschheit zutraute. Andererseits: Was bedeutete schon die Bauchpinselei eines Rindviehs, das sein Malwerkzeug bloß in den Eimer der Einfalt zu tunken wusste? Wobei, so ganz daneben lag der lächerliche Lieutenant mit seinem Schuss ins Blaue dann auch wieder nicht, vor einiger Zeit hatten sich die syldavischen Laborratten mit der Information gemeldet, bei Lotion9 auf eine interessante Nebenwirkung gestoßen zu sein. Dennoch war es nicht unklug gewesen, den Lieutenant vorerst in seinem aberwitzigen Glauben zu lassen, er, Westminster III, habe Corona über die Welt gebracht.

Er wusste noch nicht wie, aber auf irgendeine Weise würde ihm die Trotteligkeit Lou Tenant-Tanners noch von Nutzen sein.


Die Sonne war bereits in einem schwefeligen Stinkflug begriffen, als der Moddetektiv den schattigen Innenhof seines schützenden Zuhauses erreichte. Die Übergabe der Einkäufe an den Inspector hatte gut geklappt und auch die Rückfahrt war ohne größere Komplikationen verlaufen. Es war eine gespenstische Reise durch eine Stadt gewesen, die, von einigen um die Subway-Stations irrenden Plasma-Junkies abgesehen, schon jetzt so ausgestorben dalag, wie sie es bald tatsächlich sein würde, günge es so weiter und würde nicht bald ein Gegenmittel gefunden.

Kaum hatte er die Wohnungstür hinter sich zu- und die Plexiglasniesschutzkugel in ein Eck geschleudert, um nach ausgiebigem Händewaschen (das so ganz nebenbei gesagt für ihn seit jeher ein gängiges Prozedere darstellte) zunächst den gierig um ihn herumscharwenzelnden Kater mit Royal Canin Fibre Response zu versorgen, schälte er sich aus der fieberschweißdurchtränkten Kleidung. Nachdem er sich mit einer siedend heißen Dusche einen allfälligen, zusätzlichen Virenbefall vom Körper gebrannt hatte, legte er sich mit einem elegant um die Hüften drapierten Badetuch auf das Wohnzimmersofa. Ihm war schwindlig, und augenblicklich überkam ihn ein leises Frösteln. Vielleicht war es besser, sich gleich ins Bett zu begeben, für heute war es genug, die Versorgung des Inspectors hatte ihn seine mittlerweile empfindlich zusammengeschrumpfte Tagesration an Kraft gekostet.

Kurz spielte er mit dem Gedanken Gaby anzurufen, er hatte schon des Längeren nichts mehr von ihr gehört, geschweige denn sie gesehen. Doch unter den gegebenen Umständen wäre ein Treffen ausgesprochen fahrlässig, er würde sie infizieren, oder sie ihn, falls sie es beide nicht bereits ohnehin waren. Wobei er sich, zumindest was ihn selbst betraf, ziemlich sicher sein konnte. Zudem war ihm nicht klar, was er mit dem Anruf Gabys eigentlich bezweckte, schon richtig, er hatte bereits seit geraumer Zeit nicht mehr gefochten, und wenn er an das schönste und cleverste aller Ted-Girls dachte und an das, was sie damals in der Schicken Garnele miteinander aufgeführt hatten, durchfuhr ihn nach wie vor ein ziemlich heißes Kribbeln. Oder war das bloß der Beginn eines frühabendlichen Fieberanfalls? Fühlte er sich überhaupt in der Verfassung, ihr beizuwohnen, gesetzt den Fall, sie würde es ihm überhaupt gestatten? Denn das war, wie derzeit so vieles andere auch, alles andere als gewiss. Wenn ihm diese Schweine von 1450 doch bloß einen ihrer verfickten Tests genehmigen würden. Diese an Wahrscheinlichkeit grenzende Gewissheit, bereits vom argwöhnisch grinsenden Tod belinst zu werden, während dieser sich, lässig in den Türrahmen gelehnt, mit der Sense die nicht vorhandenen Fingernägel ausschabte, machte ihn rasend. Oder zumindest nervös. Er war dazu verdammt hier zu sitzen, abzuwarten und Tee zu trinken.

Also ging er in die Küche, briet sich eine Tasse auf und spülte mit ihrem Inhalt ein purpurnes Herz hinab. Mutterfick, er würde demnächst neue Muntermacher brauchen, dies offenbarte ihm der bereits ausgesprochen schütter bedeckte Boden seiner Pillendose. Es würde nicht einfach werden, alles war komplizierter geworden seit der Seuche. Und speziell Uppers, die trotz – oder vielleicht aufgrund – ihrer phänomenalen Wirkung seit Beginn der 1980er Jahre nicht mehr fabriziert wurden, weshalb deren zunehmend dahinschwindende Restbestände mittlerweile antiquitätengleich zu ständig im Steigen begriffenen, inzwischen völlig überzogenen Preisen vertickt wurden, waren ohnehin nie leicht zu bekommen gewesen; es würde also noch müßiger werden, an welche ranzukommen. Jede Wette, der verdammte Zeleni würde einen Coronazuschlag berechnen?

Der Zeleni war sein Dealer. Obendrein war er seit frühester Jugend ein knallharter Rocker und somit natürlicher Feind des Moddetektivs. Doch in diesem Fall musste der Moddetektiv seit jeher ein Auge zudrücken, denn der fischlippige Outlaw hatte so gut wie immer Purple Hearts im Haus. Er würde ihn also anrufen müssen, morgen schon, und ihm graute bereits jetzt davor. Dennoch war es unumgänglich, zwingender als je zuvor, denn es gab eindeutige Indizien, die den Schluss zuließen, dass es den violetten Herzen gelang, Corona in Schach zu halten und einen heftigeren Ausbruch der Krankheit zumindest hinauszuzögern.

Er zündete sich eine Zigarette an und stellte sich ans Fenster. Sein Blick fiel hinüber auf den Spielplatz. So oft hatte er sich gewünscht, das nervtötende Geschrei, spitze Gekreisch und fortwährende Geplärr könnte zumindest für ein paar Stunden am Tag verstummen. Nun war es so, und es fehlte ihm fast ein wenig. Unsinn, sentimentales Gewäsch, lag wahrscheinlich an der langsam einsetzenden Wirkung des Purple … Okay, genug für heute, ab ins Bett. Vielleicht noch ein paar Zeilen lesen, obgleich ihm im Gegensatz zu Ihnen – ja genau Ihnen, Sie brauchen sich gar nicht irritiert umzusehen, Sie mit dem vor Spannung verzerrten Gesichtsausdruck und dem »Der Moddetektiv besiegt Corona«-Buch in der Hand – nach den ersten paar Zeilen ohnehin die Augen zufallen würden.

* Im Anhang Falls Sie es nicht wissen sollten finden wir Erläuterungen zu diesem sowie einigen weiteren Fachbegriffen, deren Kenntnis zum vollständigen Erfassen dieses Buches unverzichtbar ist.

* Der Moddetektiv, Kultroman, Milena Verlag 2016

* The NOLA-Years. Der Moddetektiv auf der Suche nach dem toten Ted, Milena Verlag 2022

* Catania Airport Club, Milena Verlag 2018

DER MODDETEKTIV BESIEGT CORONA

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