Читать книгу Caroline - Christy Henry - Страница 8

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Kurz darauf wurde Carolines Flug aufgerufen. Eilig packte sie ihre Sachen zusammen und suchte ihr Abfluggate. Die letzten Kontrollen zogen sich in die Länge. Doch endlich durfte Caroline ihren Platz am Fenster einnehmen. Gebannt verfolgte sie die Startvorbereitungen. Ihr erster Flug. Sie war nicht wirklich nervös oder aufgeregt. Sie war nur neugierig. Wie es wohl war, in so einer großen Blechtrommel durch die Luft zu fliegen?

Beim Start wurde ihr Körper gegen den Sitz gepresst. Sie genoss den Adrenalinstoß durch die Beschleunigung. Es war toll. Wie durch einen Zauber wurden die Häuser, Gebäude, Bäume und Straßen immer kleiner, bis sie schließlich von den Wolken verdeckt wurden. Über ihr zeigte sich ein prachtvoller Himmel mit einem grandiosen Sonnenaufgang. Blau-, Lila-, Rot-, Gelb- und Rosatöne schillerten über den Horizont. Und Caroline hätte fast drauf wetten können, dass sie am Rand sogar verschiedene grüne Schlieren aufblitzen sah. Gebannt betrachtete sie das Farbenspiel. Die Stewardess unterbrach ihre verträumte Betrachtungen, als sie Caroline freundlich, aber bestimmt ihr Frühstück auf einem winzigen Tablett entgegenstreckte.

Den Rest des Fluges verbrachte Caroline mit dem Betrachten des Himmels und der Wolken unter ihr, Lesen und Dösen. Um wirklich schlafen zu können, war es in dem engen Sitz einfach zu unbequem.

Als das Signal aufleuchtete, dass man sich im Landeanflug befand, legte Caroline ein Lesezeichen in das Buch und verstaute es in ihrer Tasche. Das Buch hatte ihre Mutter ihr kurz vor dem Abflug, als kleine Weglektüre, geschenkt. Die Geschichte eines ihrer Vorfahren. Als Caroline gefragt hatte, hatte ihre Mutter nur gelacht und gemeint, sie würde schon von selber darauf kommen.

Während Caroline sich reckte, um ihre Glieder zu entknoten, dachte sie plötzlich an Mike. Sie hatten sich ganz nett unterhalten. Und dann dieser seltsame, überstürzte Abgang. Irgendwie beunruhigte die ganze Sache Caroline, obwohl sie nicht wusste, wieso. Schließlich hatte sie sich ja nur ein paar Minuten mit Mike unterhalten. Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite und blickte aus dem Fenster. Die Welt kam bereits deutlich sichtbar näher.

Nach der Landung dauerte es noch eine ganze Weile, bis Caroline ihr Gepäck erhielt und in Richtung Ausgang gehen konnte. Plötzlich war sie doch nervös. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in diesem riesigen Flughafen jemanden finden könnte. Ihr fiel ein, dass sie nicht einmal einen Namen wusste. Sie musste sich darauf verlassen, dass man sie fand.

Der Flughafen wimmelte nur so von Passagieren und Besuchern. Caroline schlängelte sich durch den Ausgangsbereich des Zolls und blieb nach ein paar Metern an einem halbwegs leeren Fleck stehen. Als sie aufblickte, sah sie ein Schild mit ihrem Namen.

„Hallo, sind Sie Caroline del Montelaro? Willkommen.“ Caroline streckte dem Mann ihre Hand hin. Klar, er war ein Familienmitglied und hatte sie wohl direkt als Geweihte erkannt. Vermutlich schon, als sie sich noch beim Zoll befunden hatte. Das Schild diente nur als Alibi.

Neugierig schaute sich Caroline den Mann genauer an. Seine Haare waren hell und lang. Die blauen Augen blitzten fröhlich, als er sie anschaute. Er hatte eine Figur, die große Kraft und hartes Training bezeugten. Und irgendwas an ihm kam Caroline vage bekannt vor. Er schien ca. 40 Jahre alt zu sein, obwohl Caroline sicher war, dass er um einiges älter war. Und noch etwas konnte sie erkennen: Ihn umgab eine schwache grüne Aura. Sie legte sich wie ein Schleier um ihn. Verwirrt betrachtete Caroline die sich ändernden Farbnuancen, die sich ständig in Variationen zu wiederholen schienen. Ein Räuspern holte sie aus ihren Betrachtungen. Er lächelte mild.

„War wohl ein langer Flug?“

Caroline nickte. Sie versuchte noch einmal, den grünlichen Schleier auszumachen. Doch vergebens. Aber Caroline war sich nun sicher: Vor ihr stand ein Silubra. Jemand aus ihrer Sippe.

Caroline hatte soeben flüchtig die Aura dieses Mannes gesehen. Wenn sie ihre Fähigkeiten im Griff hatte, würde sie andere Geweihte in einem gewissen Umkreis sofort erkennen, auch ohne sich darauf konzentrieren zu müssen. Müde schüttelte sie den Kopf und versuchte sich zu sammeln.

„Hi, ja, ich bin Caroline. Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Der Mann strahlte über das ganze Gesicht.

„Dachte ich mir schon. Du bist nicht zu übersehen. Mein Name ist übrigens Greg.“

Dann schnappte er sich den größten von Carolines Koffern und zog ihn in Richtung Ausgang. Verwirrt folgte ihm Caroline. Als sie ihn eingeholt hatte, sprach er weiter.

„Die anderen sind auch schon da. Wir können also gleich los.“

Caroline starrte Greg nach.

„Ich bin also nicht die Einzige?“

Er lachte auf.

„Nein. Dieses Mal sind wir echt gesegnet. Wir haben gleich drei Neulinge zu unterweisen. Das wird spaßig. So viele sind es selten in einem Jahrgang. Ich bin gespannt, was ihr so auf dem Kasten habt.“

Neugierig musterte Greg sie von der Seite, als wolle er abschätzen, wie groß ihre Fähigkeiten wohl waren.

Vor dem Fahrzeug, das Greg ansteuerte, standen bereits zwei Teenager, die ungefähr in Carolines Alter waren. Der Junge schien ein wenig älter als das Mädchen und seine Klamotten wirkten verschlissen.

„Hallo, mein Name ist Boris Jatschecz“, begrüßte er Caroline mit einem starken osteuropäischen Akzent.

„Und das ist Amanda King.“

Amanda reichte Caroline ihr schmale Hand und flüsterte ein zaghaftes „Buenos días“. Alles an ihr wirkte schmal und zart. Ihr schwarzes, hüftlanges Haar und die dunklen Augen betonten ihre südländische Herkunft.

Caroline stellte sich vor und gab beiden die Hand, während Greg ihr Gepäck verstaute. Mit einer wedelnden Armbewegung scheuchte er die drei schließlich in sein Fahrzeug.

„Wir wollen doch heute noch ankommen, oder? Also nichts wie los.“

Caroline, Amanda und Boris schwangen sich in den Van. Da alle drei schon seit langer Zeit unterwegs waren, wurde während der Fahrt wenig gesprochen. Caroline war vom frühen Aufstehen und dem langen Flug völlig erschlagen und froh, keine Konversation betreiben zu müssen. Den anderen schien es ebenso zu gehen.

Sie fuhren eine ganze Weile und Caroline war wohl eingenickt. Sie schreckte hoch, weil Boris sie anstupste.

„Das hier musst du dir anschauen Caroline.“

Verschlafen rieb Caroline sich die Augen, als sie gerade das schwere schmiedeeiserne Tor passierten. Sie fuhren einen langen geschwungenen Weg entlang, der den Hügel hinauf auf ein gigantisches Gebäude zu führte. Rechts und links konnte Caroline Rasenflächen sehen, die von hohen Hecken umfasst wurden. Blumenbeete zogen sich am Wegesrand entlang und blühten in sämtlichen Regenbogenfarben. Der helle Kies knirschte unter dem Gewicht des Wagens. Als Caroline zurückblickte, konnte sie sehen, dass sich das schwere Tor wie von Geisterhand wieder schloss. Am Horizont zogen schwere Gewitterwolken auf.

Am Ende des Weges befand sich ein Wendehammer direkt vor dem Haupteingang des Hauses. In der Mitte des Platzes prangte ein monströser Springbrunnen, der aber anscheinend nicht in Betrieb war. So standen die riesigen Figuren nutzlos auf ihren marmornen Sockeln und blickten untätig und dumpf in das leere Becken. In diesem Moment sprang die Außenbeleuchtung an. Caroline erkannte, dass rund um den Platz kleine elektrische Fackeln platziert waren und die gesamte Auffahrt hell erleuchteten.

„Wir sind da.“ Greg stellte das Auto ab und stieg aus. „Schnappt euch euer Gepäck und dann nichts wie rein.“

Boris, Amanda und Caroline kletterten aus dem Wagen. Caroline warf einen ersten Blick auf das Haus. Direkt neben dem Eingangsbereich standen links und rechts Laternen. Sie sahen aus wie alte Gasfackeln, die Caroline aus historischen Verfilmungen kannte. Diese Lampen hier wurden allerdings mit Elektrizität betrieben. Greg hatte inzwischen schon den Kofferraum geöffnet und ging geradewegs auf das riesige Haus zu. Über ein paar breite ausgetretene Treppenstufen gelangte er zur Eingangstür. Zwei dicke runde Säulen aus dunklem Stein stützten ein schweres schiefergedecktes Vordach. Der dunkle Stein und die dreieckige Form des Dachaufsatzes ließen das Ganze wuchtig und ein wenig bedrückend wirken. Und obwohl der Eingangsbereich von allen Seiten offen, beleuchtet und begehbar war, wirkte er wie eine Vorhalle zu einer Gruft. In dem Stein über der Türschwelle war der Name des Hauses eingemeißelt worden: Kievets Hook House. Links und rechts vom Hauptgebäude konnte Caroline in einigem Abstand die Umrisse zweier Seitenflügel erkennen. Diese waren ungefähr gleich lang und schienen, wie die gesamte Fassade des Hauses, mit dunklem Stein verkleidet. Das Haus wirkte in der Sonne alt, beständig und bedrohlich zugleich.

„Na kommt schon.“ Greg deutete mit einer Geste an, dass sie sich ein wenig beeilen sollten.

Caroline drehte sich zum Auto um. Ihr Blick schweifte über die erleuchtete Auffahrt und zu dem im Dunkeln liegenden Rasen. Dann gesellte sie sich zu Amanda und Boris, die ihr Gepäck aus dem Kofferraum des Wagens zogen und bereits die Taschen sortierten.

Greg öffnete einen der beiden Flügel der wuchtigen Eingangstür, die leicht knarzte. Dahinter begrüßte sie ein heller Empfangsraum mit hohen Decken, an denen schwere Lüster ein mannigfaltiges Licht abgaben.

Amanda, Boris und Caroline schulterten gerade ihre Taschen, als Greg erneut am Van auftauchte, um den Kofferraum zu schließen. Dann ging er voran und betrat die Eingangshalle.

Die Wände waren etwa bis auf Brusthöhe mit dunklem Holz vertäfelt. Darüber hingen mannshohe Porträts aus verschiedenen Epochen. Dazwischen gab es immer wieder Fackelhalterungen, über denen die Wände leichte Rußspuren aufwiesen. Der marmorne Fußboden war mit dicken Läufern ausgelegt. Gleich neben der Eingangstüre befanden sich zu beiden Seiten kleine Sitzgruppen. Diese bestanden jeweils aus einem Beistelltisch, einem breiten schwarzen, ledernen Sessel und einem zweisitzigen schwarzen Ledersofa. An der rechten Wand konnte Caroline eine Garderobe aus poliertem Kirschholz entdecken.

Greg bedeutete mit einer Handbewegung, dass sie hier warten sollten. Dann schritt er zielstrebig zum anderen Ende der Diele, wo sich neben der breiten Türe aus Milchglas ein kleiner Tisch mit einem schwarzen Telefon befand. Noch während Greg telefonierte, öffnete sich die Milchglastür und zwei Dienstmädchen traten heraus. Sie knicksten vor Greg und begrüßten die drei Neuankömmlinge mit einem höflichen Kopfnicken.

Greg hatte aufgehört zu telefonieren und drehte sich zu Caroline und den anderen um.

„Also herzlich willkommen im Kievets Hook House. Das sind Greta und Sarah. Sie werden euch jetzt auf eure Zimmer bringen. Dort könnt ihr euch ein wenig frisch machen. In einer halben Stunde wird das Essen serviert. Also bis gleich.“

Und schon war er durch die Milchglastür entschwunden. Eines der beiden Dienstmädchen verschwand ebenfalls hinter der Tür, um kurz darauf mit einem Kofferwagen wieder aufzutauchen, während das andere sich schüchtern als Greta vorstellte. Dann packten sie die Koffer der drei auf den Wagen und baten darum, ihnen zu folgen.

Caroline, Amanda und Boris waren überwältigt von dem gesamten Ambiente.

Hinter der Milchglastür erstreckte sich ein langer und ziemlich breiter Flur. Der Fußboden war mit dem gleichen Marmor und den Teppichen wie die Eingangshalle verkleidet. Auch hier hingen riesige Lüster von der Decke und spendeten Licht. In einigen Metern Entfernung konnte man eine Art Kreuzung erkennen, in der offensichtlich die zwei Seitenflügel des Hauses auf den Hauptbau trafen. Bis dahin waren je drei Türen auf der linken und der rechten Seite auszumachen. Diese waren alle mit Messingschildern versehen, sodass die Art der Benutzung zu erkennen war. Links befanden sich ein Billardzimmer, ein Fernsehraum sowie ein Raum mit der Beschriftung „Kommunikation“. Wie sie von Sarah erfuhren, befanden sich dort zwei PCs mit Internetanschluss sowie ein Telefon für Gespräche nach draußen. Alle Bewohner von Kievets Hook House hatten eigene Anschlüsse. Die Gäste allerdings mussten sich das Telefon im Kommunikationsraum teilen. Das Telefon in der Vorhalle war, wie alle schwarzen Telefone im Haus, nur für interne Gespräche nutzbar.

Auf der rechten Seite des Flures befanden sich drei Arbeitszimmer. Als Benutzer waren nur die Vornamen Greg, Steven und Bea angegeben. Caroline konnte auch hier zwischen den Türen Halterungen für Fackeln erkennen.

Dann traten sie in die „Kreuzung“ ein. Zentral in diesem Raum stand ein großer runder Tisch aus poliertem Kirschholz. In der Mitte war eine Steinplatte eingelegt. Auf dieser waren im Kreis sechs Wappen angeordnet. Alle Wappen hatten eine grüne Umrandung. Ansonsten unterschieden sie sich extrem voneinander. Eines der Wappen kam Caroline bekannt vor.

„Das ist das Wappen meiner Familie“, rief sie überrascht aus. Amanda und Boris entdeckten ebenfalls ihre Familienwappen. Greta bejahte dies und verwies darauf, dass hier die tägliche Post am entsprechenden Wappen zur Abholung bereitgelegt werde. Auch Terminabsprachen und Mitteilungen innerhalb des Hauses würden hier hinterlegt. Sie wandten sich nach links und begaben sich durch eine weitere Milchglastür in den linken Seitenflügel. Dort gingen ebenfalls sechs verschiedene Türen ab. Hier allerdings trugen die Messingschilder andere Bezeichnungen.

„Also, Amanda bekommt das Zimmer der Kings, Boris das der Jatschecz und Caroline natürlich das der del Montelaros.“

Sarah öffnete die betreffenden Türen mit einem Schlüssel, den sie an den jeweiligen neuen Bewohner übergab. Caroline erkannte sofort das Wappen der del Montelaros über ihrer Tür.

Neugierig betrat sie das Zimmer und war angenehm überrascht. Der Raum war größer als sie angenommen hatte. An der rechten Wand stand ein riesiges Bett, direkt unter dem Fenster ein großer Schreibtisch. Der Kleiderschrank befand sich links von ihr. Alles war gemütlich eingerichtet. Neben dem Bett stand auf einem Tischchen das schwarze Telefon. An der Wand daneben hing ein Plan, auf dem die verschiedenen Zimmer und die entsprechenden Nummern verzeichnet waren. Neben den Räumen, die sie schon gesehen hatten, konnte man auch die Küche, den Chauffeur, den Notdienst für Reparaturen, das Dienstmädchenzimmer, die Bibliothek und den Speisesaal über die Telefonanlage erreichen.

An der linken Seite befand sich eine weitere Tür. Als Caroline diese öffnete, entdeckte sie, dass es hier sogar ein eigenes kleines Badezimmer für sie gab. Anders als ihr Zimmer war das Bad modern und praktisch eingerichtet. Neben dem Waschbecken und der Toilette gab es auch eine eigene Dusche. Alles war in einem sanften Blau gehalten und bildete den totalen Kontrast zum Gästezimmer, das vorwiegend durch feine Grüntöne dominiert wurde.

Caroline ging zurück in ihr Zimmer. Ein Blick aus dem Fenster ließ dank der brennenden Außenbeleuchtung einen riesigen Garten erahnen. Die dicken schwarzen Wolken hatten den gesamten Himmel verdunkelt und Caroline konnte erste Blitze zucken sehen. Sarah hatte wohl in der Zwischenzeit den Koffer auf das Bett gehievt, ihn geöffnet und war dann aus dem Zimmer getreten. Caroline nahm sich saubere Wäsche raus und unterzog sich einer raschen Katzenwäsche. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits Zeit war zum Essen. Also ging sie wieder hinaus auf den Flur und zurück zu dem Tisch mit den Wappen. Dort wartete sie auf die anderen.

Rechts konnte Caroline die Zwischentür zur Empfangshalle sehen. Geradeaus konnte sie in den anderen Nebenflügel des Hauses blicken. Dort befanden sich anscheinend größere Räume, da nur jeweils zwei Türen pro Seite zu sehen waren. Die Wände waren in einem nicht zu grellen Weiß gehalten und absolut kahl. Links von ihr war nur noch ein kurzes Stückchen Flur vorhanden. Dieser endete an einer breiten doppelflügligen Tür. Umrahmt war diese Tür von zwei weißen, geschwungen Steintreppen, die nach oben führten. Als sie an den Treppen hoch blickte, erkannte Caroline, dass auf der gesamten Gebäudelänge zu beiden Seiten eine Empore entlangführte. Auf Höhe der Kreuzung bildeten kleine Brücken den Zugang in die Nebengebäude. Da dort alles im gleichen hellen Farbton gehalten war, fielen die Emporen erst bei genauerem Hinsehen auf. Nach einigen Augenblicken konnte Caroline von ihrem Standpunkt sogar verschiedene Türen ausmachen, obwohl diese ebenfalls weiß waren. Sie konnte mit ihrem Blick den Emporen zu beiden Seiten des Flures bis zur Milchglastür zur Empfangshalle hin folgen.

„Was betrachtest du da?“

Erschrocken drehte Caroline sich um und erkannte Amanda, die sich neben sie gestellt hatte.

„Oh. Du hast mich vielleicht erschreckt. Hast du die Emporen schon gesehen?“

Amanda folgte Carolines Handbewegung und ließ einen erstaunten Ausruf hören.

„Nein, das habe ich nicht gesehen. Da könnte sich ja ’ne ganze Armee verstecken.“

Kurz nachdem auch Boris erschienen war, kam Greg aus seinem Büro. Wortlos führte er sie in den Speisesaal im rechten Flügel.

Greg ließ sich am Kopf der riesigen Tafel nieder und bedeutete den dreien, ebenfalls Platz zu nehmen. Also folgten sie Gregs Beispiel und verteilten sich auf die übrigen gedeckten Plätze. Kaum hatten sie sich gesetzt, trugen auch schon die beiden Dienstmädchen das Essen auf. Wortlos servierten sie die Speisen und verließen fast lautlos wieder den Raum.

Greg erhob sein Glas, das, wie die Gläser von Caroline, Amanda und Boris, mit einer dunkelroten schweren Flüssigkeit gefüllt war.

„Noch einmal herzlich willkommen. Ich hoffe, ihr habt hier eine gute und lehrreiche Zeit. Auf uns.“

Caroline prostete ihm zu und nippte vorsichtig an ihrem Getränk. Doch der erwartete Energieschub und auch das Rauschgefühl blieben aus. Sie spürte nur ein leichtes Kribbeln auf der Zunge. Außerdem hatte sie ein Gefühl, als ob ihre Sinne ein wenig schärfer würden. Es schmeckte nach Tomaten. Irritiert blickte sie zu Amanda, die ihr gegenüber saß. Diese hatte einen ordentlichen Schluck genommen und schien irgendwie abwesend zu sein. Boris hatte sein Getränk gar nicht erst angerührt und blickte nur unbeteiligt zu Greg, der grinste.

„So, ihr beiden habt also schon Erfahrung. Gut, gut.“ Caroline wollte zu einer Frage ansetzen, doch Greg sprach bereits weiter. „Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass wir euch reines Blut zu trinken geben, so lange ihr eure Kräfte noch nicht vollkommen unter Kontrolle habt, oder? Ein ausgeflippter Teenager würde schon voll reichen, um uns eine Menge Ärger zu machen. Drei wären eine Katastrophe, daher immer langsam mit den Pferden. Ich wünsche euch einen guten Appetit.“

Damit griff er zum Besteck und begann zu essen.

Caroline ließ es sich schmecken.

Gerade als der Nachtisch gebracht wurde, erhob sich Greg. „Ich muss jetzt noch schnell was erledigen. Wir sehen uns bitte nachher noch mal im Studierzimmer. Das ist gleich gegenüber. Ihr könnt aber in Ruhe aufessen.“

Augenblicklich war er verschwunden.

„Also. Was haltet ihr bis jetzt davon?“

Boris beugte sich über den Tisch, um sich die Karaffe zu nehmen und sein Glas noch mal nachzufüllen. Dann wandte er sich mit einer fragenden Geste zu Caroline und Amanda. Caroline nickte zustimmend und schluckte den Bissen von ihrem Nachtisch herunter, während Boris ihr Glas auffüllte.

„Was er wohl so spät noch von uns will? Ich bin hundemüde.“

Boris nahm einen Schluck aus seinem Glas und antwortete: „Ich auch. Aber es ist auch total aufregend, endlich mal andere kennenzulernen. Was habt ihr denn bis jetzt für Kräfte entdeckt? Also bei mir fing es damit an, dass ich einen anderen Geweihten erkannt habe, der sich unbefugt unserem Grund näherte. Und du?“ Dabei schaute er Caroline an.

„Bei mir ist der Durst zuerst gekommen. Mitten in einer Einkaufspassage.“ Den Rest verschwieg Caroline und schob sich stattdessen eine weitere Portion Nachtisch in den Mund.

„Und bei dir, Amanda?“ Boris wandte sich nun Amanda zu.

Diese wirkte jedoch irgendwie abwesend.

„Amanda? Wie haben sich bei dir die Kräfte bemerkbar gemacht?“

Amanda war, ganz in ihre Gedanken versunken, aufgestanden und hatte sich die Bilder genauer angeschaut, die an den Wänden hingen.

„Hm. Ach so, ja. Ich hab beim Sport in der Schule geschummelt. Ich war plötzlich im Ziel, in der Sekunde, als der Startschuss fiel.“

Caroline war ebenfalls aufgestanden.

„Was guckst du denn da?“

Amanda wandte sich wieder den Porträts zu, die auf gesamter Länge der Halle an der Wand hingen.

„Hier ist ein Bild von einem meiner weiblichen Vorfahren.“ Dabei deutete sie auf ein Bild einer rassigen Schönheit. Die Beschriftung wies sie als Amanda King aus. Zärtlich fuhr Amanda über den Rahmen.

„Sie ist der Grund, warum ich heute hier bin. Sie war die Erste in unserer Familie.“

Boris hatte sich zu ihnen gestellt.

„Wow. Sie ist eine der Ersten?“

Amanda schüttelte den Kopf.

„Nein, nein. Sie wurde verwandelt. Sie hatte sich in einen aus der Sippe der Silubra verliebt. Es war ein echter Schock für sie, als sie erfuhr, wer er war. Aber ihre Liebe war stärker.“

Boris sah sich suchend um.

„Ob auch einer meiner Vorfahren hier hängt?“

Doch auch nach längerem Suchen konnte er niemanden finden. Enttäuscht ließ Boris sich wieder auf seinen Stuhl sinken und nahm noch einen Schluck. Dabei sah er Caroline an, die ebenfalls bereits wieder am Tisch saß.

„Du hast ja gar nicht geschaut, ob einer deiner Vorfahren hier verewigt ist.“

Caroline nickte.

„Ich weiß, dass hier keiner meiner Vorfahren hängt. Meine Vorfahren leben noch alle.“

Verwundert und ehrfürchtig starrte Amanda sie an.

„Das ist aber echt eine Seltenheit. Ich gratuliere.“

Verlegen senkte Caroline den Kopf. Boris hingegen zuckte nur mit den Schultern.

„Das kommt ganz drauf an, wie alt der Zweig ist, aus dem sie stammt.“

Mit einem Blick auf die Uhr stand Caroline erneut auf.

„Wir sollten vielleicht mal rübergehen.“

Zustimmend nickten Boris und Amanda. Boris nahm noch einen Schluck. Dann verließen sie den Speisesaal und gingen hinüber zum Studierzimmer.

Caroline öffnete die Tür und blieb verwundert stehen. Es sah genauso aus, wie sie sich ein Studierzimmer vorstellte. An zwei Wänden waren Regale über die ganze Wand gezogen und vollgestopft mit Büchern, die zum Teil schon ziemlich zerlesen aussahen. An der dritten Wand standen unter den Fenstern vier Schreibpulte nebeneinander. In der Mitte des Raumes waren fünf bequeme Sessel im Kreis angeordnet. Daneben jeweils ein Tischchen zum Ablegen der Bücher. Eine breite Tafel war an der vierten Wand angebracht worden. Außerdem waren diverse Leselampen im Raum verteilt.

„Oh, wie ich sehe, seid ihr schon da. Hervorragend. Setzt euch.“

Greg war hinter ihnen eingetreten und schloss nun die Tür. Nachdem sich alle einen Sitzplatz gesucht hatten, fuhr er fort:

„Also, ich will heute nicht zu lange machen. Ihr hattet alle einen langen Tag und eine weite Reise. Aber einige Dinge möchte ich jetzt noch klären. Alles andere besprechen wir dann in den nächsten Tagen. Wir haben immerhin vier Wochen, um herauszufinden, wie stark ihr seid, welche Fähigkeiten ihr habt und wie ihr diese am effektivsten einsetzen könnt.“

Mit diesen Worten schritt Greg zur Tafel, griff sich die Kreide und begann, einen Lageplan zu zeichnen, während er weitersprach.

„Das hier ist das Kievets Hook House. Der Stammsitz der Silubra, der wir ja alle angehören.“

Caroline konnte den Hauptbau erkennen und auch die zwei Seitenflügel. Das Muster kam ihr vage bekannt vor. Greg zeichnete weiter. Ein riesiger, runder Kreis krönte die Kreuzung, wo Haupthaus und Flügel aufeinandertrafen. Der Raum, der sich direkt an diese Kreuzung anschloss, und von dem Caroline nur die beiden schweren Flügeltüren gesehen hatte, schien vollkommen rund zu sein. Doch Greg hatte längst begonnen, das umliegende Gelände in groben Zügen zu skizzieren. Hinter dem Haus schien sich ein Pool zu befinden. Das gesamte Grundstück war von einer Mauer umgeben. Auf der Rückseite deutete Greg eine weitere, schmalere Zufahrt zum Haus an. Doch Caroline war auf die Form des Gebäudes in der Mitte fixiert. Dann verstand sie. Ehrfürchtig zog sie an ihrer Halskette, bis der Anhänger zum Vorschein kam. Er hatte die Form eines Ankhs. Die Form stimmte bis auf den grünen Stein in der Mitte des Kreuzes genau mit Gregs Zeichnung des Grundrisses überein. Greg sprach zur Tafel gedreht weiter.

„Auf dem Gelände seid ihr absolut sicher und könnt euch ungestört bewegen. Kein fremder Geweihter und auch kein Mensch darf ohne unsere Zustimmung das Gelände betreten. Ihr könnt hier also eure Fähigkeiten jederzeit testen. Ihr dürft euch austoben. Einzige Ausnahme: kein frisches Blut. Also nicht an den Dienstmädchen vergreifen.“

Greg drehte sich mit einem ironischen Lächeln um, als er die Kreide weglegte.

„Solange ihr das Trinken, Verwandeln und Töten noch nicht im Griff habt, wird es nur Konserven geben und die in kleinen Dosen. Außerhalb dieser Mauern verhaltet ihr euch wie normale Teenager. Verstanden? An den Wochenenden und in der freien Zeit könnt ihr tun und lassen, was ihr wollt. Unser Chauffeur steht euch jederzeit zur Verfügung. Einzige Bedingung: Ihr meldet euch bei mir oder Bea ab. Und ihr müsst bis zum nächsten Unterricht wieder hier sein. Keine Verspätungen. Verstanden? Sonst werde ich böse.“

Bei diesen Worten ließ er kurz seine Fratze aufblitzen. Erschrocken nickten alle.

„Morgen werde ich euch zuerst einmal die Bibliothek zeigen. Danach werden wir uns ein wenig locker machen und testen, was ihr so drauf habt. Solltet ihr Fragen haben, könnt ihr mich in meinem Arbeitszimmer aufsuchen. Wenn ich mal nicht da bin, könnt ihr auch Bea fragen. Steve, der dritte Bewohner dieser Residenz, ist leider im Augenblick nicht da. Ich hoffe aber, dass ihr ihn auch noch kennenlernen werdet. Der Unterricht beginnt um neun Uhr nach dem Frühstück. Morgens werden wir üblicherweise die Theorie hinter uns bringen. Nach dem Mittagessen treffen wir uns dann noch mal für zwei oder drei Stunden, um einige praktische Übungen zu machen, eure Fähigkeiten zu testen und zu trainieren und um Verteidigungsmaßnahmen zu lernen. Wenn ihr wollt, können wir uns gerne nach dem Abendessen auch noch mal zu Einzelgesprächen treffen. Aber das ist keine Pflicht. Nächste Woche wird Bea mich für ein paar Tage vertreten, weil ich noch einen Termin habe. Danach werde ich euch wieder zur vollen Verfügung stehen. Ist noch etwas unklar?“

Fragend sah Greg in die Runde.

„Nun gut. Das Frühstück steht ab acht Uhr im Speisesaal für euch bereit. Lasst es euch gut gehen. Ich wünsche euch eine gute Nacht. Und bis morgen früh um neun Uhr an dieser Stelle.“

In Sekundenschnelle war er verschwunden.

„Das ging ja mal zügig.“

Boris schälte sich aus dem Sessel und gähnte ausgiebig, als er sich streckte. Caroline und Amanda standen gemeinsam auf. Caroline warf noch einen Blick auf die Tafel, bevor sie das Licht löschte und die Türe hinter sich schloss. Gemeinsam schlurften sie zu ihren Zimmern.

Caroline

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