Читать книгу DIE EWIGEN. Die Gärten von Rom - Chriz Wagner - Страница 6

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Mein Name ist Simon. Ich lebe ewig. Solange ich zurückdenken kann, bin ich auf der Erde. Ich habe außergewöhnliche Dinge gelernt auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: Wer bin ich? Ich kann nicht sterben. Ich darf nicht lieben. Ich bin Simon.

Die Gärten von Rom

I

Anzino, Rom im Jahr 11 nach Christus

Es war etliche Jahrzehnte vor dem Jahre Null in christlicher Zeitrechnung. Nach dem Kalender der Bürger Roms muss es ungefähr 728 ab urbe condita – seit der Stadtgründung – gewesen sein. Aber das war den Menschen in dieser Gegend gleichgültig.

Dieses Mal führte mich meine Suche in ein Landgebiet, mehrere Tagesreisen von Rom entfernt, einer Metropole, die man schon bald als Die Mitte der Welt bezeichnen sollte. Aber davon bemerkte man hier nichts. Die unbefestigte Straße führte über Felder, die fast unablässig vom Wind heimgesucht wurden, sodass man den Weg oft nicht vom Acker unterscheiden konnte.

Alle Wege führen nach Rom, so sagt man heute. Doch dieser eine endete in Anzino, einer Hundert-Seelen-Gemeinde am Tiber, wie ich heute weiß. In sämtlichen Ecken stank es nach Fisch. Trotzdem war ich froh, in dem kleinen Dorf angelangt zu sein. Mein Hals kratzte vom Staub. Meine Lippen waren aufgeplatzt. Und der Wasservorrat, den ich in einem Lederbeutel auf dem Rücken trug, fühlte sich verdächtig leicht an. Die Häuser wirkten fehl am Platz, wie auf das Ödland aufgesetzt und vom Schutt begraben. Es gab kein Grün in Anzino. Nur Braun, Gelb und Grau. Der Weg führte zwischen zwei Holzhütten hindurch. Überall hingen schmutzige Gesichter an den Fenstern. Hinter den dunklen Gucklöchern leuchteten die Augäpfel weiß, die Pupillen sprangen hin und her. Ich vermutete Kinder, mindestens ein Dutzend, wunderte mich aber, dass sie nicht ausgelassen durch die Straßen tollten, wie andernorts auch.

Es wehte noch immer dieser unbarmherzige Wind, trotz der Bruchbuden, die rechts und links die Straße abschirmten. Ein ausgezehrter Mann mit fransigem Bart und Gehstock humpelte hinter mir hinter einer Baracke hervor.

Tok-tum. Tok-tum.

Er wirkte uralt, die Haut runzlig und wettergegerbt, die Beine krumm und dürr. Aber ich erinnere mich, dass er trotzdem recht flott mit dem Stock über den Schutt wackelte. Das einzige Geräusch weit und breit war das Aufsetzen seines Holzstabs im Dreck.

Tok-tum. Tok-tum.

Er lief in meine Richtung und überholte mich. Ich sah, wie er seine Knochen vorantrieb, sich quälte. Er hätte eigentlich auf einen Stuhl in der Ecke einer Stube gehört, zu seinen Enkeln und Urenkeln. Jetzt erst entdeckte ich eine kurze Schnur, die an den Gehstock gebunden war. Am anderen Ende baumelte ein knallrotes Fähnchen, in der Art, wie man es heute von den Gebrauchtwagenmärkten kennt.

Ich wollte von ihm wissen, ob es in Anzino eine Schlafmöglichkeit für mich gab. Daraufhin sah er mich an, als wäre ich eine einzelne Mohnblüte auf einem Kornfeld. Ohne stehenzubleiben, sagte er drei Worte, voller Hoffnung und Lebensenergie: „Er ist da.“

Und gleich tauchten noch mehr Kinderaugen und winzige Finger, die unruhig in unsere Richtung zeigten, an den Fenstern auf.

Tok-tum. Tok-tum.

Ich betrachtete den Alten skeptisch und mit einem Hauch Sorge. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er die Strecke würde zurücklaufen können. Und so wie er schnaufte, würde es schon bald nötig sein. Aber er hatte mich neugierig gemacht. Und ich dachte als Allererstes, dass er wohl zu einem Heiler wollte.

„ Wer ist da?“

Das hätte ich nicht fragen dürfen. Sofort verschwanden die Augen an den Fenstern in der Dunkelheit der Häuser. Der Alte blieb stehen und sah mich fassungslos an. Dann hob er den Stock in die Luft. Seine Beine zitterten. Sie würden die Last des Körpers nicht lange tragen können. Und wieder kam der Wind auf. Das Fähnchen am Gehstock flatterte.

„Er“, sagte er, als würde dies alle Fragen beantworten.

Und winzige Gesichter wagten sich so nah an die Fenster heran, dass man sie erkennen konnte: Jungen und Mädchen, ungewaschene Wangen, verfilzte, strähnige Haare. Mit offenen Mündern und großen Augen sahen sie zu dem einzigen Farbklecks hin, der in diesem Ort zu sehen war – dem roten Gebrauchtwagenfähnchen.

*

Ich entdeckte die Erwachsenen auf dem Dorfplatz am Fluss. Wenigstens dreißig Menschen, Frauen wie Männer. Und noch mehr farbige Wimpel, auch in saftigem Grün, strahlendem Gelb und in kräftigem Blau. Ein junger Mann mit lockigem Haar trug seines sogar um den Kopf gebunden, eine Frau an der befleckten Schürze. Die meisten hielten ihre Fahne an einer Schnur in der Hand.

„Was ist hier los?“, fragte ich in die Runde. Die Frau mit dem Fähnchen an der Kochschürze fühlte sich angesprochen. Sie sah so aus, wie ich mir eine Haushälterin vorstellte: ein farbloses Kleid um den wulstigen Körper gewickelt, ein übereifriger Ausschnitt und ein verwaschenes Häubchen, um das Resultat ihrer Kochkünste vor Läusen zu schützen.

„Magnus ist zurück!“, rief sie begeistert. Sofort dachte ich an einen römischen Gesandten, der Brot und Wein verteilte und von der Güte des Kaisers Augustus berichtete. Ein Grund, sich zu freuen. Ich stellte mir einen krossen Brotlaib vor. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. Sie deutete zum Fluss.

Ein Mann machte seinen Kahn an einem Pfahl fest und streckte mir dabei sein Hinterteil entgegen. Hätte ich damals gewusst, was noch kommen sollte, hätte ich ihm an Ort und Stelle einen Tritt in seinen Hintern verpasst, sodass er vornüber in den Tiber geplumpst und hoffentlich ersoffen wäre.

Magnus entpuppte sich als kräftiger, stämmiger Kerl, mit kurzem, naturgelocktem dunkelbraunem Haar und buschigen Augenbrauen. Wie Baumstämme ragten die behaarten Beine aus den abgenutzten Sandalen und verschwanden in der hochgezogenen Tunika. Durch den Vollbart wirkte sein Schädel kugelrund. Was mich damals am meisten überraschte, war seine Kopfbedeckung. Heute würde man sie wohl als Mütze eines Hofnarren bezeichnen. Doch diesen Begriff gab es damals noch nicht. Vier Zipfel hingen herab, jeder in einer anderen Farbe: blau, rot, gelb und grün. Dieselben Farbtöne wie die der Dreieckstücher.

„Liebe Leute sehet an …“, rief Magnus mit kräftiger Stimme und schon nach den ersten beiden Worten stimmten alle mit ein: „… was ich alles zeigen kann!“ Und wie von Geisterhand flogen vier apfelgroße Kugeln in die Luft, die eine rot, die anderen gelb, blau und grün. Die Leute klatschten in die Hände, die Gesichter strahlten. Und Magnus jonglierte die Bälle vor seinem Körper – hip, hip, hip – schneller, als meine Augen folgen konnten.

„Bildet einen Kreis“, rief ein Mann, der die Haare als Einziger ordentlich frisiert trug. Durch das Pallium über seiner Toga wirkte er seriöser, als die restlichen Menschen auf dem Dorfplatz. Ihm war die Begeisterung für die bunten Bälle ins Gesicht geschrieben. Und ich muss zugeben: Das Gefühl war ansteckend. Obwohl der Jongleur bisher keine besondere Leistung vollbracht hatte, spürte ich ein Hochgefühl in mir aufsteigen, für das, was noch kommen würde. Ich klatschte in die Hände und feuerte ihn mit an.

„Hip. Hip. Hip.“

Da schallte zum zweiten Mal Magnus‘ Stimme über den Platz: „Liebe Leute sehet her …“

Die Menschen kannten ihren Text. Und sie freuten sich, ihn zum Besten geben zu können. Im Chor forderte die Menge: „… Jongleur Magnus kann noch mehr!“

Und dann schwangen sie jubelnd ihre Wimpel.

Plötzlich wurden aus den Holzbällen acht kleinere Kugeln, zwei von jeder Farbe. Es sah aus, als teilten sie sich in der Luft und fielen abwechselnd in die rechte oder die linke Hand. Und Magnus jonglierte mit allen acht Farbkreisen. Es war wundervoll.

„Hip. Hip. Hip“, riefen die Menschen im Takt. Ein paar Hände klatschten. Und ich ertappte mich dabei, wie auch ich applaudierte.

Mit seinen bunten Bällen und der Zipfelmütze inmitten von zerlumpten Arbeitergewändern war dieser Mann ein besonderer Anblick. Das Kunststück wirkte kinderleicht. Trotzdem konnte ich meine Augen nicht mehr von ihm lassen. Vermutlich ging es den anderen auch so. Und deshalb entging ihnen das Tier, das gebückt über den Platz schnüffelte, als suchte es nach etwas Essbarem – einem Stückchen Dörrfleisch vielleicht? Als es an mir vorbeihuschte, stieg ein furchtbarer Geruch in meine Nase, der Geruch von Verwesung. Ich sah hinterher: eine Hyäne, gigantisch und kräftig wie ein kleines Pferd, das graue Fell zerrupft, als hätte es unzählige Kämpfe überstanden. Niemanden sonst schien das Wesen zu beunruhigen. Vermutlich bemerkten sie es gar nicht. Alle Augen folgten den bunten Bällen – hip, hip, hip.

„Liebe Leute sehet her …“, rief Magnus, so laut, dass seine Stimme zwischen den Hütten echote. Sofort hielt er die Hände still, mit dem Handrücken nach unten. Die Kugeln fielen eine nach der anderen auf die Handflächen. Und das Wunderliche war, sie prallten nicht daran ab, wie man es beim Zusehen erwartet hätte. Es sah aus, als würden sie in den Händen verschwinden; vier in der rechten und vier in der linken. Dann stand er da, lächelte, und die Bälle waren weg.

Und die Menge rief: „… Jongleur Magnus kann noch mehr!“

Wie auf Kommando schossen sechzehn winzige Farbkugeln, so groß wie Weintrauben, aus den Händen. Sie flogen in die Luft, zwei Ketten aus jeweils acht Kügelchen. Ohne dass er eine Hand bewegte, drehten sie eine Runde um seinen Kopf und schwebten zurück in die Handflächen, aus denen sie gekommen waren.

Die Menschen jubelten, applaudierten und feuerten ihn mit „Hurra“-Rufen an, weiterzumachen.

Das hatte nichts mit irgendwelchen Tricks zu tun. Nein. Hier hätte mir auffallen können, dass etwas Finsteres am Werk war, das die Leute in seinen Bann zog. Aber ich dachte nicht darüber nach. Vielleicht, weil ich dieser Kraft selbst längst verfallen war.

Doch noch eine Sache ließ mir keine Ruhe. Ich hatte schon öfter Vorstellungen von fahrenden Schaustellern beigewohnt. Eines vermisste ich bei dieser ganz besonders. Ich lehnte mich zur Seite und flüsterte dem Mann neben mir ins Ohr: „Wo sind die Kinder?“

Er schüttelte den Kopf, als hätte ich ihn aus einem unsichtbaren Bann gerissen. Dann sah er verloren zwischen mir und der Aufführung hin und her. Schließlich fauchte er mich an: „Bist du verrückt? Er kann Kinder nicht leiden.“ Er wirkte, als hätte ich ihm etwas weggenommen. Seine Augen verengten sich zu bösartigen Schlitzen. Schließlich, als wäre er aus einem eigenartigen Traum erwacht, kehrte er der Darbietung den Rücken und ging.

Meine Begeisterung wich wohl langsam einer Beunruhigung. Mit einem Mal fand ich die Vorführung nicht mehr so toll. Eher langweilig – ein Mann, albern angezogen, der immer wieder dieselben Tricks vorführte, mal von oben, mal von unten, mal hinter dem Körper, dann davor.

Mittlerweile jonglierte er mit acht Bällen, die er herabfallen ließ, sodass sie vom Boden abprallten und zurück in seine Hände sprangen. Seine Bewegungen wirkten nicht mehr so leichtfüßig wie zuvor. Er musste sich gewaltig konzentrieren. Eine fette Schweißperle kullerte seine Stirn hinunter, sein Ausdruck war verbissen. Und für den Bruchteil einer Sekunde sah er zu mir herüber, vorwurfsvoll, anklagend, als hätte ich ihm sämtliche Mühen tagelanger Arbeit verdorben. Das sagte nicht nur sein Blick. Nein. Ich fühlte es deutlich in meiner Brust. Mit meiner Frage hatte ich ihn aus dem Fluss gebracht. Er duldete keine Unterbrechungen. Keine Fragen. So war das Gebot. Ich hatte dagegen verstoßen. Schandmaul.

Aber spätestens als er die bunten Bälle gegen Feuerflammen tauschte, war die kurze Störung vergessen. Die Menge hatte gerade eben ihren Spruch aufgesagt: „… Jongleur Magnus kann noch mehr!“, und die Fähnchen wehten jubelnd in der Luft.

Jetzt hatte er die Hände gespitzt, sodass die Fingerkuppen aneinander lagen. Vier Flammen, so groß wie Mäuse, hüpften zwischen den Fingerspitzen hin und her, immer zwei von ihnen gleichzeitig in Bewegung. Sie leuchteten in unterschiedlichen Farben: gelb, rot, grün und blau.

Keine Kinder? Dieser Gedanke ließ mir keine Ruhe. Meine Grübelei hatte mich aus dem Bann gerissen. Wie macht er das nur?, fragte ich mich und sah keine zauberhafte Aufführung, sondern einen Mann, der mir eine Illusion unterjubeln wollte. Keine Kinder. Das verstand ich nicht. Ich glaubte nicht, was ich sah. Ich wollte hinter die Kulisse blicken. Ich hatte schon zu viele außergewöhnliche Dinge erlebt und fast immer steckte entweder ein simpler Trick oder etwas Böses dahinter. Ich vermutete Täuschung. Kartenspielertricks. Aber so angestrengt ich das Flugspiel der Feuerbälle auch verfolgte, ich entdeckte keinen durchsichtigen Faden, keinen doppelten Boden, kein Rettungsnetz. Die Illusion war perfekt.

War es möglich, dass dieser Mann tatsächlich die Elemente beherrschte? Weil ich hinter das Geheimnis kommen wollte, konzentrierte ich mich auf den Jongleur und die springenden, bunten Flämmchen.

Da erscholl sein Ruf.

„Liebe Leute, sehet her …“

Ich stimmte mit ein.

„… Jongleur Magnus kann noch mehr!“

Ich weiß nicht, warum ich es tat. Aber ich hob die Hände in die Luft, applaudierte und war fasziniert von den Feuerbällen, die in seinem Mund verschwanden. Dies war so außergewöhnlich, dass ich mich wieder dem Schauspiel hingab. Auch der Gestank war verschwunden. Stattdessen roch ich geröstete Nüsse und den Duft von kandierten Früchten. Als die letzte Flamme verschluckt war, lächelte der Jongleur zufrieden. Das Lächeln galt mir.

Dann folgte der Trick mit den Bechern. Es waren bemalte Zinnbecher – zumindest hatten sie diesen hohlen Klang, wenn sie auf den Tresen schlugen, den Magnus am Bauch trug. Ich wunderte mich, dass ich nur drei Farben zählte: rot, grün und gelb. Aber nur, bis ich das blaue Dreieckstuch in seiner Hand erblickte. Er steckte es unter den gelben Trinkbecher und jonglierte mit den Bechern, ohne dass das Fähnchen herauspurzelte. Dann knallte er sie nacheinander auf den leeren Bauchladen. Wer erriet, wo sich das Stofftuch befand, würde zur Belohnung eine besondere Rose erhalten. Nachdem er die Zinnbecher über seiner Narrenkappe herumgewirbelt hatte, war das Tuch, wie von Zauberhand, nicht mehr im gelben, sondern im roten Becher. Es war schier unmöglich, den passenden Becher zu erraten. Der seriöse Mann mit dem Pallium über der Toga versuchte es zwei Mal. Und jedes Mal, wenn er falsch riet, machte der Jongleur zuerst eine überraschte, dann eine spöttische Grimasse. Und ich lachte ebenso wie der Rest der Menge. Es war lustig, wie die Menschen auf den Trick mit den Trinkbechern immer wieder hereinfielen. Und noch unterhaltsamer waren Magnus‘ Gesichtsausdrücke. Reingefallen. Lange Nase. Ätschbätsch.

Auch die Haushälterin forderte ihr Glück heraus. Natürlich zog sie den falschen Becher. Trotzdem überreichte er ihr eine Rose. Ein Trostpreis. Sie war begeistert, roch an der blauen Blüte, hob die Pflanze in die Luft und zeigte sie herum. Applaus. Zu meiner Verwunderung hatte der Stängel keine Dornen.

*

Etwas berührte mein Bein. Die feuchte Nase der übelriechenden Hyäne. Offenbar hatte sie gefunden, wonach sie gesucht hatte. Sie hörte auf zu schnüffeln, nahm mich ins Visier und fletschte die Zähne. Ich sah rotes Fleisch zwischen gelben Zähnen, wabernd und blutig. Sie knurrte bedrohlich – eine Warnung: Letzte Chance, sonst wird es ernst. Ihr Atem stank mir entgegen und wieder wunderte ich mich, warum niemand sonst das Wesen wahrzunehmen schien. Es war, als wäre es nur eine lästige Mücke, die man erst bemerkt, wenn man selbst gestochen wird.

Dann biss sie in meinen Wasserbeutel und zerrte daran, als wollte sie mich vom Dorfplatz vertreiben. Ein Fehler. Ich konnte es nicht leiden, wenn jemand meinem Beutel zu nahe kam. Er war meine Versicherung, dass ich jederzeit gehen konnte, wohin ich wollte. Ihr Reißzahn in meinem Wasserbeutel machte mich zornig. Jeder, der sich schon mal einen Tag ohne Wasser durch die Wüste geschleppt hat, wird das verstehen.

Es war mehr ein Reflex als eine bewusste Aktion. Aber obwohl mir das Vieh mit einem Happen den Kopf vom Hals hätte beißen können, schlug ich mit voller Wucht auf die Nase des Wesens. Erst zuckte es zusammen. Dann rieb es die Nase zwischen den Pfoten. Und auf einmal zog die Bestie wimmernd und heulend ab. Sie taumelte zwischen den Menschen hin und her, schlug mehrfach wie ein Maultier mit den Hinterläufen und heulte wie ein Wolf bei Vollmond. Der Jongleur sah zwischen den Bechern hindurch. Er richtete einen strafenden Blick auf mich. Und ich konnte in seinem Gesicht Wut lesen. Wieder schwitzte er vor Anstrengung, den Trick aufrechtzuerhalten.

Zu diesem Zeitpunkt hätte ich noch fliehen können. Rasch, weit weg. Und Magnus hätte mich ebenso schnell vergessen, wie hundert andere Ungläubige, denen er auf seinen Fahrten begegnet war. Er wollte, dass ich verschwinde. Das verrieten seine Augen. Mach, dass du wegkommst und lass dich nie wieder blicken. Und ich hatte wirklich vor, zu gehen. Ich hatte genug von dem Schauspiel, hatte meine eigenen Sorgen.

*

Dann passierte es. Er stand mit seinem Bauchtresen direkt vor mir. Er wollte wohl mich als Nächsten bloßstellen. Komm her. Versuch dein Glück. Jongleur Magnus wird dir zeigen, dass auch du keine Chance hast. Er sammelte die Becher aus der Luft und knallte sie nacheinander auf das hölzerne Tablett. Da sah ich, für den Bruchteil einer Sekunde, eine winzige blaue Spitze zwischen seinen Fingern herausblitzen. Und für mich bröckelte seine Fassade, wie verwitterter Putz von der Wand.

Mit einem Mal wirkten die Becherfarben ausgelaugt und verwaschen. Der grüne Lack blätterte an mehreren Stellen. Es müffelte wieder entsetzlich nach einer Mischung aus faulem Fisch und dieser nach Verwesung stinkenden Hyäne. Und ich fand plötzlich, dass die Darbietung bis dahin keine besonders wertvolle Unterhaltung gewesen war. Es war tatsächlich nur ein billiger Trick. Eine Illusion. Was auch sonst? Er versteckte den blauen Wimpel in der Hand. Und er würde ihn mit Geschick in den Zinnbecher seiner Wahl stopfen.

Alle Augen waren auf mich gerichtet. Ich deutete auf den gelben Becher. Er strahlte selbstzufrieden.

„Da ist es nicht“, sagte ich und packte zu. Das Metall fühlte sich rau an. Unangenehm. Ich knallte den Trinkbecher mit der offenen Seite nach oben auf den Bauchtresen. Leer.

Ein Raunen ging durch die Menge. Der Jongleur verzog keine Miene. Ich hatte den Eindruck, als sei er mit der Wendung überfordert. Da war sie wieder, die Schweißperle auf seiner Stirn.

Ich wollte schnell machen – solange er mir die Gelegenheit ließ. Darum packte ich sofort zu.

„Und da auch nicht“, sagte ich und hob den grünen Trinkbecher in die Luft. Leer. Die Berührung war schlimmer, als beim ersten Mal. Ich sah hartes Metall. Aber ich fühlte Pelz. Unangenehm warm. Mir stieg Säure in den Hals. Ich war froh, als ich das widerliche Ding auf den Tresen klatschen konnte. Dann sah ich Magnus in die Augen.

Ich hatte meinen Zug gemacht. Und ich hatte den Jongleur an die Wand gestellt. Schachmatt. Sein Blick biss sich an meinem fest. Hätte er gekonnt, dann hätte er mir Blitze entgegengeschleudert. Magnus wusste, egal, was der letzte Zinnbecher jetzt bringen würde – Tuch oder kein Tuch –, er hatte auf jeden Fall verloren. Entweder wäre ich der Erste, der richtig geraten hätte, oder aber er wäre als Betrüger entlarvt. Ihm blieb nur noch eine Chance. Er musste die Sache beenden, bevor der rote Becher zum Zug kam. Koste es, was es wolle. Schon hörte ich sein Hyänenvieh auf mich zulaufen, fauchend, knurrend, die Zähne fletschend.

Die Schweißperle zappelte auf seiner Stirn. Und seine Augen verengten sich. Vermutlich wollte er erreichen, dass ich alles stehen und liegen ließ, die Beine in die Hand nahm und losrannte.

Stattdessen sagte ich meinen Spruch. Und das mit einer Hingabe und Arroganz, als stammte er aus dem Mund des Jongleurs.

„Liebe Leute sehet her: Jongleur Magnus kann nicht mehr.“

Dann schlug ich den Becher in die Luft. Er flog in die Höhe, wirbelte herum. Kein blaues Tuch fiel heraus.

Natürlich rannte ich sofort so schnell ich konnte los. Und ich hörte die Menschen hinter mir lachen. Vielleicht amüsierten sie sich über den rennenden Kerl mit den langen Haaren – möglich. Oder aber, sie lachten über Jongleur Magnus, der zum ersten Mal sein Gesicht verloren hatte. Vielleicht machte er noch einen Spaß aus der Sache? Zu seinen Gunsten, versteht sich. Nur die Frau mit der blaublühenden, dornenlosen Rose in der Hand lachte nicht. Als ich an ihr vorbeilief, funkelte sie mich an.

Ich ging nie wieder nach Anzino. Sonst hätte ich mich erkundigt, wie dieser spezielle Tag am Tiber zu Ende gegangen war.

Es war ein Fehler gewesen, dem Jongleur die Blöße zu geben. Doch das erfuhr ich erst Jahre später – 36 Jahre …

DIE EWIGEN. Die Gärten von Rom

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