Читать книгу DIE EWIGEN. Erinnerungen an die Unsterblichkeit - Chriz Wagner - Страница 7
ОглавлениеMein Name ist Simon.
Ich lebe ewig.
Solange ich zurückdenken kann, bin ich auf der Erde.
Ich habe außergewöhnliche Dinge gelernt auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage:
Wer bin ich?
Ich kann nicht sterben. Ich darf nicht lieben.
Ich bin Simon.
Die Mönche vom heiligen Berg
I
Athos, Byzanz im Jahr 963 nach Christus
Eigentlich hatte ich es eilig, als mir der sonderbare Mann begegnete. Ich hatte den Auftrag, den Heiler aus Acrothooi so schnell wie möglich zum Kloster zu schaffen. Er würde von einer höheren Macht beschützt, sagte man. Und er hätte die Fähigkeit, den Klostervorsteher vom Aussatz zu befreien. Allerdings war mein Hintern von dem Getrampel des Maultiers schon grün und blau geritten. Und ich war froh, mir die Füße vertreten und die Muskeln lockern zu können.
Seit Stunden kämpfte ich mich über karges Felsgestein und sandigen Boden. Staub und Dreck verfingen sich in den Poren meiner Tunika. Ich trug meinen alten römischen Kriegsgürtel. Jetzt rieb mir der Schmutz darunter die Haut an der Hüfte wund. Unvorhersehbare Windstöße wehten Sandkörner in meine Augen und dörrten meine Lippen aus.
Da saß dieser Mann. Ich war überzeugt, dass der Kerl tot war. Mit der flachen Hand schirmte ich die gnadenlose Sonne ab. Heißer Schweiß rann über meine Finger und mein Gesicht. Er hockte mit dem nackten Rücken an der Felswand, die knochigen Arme rechts und links baumelnd, das Kinn auf die Knie gelegt. Seine Augen konnte ich unter dem filzigen, struppigen Haar nicht erkennen. Nur die Nasenspitze lugte daraus hervor.
Ich verzog angewidert das Gesicht. Offenbar war der arme Bursche verhungert. Und dem Gestank nach zu urteilen war das schon länger her. Das bestätigte meine Meinung von dem, was ich über die Eremiten und den Berg Athos gehört hatte: eine Horde lebensmüder Spinner, die sich im Ödland verkrochen, um auf ein göttliches Licht zu warten, das niemals kommen wird.
Richtig ernst wurde der Spuk im Jahr 883 nach dem Erlass des Kaisers Basileos I., der verfügte, seine Soldaten dürften die eremitischen Mönche nicht mehr belästigen. Bis dahin hatten sich nur vereinzelt ein paar Herumtreiber in der Gegend aufgehalten. Ich selbst glaubte eine lange Zeit, es steckten nur Ammenmärchen dahinter – Geschichten, um vorlaute Kinder zu erschrecken: Pass auf, was du sagst. Sonst holen dich die bösen Männer vom Berg und fressen dich auf.
Nach dem Erlass strömte das faule Pack in Scharen auf den Berg Athos: Ehebrecher, Diebe, Mörder und jeder, der sich sonst nirgends mehr blicken lassen konnte.
Und das war daraus geworden: ein verhungerter Landstreicher am Wegesrand. Der beißende Gestank nahm mir die Luft zum Atmen. Ich hustete in meine Faust.
Da drückte etwas die Beine des Leichnams, die wie zwei aneinander gelehnte Knochen aussahen, auseinander. Schwarze Nase und weiße, spitze Zähne. Das Ding knurrte boshaft, sodass Zozo – mein Maultier – kehrt machte und erst nach ein paar Schritten wieder zum Stehen kam. Genau genommen waren es neun Schritte. Warum ich das so haargenau weiß? Dazu komme ich später.
Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen und beobachtete den schnüffelnden Zinken. Auf der Suche nach dem Grund für meine Unsterblichkeit, anderen Wesen meiner Art und meiner Familie hatte ich Geschichten von Teufelswesen gehört, die sich durch die Leichen armer Seelen fraßen. Aber dass mir so einer in der Abgeschiedenheit dieser kargen Landschaft begegnen würde, wollte ich nicht so recht glauben. Es gab Straßenräuber, die einem die Ohren abschnitten, ja. Doch die verkrochen sich nicht hinter verstorbenen Eremiten. Sicherheitshalber trat ich einen Schritt zurück.
Die Beinknochen des Toten bewegten sich weiter. Und nach und nach erkannte ich, dass die schwarze Nase das vorderste Ende eines braunen Fellkopfes darstellte. Ich sah Schnurrhaare, eine Stirn und schließlich treue Hundeaugen, die mich vorsichtig von unten herauf ansahen. Und das boshafte Knurren verwandelte sich in ein behutsames Winseln.
Dann plumpste der Schädel des Eremiten zwischen seine Beine. Der Hund machte einen erschrockenen Satz und bellte. Zozo wieherte aufgeregt, schlug mit den Hinterläufen aus und trabte davon.
»Zozo, nein!«, befahl ich. »Hiergeblieben.«
Das war dem Tier egal. Das sonst so faule Vieh galoppierte, als sei der Teufel hinter ihm her. Die beiden Taschen hüpften auf und ab. Ein Apfel flog aus dem Beutel, klatschte auf den Staubboden und rollte vor meine ausgetretenen, römischen Marschstiefel.
Ich wollte hinterherrennen, meinen Proviant einfangen, da rief eine Stimme: »Iraklis, aus!«
Das Bellen erstarb.
Entsetzt sah ich den vermeintlich toten Eremiten an. Und er blickte zurück. Der Mann hatte seinen zerzausten Haarschopf angehoben und die leichenblassen Augen auf mich gerichtet. Wieder kamen mir diese Teufel in den Sinn. Nur ein Ammenmärchen, da war ich mir sicher.
Und in derselben Sekunde sprach er zu mir: »Dieses verflixte Muli hätte mich sowieso aus dem Gleichgewicht gebracht.« Seine Stimme klang dünn und fein, wie auf rauem Faden gespielt.
»Du warst tot«, murmelte ich verdutzt.
»Das wüsste ich«, sagte er und schüttelte das verknotete Kopfhaar nach hinten. Sein Gesicht war vernarbt, die Haut dunkelbraun und glänzend, wie gespanntes Pergament. »Oder wüsste ich es nicht?«, fragte er. »Bemerkst du eigentlich selbst, was für einen Unsinn du sprichst?«
Ich sah ihn erstaunt an.
Er redete einfach weiter: »Der Satz ›Du warst tot‹ ist ebenso unmöglich wie ›Ich lüge gerade‹ oder ›Rasiert sich der Barbier, der genau diejenigen rasiert, die sich selbst nicht rasieren?‹ Hätte ich also bemerkt, dass ich tot war, dann hätte ich diesen Umstand gar nicht wahrnehmen können.«
»Dein Köter hat meinen Zozo verjagt«, sagte ich, was ihn nicht zu interessieren schien.
»Daraus schließe ich, dass du mich mit deinem Gerede – tot oder nicht tot – schlicht und ergreifend aus dem Gleichgewicht bringen wolltest. So wie dein Muli mit neun Schritten rückwärts das getan hat. Kein Wunder, dass Iraklis ihn verscheucht hat.« Er zählte die Schritte eines Tieres?
»Ohne Zozo bin ich verloren.«
»Er kommt wieder«, sagte er. »Und vielleicht erinnert er sich daran, dass ihm ein zehnter Schritt gutgetan hätte.«
»Kann dein Kläffer nicht mein Maultier suchen?« Es war ein Hoffnungsschimmer. Hunde haben eine feine Nase. Ohne Proviant, vor allem ohne meine Wasservorräte, würde ich es nicht bis nach Acrothooi schaffen. Nicht bei dieser Hitze.
»Wo denkst du hin? Iraklis würde niemals einem Vieh folgen, dessen Satteltaschen so ungleich beladen sind wie deine.« Das klang wie ein Vorwurf – wenn auch ein unsinniger.
Langsam machte mich der Typ mit seinem Gerede wütend. »Was soll das heißen?«
»Angenommen das Tier läuft vierzigtausend Schritte am Tag. Nicht viel für ein Biest dieser Größe, das als Lasttier täglich unterwegs ist. Aber schließlich darf man nicht vergessen, dass die Gegend steinig und hügelig ist.«
Mir wurde sein Gelaber zu viel. Ich verdrehte ungeduldig die Augen.
»Und angenommen die Taschen sind nur um einen einzelnen Apfel ungleich gefüllt«, sagte er und hob den Zeigefinger.
Ich wollte seinen Redeschwall unterbrechen. Deshalb hob ich die Hand zum Gruß. »Simon ist mein Name.«
Er stellte sich auf die Beine. Außer einem undefinierbaren Stofffetzen als Lendenschurz sowie ausgelatschten Sandalen war er nackt. Eine Handvoll Fliegen erhob sich in die Luft, drehte eine Runde und setzte sich wieder irgendwo auf seinem Körper ab. Wo genau, wollte ich lieber nicht wissen.
»Und angenommen er läuft nur auf einer ebenen Fläche, einem Tal oder ähnlichem … und hier ist kein Tal. Oder hast du eines gesehen, Simon? Nein. Und angenommen …«
Ein heißer Luftschwall wehte seinen Gestank zu mir. Ich wandte mich ab und verzog das Gesicht.
»… angenommen das Vieh würde gerade Schrittzahlen laufen, was es aber nicht tut, was sehr schade ist – für das Tier, für dich und für mich.«
Ich warf die Arme in die Luft. »WAS?!«, rief ich. »Was ist dann?«
»Dann sind das vierzigtausend Äpfel, die den Körper deines Maultiers an nur einem Tag zur Seite ziehen. Glaube mir: Zozo merkt es. Nachvollziehbar, dass er ungleiche Schrittfolgen läuft.«
»Herrje, er ist ein Muli!«, entgegnete ich.
Der Eremit deutete dem verschwundenen Maulesel mit dem ausgestreckten Finger hinterher. »Das ist der Grund, weshalb das Tier weggelaufen ist: Deine ungleichgewichtige Lebensweise.«
Jetzt platzte mir der Kragen. »Dein Hund hat Zozo verscheucht!«, schimpfte ich. »Ich verlange Ersatz. Proviant. Ein Reittier. Irgendetwas, womit ich von hier wegkomme.« Mit Zozo wäre ich in ein paar Stunden da gewesen. Ohne ihn war’s ein Tagesmarsch.
»Glaube mir: Er kommt zurück.«
»Woher willst du das wissen?«
»Er ist ein Maultier. Die kommen immer zurück.«
Wie zur Zustimmung bellte sein Hund – zweimal. Eine gerade Zahl. Damals erschien es mir unwichtig.
»Und was soll ich tun, bis sich das Vieh entschließt, hierher zurückzukommen? Mich an die Wand lehnen und tot spielen?«
Der Eremit überlegte kurz. Dann schoss er mir eine entschlossene Antwort entgegen: »Ja.«
»Ich sag dir was«, schnauzte ich ihn an. »Du hast doch mit Sicherheit irgendwo in der Gegend eine Höhle. Ein dunkles Drecksloch, in das du dich verkriechst, wenn die Nacht hereinbricht, oder?«
»Möglich«, sagte er beleidigt.
»Ich weiß, was wir jetzt machen.« Er guckte in die Luft, als hörte er mich nicht. »Du zeigst mir deine Stinkerhöhle und gibst mir Wasser und etwas Essbares. Klar soweit?«
Keine Antwort.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es war besser, die Nacht bei diesem Idioten zu verbringen, als allein in der Dunkelheit. Und vielleicht hielt sein Gestank die wilden Tiere fern.
»Und morgen verschwinde ich von hier.«
»Das Maultier wird uns nicht finden.«
Zozo wird niemals zurückkommen, dachte ich. Ich sah ihn verdurstet und von Wölfen angefressen hinter einem Hügel liegen, umringt von meinem Proviant. »Weißt du was? Wie heißt du?«
»Diogenis«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger.
»Weißt du was, Diogenis? Ich nehme mir nur so viel, dass ich über den Tag komme. Und wenn mein Maulesel zurückkommt, gehört er dir. Mit allem, was auf seinem Rücken festgebunden ist.«
Er musterte mich wie ein altes Möbelstück, das man eigentlich nicht in die Wohnung stellen wollte. Wie auf Kommando hockte sich der kleine Hund mit einem Mal auf den Po, machte Männchen und bellte ihn an – zweimal.
»Du musst den Beutel in die Mitte hängen«, sagte Diogenis. Ich sah an mir hinab. Der Ledersack, gefüllt mit ein paar Obolus, baumelte seitlich an meinem Gürtel. »Du weißt schon – das Gleichgewicht. Und ziehe Herrgott nochmal deine Hosenbeine gerade.«
Da stand ich nun, irgendwo in den Bergen und ließ mir von einem halbnackten, eremitischen Mönch sagen, wie ich meine Kleider zu tragen hatte. Wenn ich gewusst hätte, wo das noch alles hinführt, wäre ich auf der Stelle Zozo hinterhergerannt …
II
Wegen des zerzausten Barts und seines klapprigen Körpers wirkte der Eremit auf mich wie ein Greis. Und das, obwohl das filzige Haupthaar noch nicht grau war.
Zunächst lief ich ihm nach, weil ich befürchtete, ich müsste ihn auffangen, wenn er umkippte. Ohne den Trottel würde ich seine Behausung niemals finden. Die fleckige, behaarte und pergamentartige Haut seines Rückens wirkte auf mich, als würde sie bei der nächsten Bewegung reißen. Wenigstens trug er einen Lendenschurz. So musste ich seinen Hintern nicht sehen.
Doch schon bald schnaufte ich ihm nach, weil ich nicht mehr konnte. Der Weg führte zuerst über unebenes Geröll, dann auf den Fels. Seine Schritte stiegen gezielt auf trittfeste Steine und in vorteilhafte Mulden. Ich beobachtete seine Füße und hastete in seine Fußstapfen.
»Gerade gehen«, mahnte Diogenis. Mir war’s gleich, was er sagte. Ich bemerkte, dass er leise zählte. Es war nur ein Flüstern, aber laut genug, um gelegentliche Worte herauszuhören: 254, 256, 258, 260. Ich stapfte mit ihm im Gleichschritt. So war es irgendwie einfacher. Und ich ging aufrecht – meine Entscheidung.
Der kleine Hund Iraklis trabte neben uns her. Ich denke, ich bildete es mir nur ein, doch auch er lief äußerst konzentriert und ausgeglichen. Nur war das natürlich nicht möglich.
»Einheitlichkeit und Gleichsinn«, sprach der Eremit zu sich selbst. »Immer gerade und gleichmäßig … 302, 304 …«
Überall an meinem Körper kitzelten Schweißperlen wie winzige Ameisen hinab. Als wir auf eine Felswand zustapften, dachte ich, wir wären endlich da. Und eigenartigerweise freute ich mich schon auf die Eremitenhöhle.
»Hier ist Schluss«, sagte ich, meinte aber: Wo geht es weiter?
Diogenis blieb still. Nur Iraklis schien mich verstanden zu haben. Er bellte zweimal – gleich laut, gleich stark, wuff-wuff – und rannte vorneweg um einen mannshohen Felsen herum. Dahinter verbarg sich eine Leiter, deren Anblick mir den Atem nahm.
Unendlich lange Holzplanken, nebeneinandergelegt und mit Querbalken vernagelt, sodass es möglich war, daran
hinaufzulaufen, wie auf einer Treppe. Zudem hing da ein Seil, zum Festhalten und Hochziehen.
Ich musste meinen Kopf ins Genick legen, um den ganzen Weg erfassen zu können. Von hier unten zählte ich zweiundzwanzig dieser Sprossenbretter. Scheinbar ungesichert krochen sie an der Felswand nach oben, so weit das Auge reichte. Die ersten Leiterplanken waren so breit, dass bequem zwei Personen nebeneinander laufen konnten. Die Oberen jedoch waren geschätzt nur noch einen Fuß breit und so steil, dass ohne Klettern nichts ging. Der Pfad endete am Gipfel des Massivs, wo es mit Sicherheit keine Höhle gab.
»Was wollen wir da oben?«, fragte ich, meinte aber: Ich will da nicht hinauf.
»Muss Herr Zweifel alles in Frage stellen?«, maulte Diogenis und startete den Weg über die Leitern nach oben.
Nur weil ich Angst hatte, ihn zu verlieren, folgte ich ihm, Iraklis zwischen uns.
»Ich glaube nicht, dass du auf diesem Berg lebst«, sagte ich, hielt mich aber in seinen Fußstapfen. Er blieb stumm. Auch eine Antwort. Ich verstand sie als: Glaub doch, was du willst. Also stieg ich mit hinauf. Mir blieb ja nichts anderes übrig.
Die Füße auf die Querbalken gestützt, zogen wir uns am Seil hoch in schwindelerregende Höhen. Je steiler der Weg wurde, umso dichter lehnte die wackelige Treppe an der Felswand. Bis die Wand schließlich zum ständigen Begleiter an meiner linken Körperseite wurde. Rechts ging es todbringend weit nach unten. Und leider wehte hier oben kein von mir ersehntes Lüftchen.
Wir stapften zu dritt im Gleichschritt. Diogenis zählte mit: »… 16, 18, 20, 22.« Im Gleichklang. Bald fiel mir auf, dass es von Schritt zu Schritt einfacher wurde. Als würde sich der Körper an die kontinuierliche Belastung gewöhnen, anstatt die Kräfte zu verlieren, wie ich es kannte. Außerdem fiel mir auf, dass jede Leiter mit einer geraden Stufenzahl endete. Just als ich über dieses Phänomen grübelte, kamen wir oben an.
Der salzige Duft des Meeres schwappte mir ins Gesicht. Dann sah ich das große Wasser in seiner ganzen Schönheit. In unendlicher Weite spiegelte die Sonne ihr blutrotes Licht in einer Oberfläche aus Milliarden geschliffener Diamanten. Obwohl der Ozean mein alter Bekannter war, packte mich das Bild und brannte sich in mein Gedächtnis. Ein göttliches Gefühl.
*
Mittlerweile war ich imstande, alles zu glauben, was der Eremit sagte. Hauptsache, es gab bald einen Schlafplatz und Flüssigkeit, die meine staubtrockene Kehle benässte. »Hier wohnst du also?«, fragte ich und erkannte sofort, dass meine Frage die magische Stimmung des Augenblicks zerstörte.
»Sei nicht töricht.« Diogenis deutete nach unten. »Einheitlich und im Gleichsinn … und immer schön gerade.«
Ich schluckte den letzten Tropfen Spucke weg und riss ungläubig die Augen auf. Denn das Einzige, was ich neben einer abfallenden Felswand und der Brandung in der Tiefe sah, waren weitere Holzleitern, unzählige, die abwärts führten. Unmöglich.
Den Rest des Weges mussten wir rückwärts bewältigen. Der Eremit ging vor, der Hund bezwang nach mir den Weg. Ich konzentrierte mich auf Iraklis und war von seiner Leistung überwältigt. Er hangelte sich mit dem Maul am Seil entlang und suchte mit seinen winzigen Beinchen auf den Sprossen Halt. Bis dahin hatte ich nicht gewusst, dass Vierbeiner überhaupt nach hinten laufen können.
Diogenis zählte: »… 16, 18, 20, 22.«
Auf dieser Seite des Berges waren die Holzplanken grau und verwittert. Trotzdem hielten sie unserem Gewicht stand. Gott sei dank. Ich hatte keine Lust, in die Gischt zu stürzen, die mit jedem Schritt lauter wurde. Ich gab mir Mühe, mit Diogenis Gleichschritt zu halten. Und wie schon beim Aufweg machte es die Sache auf unerklärliche Weise einfacher. Ich fragte mich, ob an der Lehre mit dem Gleichsinn etwas dran war …?
III
Ich konzentrierte mich auf meine Schritte, auf Diogenis’ Stimme und auf den wohltuenden Duft des Ozeans. Ich war so in mich selbst und mein Innerstes vertieft, dass ich erschrak, als der Eremit verkündete: »Wir sind da. Meine Höhle.«
Verstört sah ich mich um. Wir waren auf einem künstlich errichteten Plateau ungefähr hundert Fuß über dem Meeresspiegel angelangt. Iraklis sprang schwanzwedelnd um mich herum – einmal rechtsrum, einmal linksrum –, bellte zweimal und tippelte davon. Mein Blick folgte ihm und landete zu meiner Überraschung auf einem Gebilde aus Mauern und einem Dach.
»Die Höhle ist ein Haus«, sagte ich überrascht.
Diogenis schmunzelte – vielleicht sogar ein kleines bisschen selbstzufrieden.
*
Das Häuschen wirkte provisorisch und windschief. Das Holzdach und das Mauerwerk aus aufgeschichtetem Geröll lehnten am Hang. Es sah fast so aus, als krallte sich das Gebäude am Berghang fest. Die Dachplanken waren mit denselben Gesteinsbrocken beschwert, womit auch das Plateau aufgeschüttet worden war. Und ich fragte mich, ob ein Menschenleben ausreichte, um so viele Wackersteine über den Berg zu schaffen. Die Sonne schickte ihr schwaches Licht zum Horizont. Die Aussicht konnte es mit dem Gipfelblick aufnehmen.
Ich folgte dem Hund die Veranda entlang, die einen vor dem Sturz in die Tiefe und somit dem sicheren Tod bewahrte. Vorbei an einem mannshohen, geschwärzten, hölzernen Kreuz, das aufs Meer hinausblickte, fand ich auf der gegenüberliegenden Seite des Häuschens die Tür. Iraklis schabte mit den Vorderpfoten an einer Stelle, die schon ganz zerkratzt war.
»Tritt ein«, sagte Diogenis und öffnete.
Wir betraten den unförmigen Wohnraum. Die Luft war überraschend kühl. Diogenis’ Unterschlupf sah wie eine gewöhnliche Höhle aus. Sie erinnerte mich an ein Hügelgrab aus ferner Vergangenheit. Ich mochte mir nicht vorstellen, wie jemand dauerhaft zwischen Frischwasserkrügen, Proviantbastkörben, Fellen und Strohmatten leben konnte. Der Eremit trat als Letzter in den Raum und sein Gestank überflutete alle Gerüche, sodass ich einen Würgereiz wegschlucken musste.
»Mach es dir gemütlich«, sagte er und ich dachte sofort an einen Schlafplatz, direkt unter dem Fenster, als er fortfuhr: »Ich werde draußen schlafen.«
*
Nach erfrischendem Wasser und getrocknetem Salzfleisch setzte ich mich an die Klippe, lauschte den Wellen und beobachtete den Mond. Diogenis lehnte im Schneidersitz mit dem Rücken an der Berghütte, die Arme auf die Beine gelegt, die Augen geschlossen. Iraklis gesellte sich zu mir. Sein Schwanz schlug aufgeregt gegen meine Körperseite.
Ich brach die Stille.
»Warum?«
Diogenis bewegte sich nicht. Er atmete ruhig und gleichmäßig, fast wie ein Schlafender. Ich fuhr durchs zottelige braune Hundefell, was Iraklis beruhigte. Er legte sich auf die kurzen Beinchen.
Weil ich keine Antwort auf meine Frage bekam, ließ ich den Eremiten gut sein und spielte mit dem Hund. Ich umfasste seine Schnauze. Er wehrte sich. Ich kraulte ihn als Belohnung hinter dem Ohr. Der kleine Kerl freute sich und klopfte mit dem Schwanz auf den Boden. Zum zweiten Mal packte ich sein Mundwerk.
Diogenis seufzte. »Du möchtest wissen, warum?«
Ich nickte.
»Warum ich hier bin?«
Ich nickte wieder.
»Dann lass den Hund in Frieden«, befahl er. »Du bringst ihn aus dem Gleichgewicht.«
Unschuldig hob ich beide Hände hoch und zeigte ihm die Handflächen.
»Ich sage dir warum«, meinte Diogenis und holte einmal tief Luft. »Ich will das Licht sehen.«
Na klar, dachte ich mir. Das Licht. Ich wusste es.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Du glaubst nicht daran. Du vermutest, ich bin ein Spinner.«
Ich setzte ein argloses Gesicht auf, tat mich aber schwer, meine Meinung zu verbergen.
»Du kannst glauben, was du willst«, fuhr er fort. »Auch ich hatte Zweifel – eine lange Zeit. Aber die Stille, der Gleichsinn und die Einigkeit mit mir und meiner Umgebung haben mich eines Besseren belehrt. Die äußere und innere Ruhe bringt den Eremiten in den Zustand des völligen Seelenfriedens. Es ist der Moment, wenn er mit seiner Umwelt so sehr eins wird, dass er von seinen Mitmenschen nicht mehr bemerkt werden kann. Er ist sozusagen unsichtbar.«
»Unsichtbar«, wiederholte ich abfällig. »Weg? Nicht mehr da? Aufgelöst?«
»Nein. Du verstehst es nicht«, entgegnete er. »Der Körper ist noch da. Er sitzt, er atmet, er lebt. Aber er wird von Außenstehenden nicht wahrgenommen. Er wird so intensiv ignoriert, dass er komplett ausgeblendet wird und damit nicht weiter wahrnehmbar ist.«
»Wenn du meinst«, murmelte ich und kraulte Iraklis hinter dem Ohr. Genießerisch drehte er den Kopf.
»Dieser Zustand ist die Voraussetzung für eine besondere göttliche Gnade: Dann kann der Eremit in einer Vision das ungeschaffene Taborlicht wahrnehmen.«
Der kleine Wuschelhund legte sich auf die Seite, schloss die Augen und hielt die Pfoten abgeknickt in die Luft. Aufgrund des dichten Fells war sein Unterleib nur schwer auszumachen. Aber nun konnte ich zwischen seine Beinchen schauen. Ich war zwar kein Hundekenner, aber wenn mich jemand nach meiner Meinung gefragt hätte, hätte ich gesagt, dass Iraklis eine Hündin war. Ich war verwirrt. Weibliche Tiere waren auf Athos strengstens verboten.
Diogenis lenkte mich ab.
»Es ist die unmittelbare Gotterfahrung. Das Taborlicht ist kein Teil der Schöpfung.« Diogenis’ Augen schauten hoffnungsvoll in die Ferne, als könne man dort erahnen, wie dieses geheimnisvolle Licht aussah. Dann schloss er die Lider und atmete einmal kräftig aus.
Die Hundedame wurde unter meinen Händen immer ruhiger, bis sie gleichmäßig schnaufte. Die Sonne verkroch sich hinter dem Horizont und schon bald konnte ich das unendliche Meer nur noch hören und riechen.
*
Ich blieb noch eine Weile sitzen, ging meinen Gedanken nach und lauschte dem Schnarchen des Köters. Auch Diogenis gab Grunzlaute von sich. Als ich hinüberblickte, saß er noch immer meditierend da, die Augen geschlossen, der Atem gleichmäßig. Ich stellte mir vor, wie der verrückte alte Kerl seine Herzschläge zählte, damit sie mit den Atemzügen im Gleichklang waren.
Im Grunde mochte ich diesen Ort nicht. Die Halbinsel Athos hatte sich als eine Männerinsel entpuppt. Frauen durften den heiligen Boden nicht betreten. Das ging so weit, dass die Mönche, die für die Verwaltung des Mönchsberges verantwortlich waren, sogar die Anwesenheit von weiblichen Tieren untersagt hatten. Mit Ausnahme von Hühnern – wegen der Eier.
Aus diesem Paradiese ist das Weib verstoßen, damit der Mann nicht jenes Paradieses verlustig gehe, besagte das Avaton, wie man in Athos das Zutrittsverbot für Frauen neuerdings nannte. Umso eigenartiger war es, dass Iraklis ein Weibchen war. Ich beschloss, Diogenis danach zu befragen.
Es hatte einen Grund, dass ich es auf Athos bereits so lange ausgehalten hatte: die Sprachen. Ich hatte erkannt, dass es für mich wichtig war, mich intensiv mit den unterschiedlichsten Ländersprachen auseinanderzusetzen. Das erleichterte mir das Reisen und ließ mich an fremden Orten weniger fremd erscheinen. Der Mönchsberg war dafür ideal. Menschen aus aller Welt kamen hierher, um sich an diesem Ort niederzulassen. Die meisten Mönche stammten aus dem Byzantinischen Reich. Aber mittlerweile siedelten auch die ersten russischen und georgischen Gläubigen hier. Ich hatte Serbier getroffen und auf der Baustelle des Klosters Zographou schufteten Rumänen und Bulgaren. Ich hörte sogar von Amalfitanern, die angeblich ganz in der Nähe ansässig waren. Und ich beschloss, dort bei Gelegenheit ein paar Monate zu verbringen, um des Italienischen mächtig zu werden.
Für gewöhnlich half ich auf der Klosterbaustelle mit, wo immer meine Hände und mein Wissen gebraucht wurden. Und in meiner Freizeit beschäftigte ich mich mit den Sprachen, arbeitete regionale Merkmale heraus und unterhielt mich mit den Leuten.
*
Ich erschrak, als ich Diogenis mit eigenartig tiefer und langgezogener Stimme reden hörte: »Ich seeehe es. Es ist daaaa. Ganz in der Nääähe.«
Ich war sprachlos.
»Besucher Simon. Sag mir: Kaaanst du mich noch seeehen?«
Natürlich sah ich ihn. Er hatte sich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht wegbewegt. Offenbar glaubte er an den Unsinn, den er von sich gab. Von wegen Unsichtbarkeit. Ich wusste es: Alles nur Wunschträume eines bemitleidenswerten Spinners.
Ich wollte ihm eine Freude machen. Schließlich hatte er nichts anderes als seinen Glauben und würde wahrscheinlich auch niemals etwas anderes haben.
Darum sagte ich: »Nein. Du bist unsichtbar.«
Er lächelte. Und in meinem Herzen wurde es warm.
IV
Ich war auf dem Weg nach Acrothooi und ich war furchtbar wütend; auf die karge Landschaft, auf die brennende Sonne und auf Diogenis. Besonders auf Diogenis. Seinetwegen schlurfte ich schon den ganzen Tag durch den Dreck, beladen wie sonst nur mein Muli Zozo, das wiederum seinetwegen angefressen in irgendeinem Graben lag. Zu allem Übel hatte ich letzte Nacht fast kein Auge zugetan. Der Hund schnarchte und der Eremit stank zum Himmel.
Trotzdem war ich morgens guter Dinge gewesen. Diogenis hatte mich mit ausreichend Wasser und Brot versorgt, hatte mir Feigen mitgegeben und mir versichert, dass der Marsch nur einen halben Tag dauern würde. Vielleicht etwas länger. Und ich war wild entschlossen gewesen, diese Zeit zu unterbieten.
Nun war später Nachmittag und kein Dorf in Sicht. Ob ich mich verlaufen hatte?, fragte ich mich und erklomm zum hundertsten Mal einen Felshügel, um von da oben die Umgebung auszukundschaften. Und wie jedes Mal hoffte ich, endlich dieses Nest und um Himmels willen keine Räuber zu entdecken.
Ich erinnerte mich an das Gespräch. »Was? Iraklis ist eine Hündin?«, hatte er gesagt, dabei aber wenig überrascht geklungen. Er hielt mich davon ab, den Hund umzudrehen. Stattdessen beichtete er: »Sie heißt Ira und sie ist mein liebes Mädchen. Was hätte ich tun sollen? Sie ersäufen?« Und als die niedliche Ira mich mit ihren treuen Hundeaugen ansah, konnte ich nicht anders, als ihre Lefzen zu streicheln und zu sagen: »Für mich bleibst du der Iraklis.« Daraufhin hatte sie gebellt – zweimal, gleich laut, gleich lang.
Mit der flachen Hand schirmte ich mir die Sonne aus dem Gesicht. Ich war mir nicht sicher, aber am Ende des Horizonts schienen meine Augen etwas auszumachen. Noch gut zwei gottverdammte Stunden, fluchte ich in Gedanken und kratzte mir den getrockneten Schweiß von der Stirn. Ich kletterte vom Felsen und stapfte geradewegs auf das Ziel zu.
Ich zählte 2, 4, 6, 8, so wie der Eremit es getan hatte und hielt dabei Schultern und Hüften gerade. Ich atmete gleichmäßig, mit dem ersten Schritt ein, bei jedem Zweiten wieder aus, wie ich es den ganzen Tag trainiert hatte. Es war simpel. Die Wasserbeutel baumelten mittig an meinem Rücken. Auf diese Art fiel mir die Wanderung tatsächlich leichter.
Und für einen kurzen Augenblick hatte ich sogar alles um mich herum vergessen: Diogenis, Iraklis, das Missgeschick mit Zozo und den Umstand für diese misslungene Reise, diesen widerwärtigen Aussatz …
V
Das Schlimmste war der üble Geruch. Je näher ich dem Dorf kam, umso intensiver fraß sich der Mief in meine Sinne, bis ich ihn nicht mehr nur riechen, sondern sogar schmecken konnte. Und ich dachte mir, so stelle ich mir die Ausdünstungen meines Maultiers vor, das seit gestern tot in der Sonne brät. Aber was noch viel erschreckender war: Dieser Gestank war menschlich.
Sofort schoss mir ein Wort durch den Kopf, das mich von da an nicht mehr loslassen wollte: Aussatz.
Kaum war ich bei der Siedlung angekommen, sah ich einen Mann mit einem gelben Loch an der Stelle, wo seine Nasenwurzel hätte sein sollen. Dann erschrak ich, weil sich seine Augenhöhlen so weit nach innen zogen, dass mich nur noch zwei dunkle Flecken anglotzten. Trotzdem lächelte er. Und er grunzte etwas Unverständliches.
Aussatz – das waren entstellte Gesichter.
Und danach, als hätte eine übersinnliche Macht meine Ankunft angekündigt, kamen von überall her Monster aus den Baracken gekrochen. Die meisten wackelten auf zwei Beinen, den Körper umhüllt von Tüchern, die überwiegend aus Staub und Löchern bestanden. Ein Mann schleppte sich auf dem Hinterteil in meine Richtung über den Sandboden. Er zog seinen Torso mit blutigen Stümpfen vorwärts, wo eigentlich die Hände hätten sein müssen. Ein anderer, kahlköpfiger, sah mich mit seinem schwülstigen Gesicht an. Furunkel und Krater überzogen seinen Kopf, sodass man nur noch erahnen konnte, wo sich die Augen versteckten.
Aussatz – das waren verstümmelte Finger und Zehen.
Schließlich erschien der Skelettmann. Auch er hatte ein dunkles Loch, wo seine Nase hingehört hätte. Die Lippen zogen sich wie brüchiges Dörrfleisch über die Zähne zurück, weshalb er den Mund nicht mehr schließen konnte. Er lächelte unentwegt, humpelte auf mich zu und hob einen Armstumpf grüßend in die Höhe. Sein Schädel wirkte wie ein lebend gewordener Skelettkopf.
Aussatz – das war fehlendes Schmerzempfinden.
»Mein Name ist Iassonas«, sagte er. »Wer bist du? Was suchst du hier?« Er klang wenig erfreut. Trotzdem grinste er – weil er nicht anders konnte.
Ich tat einen Schritt rückwärts.
»Ich komme im Auftrag des Klostervorstehers Emilios vom Kloster Zographou. Ich will zu eurem Arzt.«
Jetzt grinste er wütend. »Zographou ist kein Kloster. Zographou ist ein heidnischer Dreckshügel, das kannst du deinem Emilios sagen.« Dann lachte er, bis sein Bellen in ein Keuchen überging.
Aussatz – das waren Infektionen, Husten bis zum grundlosen Herzstillstand.
Ein paar der entstellten Männer patschten zustimmend ihre Stümpfe aneinander. Ich drehte den Kopf weg und trat noch einen Schritt zurück.
Aussatz – das war der lebende Tod.
*
Unterdessen wankte die stinkende Menschengruppe näher an mich heran, als mir lieb war. Ich hatte schon oft Menschen gesehen, die mit diesem Fluch belegt waren. Jedoch nie so viele zugleich. Und die Vorstellung, unzählige schmerzlose Verletzungen könnten bei mir entzündete Fingerstümpfe zurücklassen, die bei lebendigem Leibe faulend abfielen, fand ich abscheulich. Mit der Hand verdeckte ich Mund und Nase.
Ein paar der Untoten schnaubten verächtlich. Unmenschlich. Entstellte Löwengesichter begafften mich.
»Bringt mich zu eurem Heiler«, sagte ich.
Der Arzt von Acrothooi wurde angeblich von einer höheren Macht beschützt. Nur deshalb blieb er gesund. Und höhere Mächte waren das, was der Klostervorsteher dringend brauchte, seitdem er diese Krankheit hatte. Für mich war es die Gelegenheit, den mysteriösen Heiler endlich einmal kennenzulernen. Immer wenn mir Geschichten über wundersame Genesungen oder ewig kerngesunde Menschen unterkamen, wurde ich hellhörig und dachte an Wesen meiner Art. Ich war seit jeher auf der Suche nach Gleichgesinnten, nach Mitgliedern meiner Familie und nach der Antwort auf die Frage: Wer bin ich? Vielleicht konnte mir dieser rätselhafte Heilkundige weiterhelfen. »Dann seid ihr mich auch schon wieder los«, sagte ich und wollte den Skelettkopf damit besänftigen. Stattdessen wurde er noch wütender.
»Warum sollten wir Emilios helfen? Wir sind ihm nie begegnet. Und doch mischt er sich in unser Leben ein, als gehöre Acrothooi ihm ganz allein.« Er riss den Mund auf und zeigte mir die schwarzen Zahnstümpfe. Ein Schwall grauenvolle Atemluft wehte in mein Gesicht.
Von mir unbemerkt hatten die Kerle einen Kreis gebildet und mich in die Mitte genommen – in die Zange.
Ich blickte über deformierte Köpfe, fleckige Haut und offene, zersetzte Nasenknorpel hinweg und lotete die Gegend aus. Das Dorf der Aussätzigen lag in einer Senke mit Schutz vor Windböen. Sie hatten ihre windschiefen Holzbaracken im Halbkreis aufgestellt, mit den Türen nach innen. Keine Barrikaden, keine Zäune. Wozu auch? Hier gab es nichts zu holen – außer ein ewiges Grinsen. Und wenn man leicht hineinkam, dann konnte man ebenso einfach wieder heraus. In Gedanken flüchtete ich durch die Dorfmitte und auf die andere Seite hinter den großen Hügel. Niemand der Anwesenden war auch nur annähernd in der Lage, mir bei einem Sprint zu folgen.
»Hört zu. Ich weiß zwar nicht, warum Emilios euch so wütend gemacht hat, aber …«
»Das kann ich dir sagen«, schnauzte Iassonas mich an.
Und seine Kumpanen schnürten den Ring um mich noch enger. Von nun an wäre eine Flucht nur mit einem Sprung über den beinlosen Aussätzigen möglich gewesen. »Man hat uns angewiesen, Acrothooi nicht zu verlassen. Wir sitzen fest, wie die Krabben in einer Pfütze. Wer zur Wasserstelle möchte, hat sich an die vorgeschriebenen Zeiten zu halten. Außerdem muss er ein Kupferglöckchen mit sich tragen und unentwegt damit läuten. Einer von uns – er hieß Theodosius – hatte es gewagt, aus dem Dorf zu verschwinden und auf den Berg zu steigen. Ich glaube, er wollte den Horizont sehen. Die Nacht darauf lag sein totgeschlagener Leichnam hier, wo wir jetzt stehen. Na, was sagst du? Das ist das wahre Gesicht deines Emilios.«
Ich schluckte.
Er senkte den grinsenden Skelettkopf. Ich folgte seinem Blick, sah seine Füße. Die Haut um die Zehen hatte sich um die Knöchelchen zusammengezogen. Die Zehennägel wirkten überdimensional groß.
»Acrothooi ist kein Zuhause«, flüsterte er. »Es ist das Gefängnis der lebenden Toten.«
Die Vorstellung, den Rest meines Lebens in diesem Grab zu verbringen, fand ich schrecklich. Und ich konnte nicht nachvollziehen, weshalb diese Menschen überhaupt hierhergekommen waren.
»Warum packt ihr nicht eure Sachen und verschwindet?«
»Es ist die letzte Chance«, sagte Iassonas. »Hier, am Fuße von Athos, können wir Gott nahe sein. Während die Menschheit sich durchs Erdenleben quält, haben wir die einmalige Gelegenheit, Buße zu tun. Für uns steht das Himmelreich offen. Bleibt nur das Warten auf den schnellen Tod.«
Die anderen nickten zustimmend.
Da wusste ich: Diese armen Kerle würden niemandem etwas zuleide tun. Und ich versuchte es mit einem gezwungenen Lächeln.
»Du hast Glück«, sagte Skelettkopf. »Der Arzt ist da. Er wohnt einen Tagesmarsch von Acrothooi entfernt. Aber er ist heute eingetroffen. Folge mir.«
Und ich war gespannt, um was für einen Menschen es sich bei diesem geheimnisumwobenen Heiler handelte …
VI
Als ich das Haus des Arztes sah, war ich verwundert, weshalb alle anderen Menschen von Acrothooi in verfallenen Baracken lebten. Dieses Wohnhaus war aus Lehmziegeln gemauert, mit einem Holzdach versehen und sogar Drumherum ein wenig begrünt. Es lag leicht abseits. Ein Weg führte durch einen einfachen Gemüsegarten geradewegs auf den Eingang zu, sodass ich mich gleich wohl und eingeladen fühlte. Weg von dem tristen Grab der lebenden Toten.
Auf den zweiten Blick sah ich einen Mann in traditioneller, orthodoxer Mönchskleidung. Er trug ein tiefschwarzes Kleid und ein ebenso schwarzes Klobuk mit langem Schleier auf dem Kopf. Mir den Rücken zugewandt hantierte er an einem Maultier. Das muss der Arzt sein, dachte ich. Doch als er einen Schritt zur Seite tat, stockte mein Atem. Unmöglich. Unfassbar.
»Zozo«, rief ich und mein Herz ging dabei auf. Ich hatte nicht damit gerechnet, meinen treuen Gefährten je wiederzusehen. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen.
Meine Gedanken sprangen ziellos hin und her. War es ein Schicksalswink, dass ich ihn im Dorf der lebenden Toten wiederfand? Aber wie …?
Da drehte sich der Mönch um. Diogenis.
»Sei gegrüßt, Simon«, sagte er mit naiver Leichtigkeit.
Das Erste, was mir einfiel, war ein abfälliger Fluch.
»Was zur Hölle tust du hier?«
»Ich kümmere mich um das Gleichgewicht. Solltest du auch tun.«
Ich war schockiert. In diesem Gewand sah er sogar ein wenig erhaben aus. Mein Mund öffnete sich unkontrolliert und klappte wieder zu.
»Und …«, stotterte ich, »… und was machst du mit meinem Muli?«
»Mein Maultier«, sagte er beiläufig.
»Aber …«
»Du hast es mir geschenkt. Erinnerst du dich? Ich hatte dir gesagt, dass es zurückkommen wird.«
Fassungslos starrte ich den Eremiten an. Dann stieg brennende Wut in mir auf. Der Scheißkerl hatte mich reingelegt! Ich wollte nur noch eins: weg von hier. Und ich befürchtete, ich könnte dem Kerl versehentlich eine reinhauen.
Ich wandte mich dem Skelettkopf zu.
»Aber … aber … Wo ist der Heiler?«
»Er ist unser Arzt«, sagte er und deutete auf Diogenis.
Da kam auch schon Iraklis aus dem Ärztehaus und bellte mich freudestrahlend an – zweimal – gleich laut, gleich lang.
Ich konnte nicht anders als den kleinen Kerl zu wuscheln.
*
Es fiel mir schwer, diesen Trottel um Hilfe zu bitten. Schließlich hatte er mich durch die Wüste geschickt und mich meines Mulis beraubt. Wie ein schwerfälliger, verwundener Knotenballen saß die Wut in meinem Bauch und glimmte.
»Ich …«, sagte ich und rang um Fassung.
Diogenis erkannte sofort, dass ich etwas zu sagen hatte, das mir unangenehm war. Er riss die Augen auf und lächelte erwartungsvoll. Vielleicht freute er sich auf ein ’Du hattest Recht.’ Aber das würde er aus meinem Mund im Leben nicht zu hören bekommen. Niemals.
Ich schluckte den Wutballen weg und beschoss den Eremiten, ohne ihn dabei anzusehen, mit meiner Bitte: »Du musst mitkommen und Emilios von Zographou helfen.«
Er reagierte nicht. Niemand bewegte sich. Stille. Und es schien, als würden sie nicht einmal mehr atmen. Ich blickte in Diogenis’ Augen. Aber er zuckte nur kurz, riss sie noch weiter auf und wippte mit dem ganzen Körper vor und wieder zurück.
Dann ging mir ein Licht auf.
»Bitte«, hörte ich mich sagen und fühlte, wie die Wärme des Wutballens in meinem Magen zunahm. Trotzdem lächelte ich – so nett es mir möglich war.
Die Spannung ließ nach. Die Zombies um uns herum atmeten erleichtert aus.
Ich war froh, diese Aufgabe hinter mich gebracht zu haben. In Gedanken wandte ich mich bereits ab und packte unsere Sachen auf Zozos Rücken. Ich dachte darüber nach, während der Nacht zu reisen. Dann könnten wir schon früh am Morgen …
»Nein.«
… an der Klosterbaustelle ankommen und …
Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, was er gesagt hatte. Und ich spürte, wie der Knoten in meinem Bauch heißer wurde.
Unsicher hakte ich nach: »Warum nein?«
»Weil ich deinen Emilios nicht ausstehen kann«, sagte Diogenis und erntete dafür Applaus – jawohl, richtig so.
Sprachlos sah ich ihn an.
»Und außerdem«, fügte er an, »kann ich diese ganze Sache nicht leiden. Die Klöster, die Zentralisierung, die vielen Menschen aus aller Herren Länder.«
Der steinharte Ballen in meinem Bauch schien nur noch aus glühender Wut zu bestehen.
»… das bringt mich aus dem Gleichgewicht«, sagte er salopp.
Der brennend heiße Wutballen stieg in meiner Kehle hoch. Ich hatte das Gefühl, jede Sekunde explodieren zu müssen.
Ich spannte die Wangenmuskeln an und biss die Zähne aufeinander. Dann zischte ich scharf: »Warum hast du mir eigentlich nicht gleich gesagt, dass du der Heiler bist?«
»Du hast mich nicht danach gefragt«, meinte er beiläufig. »Und außerdem ist es irrelevant – weil ich ja sowieso nicht mitkomme. Punkt.«
Er machte kehrt und drehte mir den Rücken zu.
Meine Hände ballten sich zu knallharten Fäusten mit weißen, blutleeren Knöcheln. Mein ganzer Körper straffte sich. Ich wollte den Mann packen, ihn wie einen Feigensack über den Eselrücken werfen und mit ihm losreiten.
Da kam mir der Einfall.
Ich schluckte die wütende Sonne, die in meinem Hals langsam nach oben kroch, zurück in meinen Bauch und atmete tief ein und wieder aus.
Und dann sagte ich seinen Namen: »Diogenis.«
»Ja?« Er sang es fast.
»Möchtest du uns eine Kleinigkeit über Iraklis sagen?«
Er riss den Kopf hoch und sah mich mit großen Augen an.
»Möchtest du?«, fragte ich noch einmal.
Und mit einem Schlag sah er gar nicht mehr so von sich selbst überzeugt aus. Eher verstört. »Was …?«
Ich grinste, sagte aber nichts.
Er wusste genau, wovon ich sprach. Wenn auch nur einer von den Bewohnern dieser Stadt wüsste, dass Iraklis in Wirklichkeit eine Ira war, dann hätte ihr letztes Stündlein geschlagen.
Diogenis’ Stimme zitterte: »Du würdest doch nicht …?«
»Hm …«, brummte ich und verbreiterte mein Grinsen.
Und als wäre nichts gewesen, nahm Diogenis seine normale Körperhaltung ein und sagte: »Oh. Hab’s mir soeben anders überlegt. Wann reiten wir los?«
VII
Am nächsten Morgen waren wir auf dem Fußweg durch die Felswüste. Leichter Wind täuschte über die Hitze hinweg und der Sand kitzelte in meiner Nase. Diogenis hatte den beladenen Zozo im Schlepptau, der sich beharrlich weigerte, tiefer in die Wüste hineinzugehen. Immer wieder musste man am Zaumzeug zerren, damit das Maultier nicht stehen blieb. Wer weiß, was es erlebt hatte, als es die Nacht allein in der kargen Gegend verbracht hatte. Ich stapfte hinter dem Muli her. Das knochige Hinterteil wankte einschläfernd hin und her. Hin und her. Hin und her.
Eigentlich wollte ich die Wegstrecke in der kühlen Dunkelheit zurücklegen. Bis dieser blöde Eremit die Straßenräuber zur Sprache brachte, die nachts den Reisenden die Köpfe abtrennten. Wieder einmal hatte er Recht. Das ärgerte mich.
Vergangene Nacht, in dem Häuschen in Acrothooi, quälte ich mich durch tausend schlaflose Stunden, in denen mich eine Mischung aus saurem Schweißgeruch und nervtötenden Fliegen wach hielt. Und als ich eine wegschlug, sabberte mir der müde Kläffer aufs Gesicht.
Jetzt schläferte mich Zozos pendelndes Hinterteil beinahe im Gehen in den Schlaf. Hin und her. Hin und her. Hin … und her …
Iraklis tippelte vergnügt neben mir. Fasziniert beobachtete ich, dass der Hund mit exakt der doppelten Schrittgeschwindigkeit des Eremiten unterwegs war. Ein eingespieltes Team – im Gleichklang. Und sogar Zozo schloss sich deren Trott an.
Ich entschied mich mitzumachen. Und abermals lief es sich leichter, wenn man dem Rhythmus der Reisegesellschaft Folge leistete. An dieser Einklang-Sache war tatsächlich etwas dran. Davon war ich mittlerweile überzeugt. Bloß würde ich das nie zugeben.
»Weißt du«, meinte Diogenis, »heilen ist wie wandern. Es geht einzig und allein um die Ausgewogenheit.«
Womöglich will er mir jetzt weismachen, dachte ich, dass durch eine angemessene Schrittfolge der Aussatz verschwindet.
»Ach«, sagte ich und stampfte unauffällig im Gleichtakt zu Zozos monotonem Pendelpo.
»Der Körper gerät aus den Fugen, wenn er sein Gleichgewicht verliert. Die ganze Welt basiert auf Gleichsinn.«
Ich reagierte nicht. Aber nicht, weil ich überzeugt war, dass seine Theorien Blödsinn waren. Sondern, weil ich Angst hatte, er könne schon wieder Recht haben.
Diogenis redete trotzdem weiter: »Nimm beispielsweise den Geist. Zwei Menschen, deren Verstand nicht im Einklang ist – weil sie vielleicht andere Ansichten vertreten – werden miteinander nicht auskommen. Ihr Gleichklang ist gestört. Vielleicht hassen sie sich sogar und bringen damit ihrer beider Welten auf den unrechten Pfad – nur wegen fehlenden Gleichgewichts.«
Ich hörte weg. So gut ich konnte.
»Mit dem Körper ist es ebenso. Vier Säfte bestimmen die Gesundheit: die gelbe und die schwarze Galle, Blut und Schleim. Sie stehen für Feuer, Erde, Luft und Wasser. Die Elemente des Lebens. Die Körpersäfte müssen stets ausgewogen sein. Im Gleichsinn. Herrscht ein Ungleichgewicht, belastet es auf Dauer den Organismus – wie der fehlende Apfel in Zozos Korb. Erinnerst du dich? Und dann wird der Mensch krank.«
Ich brummte.
»Glaubst du nicht?«, fragte der vermeintliche Heiler.
Ehrlich gesagt wusste ich nicht, was ich denken sollte. Er schien in vielen Dingen Recht zu haben. Und trotzdem war er ein Spinner.
Ich vermied eine Antwort.
»Hauptsache du bekommst den Klostervorsteher wieder hin«, sagte ich. »Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, sah er mehr tot als lebendig aus.«
»Weißt du, Simon«, sinnierte er, hielt kurz an und sah mir in die Augen, »tot sind wir alle doch längst. Der eine schon eine halbe Ewigkeit, der andere weniger.«
Ich erschrak. Konnte er wissen, was ich war? Wer ich war? Unmöglich.
Ich fragte vorsichtig nach: »Wie … wie meinst du das?«
Er lachte. »Da lebt der Mann unter den Mönchen und hat es noch immer nicht begriffen …«
Langsam kam ich mir wie ein Schuljunge vor, der von seinem Lehrer eine Lektion erhielt. Trotzdem war ich mir nicht zu schade, noch einmal nachzufragen: »Was begriffen?«
»Was denkst du, weshalb du das einzige Mannsbild auf Athos bist, das keinen langen Bart trägt?«
Weil ich der einzige zivilisierte Mensch bin, dachte ich, sagte aber nichts dazu.
»Nach unserem Glauben sind wir alle längst tot. Und Verstorbene pflegen, rasieren und frisieren sich nicht. Wer tot ist, gräbt sich ein, sobald es an der Zeit ist. Oder er lässt seinen Körper begraben.«
Er drehte sich um und setzte sich auf den Boden.
»Was wir tun ist abwarten und Buße tun, bis wir geholt werden. Sonst nichts.« Er rieb sich die Hände. »Pause.«
*
Es ärgerte mich, dass dieser schräge Vogel so viel wusste. Es war an der Zeit, ihn aus dem Gleichklang zu bringen, nur um ihn etwas zu ärgern. Ich rätselte nur noch wie?
Als ich den Wasserbeutel aus Zozos Satteltasche holte, nahm ich automatisch auch Diogenis’ Beutel heraus, damit das Gleichgewicht stimmte. Dann setzte ich mich in den Dreck und gab ihm das Wasser. Ich schlüpfte aus einem Schuh. Gleich kam Iraklis angehüpft, bellte zweimal vergnügt – gleich laut, gleich lang – und stellte seine Vorderpfoten an meine Brust.
»Musst ihm nichts geben«, sagte der Eremit. »Er bekommt von mir.«
Ich streichelte ihm durchs Fell und kraulte ihn hinter dem Ohr, was er sichtlich genoss. Anschließend schüttete ich einen Mundvoll Wasser in meine Hand und ließ ihn saufen. Die Zunge kitzelte über die Handfläche. Als ich den zweiten Schuh loswerden wollte, kam mir der Einfall.
Ich schwenkte den Fuß.
»Na los, Iraklis. Zieh an.«
»Lass das«, maulte Diogenis. »Hund. Komm her.«
Iraklis wedelte mit dem Schwanz und sah mich an. Den Kopf legte er schief.
»Zieh«, befahl ich und hielt ihm den Fuß mit dem Schuh vors Maul.
»Hör auf mit dem Käse«, sagte Diogenis. »Du bringst ihn aus der Balance.«
Das Tier blickte unsicher zwischen Diogenis und mir hin und her.
»Komm her«, forderte der Eremit barsch.
Der Hund drehte den Kopf beschwichtigend zur Seite und schnüffelte unterwürfig am Boden.
»Siehst du«, sagte Diogenis vorwurfsvoll. »Jetzt ist er ganz durcheinander.«
»Er weiß genau, was er will«, meinte ich, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Dann flüsterte ich liebevoll: »Komm, kleine Maus. Trau dich.«
Der Schwanz wedelte stärker. Und nach einem prüfenden Blick zu seinem Herrchen sah Iraklis mich an und biss zu.
Für so einen winzigen Kerl hatte er ordentlich Kraft. Der Schuh schlüpfte von meinem Fuß und Iraklis schüttelte ihn kurz hin und her, bevor er ihn fallen ließ und mich stolz ansah.
»Braver Hund«, lobte ich und hielt ihm eine Handvoll Wasser hin.
»Lass das … nein … nicht … Iraklis«, schimpfte der Eremit. Doch das war dem Hund egal. Er schlabberte das Trinkwasser. Und als es weg war, setzte er sich auf den Po und sah mich erwartungsvoll an.
»Iraklis«, rief Diogenis wütend. »Du kommst jetzt her. Aber flott.«
»Du bist ja ein ganz ein Lieber«, flüsterte ich und streichelte ihm über Hals und Lefzen. »Schau mal.«
Ich schlüpfte mit dem Fuß zurück in den Schuh und sah, wie Iraklis in Stellung ging, bereit, das Teil ein zweites Mal von mir abzuziehen.
»Nein!«
»Jetzt guck her«, sagte ich und hielt den Fuß hin. »Zieh!«
Und wieder zerrte der Hund den Schuh ab und holte sich die Belohnung in Form eines Wasserschlucks.
»Jetzt reicht’s«, rief Diogenis, stand auf und wollte nach Iraklis greifen.
Aber der kleine Kerl hatte bemerkt, dass sein Herrchen wütend war. Er machte einen Satz rückwärts und verblieb in sicherem Abstand.
Ich grinste breit. Und als der Eremit wie ein Storch über den Boden hopste, dem flinken Kläffer hinterher, konnte ich mir ein lautes Lachen nicht verkneifen. Ich nahm einen tiefen Schluck und genoss den Anblick.
VIII
Wir liefen in einer Spur, Diogenis, die Tiere und ich. Im Gleichschritt, Gleichsinn, Gleichtakt. Nach einer Weile sprachen wir nicht mehr. Ich lauschte meinem Atem und konzentrierte mich auf meinen Herzschlag. Und je länger wir den Rhythmus hielten, umso stärker wuchs in mir das Gefühl, in eine Trance zu fallen. Ich vergaß, wo ich war. Und auch mit wem. Mit jedem Atemzug wurde die Zeit unwirklicher. Wir stapften. Schritt. Schritt. Und das Herz schlug. Poch. Poch. Wie die Zeit verstrich. Tick. Tick. Atemzug für Atemzug.
Und mit einem Mal waren wir da.
Es war früher Nachmittag, als wir die Spitzen der Klostertürme entdeckten. Zographou thronte aus unserer Sicht hinter einem Hügel. Die beiden mit Gerüsten umwickelten Türme lugten über die Bergkappe zu uns herüber.
Ich fand, wir waren unfassbar schnell hier angelangt. Ich konnte es kaum glauben, weil es so einfach und flink gegangen war. Vor Freude kletterte ich auf die nächstgelegene Anhöhe, nur um ein wenig mehr von der Aussicht zu erhaschen. Und dann gierten meine Augen nach den unfertigen Turmspitzen.
»Siehst du das da hinten?«, rief ich.
»Leider«, maulte Diogenis.
Seitdem ich Iraklis dumme Sachen beigebracht hatte, hatte sich seine Laune nicht gebessert. Als hätte das kleine Kunststückchen irgendwelche Auswirkungen, sagte ich mir. Ich fand es schrecklich übertrieben. Gleichtakt, na gut. Es schien ja sogar zu helfen. Aber die ganze Zeit über nur Gleichsinn – das machte doch kein Hündchen froh.
Ich setzte mich oben auf den Hügel und trank einen Schluck aus dem Wasserbeutel. Der Eremit kletterte zu mir hoch. Es hätte eine gemütliche Pause werden können, hätte nicht Diogenis plötzlich den Blick wie angewurzelt in die Ferne gerichtet. Aufgeregt. Und konzentriert. Dann fiel mir auf, dass er in die falsche Richtung sah.
»Da hinten liegt das Kloster«, flachste ich und deutete auf die Baustelle.
Er wirkte verstört. Bleich.
»Was ist?«
»Da kommt jemand«, tuschelte er.
»Verflucht. Wie nah?« Ich sprang auf die Beine, hielt die Hand über die Stirn und richtete den Blick zum Horizont. Ein wenig hoffte ich, dass sich der alte Mann getäuscht hatte. Aber nein: Ganz am anderen Ende der Bergkette, da wo der Himmel den Boden berührte, wirbelte Staub auf. Zu viel, als dass es nur ein verirrtes Tier hätte sein können. Ein Reiter. »Ein Straßenräuber«, sagte ich. »Und er kommt geradewegs auf uns zu.«
Ich blickte zurück. Der Turm. Wir könnten es schaffen. Wenn wir schnell genug wären. Vielleicht hatte er uns noch nicht entdeckt, nahm nur zufällig den Weg. Uns blieb nur eine Chance. Zum Kloster.
»Los«, rief ich. »Renn!«
Wir sprangen vom Hügel. Ich packte Zozos Zügel und hetzte los.
Diogenis vorneweg. Er hob das Mönchskleid mit beiden Händen an. Je schneller er lief, umso mehr hüpften seine dünnen, krummen Beine wie die eines aufgescheuchten Storchs.
Ich wäre locker an ihm vorbeigesprintet, hätte ich nicht Zozo im Schlepptau gehabt. Das Maultier bockte gegen alle Versuche, zu rennen. Immer wieder blieb es stehen, zog mit dem Kopf entgegen der Laufrichtung und blökte laut.
Iraklis jagte aufgeregt im Kreis um uns herum und bellte.
Spätestens jetzt konnte man uns wegen der Staubwolke und des Lärms nicht länger übersehen.
Ich spähte zurück. Zu hügelig, als dass man den Reiter hätte sehen können.
Diogenis war uns ein ganzes Stück voraus. Je kräftiger ich an den Zügeln zerrte, desto langsamer wurde das Tier. Ich dachte daran, ihn zurückzulassen. Für die Reststrecke brauchten wir keinen Proviant mehr. Das Kloster war in Sicht. Und vielleicht würde sich der Räuber mit ihm als Beute zufriedengeben.
Dann hörte ich Hufe in den Boden treten.
»Versteck dich!«, brüllte ich und sah mich auch nach einem Versteck für das störrische Biest um.
Ein Felshügel. Ich zog Zozo auf die Rückseite und vertraute darauf, dass er schon aus Faulheit artig stehenbleiben würde. Den Hund nahm ich mit und hastete um den gigantischen Felsbrocken herum, auf der Suche nach Diogenis.
Der alte Blödmann saß im Schneidersitz auf dem Boden, die Arme auf die Oberschenkel gestützt, und übte sich in Gleichsinn.
»He«, rief ich. »Lass das!«
Mit geschlossenen Augen sagte er: »Es wird gelingen. Er wird mich nicht sehen. So wie du mich nicht gesehen hast.«
»Hör mir genau zu, Diogenis«, verlangte ich. Und es fiel mir schwer, das in diesem Moment zu sagen. Doch irgendwie musste ich den Spinner ja zur Vernunft bringen. »Was ich zu dir gesagt habe, war gelogen, hörst du? Was du da machst – dein Gleichsinn und so – es funktioniert nicht. Geh und verkrieche dich irgendwo. Jetzt!«
Er schlug die Augen auf. Sah mich an. Und ich konnte seine Enttäuschung in meinem Herzen fühlen. Er tat mir leid. Na gut. Aber deshalb brauchte ich ihn ja nicht gleich zu mögen.
»Verschwinde!«, befahl ich und bangte, ob er noch rechtzeitig ein Versteck finden würde.
»Nein«, sagte er energisch und schloss die Lider.
Das Getrampel der Hufe auf dem Sandboden wurde lauter.
»Sei nicht dumm. Hau ab. Sofort!«
»Dumm?«, rief er mit geschlossenen Augen. »Ist es das, was du von mir denkst?« Er verharrte in seiner Pose. Dann murmelte er: »Und ich hätte auf dich gewettet – als Freund.«
Er atmete einmal kräftig durch und legte die Hände mit den Handflächen nach oben auf seinen Beinen ab.
Schließlich sagte er: »Das Taborlicht wird mich beschützen.«
An der Art, wie er den Satz sprach, erkannte ich, dass an seinem Standpunkt nicht mehr zu rütteln war. Diskutieren zwecklos. Er blieb stur.
Jetzt war das Hufgetrappel so laut, dass ich den Reiter hinter der nächsten Erhebung vermutete.
Iraklis bellte. »Pst«, zischte ich. Ich hatte noch einen letzten Funken Hoffnung, er würde doch noch vorbeireiten. Ich baute mich breitbeinig auf.
*
Dann sprang das schwarze, kraftstrotzende Pferd mit einem Satz über den Fels. Die Zügel rissen den Schädel des Tieres hoch. Die Hufe gruben sich in den Sand. Staub wirbelte auf. Der Muskelberg schnaubte und kam zum Stehen.
Auf dem Rücken saß ein Mann, den kräftigen, stolz aufgerichteten Körper komplett in staubige, schmutzige Stoffe gewickelt. Die Tücher hingen wie eine Kapuze über dem Kopf und weit ins Gesicht hinein, sodass man nur den Mund erkennen konnte. Trockene, gebrochene Lippen. Das Pferd schnaubte und scharrte mit den Hinterläufen im Sand.
»Was willst du?«, rief ich ihn an.
Der Schädel des Reiters ging hin und her. Er suchte etwas. Für einen Moment blieb das Gesicht an dem auf dem Boden sitzenden Eremiten hängen.
Schließlich knurrte er, mit furchteinflößender Stimme, so leise, dass man ihn gerade noch verstehen konnte: »Euer Fleisch.«
Ich zuckte zusammen. Er möchte uns fressen? Da fielen mir wieder die Geschichten von den Sandteufeln ein, die sich durch die Leichen armer Seelen fraßen. Und ich erschauderte. Ich war nicht sterblich, ja. Aber was würde passieren, wenn jemand mich aß? Nahm er einen Klumpen Ewigkeit zu sich? Ich schüttelte den Gedanken ab.
»Verschwinde«, rief ich, obwohl ich wusste, dass ich keine Chance gegen den berittenen Mann hatte.
Mit einem metallenen Zischen zog er ein Schwert aus den Stoffen. Die Schneide glänzte gefährlich im Sonnenlicht. Er sagte kein Wort. Hielt nur die Waffe hoch. Damit waren die Fronten geklärt.
In diesem Moment beschloss Zozo, nach dem Rechten zu sehen.
Das Muli trottete rückwärts, aus Trotz, wie ich vermutete, aus seinem Versteck. Zunächst kam das Hinterteil, dann der bepackte Körper zum Vorschein. Und schließlich sah man den störrischen Kopf.
Die trockenen Lippen des finsteren Reiters deuteten ein Lächeln an. »Das Fleisch«, brummte er zufrieden. Mir lief es kalt den Rücken hinunter.
Er führte sein Reittier elegant zu dem Muli hin.
»Stop!«, rief ich.
Er ignorierte mich.
Stattdessen ritt er um den Felsen herum. Ich folgte ihm. Sein faltiges Grinsen weitete sich, sodass ich seine schwarzbraunen Zahnreihen sah.
»Nein!«, brüllte ich. »Lass ihn.«
Was ich sagte und tat, war dem Reiter egal.
Er hob das Schwert. Und mit einem schwungvollen Hieb durchtrennte er Zozos Hals. Der Schädel nickte bizarr nach vorne. Auf der Stelle klappte der Körper des Tieres in sich zusammen.
»Nicht Zozo«, kreischte ich verzweifelt. Da war er schon tot.
Iraklis winselte. Dann bellte er.
Blut strömte glucksend aus der offenen Kehle. Der Torso zuckte ein paar Male. Die Augen verdrehten sich in zwei Richtungen und Zozos Zunge hing unnatürlich schlaff aus dem Maul.
Ich spürte die Wut in mir hochschießen. Dieser Scheißkerl hatte meinen Zozo auf dem Gewissen. Damit würde er nicht ungeschoren davonkommen. Ich kochte innerlich. Mein Verstand setzte aus. Und ich rannte wutentbrannt auf den Reiter zu.
»Ich bring dich um«, presste ich durch zusammengebissene Zähne.
Offenbar verblüffte ihn mein Angriff. Ich packte fest in seine Kleidung und mit einem Ruck zerrte ich ihn vom Pferd. Er knallte rücklings auf den Boden und hechelte nach Luft.
Iraklis hüpfte bellend um den Mann herum.
Für einen Moment sah ich seine Augen aufblitzen. Und ich hatte das Gefühl, als verberge sich hinter der gefühlskalten Bosheit noch etwas anderes: die Furcht, erkannt zu werden.
Aber seine Benommenheit hielt nur kurz an. Mit einem wütenden Satz wuchtete er sich auf die Beine. Jetzt stand er mir gegenüber. Wieder sah ich nichts Menschliches. Nur ein vernarbtes Gesicht, wie bei einem Aussätzigen.
Dann beugte er sich vor. Ich dachte, er würde nach dem Schwert greifen, um es mir um die Ohren zu schlagen. Stattdessen packte er Iraklis am Hinterlauf.
»Nein!«, kreischte ich. »Nicht den Hund.«
Der kleine Kerl quiekte wie ein Ferkel. Der Mann wirbelte ihn in die Luft und ließ ihn los. Das Tier klatschte gegen die Felswand und plumpste reglos in den Sand. Eine Staubwolke umhüllte den leblosen Körper.
»Iraklis«, rief ich. Zu spät. Iraklis lag erschlagen vor mir im Dreck. Bittere Verzweiflung packte mich. Ich fiel auf die Knie. Am liebsten hätte ich losgeheult wie ein Waschweib.
Aber schon im nächsten Augenblick war ich wild entschlossen, diesem Wegelagerer den Garaus zu machen. Ich drehte den Kopf. Das Schwert lag noch da. Er sah, was ich dachte. Und mit einem Schlag stürzten wir uns auf die stählerne Waffe.
Ich war schneller, spürte das kalte Metall in der Handfläche.
Doch bekam ich nur die Klinge zu fassen. Der Reiter packte das Heft und riss mir einen blutigen Strich über Hand und Finger. Mein Blut – und das von Zozo.
Ich brüllte und warf mich gegen den Kämpfer. Mit der Schulter traf ich seinen Kopf. Er stürzte zu Boden, vor die Füße seines Hengstes. Das Tier stellte sich auf die Hinterläufe und wieherte.
Jetzt griff er mit dem Schwert an, wuchtete es herum. Mit dem Ellenbogen blockte ich seinen Arm. Noch in der Bewegung erwischte er sein Pferd am Bauch.
Das Tier röhrte und schrie und stampfte über den Körper des Räubers. Es musste ihn mehrfach getroffen haben. Überall Staub. Der Gaul sprang ziellos hin und her. Schließlich rannte er schnaubend los, weg von uns, geradewegs in die karge Wüstenlandschaft, so wie mein lieber Zozo einen Tag zuvor.
Jetzt hatte ich ihn – da war ich mir sicher. Ich wollte ihm das Schwert entreißen. Und dann würde ich mich rächen. Blutig. Mordlüstern.
*
Ich wuchtete mich auf die Beine.
Er lag vor mir, stöhnte, wand sich und drückte die Arme an Brust und Bauch. Als er mich auf sich zukommen sah, setzte er sich. Die Waffe hielt er in der zittrigen Faust. Die Kapuze halb über dem Kopf. Und ich sah, wie vernarbt sein Schädel aussah. Zwischen ein paar Haarbüscheln klebte verkrustetes Blut.
Aussatz.
»Na los«, rief ich. Wartete auf den Angriff. Mit dem Fuß wollte ich ihm die Klinge aus der Hand schlagen.
Da hörte ich Hufgetrappel. Aber nicht aus der Richtung, in die sein Gaul geflüchtet war. Und es war ganz nah.
Ein zweiter Mann zu Pferd trabte um den Felshügel herum. Er lachte laut und selbstsicher. Und er hob ein blutbesudeltes Schwert in die Höhe. Es blitzte im Sonnenlicht. Ein dicker Tropfen ließ sich von der Schwertspitze herab, fiel durch die Luft und platschte auf den Fels.
Gegen die beiden hatte ich keine Chance. Ich lief zur Seite. Der zweite Mann nahm den Ersten mit auf sein Pferd und sie ritten davon. Wieder hörte ich ihn lachen. Zufrieden. Siegesbewusst.
Und ich fragte mich: Was war mit dem Fleisch? Zozo? Iraklis?
Dann schoss mir das Bild des blutbeschmierten Schwertes in den Sinn. Und ein riesiger Brocken Angst kroch wie ein fetter Wurm meine Kehle hinab und in meine Brust. Diogenis? Ich war unfähig zu atmen. Hielt mich an dem gigantischen Felsbrocken fest, hinter dem ich ihn vermutete – im Schneidersitz, die Hände ausgebreitet.
»Diogenis«, sagte ich. Nicht zu laut – verängstigt. Wenn er nicht antwortete, bestand die Hoffnung, dass er mich nicht gehört hatte. Es tat sich nichts.
»Diogenis?« Etwas lauter. Ich musste zurück zur Realität. Und diese hatte mir gerade eben einen Reiter und sein blutiges Schwert gezeigt. Wieder keine Reaktion. Mein Herz pochte.
Ängstlich lief ich um den Felshügel herum.
Meine Hände schwitzten.
Doch die imaginäre Pranke packte mich und warf mich mit voller Wucht in die unliebsame Wirklichkeit.
Da lag der alte Spinner. Er glotzte mich mit leeren, verdrehten Augen an. Die Zunge hing aus dem schmerzverzerrten Mund. Und auf den zweiten Blick sah ich, dass es nur sein Kopf war. Der Körper saß noch immer in Meditationsstellung an den Felsen gelehnt, der Hals oben offen.
Ich brach zusammen. Bis zuletzt hatte der arme Blödmann an seine Lehre geglaubt. Beinahe hätte er sogar mich überzeugt. Nun war sein letzter Atemzug auf dieser Welt getan.
Ich schlug die Hände vor die Augen. Auf eine eigentümliche Art hatte ich ihn schließlich und endlich lieb gewonnen. Ihn und seinen Köter. Ich hatte alles verloren. Jeden, der die Tage mein Leben in eine neue Richtung gelenkt hatte. Zozo war tot. Und ich schwor mir, Rache zu nehmen. Die Kerle zu jagen, wo auch immer sie hingeflüchtet waren. Und sollte es ewig dauern. Für die Ewigkeit war ich gerüstet.
Und dann platzte die Trauer aus mir heraus. Ich weinte bittere Tränen – um das Maultier, um den Hund und um Diogenis.
*
Ich brauchte eine Weile, bis ich imstande war, mich auf den Weg zu machen. Und es hätte ein schmerzlicher Pfad werden sollen. Niedergeschlagen. Zerfressen von Schuld und Selbstmitleid. Wut.
Wenn mich nicht ein Geräusch von meinem Kreuzweg abgebracht hätte.
Wuff – wuff. Zweimal. Gleich laut, gleich lang.
»Iraklis«, rief ich, lange bevor ich den kleinen Frechdachs sah.
Wuff – wuff, machte er und tippelte auf mich zu, als ob er nie tot gewesen wäre.
»Du lebst«, rief ich und erwürgte den verwirrten Hund beinahe mit einer innigen Umarmung. Am Kopf präsentierte er eine blutige Schramme auf einer stolzen Beule. Wuff – wuff.
Wenigstens einen hatte mir der Gott von Athos gelassen, dachte ich. Und der wuschelige Kerl – oder besser, die Hundedame – überdeckte ein ganz klein wenig die tiefe Trauer in meinem Herzen …
IX
Die Ursprünge des eremitischen Mönchtums, wie es auf Athos gelehrt und gelebt wurde, lagen im alten Ägypten. Auf dem heiligen Berg fühlte ich mich zurückversetzt in die Zeit der Wüstenväter vom Nil. Das oberste Ziel der Ägypter von damals war die innere Ruhe – sie nannten es Hesychia. Dabei handelte es sich um eine Form von Gleichsinn und Ausgeglichenheit, die sie durch Schweigsamkeit und Demut zu erreichen versuchten. Mittels Stille und Synchronität wollten sie ihr Bewusstsein erweitern. Sie schirmten sich von allen Einflüssen ab, hausten in Einzelzellen und hatten nur selten Kontakt miteinander. So wie die Eremiten von Athos.
Für mich war die Zeitspanne auf dem Mönchsberg vor allem eine Phase des Lernens. Menschen aus der ganzen Welt lebten in Gemeinschaften. Überwiegend Franken, Slawen, Armenier und natürlich Byzantiner. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich in die Sprachen und auch die Schriftzeichen einzuarbeiten, Gemeinsamkeiten herauszufiltern und Überschneidungen zu erkennen. Ich denke, nach meiner Zeit dort war ich sogar in der Lage mich flüssig mit Zeitgenossen zu unterhalten, deren Nationalitäten mir bis dato völlig fremd gewesen waren.
*
Klöster waren auf Athos etwas Neues. Mittlerweile lebten so viele Männer auf dem Berg, dass sie sich in kleinen Dörfern organisierten. Meist taten sich Mönche mit ähnlicher Herkunft oder gleicher Sprache zusammen. Jeder Ordensmann hatte ein weltliches Leben vor dem Mönchsdasein hinter sich gelassen. Es gab etliche bauerfahrene Menschen unter ihnen. Da war es ein logischer Schritt, dass sich die größten Gruppierungen an befestigten Bauwerken versuchten.
Drei Klosterbaustellen hatte ich um das Jahr 960 herum kennengelernt: Vatupediou, Hagiou Pavlou und Zographou. Bei der letzten hatte ich mich niedergelassen, eingelebt und meine Mithilfe angeboten. Man sprach von zwei weiteren Großbaustellen, eine davon unter nichtbyzantinischer Verwaltung. Aber das war alles nur Gerede.
Obwohl ich das unfertige Kloster Zographou nun schon eine ganze Weile kannte, beeindruckte mich die Baustelle an diesem Tag mal wieder aufs Neue. Möglicherweise, weil ich die unzähligen, weißen Rundbögen auf vier Stockwerken zum ersten Mal aus einer neuen Perspektive sah: den hölzernen und bemalten Balkon im zweiten Stock; den runden Kuppelbau mit dem Kupferdach; die Stufen zum Hauptportal, wo die unendlich hoch in den Himmel ragenden Palisadenpflanzen Spalier standen. Oder aber, weil ich die fantastischen Ausmaße der beiden Türme sonst aus den Augen verlor, wenn ich selbst Teil des Klosterlebens war.
Trotz der unfertigen Mauern und Gerüste herrschten an diesem Ort stets Gleichsinn und Synchronität. Das wurde mir erst jetzt bewusst. Wie sonst hätten die Baumeister seelenruhig, ohne ein klares Ziel vor Augen, eine so prächtige Oase am Hang des heiligen Berges erschaffen können?
Über Jahre hinweg hatten sich Fachmänner aller Gebiete auf Athos versammelt, die wussten, wie man aus der unwirtlichen Felswüste eine idyllische Stätte der Ruhe schafft. Und sie gingen ihre Arbeit beharrlich an – und mit Gleichsinn und Synchronität.
Neuankömmlinge sprachen davon, dass sie ein enthaltsames Leben auf staubigem Wüstenboden, unter der glühenden Sonne, trockene, dünne Bergluft atmend, erwartet hatten. Stattdessen fanden sie fruchtbare Böden, besinnliches Tagwerk bei Vogelgezwitscher, saftig grüne Sträucher und Schatten spendende Bäume in angenehmem Küstenklima. Ein Garten Eden mitten in der Einöde.
*
Morgens wurde man mit Glockenläuten geweckt. Zu welcher Uhrzeit spielte keine Rolle. Kalender und Uhren interessierten auf Athos nicht. Hier lebte man und lebt man bis heute abgeschottet vom Rest der Welt und eingesponnen in einer eigenen Zeit.
Im Kloster Zographou hatte jeder Ordensmann seine Aufgabe zu erfüllen. Niemand legte fest, wann wer was zu tun hatte. Neue Ordensbrüder fügten sich in die Gemeinschaft ein, fanden eigenständig ihren Platz und kümmerten sich, soweit es ihnen möglich war.
Ich trug den traditionellen schwarzen Talar, war aber kein Mönch – und das wussten alle. Ich ging beim Neubau zur Hand, weil ich körperlich fitter war als die Meisten hier, schleppte Lehmziegel und Wackersteine. Sie nannten mich den Bär – besser gesagt φέρουν. Und ich verstand ihre Sprache, was mich bei den Klosterbrüdern beliebt machte.
Es gab keine Besitztümer und keinen Neid. Diogenis hatte mich gelehrt, dass die Männer von Athos längst tot waren, ihre dunkle Kleidung war ein Symbol für aus der Welt geschiedene Menschen. Daher auch die Tradition, den Bart nicht zu scheren und die Haare nicht zu waschen.
Die Bewohner von Zographou sahen sich als eine große Familie von Produzenten und Künstlern. Der Geist frühbyzantinischer Kunst war allgegenwärtig. Hier gestaltete man prachtvolle Ikonenmalereien und farbenprächtige Heiligenbildchen, die außerhalb des Klosters gegen Salz und Getreide eingetauscht wurden. Es gab Boote, die an der Küste Halt machten und mit den Mönchen Handel trieben. Zwischen den Klostermauern fertigte man Körbe und Stühle, in einer Qualität, die auf der ganzen Welt einmalig war. Ketten und Glöckchen stellte man her sowie Kreuze aus allen Materialien und in sämtlichen Größen. Holzverarbeitung vom Heiligen Berg war gefragt und einzigartig. Und die prunkvollen Bilderrahmen aus Athos verkauften sich bis nach Mitteleuropa.
*
Iraklis tippelte neben mir her, als ich niedergeschlagen an die Pforte klopfte. Der Duft von Weihrauch schenkte mir ein vertrautes Gefühl, ebenso wie das Vogelgezwitscher und die zirpenden Grillen. Brütende Hitze trieb den Durst in mir hoch und die Zunge des kleinen Hundes baumelte seitlich aus dem Maul wie ein alter Lappen. Es war erst ein paar Stunden her und ich konnte noch immer nicht fassen, dass Diogenis tot war. Und Zozo. Das winzige Fenster in Form einer Blume schnappte zur Seite.
»Simon«, sagte Bruder Joris, der oft und gern an der Tür arbeitete, weil es da kühl und gemütlich war.
»Mach auf.« Vielleicht klang ich etwas zu schroff. Aber ich hatte wirklich keine Muße für Freundlichkeiten.
»Du wirst schon sehnlichst erwartet«, meinte Joris und ließ mich hinein. Dann rief er, so laut er konnte: »Simon ist zurück.« Ich hörte den Satz noch zweimal nachrufen, wie ein Echo.
Als ich durch den hölzernen Torbogen ging, fragte er: »Du bist allein?«
Anstelle einer Antwort sah ich ihn vorwurfsvoll an. Ich wollte nicht darüber sprechen. Und vor allem nicht mit ihm.
»Ist ja gut«, sagte er, als er meinen Gesichtsausdruck sah, und hob die Handflächen schützend vor sich.
»Na sowas. Da ist ja unser Bär.« Bruder Bas stampfte daher. Ein massiger Kerl, dessen Hände entgegen seines Körperbaus den Eindruck machten, als seien sie aus Butter. Bas gehörte zum innersten Kreis um den Prior. Trotzdem war er bei wichtigen Entscheidungen nicht dabei. Ich hatte mich schon oft gefragt, ob sie ihm misstrauten oder ob er ihnen zu einfältig war? Um mich an der Pforte abzufangen, dafür war er gut genug.
Ich folgte ihm über den großen Vorplatz zum Haupthaus neben dem hohen Turm. Iraklis lief mit.
»Vater Emilios hat von nichts anderem mehr gesprochen«, sagte er, »als von dir und deinem Auftrag.«
Ich stapfte wortlos hinter ihm her.
»Was ist mit dem Heiler?«, wollte er wissen. »Kommt er noch?«
Die Frage machte mich wütend. Ich denke nicht einmal, dass Bas es mit Absicht getan hatte. Aber in diesem Moment fühlte es sich so an, als stochere er genüsslich in meinen Wunden herum. Und am liebsten hätte ich ihn angebrüllt: dass der Arzt nie, niemals, kommen wird, weil er mausetot war, kopflos infolge meiner Dummheit. Stattdessen ließ ich den Kopf hängen. Auch eine Antwort.
Neuerdings hatte Prior Emilios seine Aktivitäten ins prunkvolle Haupthaus umverlegt. Bis dahin diente der große Saal als Gemeinschaftsraum; eine Säulenhalle, erfüllt mit Leben und Frohsinn, wo immer viel geplaudert und gelacht wurde.
Nun erinnerte mich der weitläufige Raum an einen Thronsaal, wie ich ihn von alten Königen der Ägypter oder auch der Babylonier her kannte. Am hinteren Ende saß Vater Emilios, sein Stuhl auf einem Podest. Rechts und links von ihm standen Bruder Cronos und Bruder Macario Wache. Seitdem der Aussatz in Zographou Einzug gehalten hatte, traf man die Drei nur noch selten allein an. Ich vermutete, dass ihr Leidensweg sie zusammenführte. Sie waren schlimm entstellt.
»Wen hat er uns gebracht?«, rief Emilios mir entgegen. Früher hatte er nicht so seltsam von sich selbst gesprochen. Ich erinnerte mich an einen netten Mönch, mittleren bis hohen Alters, der nur wenig, aber gut überlegt geredet hatte. Ein Mann der freundlichen und weisen Worte. Das war vor dem Aussatz.
Emilios betrachtete den Hund und rümpfte die Nase.
Der Klostervorsteher war in meinen Augen der Einzige, dem ich Rechenschaft abzulegen hatte. Schließlich war ich in seinem Auftrag unterwegs gewesen. Und es ging um seine Gesundheit.
»Es tut mir leid, Vater. Ich …«
»Es tut ihm leid?«, unterbrach er mich. Er sprach nicht direkt zu mir. Eher zur Halle. Oder zu seinen beiden Kumpanen. »Was meint er damit?«
Je näher ich kam, umso grausiger fand ich die Entstellungen. Es war schlimmer geworden. Mund und Nase zeigten keine klaren Linien mehr. Die Haut erschien uneben und aufgeplatzt, wie von Verbrennungen. Und die Ohren schwollen sichtlich an.
Und auch Cronos und Macario sahen schlimmer aus als vor ein paar Tagen.
Leise und unsicher erklärte ich: »Wir wurden überfallen.«
Emilios sprach in einem sonderbaren Tonfall. Es war, als sänge er ein unfreundliches Lied. Die einzelnen Wörter wurden von den Tönen getragen. »Was möchte er mir damit sagen?«
Ich wusste, dass ich ihm die Hoffnung auf Heilung nehmen musste. Umso schwerer war es, die Wahrheit zu sagen.
»Vater Emilios. Es tut mir leid. Der Heiler – Diogenis – er ist tot.« Ich schluckte.
»Was ist los?«, rief Bruder Cronos, der bisher nur schweigend danebengestanden hatte. »Hast du nicht auf ihn aufgepasst?«
»Selbstverständlich habe ich das. Es waren zwei …«
Jetzt fiel mir Macario ins Wort. »Zwei gegen zwei? Das ist ja lächerlich!«
Schließlich übernahm Vater Emilios wieder die Führung.
»Er hat also seinen Auftrag nicht erfüllt«, stellte er herablassend fest. Ein Gefühl, wie ein Schlag in die Magengegend. Nichts hätte ich mir mehr gewünscht, als dass der alte Spinner noch am Leben wäre. Mit einem Mal konnte ich die totgeweihten von Acrothooi verstehen und ihren Hass auf Vater Emilios nachempfinden.
»Du hast uns im Stich gelassen«, ergänzte Bruder Macario. Dann spuckte er verachtend auf den Boden.
Am liebsten hätte ich ihnen meine Meinung in ihre Fratzen geschrien. Was sie sich eigentlich einbildeten, so mit mir zu sprechen?
Nur mit viel Kraft war ich in der Lage, meine Wut zu kontrollieren. Fassungslos stand ich da und betrachtete die drei selbstgefälligen Gruselgestalten.
»Er darf gehen«, sagte Emilios.
Ich war froh, frische Luft atmen zu können …
X
Am selben Abend half ich Bruder Bas beim Küchendienst.
Ich hackte Mohrrüben. Danach hatte ich noch die Lorbeerblätter vor mir. Es sollte eine würzige Suppe werden und Bas und ich trugen die Verantwortung für die Geschmacksausrichtung und die Gerüche.
Ich arbeitete am Fenster, was nicht mehr als ein quadratisches Mauerloch nach draußen war. Ein weißes Pferd tänzelte am Ausblick vorbei. Die Mähne wehte im Wind und die Hufe stampften kraftvoll in den Boden.
Bis dahin hatte ich mich mit einer Mischung aus verbohrter Trauer und Wut durch den Tag gequält. Ich zwängte mich in meine Rolle und meldete mich zum Küchendienst. Vielleicht meinte ich auch, meine Gedankenwelt über die Teilnahme am Alltag wieder zur Ordnung rufen zu können.
Aber als ich sah, wie das Pferd die Freiheit genoss, kam es mir vor, als schickte mir jemand ein Zeichen: Vertraue auf dich selbst, auf dein Bauchgefühl. Und lasse dir nichts einreden. Es war an der Zeit auszubrechen.
Ich betrachtete Bruder Bas, der mit dem Holzlöffel in einem der Töpfe rührte.
»Sag mal«, sagte ich und unterbrach meine Arbeit. »Sind außer dem Prior, Cronos und Macario noch andere Ordensbrüder vom Aussatz befallen?«
Er ließ nicht von seinem Tun ab und antwortete nebenbei: »Nein. Bis jetzt nicht …«
»Das ist doch merkwürdig, denkst du nicht?«
»Findest du?«
Allerdings!, dachte ich. Jedem musste das seltsam vorkommen. Schließlich griff die Krankheit für gewöhnlich verheerend um sich.
»Warum die Drei?«, wollte ich wissen.
An seinem Gesichtsausdruck sah ich, dass es ihm unangenehm war, diese Art von Fragen gestellt zu bekommen.
»Wir sollten Gott tun lassen, was er möchte. Und nicht seine Entscheidungen in Zweifel ziehen.« Das Eigenartige war die Art, wie er es sagte. Es schien fast so, als müsste er sich rechtfertigen, obwohl er gar nicht verantwortlich war. Außer er wusste mehr, als ich vermutete.
Ich betrachtete ihn genau. Seine Bewegungen. Seine Körperhaltung. Er kam mir verkrampft und sonderbar ängstlich vor. Hatte ihn meine Fragerei in Bedrängnis gebracht?
Also, sagte ich mir, lege noch mal einen obendrauf. Mal sehen, wie er damit zurechtkommt.
»Bruder Bas?«
»Ja?« Er sah mich an.
»Kann es eine Strafe Gottes sein?«
Meine Frage war fast schon blasphemisch. Wenn irgendeiner von Gottvater bestraft werden musste, dann gewiss nicht Menschen aus den obersten Rängen des Klosters.
Sein Mund öffnete sich. Er wollte etwas sagen. Aber er schien nicht die richtigen Worte zu finden. Stattdessen sah ich, wie sich auf seiner Stirn eine milchig weiße Schweißperle bildete. Und auf einmal hatte ich das eigentümliche Bauchgefühl, einem alten Bekannten gegenüberzustehen. Es war schon eine Weile her, als ich mich um Roms Gartenanlagen gekümmert hatte. Damals sah ich einen ebenso fetten Schweißtropfen auf einer Stirn baumeln, der mir sagte, dass ich einer Täuschung erlegen war. In jenen Tagen musste ich meine Sichtweise ändern. Infolgedessen erkannte ich, dass die Welt um mich herum nur eine Illusion war – eine Gaukelei.
Noch immer schnappte Bruder Bas nach Luft wie ein Fisch an Land. Durch seine Sprachlosigkeit hatte er sich verraten. Und mit ihm die Bande um den Prior Emilios.
Etwas ging da nicht mit rechten Dingen zu. Und ich würde herausfinden, was es war. Das war meine Art der Vergeltung. Heute frage ich mich, ob es schlauer gewesen wäre, nicht tiefer in der Wunde zu stochern …?
XI
Am nächsten Morgen schlich ich mich schon früh in die Kreuzkapelle. Ihren Namen hatte sie von ihrem Grundriss, der ein Kreuz bildete. Es war noch vor der Morgenliturgie und die Glocken würden bald ihren Weckruf über dem Kloster verkünden. Zu gerne hätte ich länger geschlafen, Energie getankt. Mein ausgemergelter Körper hätte es mir gedankt. Aber wie ich wusste, waren Emilios und seine Begleiter seit dem Ausbruch der Krankheit morgens bereits vor der Liturgie in der Kapelle anwesend. Daraus schloss ich, dass sie sich trafen und Pläne schmiedeten. Ich hatte sogar kurz den Gedanken, dass ihre frühmorgendlichen Treffen etwas mit ihrer Infektion zu tun haben könnten. Das war jedoch weit hergeholt.
Bruder Theofilos, ein alter Mann mit längerem, grauem Bart, richtete frische Kerzen her. Das kam mir ungelegen. Ich hatte gehofft, mich unbemerkt hinter den Sitzreihen für die Alten und die Schwachen verbergen zu können, bevor die Aussätzigen eintrafen.
»Bruder Simon«, sagte er. »Was treibt dich denn zu dieser Zeit hierher?« Er nannte mich Bruder Simon, obwohl ich gar kein Mönch war. Vielleicht die Macht der Gewohnheit.
»Die Sache mit dem Heiler macht mir zu schaffen«, flunkerte ich.
Theofilos war ein ausgeglichener, freundlicher Mann, der bereits mehrere Generationen in dieser Gemeinschaft überdauert hatte. Lange bevor Zographou zum Kloster wurde.
»Und du denkst, in der Kapelle unter dem Licht der Kreuze lässt es sich besser schlafen?« Er lächelte zufrieden. »Oder hast du den Wunsch zu beten?«
»Ich möchte zur Ruhe kommen – das ist alles.«
»Das kann ich verstehen«, sagte er und zwinkerte mit einem Auge. »Ich lass dich mal allein.«
Eine hervorragende Idee, dachte ich und nickte müde. Einen Augenblick später war er weg.
*
Ich hatte keine Ahnung, wie leise die Nacht sein konnte. Vor allem in der Kapelle. Die prächtig bemalten Holzeinbauten, die mit unzähligen Malereien und Zeichnungen geschmückte Trennwand zum Altarraum und die Glasmosaiken, die an jeder Wand zu sehen waren, schluckten jeden Ton. Die Ruhe war unerträglich. Mit jeder Bewegung hörte ich den Stoff meiner Kleidung rascheln. Nur hin und wieder knackte die Flamme einer Kerze.
Nun fiel mir auf, wie schwer es war, ein gutes Versteck zu finden. Eigentlich konnte man sich in der Kapelle überhaupt nicht verbergen. Alles war gut einsehbar. Auch die Stühle für die Alten bestanden bloß aus knochendünnen Verstrebungen.
Dann hörte ich sie kommen. Die Gesprächsfetzen klangen noch fern. Bruder Emilios’ neue, selbstherrliche Art zu sprechen hätte ich aus hundert Stimmen heraushören können. Wenn sie mich jetzt anträfen, würden sie misstrauisch werden. Was ich hier wollte, zu dieser unheiligen Zeit? Und vielleicht würden sie glauben, ich würde spionieren. Ertappt. Ich musste weg. Sofort.
Ich huschte zügig zur Hintertür. Und im selben Augenblick, als sich die Vordertür öffnete, verschwand ich aus dem heiligen Raum.
Ich drückte mich an die Wand gleich neben der Hintertür, sodass ich hörte, was drinnen gesprochen wurde. Ich fühlte mich wie ein Gesetzesbrecher. Und ein bisschen war ich ja sogar ein Dieb. Ich stahl ihre geheimen Gedanken.
Zunächst sprachen sie nur über belangloses Zeug. Es ging um die Selbstbestimmung des Klosters im Gegensatz zur Eingliederung in eine große Klostergemeinschaft. Vater Emilios hatte eine Zusammenlegung immer vorangetrieben. Doch neuerdings war er strikt gegen eine Hauptverwaltung. Er meinte, Zographou müsse autark bleiben. Ich war überrascht und verwundert und fragte mich, was ihn dazu bewogen hatte, seine Meinung in so kurzer Zeit so gravierend zu ändern.
Dann hörte ich Bruder Cronos sprechen: »Ich denke, Bas ist bald so weit.«
»Bas ist ein Idiot«, sagte Bruder Macario.
Mit selbstverliebter Singsang-Stimme meinte Emilios: »Er unterstützt uns.«
»Ja, Vater«, bestätigte Macario kleinlaut.
Ich spitzte die Ohren.
»Jeder weiß, dass Bas für seinen Prior über glühende Kohlen gehen würde«, entgegnete Emilios und klang dabei sehr zufrieden.
»Eben deshalb wird sich auch niemand wundern«, sagte Cronos, »wenn er sich infiziert hat.« Er lachte herablassend und gemein.
Ich war entsetzt. Sie wollten Bas mit der Erkrankung absichtlich anstecken. Aber wozu? Ich fand, trotz ihrer Krankheit wirkten alle drei außergewöhnlich planungsstark und zukunftssicher. Und das, obwohl man von todkranken Menschen eher das Gegenteil erwartete. Es kam mir so vor, als wäre der Aussatz Teil ihres Plans. Der Gedanke machte mir Angst.
Schließlich kamen sie auf den Heiler zu sprechen. Doch niemand klang betroffen. Als wäre es ihnen egal, dass meine Mission gescheitert war. Ich fragte mich, ob sie einen besseren Weg der Genesung gefunden hatten. Da hörte ich Vater Emilios einen Satz sagen, der so schockierend war, dass ich einen Moment brauchte, um das Gehörte zu begreifen:
»Warum hat dieser Idiot von Straßenräuber Simon nicht gleich mit erledigt?«
Und mit einem Mal war alles anders.
Diogenis’ Tod war kein Zufall gewesen. Und ich erinnerte mich, wie zielgerichtet diese Straßenräuber auf uns zugeritten waren. Sie fingen uns ab. Sie hielten uns auf.
Emilios und seine Kumpane hatten niemals vorgehabt, den Arzt heil im Kloster ankommen zu lassen. Und als mein Auftrag zu gelingen schien, war es die Aufgabe der Straßenräuber gewesen, uns zu stoppen, bevor wir die Klostermauern erreichten.
Emilios steckte dahinter. Er war schuld am Tod meines neuen Freundes.
Mit offenem Mund, schnell atmend, lehnte ich an der Wand. Mir blieb keine Zeit, das Gehörte zu verarbeiten, denn mit einem Mal wandten sich die Stimmen mir zu, wurden lauter und bewegten sich in meine Richtung. Und mir fiel auf, dass der Weg zur Morgenglocke durch die Hintertür führte, direkt an mir vorbei. Verdammt. Sie würden mich erwischen. Es war unausweichlich. Selbst wenn ich weglief, würden sie mich rennen sehen. Mich erkennen. Lange Haare, keine Mütze, kein Bart.
Ich brauchte einen Einfall. Entgegengehen, war meine erste Idee. Als ob ich rein zufällig durch den Hintereingang in die Kapelle wollte. Doch das würden sie mir niemals abkaufen.
Ich musste es drauf ankommen lassen. Mit dem Rücken rutschte ich die Mauer hinab, bis ich im Schneidersitz daran lehnte. Ich schloss die Augen. Wenn es nicht funktionierte, was anzunehmen war, könnte ich ihnen immer noch eine Geschichte auftischen – von morgendlicher Meditation, die mir der Eremit beigebracht hatte. Ich legte die Hände mit den Handflächen nach oben auf meine Schenkel. Und ich konzentrierte mich nur auf mich selbst. Ich sog die frische Morgenluft in meine Lungen. Atmete ein. Und wieder aus. Gleich lang und gleich fest. Gleichsinn, dachte ich. Und Gleichgewicht.
Ich achtete darauf, dass das Gewicht meiner Handknöchel unterhalb meiner Knie den idealen Druckpunkt fand. Keine Abweichungen. Mein Oberkörper sollte ausgewogen, in der Mitte der Ebene aus Beinen und Armen, gelagert sein.
Gleich viele Äpfel in beiden Körben.
Ich konzentrierte mich auf meinen Atem und meinen Herzschlag. Vier Schläge zum Ein- und vier zum Ausatmen. Gleich fest, gleich lang.
Und ich besann mich auf die Stille, blendete die Stimmen aus, als ob sie gar nicht da wären. Weg aus meiner Welt, in der Hoffnung – nein, in dem festen Glauben –, ich würde aus ihrer Wahrnehmung verschwinden.
Atemzug um Atemzug. Schritt um Schritt.
Es gab nur noch mich und meinen Gleichsinn.
102, 104, 106 …
Dann sah ich es.
Das Taborlicht.
Unfassbar grell.
Alles überdeckend.
Engelsrein.
Es überwältigte und erschreckte mich zugleich.
Wunderschön.
Ungeschaffen.
*
Aus Angst riss ich die Augen auf.
Und wahrhaftig. Ich lehnte an der Mauer der Kapelle. Emilios und seine Lakaien waren längst an mir vorbeigelaufen, ohne mich zu bemerken. Für ein paar Augenblicke war ich aus ihrem Wahrnehmungsbereich verschwunden. So unwichtig, unnütz, unauffällig, dass sie mich nicht sahen, weil ich durch Gleichsinn und Einigkeit mit mir und meiner Umwelt unsichtbar geworden war. Nur ein kurzer Moment – der Zustand des völligen Seelenfriedens.
Und da sagte ich im Geiste, was ich mir geschworen hatte, niemals auszusprechen – ich sagte:
»Diogenis, du hattest recht.«
XII
Ich saß noch immer im Meditationssitz auf dem Lehmboden, lehnte an der Mauer und dachte über das Taborlicht nach: wie prachtvoll es war, wie ergreifend, beispiellos und wie nahe es mir ging. Da sah ich, wie Cronos und Macario mit schnellen Schritten zurückkamen. Geradewegs auf mich zu.
Ich musste es ein zweites Mal hinbekommen. Und zwar sofort.
Wieder nahm ich meinen Verstand zusammen, schloss die Augen und übte mich in Gleichsinn und Einheitlichkeit, innerer Ruhe und Synchronität. Die Stimmen kamen näher. Noch sah ich kein Licht. Aber wenn es das erste Mal funktioniert hatte, warum nicht auch diesmal? Atem, Herzschlag …
Da zupfte etwas an meinem Fuß.
Entsetzt riss ich die Augen auf.
Verflixt – Iraklis. Der kleine Kerl zog an meinem Schuh. Und ich denke, er war mächtig stolz, dass er sich an den Trick erinnerte.
»Hau ab«, zischte ich.
So wurde das nichts mit dem Gleichsinn. Der Hund brachte mich völlig aus dem Gleichgewicht.
Ich hörte Macario sprechen. Jeden Augenblick würde er mich sehen, wie ich am Boden hockte und schimpfte.
»Los jetzt«, herrschte ich Iraklis an. »Pst.«
Aber der schien meinen Befehl als Spielaufforderung zu verstehen.
Er legte beide Pfoten mit gesenktem Kopf auf meinen Schuh, streckte den Po in die Höhe, wedelte mit dem Schwanz und bellte zweimal – gleich laut, gleich lang.
Entsetzt sah ich mich um. Da waren die Brüder Cronos und Macario.
Dann spürte ich einen Schlag auf den Schädel – und es wurde dunkel …
XIII
Ich erwachte direkt in der Hölle.
Als ich zur Besinnung kam, durchflutete mich das unbarmherzige Brennen meiner Gesichtshaut. Mein Herz raste. Panik übernahm die Kontrolle über meinen Körper. Ich dachte, ich läge in einem Flammenmeer, die Haut meines Gesichtes auf glühenden Kohlen. Ich riss die Augen auf. Tränen fluteten die Sicht. Und meine Augäpfel brannten wie Feuer.
Ich lag auf dem Rücken. Reflexartig wollte ich die Arme hochreißen, aber etwas hielt meine Gelenke fest. Wild schleuderte ich den Kopf hin und her. Lichter durchdrangen den Schleiernebel vor meinen Augen. Ich knurrte wie ein in die Ecke gedrängter Wolf. Meine Muskeln wehrten sich. Auch die Fußgelenke waren festgemacht. Ich war gefesselt, wie auf einer Streckbank. Und jedwedes Strampeln, Ziehen, Reißen bewirkte nur Schmerzen an den Gelenkknochen.
»Simon«, hörte ich jemanden meinen Namen sagen. Ein Schatten verdunkelte meine Sicht. Und noch einmal: »Simon.« Nur ein Wort und doch so herablassend, niederträchtig und beherrschend, dass ich sofort wusste, wer sprach – Prior Emilios.
Dann spürte ich eine schwere Hand auf meiner Schulter und beruhigte mich etwas.
Jemand wischte über meine Augen. Ich sah ein Tuch.
»Und nun putzt er ihm die Essigmutter von den Lippen«, befahl der Prior. Essigmutter kannte ich. So nannte man die schleimige Masse, die beim Gären von Wein zu Essig entstand. Jemand tupfte das brennende Zeug mit einem Lappen weg. Ich riss den Mund auf und saugte Sauerstoff in meine Lungenflügel. Die Luft stank sauer. Unzählige Taufliegen schwirrten um meinen Kopf.
Mit der Besinnung kehrte der Schmerz zurück. Meine Gesichtshaut brannte lichterloh. Tränen spülten meine Augen.
»Was …«, japste ich.
»Erkläre es ihm«, hörte ich Emilios sagen.
»Aber … er ist doch eh bald tot«, sagte Cronos verständnislos.
Emilios’ Ton wurde scharf und strafend zugleich: »Erklär’ es!«
Cronos lächelte mich an. Ein boshaftes Lächeln.
»Du wirst sterben, Simon«, murmelte er. »Totgeätzt. Und es wird aussehen, als wäre es Aussatz.«
»Er hätte nicht nach Acrothooi gehen dürfen«, sinnierte Emilios über mich. »Dort infiziert man sich an jeder Ecke.« Er lachte laut und zufrieden. Bruder Cronos stimmte mit ein.
Jetzt erst beruhigte sich mein Verstand. Und mir kam in den Sinn, was ich gehört hatte, als ich neben der Kapelle saß.
Und dann schoss ein Gedanke wie ein Pfeil durch meinen Kopf.
»Du bist nicht Emilios«, sagte ich.
»Das kommt darauf an, von welchem Emilios er spricht«, sang er überaus selbstzufrieden. »Ist es der Emilios, Prior des Klosters Zographou, so wie du es heute kennst? Dann bin ich das sehr wohl.« Er kicherte, als hätte ihn der Wahnsinn gepackt. »Sucht er aber nach dem Emilios, der ihn lebend aus dieser Grabstätte retten würde … nun … dann ist er bei mir falsch.«
Jetzt verstand ich, was hier vorging.
Es gab keinen Aussatz in Zographou. Alles war nur ein Vorwand, um Personen ermorden und andere austauschen zu können. Der echte Prior lag vermutlich längst irgendwo in dieser elendigen Gruft. Dieser Mann, wer auch immer er war, hatte sein Gesicht mit derselben Säure entstellt, die sie mir aufgetragen hatten. Der Aussatz war eine Maske. Und seine Kumpane waren seinem Beispiel gefolgt.
Der arme Diogenis. Mein Auftrag war ein Mordauftrag. Diogenis war der einzige Mensch gewesen, der jemals die Intrige hätte aufdecken können. Er würde von einer höheren Macht beschützt, hieß es. Und er könne den Aussatz heilen. Hätten sie Diogenis – den einzigen Menschen, der vom Aussatz verschont blieb – in Acrothooi auf offener Straße beseitigt, dann hätte das großes Aufsehen erregt. Vielleicht hätte es sogar einen Aufstand provoziert? Zumal Iassonas Skelettkopf der Verwaltung durch das Kloster Zographou extrem negativ gegenüberstand. Es musste wie ein Unfall aussehen. Beim Angriff von Straßenräubern zufällig getötet. Und ich lockte ihn in die Falle.
Und das nächste Opfer war ich.
Deshalb brannten meine Backen, mein Kinn, meine Stirn, meine Ohren. Sie hatten pure Säureessenz aufgebracht. Wollten mich entstellen, wie sie es bei sich selbst getan hatten. Und dann sollte ich dahinsterben. Totgeätzt.
»Siehst du ihn?« Der vermeintliche Bruder Cronos zeigte auf eine zweite Holzbare, gleich neben mir. Ich erschrak. Aus tiefen Augenhöhlen glotzte mich ein lebloses Fleischgesicht an und grinste schmerzverzerrt, weil es nicht anders konnte.
»Bruder Bas«, sagte er. Vor Schreck blieb mir die Luft weg. Tausende dieser winzigen Fruchtfliegen saßen auf seinem Kopf. »Das ist dein Schicksal«, erklärte er und hörte sich dabei überglücklich an.
»Genug«, befahl Emilios. »Er langweilt mich. Mache er ihm die Essigmutter wieder drauf.«
»Was … nein«, rief ich.
Und schon klatschte mir Cronos das rotzige, brennende Zeug auf Augen und Mund. Vor Schmerz blieb mir die Luft weg.
In diesem Augenblick wusste ich, sie hatten gewonnen. Ich brüllte vor Entsetzen, bis das Feuer mein Bewusstsein umhüllte …
XIV
Wieder übernahmen Grauen und Panik die Kontrolle über mein Dasein. Ich wand mich, zog und zerrte. Das Flammenmeer in meinem Gesicht war kaum auszuhalten. Ich brüllte mit zusammengepressten Lippen. Trotzdem drang der beißendsaure Geschmack in meinen Mund. Und ich hatte das Gefühl, als löste sich die Haut von meiner Zunge.
Dann hörte ich, wie die Stimmen verschwanden. Sie ließen mich hier einfach liegen. Wie einen mit Taufliegen gewürzten Fleischbrocken.
Ich musste meinen Verstand zusammenhalten. Den Schmerz verdrängen. Sonst würde ich wahnsinnig werden.
Ich konzentrierte mich auf mein Herz. Es raste, es pochte, es hämmerte. Und ich atmete durch die Nase, schnappte unregelmäßig nach dieser sauren, atemraubenden Luft.
Ich versuchte, Ruhe zu bewahren. Meinen panischen Schweinehund in eine Ecke zu drängen. Und ich fokussierte die Situation und mein Umfeld.
Da hörte ich, dass da noch jemand war. Etwas. Ein Tier. Es jammerte leise vor sich hin. Ein verzweifeltes Winseln. Iraklis – Ira, dachte ich. Ich war doch nicht allein. Der Gedanke tat gut.
Wenn sich das Zeug in meinen Schädel fraß, würde ich sterben, ja. Aber was war dann? Würden sie mich losschneiden? Präsentieren? Seht her! Der Aussatz hat ein weiteres Opfer gefordert. Und nur die von Gott berufenen Emilios, Macario und Cronos bleiben vom Tod verschont. Ein Wunder! Sie wären die Heilsbringer.
Würden sie meinen Körper in der Gruft einlagern? Die Genesung würde ein paar Tage dauern. Nach und nach würde die Jugend in meine Venen fließen. Die Zellen würden sich erneuern, die Wunden heilen und zu guter Letzt würde ich erwachen – hoffentlich allein und an einem Ort mit Fluchtmöglichkeit. Ich wollte mir nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn ich unversehrt innerhalb der Klostermauern erwischt wurde.
Iras kalte Nase stupste mich an. Ich hörte sie schnaufen. Und wieder winselte sie. Sie war wohl hochgesprungen. Ihre Pfoten berührten meine Oberschenkel. Schließlich stieß die Hundenase gegen meinen Fuß.
In diesem Augenblick wusste ich, was zu tun war. Und vielleicht hatte der schlaue kleine Hund zur gleichen Zeit dieselbe Idee.
Ich wackelte mit dem rechten Fuß, um Iras Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Dann öffnete ich die Lippen, nur ganz kurz und nur um ein einziges Wort auszusprechen: »Zieh.«
Auf einmal tippelten ihre Pfötchen aufgeregt auf mir herum. Ich spürte ihr Maul an meinem Schuh. Und mit einem kräftigen Hunderuck fühlte ich einen kühlen Luftzug am Fuß. Das Tier hatte mir den Schuh vom Fuß gezogen. Sie beherrschte das Kunststück noch immer. Am liebsten hätte ich ihr zugejubelt: Bravo Ira, weiter so.
Nur bis dahin half mir das Ganze nicht aus der misslichen Lage. Jetzt wurde es kompliziert.
Wieder wackelte ich den Fuß hin und her. Und erneut öffnete ich den Mund, so kurz, dass ich das Kommando geben konnte, ohne allzu viele Fliegen zu schlucken. »Zieh.«
Nun war’s an der Hündin, mich zu retten.
Nichts passierte.
Offenbar wusste sie nicht, was ich von ihr wollte. Meine Augen waren zu. Vielleicht hatte sie den Schuh im Maul? Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass sie immer noch auf mir herumtrat, vorsichtig und unsicher.
Ich musste das Kommando wiederholen. Ich öffnete die Lippen. Das schleimige Zeug rann in meinen Rachen. Es brannte entsetzlich. Am liebsten hätte ich den Mund sofort geschlossen. Aber ich wollte ihr einen verständlichen Befehl geben, sodass sie, ohne darüber nachzudenken, begriff, was zu tun war. Ein paar Fruchtfliegen kitzelten über meine Zunge. Und dann rief ich klar und deutlich: »Iraklis, zieh!«
Jetzt spürte ich, wie die Aufregung den Körper des Tieres packte. Die Pfötchen tapsten unkontrolliert auf mir herum. Und ich wackelte mit dem nackten Fuß, um ihr zu zeigen: Da geht’s lang.
Zunächst passierte nichts. Ich dachte schon, das war’s gewesen. Ende mit den Tricks. Doch dann spürte ich das angenehme Gefühl, wie sich das Seil vom Fußknöchel löste. Offenbar hatte meine Retterin das Fesselseil gleich an der richtigen Stelle erwischt. Der erste Fuß war frei. Und ich beschloss, der kleinen Hundedame den größten Fleischbrocken zu geben, den ich finden konnte – sobald das alles überstanden war.
Als Nächstes war das zweite Bein dran. Da hörte ich die Stimmen von Emilios und Cronos. Sie unterhielten sich. Und sie kamen näher. Jetzt musste es schnell gehen.
»Iraklis, zieh!«, rief ich. Diesmal huschten eine ganze Handvoll dieser kleinen Biester in meine Kehle. Ich keuchte die Mistdinger aus meinem Rachen.
Mein linker Fuß wurde kalt. Dann legte mir die Hündin den Schuh auf den Mund, als wolle sie mir damit zu Hilfe kommen.
»Zieh, Iraklis, zieh!«, hustete ich in den Füßling.
Die Pfötchen tippelten über meine Brust, meine Schenkel zu meinen Füßen hinab. Und wieder wackelte ich mit dem Fuß.
Kurz darauf war auch dieses Bein frei.
Der falsche Emilios hielt einen Monolog. Sie waren schon ganz nah.
»Iraklis, zieh!«, befahl ich und schüttelte die rechte Hand.
Der Hund regte sich nicht. Vielleicht dachte er, was will der nur? Beide Schuhe sind ausgezogen.
»He, Iraklis«, rief ich und keuchte noch ein paar Fliegen aus. »Schau hier!« Wie wild winkte ich mit den Fingern.
Vor der Tür zur Gruft blieben die unechten Mönche stehen. Emilios sagte etwas von dem neuen Bruder Bas und dass sie den Körper loswerden mussten.
»Iraklis, zieh … bitte«, flehte ich.
Endlich hatte sie es verstanden. Sie zerrte und zog an dem Seil, das mein Handgelenk festhielt. Aber es saß fest.
»So«, sagte der unechte Emilios. »Dann lass uns sehen, wie weit Simon ist.«
»Zieh, Iraklis, zieh!«, feuerte ich den Hund an, so laut ich konnte. Die Hündin mühte sich ab. Bloß der Knoten wollte nicht nachgeben.
»Was ist da los?«, rief Emilios, als er eintrat.
Im selben Augenblick lockerte sich die Handgelenksschlaufe. Und mit einem Ruck zog ich die Hand heraus.
Der falsche Cronos stürmte auf mich zu. Mit beiden Beinen stieß ich ihn weg. Ich langte nach meiner linken Hand. Ira kam mir zu Hilfe. Gemeinsam zerrten wir an dem Seil. Schlagartig löste sich der Knoten. Ich war frei.
»Dir werd ich’s zeigen«, knurrte Cronos und sah mich mit finsteren, zusammengekniffenen Augen an.
Er zog ein Messer aus dem Stoff, die Schneide blitzte gefährlich im Kerzenschein. Und er kam auf mich zu …
XV
Cronos stach zu. Ich tat einen Satz zurück und zog den Bauch weg. Die Metallspitze stoppte kurz vor meinen Eingeweiden. Um ein Haar hätte sie meine Haut geritzt. Mit einem ungeübten Faustschlag schleuderte ich das Messer aus seiner Hand. Es flog durch die Luft.
»Du Drecksack, dich mach ich fertig«, schrie Cronos. Irgendwo hörte ich die Waffe klirren.
Von unten holte er zum Schlag aus. Mit der Elle blockte ich ab. Schmerz schoss in meinen Arm. Dann trat ich meinen Fuß in seinen Magen. Abermals krachte er mit dem Rücken an die Wand.
Endlich war Zeit, mir das schleimige Zeug aus den Augen zu wischen. Zwar brannte es, aber von nun an sah ich klar.
Keine Sekunde zu früh. Die Klinge zischte von oben herab, ich zog den Kopf weg. Sie durchschnitt die Luft haarscharf vor meiner Nase.
Vater Emilios.
Er hatte sich das Messer gekrallt. Jetzt brüllte er wie ein wildes Tier und hechtete auf mich zu, die Schneide voran.
Ira bellte und hüpfte aufgeregt zwischen unseren Beinen herum. Ich sprang in eine Drehung, meine Mönchskleidung flatterte, schlug ihn mit dem Fuß weg und packte seinen Arm.
Von der anderen Seite kam Cronos angestürmt.
Ich schob Emilios’ bewaffneten Arm in seine Richtung, erwischte ihn unvorbereitet und presste ihm die Klinge in den Magen. Cronos gluckste und gurgelte. Dann drehte ich Emilios’ Faust und zog die Waffe aus dem Bauch. Der falsche Cronos sah mich verdutzt an. Seine Fratze verzog sich zu einer schmerzverzerrten Maske. Dann brach er zusammen.
*
»Was hast du getan?«, brüllte der Prior, wie ein wütender Vater, der über seinen Sohn herfällt. Als wollte er mir Cronos’ Tod zum Vorwurf machen.
»Komm her«, rief ich. »Dann zeig’ ich’s dir.«
Für eine Sekunde dachte ich, er hätte Angst. Mann gegen Mann. Er betrachtete die blutige Waffe in seiner Faust. Aber nun überdeckte pure Wut seine Gefühle. Und ich wusste, er würde erst zur Ruhe kommen, wenn ich tot war. Oder er.
Doch dann erschien Macario an der Tür. In der Hand blitzte ein Messer. Er sah den am Boden liegenden Leichnam.
Emilios grinste verzückt.
»Lass es uns erledigen«, sagte er schelmisch.
Macario nickte.
Sie flankierten mich, Emilios links, Macario rechts, die Klingen auf mich gerichtet. Ira stellte sich mir zur Seite, knurrte, zog die Lefzen hoch und zeigte die Zähne.
Zeitgleich stachen sie zu. Ich sprang zur Seite. Es funktionierte. Ich wich den Messern aus. Zumindest glaubte ich das. Ich lächelte atemlos, aber zufrieden.
Dann spürte ich den Schmerz. Ein Stechen biss in meine Körperseite. Und mein Rumpf drohte umzukippen. Ich sah an mir herab. Macario hatte mich erwischt. Das Blut pumpte über meine Hüfte in einem Rinnsal hinab.
Schon im nächsten Augenblick wurde mir schwarz vor Augen. Übelkeit überkam mich. Ich schnappte nach Luft, kämpfte gegen die drohende Bewusstlosigkeit an. Ira bellte aufgeregt.
»Wir haben ihn«, hörte ich den unechten Prior sagen. Seine Worte klangen wie das unanfechtbare Urteil eines Richters. »Gut gemacht.«
Ich wollte sie erledigen. Ihnen die Waffen entreißen und sie beide damit niederschlachten, aus Rache für den armen Diogenis und meinen Zozo. Doch mein Körper war am Ende. Ich konnte froh sein, wenn ich nicht auf der Stelle vor ihren Füßen zusammenbrach.
Dann sagte der falsche Emilios selbstgefällig: »Den letzten Stoß mache ich.« Und er genoss es, auf mich zuzugehen, das Messer vorgestreckt.
Ich wankte hin und her, als stände ich auf einem gefüllten Wassersack. Und im Geiste hörte ich Diogenis sprechen:
Vier Säfte bestimmen die Gesundheit: die gelbe und die schwarze Galle, Blut und Schleim. Sie stehen für Feuer, Erde, Luft und Wasser. Die Elemente des Lebens. Die Körpersäfte müssen stets ausgewogen sein. Im Gleichsinn. Herrscht ein Ungleichgewicht, belastet es auf Dauer den Organismus – wie der fehlende Apfel in Zozos Korb. Erinnerst du dich? Und dann wird der Mensch krank.
Schließlich war es mir gleich, was sie sagten und was sie taten. Ich tat, als wären sie nicht da. Mit den letzten Kräften und einem tiefen Atemzug ließ ich mich in den Schneidersitz fallen. Dann schloss ich die Augen und legte die Hände mit den Handflächen nach oben auf meinen Schenkeln ab.
Ira winselte.
»Schau. Er betet«, spottete Emilios.
Ich bekam es nur noch am Rande mit.
Denn ich konzentrierte mich auf die Intensität und den Rhythmus meines Atems. Ich gab mir Mühe, mich zu beruhigen. Meinen Blutfluss auf ein normales Tempo zu regulieren. Und ich atmete ruhig, im Gleichsinn und mit meinem Herzschlag in totaler Synchronität.
Macario sagte irgendetwas. Es schien, als tropften die Worte aus einer anderen Dimension zu mir herüber. Wie erfrischende Regentropfen an einem strahlenden Sommertag. Wohltuend. Und als ich im Geiste in die Sonne sah, erblickte ich das Taborlicht. Ungeschaffen. Nicht von Gott gemacht.
Es trug eine überwältigende Sehnsucht nach Liebe und friedvolle Gleichgültigkeit in mein Herz. Das Gefühl schwappte wie eine Welle über meinen Körper und über mein Bewusstsein, bis mein Ich ganzheitlich vom Licht umgeben war.
»Wo ist er hin? Verflucht. Wo ist er?«, hörte ich jemanden brüllen.
»Ich weiß es nicht, Vater.«
»Du hast ihn entkommen lassen. Sag, dass du es warst.« Trotz des trüben Dimensionsvorhangs klang Emilios’ Stimme entfesselt, wie das Geschrei eines Wahnsinnigen. »Sag mir, wo er ist. Oder ich steche dich an seiner Stelle nieder.«
Für ihre Augen war ich unsichtbar. Im Geiste formte ich Worte, die ich niemals hatte sagen wollen: Danke, Diogenis.
Jetzt war der richtige Moment. Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen, sprang auf die Beine, entriss Macario das Messer und stach auf Emilios ein.
Erde – ein Stich in die Milz, um den Fluss der Schwarzgalle zu stoppen.
Feuer – einer dahin, wo die Leber sitzt, zum Ausklang der gelben Galle.
Luft – ein entschiedener Hieb ins Herz, um den Blutfluss zu beenden.
Und Wasser – zuletzt, mit voller Wucht, die Schneide in die Stirn. Ich ließ das Messer dort stecken, zum Ende des Weißschleims.
Der falsche Prior fiel zusammen, die Säfte flossen aus seinem Körper. Und ich hatte den Eindruck, als löste sich sein Leichnam vollständig in die vier Körpersäfte auf und zerging in einer stinkenden Lache.
Ich hatte es geschafft. Emilios war tot.
Bruder Macario sah mich mit großen aber ängstlichen Augen an, als wäre er einem Geist begegnet. Und in gewisser Weise war das auch so.
Ich hatte meine Kräfte verbraucht. Es kam mir vor wie ein Tod – selbst wenn es keiner war. Ich fasste an mein Gesicht, spürte offenes Fleisch, die Wunden brannten. Und schließlich brach ich zusammen, fiel auf die Knie und klatschte zu Boden. Das war mein letzter Atemzug als Fratze von Athos.
XVI
»Noch nie habe ich Wunden so schnell heilen gesehen«, sagte Bruder Joris, dessen Zimmer ich während meiner Genesung mit ihm teilen durfte. Nur Wasser, erzählte er, hatte er verwendet, um meine Haut zu reinigen. Und meine Lippen hatte er damit benetzt. Schon nach wenigen Tagen war ich wieder auf dem Damm, als wäre ich niemals so grauenvoll entstellt gewesen.
Ich dachte viel darüber nach, aus welchem Grund der falsche Prior diese Intrige eingefädelt hatte. Und ich komme zu dem Schluss, dass es der Versuch dunkler Mächte gewesen sein musste, sich in eine der heiligsten Stätten der orthodoxen Kirche einzuschleichen. Die Kirche zu untergraben. Wieder einmal hatte mich das Schicksal auf magische Weise zur richtigen Zeit an den Ort des Geschehens gebracht. Und so fühlte ich mich als Waffe des Guten und fragte mich: Lenkt es mich durch die Weltgeschichte?
Auf Athos wird wenig geredet. Und schon gar nicht macht man sich Gedanken über die Ursachen von Gut und Böse oder das Schicksal. Man akzeptiert, was der Tag bringt und lebt in ihn hinein. Und so sah ich zwar den Dank über die Befreiung in den Gesichtern meiner Mönchsbrüder, aber niemand sprach darüber.
Jedes Ende ist ein neuer Anfang. Vor allem für mich.
Und auch wenn ich diesmal nicht hätte flüchten müssen, hielt ich es nicht länger bei den Ordensbrüdern aus. Ich empfand eine Welt, die ausschließlich von religiösen Männern bewohnt wurde, als sinnlose Zumutung. Ich hatte das starke Bedürfnis ausgelassen zu feiern, das Leben zu genießen und nicht schon zu Lebzeiten als bärtiger Leichnam durch die Zeitgeschichte zu trauern. Kurz darauf verließ ich den Heiligen Berg in Richtung Athen.
Aber ich hatte in meiner Zeit auf Athos auch ein paar Dinge gelernt. Sprachen natürlich. Und dass es falsch ist, Menschen mit andersartigen Vorstellungen voreilig abzuurteilen. Heute noch schmerzt mir das Herz, wenn ich an Diogenis mit all seinen Verrücktheiten von Gleichsinn und Synchronität denke. So albern es mir anfangs erschien – am Ende hatte er Recht behalten. Und nur das zählt.
Ich hörte von einem neuen Prior, der sich für den Aufbau des Klosters Zographou stark machte. Und irgendwann meinte ich, in diesem Zusammenhang den Namen Macario gehört zu haben. Nähere Informationen bekam ich nicht. Die Zeit dort steht still. Bis in unsere Tage schotten sich die Menschen auf dem Klosterberg Athos von der Außenwelt ab. Und noch immer hausen eremitische Mönche in schwer zugänglichen Hütten, die über dem Meer in die Berghänge gebaut wurden. Womöglich ist auch Diogenis’ Wohnstätte wieder mit Leben erfüllt?
Ira war mir geblieben. Sie war von da an mein treuer Begleiter gewesen, viele Jahre lang. Und wenn ich mich an sie zurückerinnere, liegt mir ihr Bellen in den Ohren – gleich laut, gleich lang. Eines Nachts war sie Diogenis ins Taborlicht gefolgt. Wer einmal eine Hundeseele zum Freund hatte, der weiß, wie schlimm es ist, sie zu verlieren. Als ob dem eigenen Körper ein Stück entrissen wird. Und es schmerzt ebenso.
Eine Sache blieb mir bis heute: Muss ich Stufen überwinden, lange Strecken wandern, etwas Schweres tragen oder eine stumpfsinnige Aufgabe tausend Male wiederholen, dann erinnere ich mich an den guten alten Stinker Diogenis und achte darauf, es mit Gleichsinn und Synchronität anzupacken. Und dann denke ich an meine Zeit zurück bei den Mönchen vom heiligen Berg.