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Der Klingeljunge

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Der Hof eng, düster. Kaum ein Stück Himmel sah herein, und auch das angegraut vom Rauch der Schornsteine. Das Pflaster unten war stets feucht; die spitzen Steine schwitzten eine klebrige, modrige Nässe aus, nie wurden sie von der Sonne getrocknet. Die glitt nur im Sommer um die Mittagszeit bis zur Hälfte der dunklen Mauer des einen turmhohen Seitenflügels.

Drinnen in der Kellerwohnung war es immer halb Nacht. Tappte man die fünf nasskalten Stufen herunter, so stiess man die Nase an die schmale Eingangstür; strengte man die Augen recht an, konnte man auf einem angenagelten Stückchen Pappe lesen:

Stibike, Schuhmachermeister.

Es war später Mittag. Die kleinen Leute auf dem Hof hatten alle gegessen, sämtliche Fenster der beiden Seitenflügel standen offen; man hörte Tellergeklapper und Kindergequarr, Gerüche von Kohlrüben, Knoblauchwurst und gebratener Zwiebel wehten aus und ein.

Jetzt stimmte eine schrille Weiberstimme in den höchsten Tönen irgendeinen abgelebten Gassenhauer an; es kam was drin vor von Sommer und Liebe und Seligkeit. Die Weiberstimme gellte, sie tat sich ein ordentliches Genüge, dazwischen brüllte ein Kind auf, und Geschirr rasselte zur Erde.

„Nanu, Sie olle Zeterliese, halten Se man jefälligst de Schnauze! Wenn jeder hier nu so jröhlen wollte — is det en verfluchter Radau!“ Eine grobe Stimme schrie über den Hof; ein Fenster wurde krachend zugeworfen, der Gesang verstummte.

Nun war alles still. Bis zur Hälfte der hohen Seitenwand fingerten Sonnenstrahlen auf und nieder, reckten sich ein Stückchen weiter empor und zogen sich wieder scheu zurück. Draussen auf der Strasse sollte Sommer sein, heisser sogar, Bäume sollten mit vollem grünen Laub rauschen; hier grünte kein Hälmchen. Nur eine verbrauchte, dicke Luft machte einen schwitzen, und dabei fröstelte es einen doch über den Rücken.

Die kleinen Leute auf dem Hof hielten alle einen kurzen Mittagsschlaf — eins, halb zwei, zwei ist die richtige Stunde dafür — da, halt! Ein Fenster öffnete sich noch, und jemand schleuderte etwas aufs Pflaster. Ein Knochen war’s. Da lag er, das beschattete Licht blinzelte drüber hin.

Die Hundeaugen, die dort mit glühendem Funkeln von der morschen Hundehütte aus jenem dunkelsten Winkel spähen, wurden grösser und grösser vor Gier. Geräuschlos, Pfote vor Pfote setzend, schlich das Tier zur Hütte heraus; der magere Leib streckte sich ganz lang, er wand sich förmlich über die Steine, der Hals zerrte sich, die Zunge lechzte — vergeblich, die Kette war zu kurz, der Knochen nicht zu erreichen! Mit einem kläglichen Winseln gab der Hund seine Anstrengungen auf.

Nun lag er platt vor der Hütte, den struppigen Kopf auf die Pfoten gedrückt, die Augen halb geschlossen und doch wachsam nach allen Seiten schielend. Die Fliegen surrten ihm um das zottige Fell, sie setzten sich auf das klebrige Nass, das ihm gleich zähen Tränen aus den Augen lief; mit dumpfem Knurren richtete er sich halb auf und schlug mit dem Schwanz die hohlen Flanken.

Der Knochen, der Knochen — wie er da mitten auf dem Pflaster lag! Die Fliegen schwirrten jetzt hinüber und setzten sich darauf. Ein wehmütiges Licht glomm in den sprechenden Hundeaugen auf; noch ein letzter Blick, dann stiess die plumpe Schnauze an den Trinknapf — der alte Scherben leer, nicht einmal Wasser!

Mit hängender Zunge legte sich das Tier wieder nieder; noch ein Schnuppern nach rechts und links, dann schien es zu schlafen.

Da, horch! Klappen der Hoftür, schleichende Tritte auf dem Pflaster!

Mit leisem Gewinsel sprang der Hund auf, und nun umschlangen ihn schon zwei Arme, eine Kindergestalt kauerte sich neben ihn auf den Boden: „Na, Pluto, mein Hundeken!“

Es war eine überaus zärtliche Begrüssung. Der Hund machte einen täppischen Sprung und stiess den dicken Kopf gegen die schmale Brust des Knaben, leckte ihm die Hände, das Gesicht; und dieser liess sich’s gefallen mit einer müden, traurigen Freude.

„Pluto, mein Hundeken, keen Wasser? Na, warte man!“

Der Junge erhob sich von den Knien und füllte den halbzerbrochenen irdenen Napf am Brunnen; dann, als ob er die Hundegedanken erriete, brachte er den Knochen herbei und sah ernsthaft zu, wie die starken Zähne des Tieres den zermalmten.

Mit wehmütigem Lächeln zeigte er nun die leeren Hände: „Nischt mehr, Pluto, reeneweg nischt mehr! Aber warte man, hab’ man Jeduld, wenn ik Jelder habe, denn sollste dir wundern, mein Hundeken, denn spendiere ik wat! Denn kriegste die dicke Leberwurscht, die drüben bein’. Schlächter hängt! Du kannst dir druf verlassen.“

Hans Stibike hatte gut versprechen, — wo sollte er wohl das Geld herbekommen, das die dicke Leberwurst drüben beim Schlächter kostete?! Einstweilen hatte er nichts für den Freund, als jeden Morgen und jeden Abend die Hälfte seiner Stulle, ab und zu ein paar abgenagte Knochen, und all die Liebe, die sein junges Herz empfand.

Hans Stibike war Klingeljunge in der grossen Molkerei draussen im Norden.

Der Mond stand oftmals noch blass am Himmel, wenn der Klingeljunge den elterlichen Hof verliess; seine magere, kleine Gestalt drückte sich durch die noch menschenleeren Strassen. Im Winter war es eisigkalt, trotz der Fäustlinge und des Shawls um die Ohren; im Sommer schlich er in der glühenden Mittagshitze heim, matt wie eine Fliege. Er war im Wachstum zurück, seine zwölf Jahre sah ihm keiner an: matte Augen, platte Nase, wachsbleiche Ohren; die niedrige Stirn zeigte schon fest eingegrabene Falten, und der Rücken hatte die Neigung, sich zu krümmen.

Wie er jetzt dem Hund einen letzten liebevollen Abschiedsklaps gab und mit schiefgetretenen Absätzen übers spitzige Pflaster der Kellerwohnung zuschlorrte, schien alles Licht von seiner Gestalt zurückzuweichen. Am Eingang des Seitenflügels stand er noch einmal still, zog die Mütze vom fahlblonden, verklebten Haar und warf einen stumpf-gleichgültigen Blick aufwärts zu dem Stückchen Himmel; nur aus Gewohnheit, im Grunde war es ja so gleich, ob es regnete oder die Sonne schien.

Langsam schlich er die Kellerstufen hinunter — da war die Tür mit dem Pappstück:

Stibike, Schuhmachermeister.

Drinnen erklang halblautes Gejohle, dann gähnte jemand unflätig. Es zog wie Angst über das Gesicht des Knaben — der Vater war zu Haus!

Zögernd stand Hans; endlich drückte er vorsichtig die Klinke nieder.

„Holla! Na, Mosjö, lässt de dir ooch mal wieder sehn? Na, Zeit is’t. Wo haste de dir denn so lange ’rumjedreht, Bummelfritze — wat? Da — du kommst mir jrade a propo — lauf man, hier haste de Pulle, un hole bei Kuleken ’nen Kümmel! Jeld — was, Jeld?! Nanu, mach’ nich so en schafsdämliches Jesichte, Bengel! Sag: morjen de Berappungsarie. Na, dali, dali!“

„Vater, er jiebt et nich ohne Bezahlung, jestern hat er mich de Flasche beinah an ’n Kopp jeschmissen. Ik trau mir nich“, sagte der Knabe kläglich.

„Schweinebande!“ Der grosse Mann, der auf dem Sofa lag, die starken Beine über die Seitenlehne hängend, das Hemd auf der haarigen Brust geöffnet, erhob sich halb und spuckte auf die Diele: „Schweinebande! ’nen ehrlichen Mann en Kümmel vorzuenthalten, bloss weil — nanu, verdammter Bengel, wat stehste noch un stierst mir an? Soll ick dir Beene machen? Marsch, Kümmel jeholt — eins, zwei, drei!“

„Stibike!“ Vom Herd in der Ecke kam die Mutter näher, ein Kind an der Brust, das andere, kaum ein Jahr ältere, am Rock. Sie stellte sich zwischen ihren Mann und den Knaben. „Lass ihm man, Stibike“, begütigte sie. „Lass ihm man erst en Bissen essen, denn kriegt er wieder mehr Kourasche! Nich wahr, Hanseken, denn holste ooch Vatern ’nen Kümmel?“

Der Knabe senkte den Kopf auf die Brust. „Ik trau mir nich, er haut mir“, murmelte er. „Un wenn Vater besoffen is, haut er mir ooch. Ik jehe nich nach ’n Kümmel, ik will nich jehn!“

„Pst, stille um Iotteswillen!“ Die Mutter legte ihm erschrocken die Hand auf den Mund und flüsterte: „Wenn Vater dir hört! Sei ’n juter Sohn, jeh nacher schonst, sonst jiebt et Mordskrach. Vater haut mir un haut dir!“

„Un so haut er mir alleene, meenste? Ne, Mutter, du kriegst ooch dein Teil!“ Der Junge sah ihr altklug ins Gesicht. „Entweder er knutscht dir erst ab, un denn haut er dir, oder er haut dir erst, un denn knutscht er dir ab. Det is immer so!“

Die Mutter seufzte, ein Zittern überflog ihren welken Körper und ein fahles Rot ihre abgehärmten Wangen.

Der Mann auf dem Sofa schlug derb mit der Faust auf den Tisch: „Nanu, wird’t bald? Wat jiebt et da zu tuscheln? Maul jehalten — Pulle her — Kümmel jeholt! Kannst nachher futtern, du Fresssack! Vorwärts, marsch!“ Er setzte einen der mächtigen Füsse zur Erde und stampfte kräftig auf: „Los!“ Er machte Miene aufzustehen.

Da griff der Junge nach der Flasche und drückte sich schleunigst zur Tür hinaus; das dröhnende Lachen des Vaters schallte hinter ihm drein.

Unter den Klingeljungen war grosse Aufregung; einer von ihnen hatte gestohlen, wie ein Lauffeuer hatte sich’s verbreitet.

Da ging er! Im blauen Kittel, die grünumrandete Mütze tief ins Gesicht gedrückt, schlich er eben aus der Bureautür. Sie hatten ihn drinnen vorgehabt.

In Gruppen standen die anderen Knaben und schauten ihm nach. Wer hätte das gedacht, der Hans Stibike, der nicht drei zählen konnte! Der sich nie zankte und davonschlich, sobald sich zwei prügelten! Fünfzig Pfennig hatte der gestohlen! Und so einfältig hatte er’s angefangen; der Kutscher, dem er das Geld, das er beim Abliefern der Milch in der Küche erhalten hatte, einhändigte, hatte es gleich gemerkt. Na, so dumm! —

Es war so, Hans Stibike war der Dieb. Geleugnet hatte er auch gar nicht. Bleich, mit tiefgesenktem Kopfe hatte er die Ohrfeigen des Kutschers über sich ergehen lassen, und als dieser ihn beim Inspektor anzeigte, stand er wieder da, blass bis in die Lippen, mit niedergeschlagenen Augen. Man hatte ihm die Kleider visitiert.

„Wo hast du die fünfzig Pfennig?“

Keine Antwort.

„Junge, wozu hast du denn die fünfzig Pfennig genommen? Hattest du Hunger, oder hast du sie vernascht?“

Wieder keine Antwort.

„Stibike, Antwort! Wo hast du die fünfzig Pfennig?“ Die kräftige Hand des Vorgesetzten legte sich schwer auf seine Schulter. „Weisst du nicht, dass Stehlen ’ne Sünde ist? Und du hast gestohlen! Pfui, schäme dich!“ Der Inspektor schob die Brille hinauf zur Stirn und sah unter den buschigen Augenbrauen den Sünder scharf an. „Weisst du, dass ich dich eigentlich wegjagen sollte, auf der Stelle? Diebe können wir hier nicht gebrauchen. Was — was sagst du?“

Ein Zittern überlief die magern Glieder des Knaben, er hob flehend die Hände und brach in krampfhaftes Schluchzen aus: „Jagen Se mir nich fort, Herr Inspekter! O Herr Inspekter!“ Die Zähne schlugen ihm aufeinander, während Tränen stromweis über seine Backen liefen. „Herr Inspekter, jagen Se mir nich fort, er haut mir tot — er — er — Herr Inspekter, ich tu’s nie mehr wieder, nie mehr wieder — jagen Se mir nur nich — Herr — Herr In — spek — ter!“

„Wozu hast du das Geld genommen?“

Hans stand wieder unbeweglich, mit eingeknickten Knien, die Lippen aufeinandergepresst.

„Ein ganz verstockter Bengel“, sagte der Inspektor zu einem der Umstehenden und zuckte die Achseln — und dann in barschem Ton: „Stibike, du kannst jetzt nach Hause gehen, dein Vater soll heut nachmittag mal herkommen, ich will mit ihm sprechen. So lass doch das Heulen! Ja, das hilft nu mal nichts! Voran, mach, dass du nach Haus kommst!“

Wie ein Schatten schlich der Knabe durch die Strassen. Die Sonne schien heiss und prallte auf den Asphalt, aber er merkte es nicht, ein eisiges Frösteln lief ihm über den Rücken. Je näher er der elterlichen Wohnung kam, desto langsamer wurde sein Schritt. Zuletzt kroch er fast. An jedem Schaufenster blieb er stehn. Nun lehnte er sich schwer gegen die Messingstange des Schlächterladens.

Hier, hier war’s gewesen! Gestern! — — — —

Wie heute, hatte er hier gelehnt und mit gierigen Augen die Leberwurst betrachtet, die im Fettdarm dort im Schaufenster baumelte. Nicht für sich wollte er die haben, obgleich ihm das Wasser im Munde zusammenlief, nein, für Pluto, der, geplagt von Fliegen und Ungeziefer, im Hofwinkel lag, die Zunge lang heraushängend, hungrig und durstig. Wer sollte ihn auch füttern? Sein Herr, der Lumpensammler Lehmann, dessen Karren er tagaus tagein durch die Strassen zog, war ein geiziger Mann, der sich selbst kaum was gönnte, geschweige denn seinem Hund. Und Hans Stibike hatte nicht viel, sein schmales Frühstücksbrot war ein einziger Happen für Plutos grosses Maul.

Da war Herr Lehmann mit seinem Karren die Strasse entlanggekommen. Vollgepackte Säcke waren hoch aufgetürmt, der Mann schlenderte hinterdrein. Der Hund konnte nicht weiter — die Strasse stieg hier etwas — er hielt an, blieb stehen.

„Wirste jehn, faule Kröte!“

Das Tier zog an, zerrte die magern Lenden zum Reissen, seine Hinterbeine stemmten sich — vergebens, die Karre rückte nicht.

„Willste ziehen, olles Biest!“ Der Herr gab dem Hunde einen Tritt in die Seite und stiess einen Fluch aus.

Pluto zuckte, er raffte alle Kräfte zusammen, er zog an, sein Hinterteil schleifte fast über die Erde — jetzt, die Karre rollte ein paar Schritt und jetzt — jetzt stand sie wieder. Keuchend, mit zitternden Flanken legte sich das Tier nieder.

„Vermaledeites —!“ Schäumend vor Wut hob der Mann den Stiefelabsatz, rechts, links stiess er gegen den Kopf des Tieres, ein leises Wehgeheul durchzitterte die Luft — da — ein Schrei antwortete.

Hans Stibike war blitzgeschwind vom Schaufenster aufgesprungen und hatte sich zwischen Herrn und Hund gedrängt, seine schwachen Hände hatten den Rock des Mannes gepackt: „Nich treten, Herr Lehmann! Iotte doch, Herr Lehmann, tun Se Pluton nischt!“

Die Hand des Lumpensammlers war dem Jungen derb um die Ohren geflogen: „Dummer Bengel, kümmre dir um deine Sachen!“ Noch ein Tritt, der Hund erhob sich schwankend, er zog an, langsam langsam wankte der Karren von dannen.

Mit brennenden Augen, in der Brust einen stechenden Schmerz, hatte der Knabe nachgestarrt, und dann war er zum Fenster des Schlächterladens zurückgeschlichen und hatte unverwandt die Wurst betrachtet. Sie tanzte vor seinen Augen, sie winkte, sie nickte, sie schaukelte hin und her. Wenn Pluto, der arme Pluto, die Wurst hätte! — — — — —

Und heute hatte Hans Stibike gestohlen. Die andern Jungen wiesen mit Fingern auf ihn, die Spatzen von den Dächern pfiffen’s: ‚Dieb, Dieb!‘ Der Inspektor würde es dem Vater sagen! Aber doch glomm ein triumphierendes Licht in den verweinten Augen des Knaben auf. Er sah sich scheu um, und dann fuhr er in den Mund und holte unter der Zunge ein Fünfzigpfennigstück hervor. Krampfhaft presste er’s in der Hand, dann huschte er in den Laden und kam nach wenig Augenblicken wieder heraus, ein Paketchen vorn im Kittel. Wie gejagt stürmte er fort.

Nun war er im Hof; mittäglich still, eng und düster war der, wie immer, dem Knaben schien er erhellt. Sein bleiches Gesicht glühte vor Aufregung, sein Herz klopfte, eine nie gefühlte Seligkeit liess ihn alles vergessen, was seiner harrte: Schimpfworte, Drohungen, Schläge. Mit unterdrücktem Lachen warf er sich im Winkel des Hofes auf die Knie und drückte den zottigen Kopf des Freundes an seine heftig atmende Brust.

„Pluto, mein Hundeken, ik habe wat vor dir!“ Die Tränen schossen ihm in die Augen, als er die Beulen am Kopf und die Striemen in dem zergerbten Fell fühlte. „Hat er dir jehaun, Pluto? Der —! Weene man nich, mein Hundeken, weene man nich! Hier haste de Wurscht! Pluto, freu’ dir, de Leberwurscht!“

Der Hund schnoberte, seine Augen funkelten, er riss den Rachen auf, und freudestrahlend schob Hans ein Stück Wurst nach dem andren hinein. Die Bissen wurden kleiner und kleiner, noch immer schnoberte das Tier verlangend.

„Alle. Nu is se alle, Pluto! Es jab ja man nur ’ne halbe for fufzig! Nu haste ihr intus. Nu kann er mir hauen.“

Und gehauen wurde Hans Stibike, als der Vater vom Inspektor nach Hause kam — unbarmherzig, grausam.

„Verfluchter Bengel, Dieb!“ Der Vater schmiss ihn zur Erde; der Arm war ihm vom Schlagen lahm geworden, nun trat er mit Füssen auf dem Kind herum, das sich, zusammengekrümmt, über die Diele wälzte. „Wo haste det Ield, wo sind die fufzig? Junge, ik haue dir tot!“

„Stibike, um Jottes Willen, Stibike!“ Zeternd hielt die Mutter dem Wütenden den Arm fest. „Du tust ihm ’nen Schaden, du machst ihm zum Krüppel, un wat denn? Stibike, Mann, um Jottes Willen!“ Sie heulte laut auf, und die kleinen Kinder stimmten mit ein.

„Ruhe, halt’s Maul! Jebt mir meinen ehrlichen Namen wieder! Meinen ehrlichen Namen! Habe ick dir darum den Willen jetan un den Bengel mit ufjenommen, als ick dir heiratete? Du Rumtreibern, du liederliches Mensch! Was jeht mir der Bengel an? Ick haue ihm dot, mausedot!“

„Stibike!“

„Ruhe!“

Ein Puff, ein Aufkreischen, das Weib flog zur Seite. Die Schürze vorm Gesicht, verkroch sie sich in den äussersten Winkel; da hockte sie und hielt sich die Ohren zu, sie konnte das Wimmern ihres Kindes nicht hören.

Endlich liess der Wütende ab, erschöpft warf er sich aufs Sofa. „Meinen ehrlichen Namen — so en Hallunke — un so dumm! Weess nischt zu sagen! Aber der Inspekter estimierte mir jleich. ‚Stibike,‘ sagte er, ‚ich sehe, Sie sind en ordentlicher Mann‘, sagte er. ‚Ihnen zu Liebe,‘ sagte er, ‚wer ich’s nochmal mit dem Jungen versuchen, kommt aber das jeringste vor, denn‘ — Bengel, ik sage dir, lässte dir noch eenmal ertappen, haue ik dir zu Mus! So was muss mir passieren — mir — Jottlieb Stibiken?! Mein — mein janzes Leben lang habe ik mir anständig jeführt — da is nischt zu sagen — man schind’t un plagt sich — un so ’n Bengel — durch und durch — ’n Ehrenmann!“

Das letzte sprach Herr Stibike nur noch undeutlich; er hatte sich zu dem Gang in die Molkerei gestärkt und auf dem Nachhauseweg wieder. Er schlief bald ein.

Die Sterne standen am Himmel; einer von ihnen blinkte gerade über den Hof, als Hans Stibike die Kellertreppe heraufschlich. Er konnte nicht gehn, die Glieder schmerzten ihn unsäglich; er kroch die Stufen aufwärts. Er tastete sich über den Hof; im Winkel beim Hund sank er weinend nieder. Leise knurrend leckte ihn Pluto und streckte sich dann auf seine Füsse.

So lagen sie beide — wund, müde, zerschlagen — und über ihnen stand ein goldener Stern. Sie sahen ihn nicht.

„Männeken, wo haste den Jroschen? Du hast doch nich etwa wieder lange Finger jemacht?“ Der Kutscher rüttelte ihn.

„Ik habe ihm nich, Se können mir jlooben, ik habe ihm nich jenommen, wahrhaftig nich! Jott, o Jott!“ Jammernd zeigte Hans Stibike die leeren Hände.

Sie standen neben dem Milchwagen auf der Strasse, ein kühler Herbstwind fegte bunte Blätter von den Bäumen, ihnen vor die Füsse.

Der Knabe zitterte und bebte im rauhen Hauch, selbst wie ein welkes Blatt. „Ik habe ihm nich, o lieber Herr Schulze, zeijen Se mir nich an! Ik habe ihm nich, ik habe ihm nich, ik habe ihm nich!“ Sinnlos wiederholte der Junge immer dieselben Worte.

„Det kann jeder behaupten“, sagte der Kutscher phlegmatisch. „Komm man nach ’n Hof, det wird jemeld’t!“ Und er packte den Jungen am Kragen.

Wo war der Groschen geblieben? Vielleicht zur Erde gerollt, vielleicht nicht richtig herausgegeben. Aber er war fort, und Hans Stibike, dem, der einmal gestohlen hatte, dem glaubte man nicht.

„Du bist entlassen, und zwar sofort“, sagte der Inspektor. „Deinem Vater werde ich Mitteilung machen.“

Schwankend, wie ein Trunkener, ging Hans durch die wohlbekannten Strassen. Sie glaubten ihm nicht, sie glaubten ihm nicht — was nun?! Eine sinnlose Angst bemächtigte sich seiner. Wieder fühlte er die Schläge, die damals im Sommer seinen schwachen Körper fast zerbrochen hatten; jetzt war es Herbst, aber die Schwielen waren kaum verharscht. Er hörte schon das Schimpfen des Vaters, er hörte das Jammern der Mutter, er hörte das eigene Ächzen. Kalter Schweiss trat ihm auf die Stirn und rieselte an seinen Schläfen herunter. Schwindelnd schloss er die Augen — wohin, wohin?! Sollte er sich im Grunewald verkriechen zwischen Kiefern und Wacholdergestrüpp? Sie würden ihn finden. Sollte er fortrennen draussen in die Haide, hinaus vor die Stadt? Sie würden ihn finden. Sollte er sich davon machen irgendwohin in die weite Welt? Sie würden ihn auch da finden.

Mit trostlosen Augen, totenblass kam er heim; er sagte nichts, sie erfuhren’s ja noch zeitig genug.

„Biste krank, Junge?“ fragte die Mutter und fuhr ihm mit der rauhen Hand übers Haar; sie mochte ihn doch leiden, sie traute sich nur nicht, heute jedoch war der Vater nicht zu Hause. „Biste krank?“

Er nickte stumm, und dann kroch er in das schmale Bett, das er nachts mit den kleinen Geschwistern teilte, und drehte den Kopf nach der Wand. So lag er regungslos, in Schweiss gebadet, die Hände unter der Decke krampfhaft gefaltet. Er konnte nicht beten, das war er nicht gewohnt — was auch? Die Angst, die Angst war zu gross.

Am Abend kam der Vater heim, schwer betrunken. „Wo is der Junge?“ lallte er.

Hans zog zitternd die Decke über seinen Kopf und wagte keinen Atemzug.

„Er is krank“, sagte die Mutter.

„Nanu? Morjen — morjen — der verdammte — Bengel!“ Der Vater warf sich aufs Bett; schon schnarchte er.

Morjen! Wusste er’s — wusste er’s nicht?!

Im Fieberfrost schüttelte sich der Körper des Knaben; mit weit aufgerissenen, glühenden Augen starrte er ins Dunkel. Er konnte nicht schlafen, eine brennende Sehnsucht war in ihm, noch grösser als die Angst; eine brennende Sehnsucht, sich irgendwo anzuschmiegen, Schutz zu suchen für den müden Kopf.

Pluto —! Der Knabe lächelte plötzlich. Ja, der war gut! Zu dem wollte er gehen, wenn der Morgen graute — zu Pluto — Pluto — — —

Seine Gedanken verwirrten sich, allerhand Bilder kamen und gingen, immer war Pluto dabei. Und dann schlief er ein, die dünnen Hände auf der Decke gefaltet, den Mund halb geöffnet. —

Es war sehr früh, als er aufwachte; er hatte sanft geschlafen. Noch schien bleicher Frühmond, kein Tageslicht. Leise stand er auf, er wusch und kämmte sich geräuschlos, aber mit mehr Sorgfalt als sonst.

Im blauen Kittel, die grünumrandete Mütze auf dem Kopf, schlich er durch die Stube ans Bett der Mutter; er guckte ein paar Augenblicke auf sie nieder, dann schlüpfte er zur Tür hinaus.

Herr Stibike schnarchte noch dröhnend, wie mitten in der Nacht, als Frau Stibike von einem gellenden Aufschrei erwachte. Das kam vom Hof!

„Stibike — Frau Stibike — Sti — bi — ke —!“

Was war denn los? Im Bett fingen die Kleinen an zu quarren. Schlaftrunken sprang die Frau auf, sie warf einen Rock über und tappte mit blossen Füssen zum Fenster. Da pochte es auch schon an die Scheiben.

„Stibike — Frau Stibike — Sti — bi — ke —!“

„Was ’s denn los?“ Die Frau bekam das Zittern, das Rufen klang so graulich.

„Kommen Se man raus — schnell, schnell — Ihr Junge — ’s was passiert!“

„Was passiert?“ Eine schreckenvolle Neugier durchrieselte Frau Stibikes Glieder, sie schrie ihren Mann an: „Stibike!“ Der drehte sich auf die andere Seite und schnarchte weiter.

Draussen das Rufen laut und lauter. Ein Stimmengemisch, ein wirres Durcheinandersprechen und dazwischen Hundegeheul, schauerlich dumpf und anhaltend. Zitternd fährt das Weib in die Kleider.

Nun ist sie draussen, ein allgemeiner Aufschrei empfängt sie.

Im Winkel bei der Hundehütte drängen sich alle, in einem dichten Haufen stehen sie.

„Was ’s denn los, was ’s denn los?!“

„En Unjlück — Stibiken, Ihr Junge — Jott in ’n Himmel!“

„Hans —?!“

Man weicht zurück, die Mutter drängt sich durch, und nun gellt ihr Entsetzensschrei, dass die Hofwände widerhallen.

Das Hundeheulen antwortet.

Über der Hundehütte ragt eine rostige Klammer aus der Mauer und daran baumelt, am schwarzen Ledergurt aufgehängt, der magere Körper eines Knaben im blauen Leinenkittel; die grünumrandete Mütze ist zu Boden gefallen, die Morgenflut spielt in den fahlblonden, verklebten Haaren. Der Mund steht offen, die Augen sind gebrochen.

Wie ein Rasender schnappt der Hund nach den hängenden Beinen — er kann sie nicht erreichen. Und dann duckt er sich nieder, hebt nur den Kopf und heult gen Himmel. Er lässt niemanden heran.

Auf der dunklen Bretterwand der Hundehütte steht leserlich in grossen Kinderbuchstaben, mit Kreide geschrieben:

‚Ich habe den Iroschen nich jestohlen seid jut zu Pluton

Hans Stibike Klingeljunge.‘

Menschen und Straßen

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