Читать книгу Feuerlilien - Clarissa Sander - Страница 6

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IRRLICHTAUGE

Die Steine schimmerten silbrig in der Sonne. Das eisgrüne Wasser, das neben ihnen herabrauschte und kleine Teiche bildete, war klar und wirkte so frisch, daß Anna meinte, den Duft des Tals auf der Zunge zu spüren.

Es war kein besonders gutes Foto; einfach ein Bild in einer Zeitschrift. Anna kniff die Augen zusammen, nahm jedes Detail in sich auf. Sie hatte eine Ahnung davon, wie sie selbst diese Felsen und das Wasser fotografieren würde. Auf ihren Fotos geschahen Dinge, die man sonst nur im Traum erlebte. Räume wurden riesig oder winzig, schemenhafte Wesen rührten sich, selbst das helle Licht wurde zweideutig.

Wie Haut muß sie wirken, die Oberfläche der Felsen, dachte sie. Sie stand auf, ging im Atelier umher. Das Klacken ihrer Absätze auf dem Boden störte sie. Die Leere in ihr war quälend. Zu viele Auftragsarbeiten, läppische Jobs, des Geldes wegen. Sie hatte einen Namen als Fotografin, doch von ihren eigenen Arbeiten konnte sie noch nicht leben.

Sie trat ans Fenster, sah auf die Straße hinunter. Das Licht war flau, kraftlos. Der Winter wollte nicht weichen, nicht einmal Ende März. Die »Seidenquellen« finden, dachte sie. Ihre Ausstellung mit diesem Titel sollte in einem Monat eröffnet werden, doch das Material war noch nicht aufregend genug. Keine Sensationen. Nichts, was beunruhigte. Kein Bild dabei, das neue Pforten öffnete.

Die Leute, die auf dem Gehsteig dahinhasteten, froren, äußerlich und innerlich. Sie hatten den Kopf eingezogen und die Hände in den Manteltaschen vergraben. Anna wandte sich ab. Sie mußte noch einmal auf Motivsuche gehen. Licht finden. Eintauchen in Gefühle, die sie erschütterten. Sich lösen aus der Winterstarre.

Die Männer hatte sie in den letzten Monaten noch schneller als sonst fortgeschickt. Länger als ein paar Stunden ertrug sie keinen.

Männer waren wie Nahrung für Anna. Sie verleibte sie sich ein. Kostete ihre Haut. Trank ihre Wärme. Dann waren sie aufgezehrt. Die Erinnerungen waren flüchtig. Wie sich ihr Haar anfühlte, eine Stimme, ein Duft.

Sie dachte an Robert, den Kritiker, der über ihre Bilder geschrieben hatte, sie seien »wie Schatten in der Nacht«. Seine wissenden Augen, sein ernstes Lächeln hatten sie berührt, und sein sehniger, fester Körper, seine schnörkellosen Berührungen hatten sie erregt. Eine Weile hatte sie glauben wollen, daß Leidenschaft wiederholbar sei, doch sie war geflohen, bevor er sie vom Gegenteil überzeugen konnte. Sie brauchte die Fremdheit. Vertrautheit langweilte sie.

Sie dachte an Eidechsen. Ihr Blut war kalt, nur in der Wärme bewegten sie sich. Im Tessin lagen sie jetzt auf den Mauern und sonnten sich. Sie wollte es ihnen gleichtun.

Das Licht war so hell, daß es keine Luft mehr zu geben schien, als der Zug in der italienischen Schweiz aus dem Gotthardtunnel herausfuhr. Sie hatte sich in der Sonne aufgelöst. Gleißende weiβe Schneeflächen, braune Felsen, über die gischtendes Wasser zu Tal stürzte. Dürre, winterfahle Grasmatten, die sich in der Wärme zu räkeln schienen.

Der Zug wand sich durch Tunnel und Kurven talwärts. Als er sich der Ebene näherte, tauchten leuchtend gelbe Bäume auf, strotzend vor Blüten: Mimosen. Das Gras schimmerte saftig grün. Der Winter war vorüber.

Anna seufzte und schloß einen Moment die Augen. Die intensiven Farben strengten sie an.

Sie hatte eine Nachtfahrt hinter sich und fühlte sich staubig und müde. Doch sie spürte ihre Fototasche mit der Kamera neben sich und merkte, wie sich in ihr die Spannung auf die neuen Motive aufbaute. Sie empfand immer eine Art Jagdfieber, bevor sie mit einer neuen Arbeit anfing.

Es tat gut, die Stadt zu verlassen. Bewegung. Der Zug hatte sie durch die Nacht gefahren, dem Neuen entgegen.

Die kleinen Ortschaften an der Bahnstrecke wirkten beiläufig, als hätten sie sich daran gewöhnt, nur Durchgangsstationen zu sein, auf dem Weg zu glanzvolleren Zielen. Dem legendären Künstler-und-Millionärs-Dorf Ascona am Lago Maggiore. Locarno, der Filmstadt am Fuß der Berge.

In Bellinzona stieg Anna aus, machte sich auf die Suche nach der Autovermietung. Ein paar alte Stadthäuser im Palazzo-Stil. Ein heruntergekommenes Hotel mit staubigen Jalousien, das aussah, als hätte seit Jahrzehnten keiner mehr dort übernachtet. Bars mit schmuddeligen Markisen. Auch diese Stadt strahlte etwas Vergessenes aus. Schläfrig brütete sie in der strahlenden Frühlingssonne, am Fuße von drei kargen grauen Trutzburgen.

Anna mietete sich einen dunkelblauen Fiat Uno. Das kleine Auto schaltete sich ruppig und flink, ideal für ihre Fahrten in die Täler.

Am Straßenrand immer wieder prachtvolle lachsrosa und purpurrote Kamelienbäume in voller Blüte. Linker Hand kam der See in Sicht, glatt und azurblau. Die schneebedeckten Gipfel der Berge schimmerten im Mittagslicht.

Anna machte nicht in Locarno halt, sondern fuhr weiter nach Ascona, wo sie ein Hotelzimmer reserviert hatte. Sie sehnte sich nach einer Dusche und gutem Kaffee.

Die Pension lag in einem der Gäßchen im alten Stadtzentrum. Annas Zimmer war klein, aber gemütlich wie in einer Bauernkate und ging auf einen Innenhof hinaus. Um eine Pergola wanden sich knorrige Weinranken, an denen sich die ersten hellgrünen Blättchen zeigten. Eine lachsrosa Kamelie und ein Zitronenbaum in Holztöpfen. Granitbänke und -tische.

Sie duschte, zog sich um. Einen schmalen schwarzen Rock und ein enges Top, Pumps, malvenroter Lippenstift. Anna konnte enge Sachen tragen, ohne vulgär zu wirken, weil ihr Körper fast knabenhaft und ihr Gesicht mit den großen dunklen Augen so verschlossen war, daß sie immer rätselhaft und unergründlich sanft wirkte, niemals aufreizend. Manche Männer verloren sich an ihren Zauber. Wenn sie fort war, geisterte sie im Hintergrund ihrer Blicke herum, sobald sie eine andere Frau ansahen. Und keine war wie Anna.

Als sie aus ihrer Pension trat, ließ sie sich vom Wassergeruch durch die Gassen zum See führen, saß in einem Café an der Uferstraße, blickte über den Lago Maggiore. Dunstige Blautöne, das Wasser mattsilbrig, in der Biegung nach Italien hin verschwammen die Linien der Berge. Im Vordergrund streckten die eselsgrauen Platanen am Ufer gichtig ihre Äste zum Himmel, grotesken Skulpturen gleich.

Gegensätze, dachte Anna, Gegensätze werden ein Thema sein. Diese Landschaft hat zwei Gesichter. Angesichts der Lieblichkeit hier war die Rauheit der Täler kaum vorstellbar.

Die Menschen nahm sie kaum wahr. Touristen, eine gesichtslose Masse, die auf ihren Bildern nie vorkam. Anna fotografierte keine Menschen. Porträts fand sie uninteressant. Wenn es auf ihren Fotos Personen gab, waren sie verschwommen, wendeten sich ab oder wirkten wie Requisiten in einer künstlichen Landschaft.

Sie schlenderte durch die Gassen, nahm Licht und Schatten wahr, Winkel, die schartige Struktur des grauen Granitsteins, aus dem hier fast alles gebaut wurde. Der Eingang zu einem Innenhof fiel ihr auf. Die dunklen Ecken in dem Hof waren intensiv, kühl, als wären sie nie von der Sonne berührt worden. In einer Ecke stand ein großes altes Keramikgefäß, unbepflanzt. Als Anna den Hof betrat, legte sich Stille um sie wie ein schweres seidenes Gewand.

Linker Hand befand sich eine kleine Galerie. Strahler beleuchteten Gemälde, doch Anna sah die Bilder nur als wirr farbigen Hintergrund. Ihr Blick verharrte auf einem großen schlanken Mann in einem dunklen Anzug, der vor einem der Bilder stand, in die Betrachtung versunken. Er wandte ihr den Rücken zu.

Sie bewegten sich beide nicht. Dann drehte sich der Mann ruckartig um und sah Anna an.

Furcht und Zorn in den Augen und etwas Unbestimmbares, das darunter aufflackerte. Das Gesicht, gezeichnet von scharfen Linien, blieb beherrscht, fast starr. Nur der Mund bewegte sich. Ein halbes Lächeln, leicht verwundert. Der Mann kam zu der offenstehenden Glastür. Seine Bewegungen hatten etwas Hastiges, Unkontrolliertes. »Treten Sie doch ein«, sagte er. Die Stimme kehlig, verwehend. Anna spürte ein winziges beunruhigtes Zittern in sich; etwas hob den Kopf und gab einen seltsamen Ton von sich. Dann schwieg es wieder.

Sie trat an ihm vorbei in den hell erleuchteten Raum, der ihr eng vorkam, den Atem nahm. Hier waren alle Schatten verbannt, ein Zustand, den sie schlecht ertrug.

Sie fühlte, wie groß der Mann war, als sie an ihm vorbeiging. Und ein Schrecken durchfuhr sie, als habe sie plötzlich bemerkt, daß sie nackt war: Sie hatte ihre Kamera nicht dabei. Manchmal zwang sie sich dazu, nur mit den Augen zu fotografieren, um präziser zu sehen, Spannung aufzubauen, die Veränderung zu ertragen, die ein Motiv durchmachte, bis sie wiederkam und es festhalten konnte. Es war eine Art Übung für sie. Sie fühlte sich dann immer, als fehle ihr ein Körperteil, doch in diesem Moment kam sie sich völlig entblößt und schutzlos vor. Wie in einem schlechten Traum, in dem ihr nur das Weglaufen blieb, weil sie nichts hatte, um sich zu wehren.

Er machte eine ausladende Armbewegung. »Willkommen im Reich des Alexander Rostov«, sagte er. Er beobachtete sie genau.

Anna war über ihre eigene Reaktion überrascht. Es war, als hätte sie einige Schritte ausgelassen:

Sie seufzte. Ergeben, weil der Mann ihr unheimlich war, sie aber faszinierte. Zärtlich, weil sie etwas an ihm zu verstehen glaubte und gerne tröstend seine Hand genommen hätte. Müde, weil sie wußte, daß Nähe zu ihm sie erschöpfen würde. Mit all diesen Gefühlen wollte sie nichts zu tun haben.

»Hallo, Alexander«, sagte sie.

»Das sind schreckliche Bilder.« Sie sah nur abgetrennte Körperteile, in einer Farbigkeit, die sie an Innereien erinnerte. Die senfgelben, rostroten, olivgrünen Linien und Kleckse ähnelten verschlungenen Gedärmen.

Alexander lachte. Das Lachen klang gespalten; ironisch und dabei dünn und abstoßend, aber auch amüsiert, auf gewisse Art geschmeichelt. Hier bekam seine Stimme Tiefe, eine dunkle Färbung, die Anna auf der Haut spürte. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, dann ging er zu einem Metallschrank neben dem Empfangstisch und nahm zwei Gläser und eine Flasche Campari heraus. »Möchten Sie einen Drink?« fragte er. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Eine alte flache Uhr, elegant, wie es sie nur in den Zwanzigern gab. Ein Erbstück, dachte Anna. »Noch anderthalb Stunden bis zur Apéro-Stunde«, sagte er. »Aber wir dürfen schon, oder?«

»Ich trinke nicht nach der Uhr«, sagte Anna.

Er warf ihr ein halbes Lächeln zu. Ein Grübchen bildete sich im rechten Mundwinkel. »So hatte ich Sie auch nicht eingeschätzt.«

Er ging in einen Nebenraum, kam mit Eiswürfeln und Wasser zurück und mixte ihnen einen Drink mit der hibiskusroten Flüssigkeit. »Zum Wohl«, sagte er, als er ihr das Glas reichte, und sein Blick, den sie nicht abfangen, nicht mildern, nicht verhindern konnte, fühlte sich an wie eine Verletzung. Sie hatte sich einmal mit dem Schraubenzieher am Finger verletzt, als sie eine Schraube festziehen wollte und abgerutscht war. Eine schmerzhafte abrupte Hitze, quellende rote Flüssigkeit. Der Blick wollte Machtspiele, und er war bedürftig. Ihr Drink schmeckte bitter und kühl, und sie war froh darum.

»Der Künstler kommt aus Finnland«, sagte Alexander. »Er hat einen großen Namen dort, und wie ich finde, zu Recht.«

»Ich sehe das Leben anders«, sagte Anna. Sie wandte sich ab, entfernte sich, ging die Reihe der Bilder entlang.

»Wie denn?« fragte Alexander hinter ihr. Sie hörte das Lächeln. Ihr Ausweichen amüsierte ihn. Sie ging weiter, bis sie zu dem Empfangstisch kam; dann stellte sie ihr Glas ab und drehte sich um. »Ich muß jetzt gehen«, sagte sie.

Er sah überrascht aus, doch er nickte. »Ich finde, Sie sollten wiederkommen und mit mir zu Abend essen«, sagte er. Er ging zu dem Tisch, nahm aus einer Schublade eine hellgraue Visitenkarte, reichte sie ihr. »Ich würde wirklich gerne wissen, wie Sie das Leben sehen«, sagte er, mit einem fast bittenden Unterton, der Anna konfus machte und ihren Fluchtdrang verstärkte.

Zu viele widersprüchliche Impulse, zu heftige Gefühle. Sie wußte nicht, wie sie sich verabschieden sollte. »Danke für den Drink«, sagte sie und ging hinaus. Sie fühlte sich wie ferngesteuert, ihre Glieder mechanisch. Erst als sie den Innenhof verlassen hatte, erst als sie wußte, daß er sie nicht mehr sehen konnte, spürte sie ihren Atem wieder.

Sie ging lange durch die Gassen, aber sie sah nicht viel, ein fremder Zustand. Ihr Blick blieb irgendwo in ihrem Inneren haften, wo er Alexanders Gesicht und seine Bewegungen abtastete, zu deuten versuchte, was seine Augen gesagt hatten. Als sie zu ihrem Hotel zurückkam, fühlte sie sich, als habe sie einen langen Marsch durch eine fremde, unwegsame Landschaft hinter sich. Sie legte sich, angezogen, mit Schuhen, auf die Überdecke ihres Betts und schlief ein.

Sie spürte im ersten Moment, als sie auf die Bühne trat, daß etwas nicht stimmte. Ihr schwarzes Kleid glitt seidig über ihre Haut, wehte bei jedem Schritt schwer um ihre Beine, wie jeden Abend. Ihre Füße in den hohen schwarzen Pumps fühlten sich entblößt und aufreizend an, der Spann bog sich lasziv den Männern entgegen, die im Publikum saßen. Es waren auch Frauen da, doch deren Energie spürte sie nicht. Sie wurde erhitzt vom Begehren der Männer. Sie versprach viel, doch keiner würde sie je besitzen. Sie sang ihre Lieder mit ihrer nachtblauen Stimme, ihr Kleid fiel auf, zeigte ihr schlankes Bein, ihre Brüste hoben und senkten sich unter dem glänzenden Stoff, ihr Mund war verletzlich und lüstern - doch keiner von denen würde sie je berühren. Sie hatte Macht über sie. Eine Göttin der Nacht, die flüsterte, lachte, lockte und verschwand, wenn man die Hand nach ihr ausstreckte.

Doch an diesem Abend war etwas anders. Sie spürte das beunruhigende Vibrieren aus dem Publikum. Dort saß jemand, der ihr ebenbürtig war. Dort saß ein Mann, der ihre Macht in Frage stellte. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie etwas wie Angst. Ein Schatten hatte sie gestreift. Ihre Haut fühlte sich heißer an als sonst. Das Blut zwischen ihren Beinen pochte, und glitzernde Spuren von Nässe hafteten an den Innenseiten ihrer Schenkel. Wie immer trug sie keine Wäsche. Das verlieh dem heiseren Hauchen ihrer Lieder den unwiderstehlichen Zauber.

Sie trat in das grelle heiße Licht, empfing ihr Publikum mit offenen Armen, wie man es von ihr gewohnt war, doch nicht einmal der Applaus, in dem sie sonst badete wie in Champagner, beruhigte sie heute. Sie hob das Mikrophon, führte es an ihren Mund, wollte den ersten Ton singen, doch es schien in ihrer Hand zu pulsieren, warm, samtig, geädert. Wie das Glied eines Mannes.

Panik erfaßte sie. Sie wußte jetzt, daß sie unter einem Bann stand. Ein Hexer blickte zu ihr herauf und setzte seine Kräfte ein. Er wollte sie gefügig machen.

Sie atmete tief durch. Er sollte kein leichtes Spiel haben. Ihr Lächeln war lockend und schneidend zugleich, als sie sang »Your eyes, your eyes, scorching, loving, mysterious«.

War der Text von ihr? Er kam ihr so fremd vor ... Ein seltsam sanftes Seufzen drang aus ihrer Kehle. Das Pulsieren wurde stärker. Sie empfand fast den Zwang, sich zwischen die Beine zu greifen und die Lust zu stillen, die so überraschend von ihr Besitz ergriffen hatte. Die Säfte, die an ihren Beinen entlangrannen, schienen ihre Haut zu versengen. Ihre Nippel verlangten nach Berührung, diamantenhart. Ihr blieb keine Wahl: Sie mußte ihn mit den Augen suchen und sehen, ob sie sich mit ihm messen konnte.

Fieberhaft glitt ihr Blick die Reihen entlang. Die Gesichtslosen sah sie nicht, doch sie spürte, als sie ihm näher kam. Da. Seine Augen waren kalt und zärtlich und verschlangen sie. Sie hatte es geahnt. Die gefährlichste Mischung. In dem Moment, als ihre Blicke sich verhakten, glitt ihr Kleid von ihrem Körper, fiel zu Boden, eine seidige Schlangenhaut, die sie im Stich ließ, wenn sie gebraucht wurde, nichtsnutzig. Sie schritt auf ihn zu, nackt, den Kopf hoch erhoben. Die Unnahbarkeit, ihr wertvollstes Gut, schmolz wie Eis auf ihrem erhitzten, willenlosen Körper. Die Bänder, an denen er sie zu sich zog, waren stark und schimmernd.

Er war ihr Ebenbild, männlich. Ein hageres Gesicht, tiefliegende Augen, ein breiter, ironisch lächelnder Mund mit vollen Lippen. Er war in schwarze Seidengewänder gehüllt. Purpurrot ragte sein Glied aus dem gleitenden Stoff auf. Das Glitzern in seinen Augen, der Triumph, als ihr heiseres Hauchen ihm galt, als sie sich mit einem kehligen Seufzen auf ihn stürzte, sich durchbohren ließ, als habe sie nie etwas anderes gewollt, sie, die kalte Göttin. Sie ritt auf ihm, besinnungslos, glühend, Wachs in seinen Händen, er führte sie, seine Zunge strich frostig über ihre Nippel, sie erschauerte, verlor sich in ohnmächtigen Explosionen, sie biß sich auf die Lippen, bis sie blutig waren und er ihren Saft aufleckte. Als ihre Kräfte schwanden, hob er die Hand. Zwei gesichtslose schwarze Gestalten, Schatten, Kräfte, huschten herbei, zogen sie von ihm herunter, betteten sie zu Boden. Verbanden ihr die Augen, hielten ihre Arme, während er sich in sie ergoß. Sie wußte, sie durfte seine Lust nicht sehen, es hätte ihm die Macht geraubt. Doch sie spürte sie, er war köstlich geschwollen und ließ sich Zeit, rieb sich an ihr, tauchte in sie, und sie zuckte für ihn, strömte ihm bereitwillig entgegen. Ihr pochendes Herz hatte seine Ruhe gefunden. Das Ebenbild, das Gegenstück.

Es war dunkel, als Anna erwachte. Ihr Körper war von einer ziehenden Sehnsucht erfüllt und zugleich von einem unbestimmbaren Entsetzen. Schauer liefen über ihre Haut. Sie tastete sich ab. Sie war angezogen. Ein Traum. Sie hatte geträumt.

Sie versuchte zu orten, wo sie war. Geschirrklappern, Lachen. Durch ein halb geöffnetes Fenster drang ein weicher, pudriger Duft herein, der sie an Kristallflakons und Rüschen erinnerte. Langsam entstand das Bild dazu vor ihren Augen. Gelbe plüschige Bällchen, ein Baum in voller Blüte. Mimosen. Ascona.

Alexander. Der Mann in ihrem Traum. Die Linien seines Mundes gefährlich und verletzlich. Er verfolgte sie schon in ihre Träume. Sein Blick hatte etwas in ihr aufgerissen.

Anna setzte sich auf. Etwas schien auf ihrer Brust zu liegen, ihr den Atem zu nehmen. Sie blickte an sich hinunter. Ihre Kleider waren zerknittert, ihre Füße, bloß in den Pumps, kalt. Mühsam rappelte sie sich hoch, ging ins Bad. Sie duschte, zog sich um. Als sie in den Spiegel schaute, sah sie den wachsamen, verstörten Ausdruck in ihren Augen.

Sie aβ im Innenhof zu Abend, neben der lachsrosa Kamelie. Sie betrachtete die sanft geformten Blüten. Die frische Nachtluft klärte den Blick. Sie aβ Steinpilzrisotto, eine Spezialität der Region. Die Pilze schmeckten nach Waldboden, und sie fühlte sich erdenschwer danach, weniger durchsichtig als zuvor. Nach einem weiteren Glas Rotwein, einem herben Merlot mit einem leichten Eisenaroma, beschloß sie, den Nachmittag zu vergessen. Niemand zwang sie, von ihrer Bahn abzuweichen. Morgen würde sie in eines der Täler fahren.

Als sie zahlte, merkte sie, daß sie nicht allein sein wollte. Die Vorstellung des leeren Hotelzimmers deprimierte sie. Sie würde noch eine Weile spazierengehen.

Doch hier in Ascona hatten die Gassen jetzt eine Geschichte, die sie mit diesem Mann in Verbindung brachte. Sie wußte, wo sie an der Uferstraße abbiegen mußte, um zu der Galerie zu kommen. Deshalb ging sie kurz entschlossen zu ihrem Wagen und fuhr nach Locarno. Öffnete das Fenster während der Fahrt, ließ den Wind ihr kurzes Haar zerzausen.

Sie parkte in der Nähe der Schiffsanlegestelle und schlenderte am Ufer des Sees entlang. Er glitzerte wie mit Brillanten bestickt, schwarzblauer Samt. Auf der anderen Seeseite schwebten einzelne Lichter in der Luft, Häuser an den Berghängen. Wenige Leute waren an der Uferpromenade unterwegs, meist Paare, eng umschlungen, oder alte Männer, die ihren Hund ausführten. Niemand, der die Einsamkeit vertreiben konnte.

Unter den Arkaden im Zentrum trafen sich die Jugendlichen in den Cafés, schwatzten, flirteten. Neckende Blicke, frisch gewaschene, glänzende Haare, knappe Tops über jungen, runden Brüsten. Anna saß eine Weile dort, trank einen Espresso, genoß die Lebhaftigkeit um sie her. Lachen, heftiges Gestikulieren. Die Häuser an der Piazza, dem Hauptplatz, wirkten wie Theaterkulissen, angestrahlt, blaßrot.

Gefährten für die Nacht, ein schnelles Abenteuer, sah sie nicht, und sie fieberte jetzt danach, wollte feste Arme, die sich um sie schlossen, starke Hüften, die den ihren entgegenkamen. Einen fremden Körper und doch eine vertraute Situation, in der sie die Erinnerung an Augen vergessen konnte, die sich unter ihre Haut gruben.

Sie entfernte sich von der Hauptstraße, streifte durch stille Gassen, wo Fernsehgeräusche, Gesprächsfetzen, Gläserklirren aus den Fenstern drang. Es roch nach Spaghetti und heißem Olivenöl. Eine Kirche, hell beleuchtet inmitten der dunklen Winkel und schummrigen Sträßchen. Sie wirkte verlassen, zuviel Raum um sie in dieser Stadt, in der alles dicht beisammen stand.

Anna begann ihre Füße zu spüren, die Anstrengung des Tages. Sie wurde müde. Vor ihr ging eine Tür auf. Aus dem Hintereingang eines Restaurants trat ein Mann. Er hatte es nicht eilig, zündete sich eine Zigarette an. Die Glut glomm auf im Halbdunkel. Er war groß und kräftig gebaut, trug ein T-Shirt und enge Jeans, keine Jacke. Sah Anna zu, wie sie näher kam. Schien die Situation abzuschätzen, wie sie auch. Sie wurde schlagartig wieder wach, ging langsamer. »Buona sera«, sagte der Mann, als sie direkt vor ihm war. Sie erwiderte den Gruß; ein paar Fetzen Italienisch sprach sie, das Nötigste. Seine Stimme klang jung, glatt. Anna blieb stehen. Aus dem Fenster des Restaurants sickerte gelbes Licht, das sein Gesicht beleuchtete. Schlicht, aber offen, dachte Anna. Ein Koch wahrscheinlich, der sich nach Feierabend noch ein bißchen amüsieren will. Genau richtig.

»Ich wollte gerade was trinken gehen«, sagte der Mann auf italienisch. »Ich heiße Gianni. Möchten Sie vielleicht mitkommen?«

»Gerne«, antwortete Anna. Sie erwog einen Moment, ob sie ihn mit nach Ascona nehmen wollte, entschied sich dann dagegen. Ein bißchen Abenteuer kam ihr gerade recht. Und wenn sie dabei in einer Absteige landen würden. Sie war danach aufgelegt.

Sie gingen nebeneinander her, hielten stockend eine höfliche Konversation aufrecht. Er roch angenehm, fand Anna, nach Gewürzen, einem Hauch Limone von einem Aftershave, leicht nach frischem Schweiß. Er war tatsächlich Koch.

Er schien zu spüren, daß Anna keinen Umweg brauchte. »Wo gehen wir hin?« fragte sie. Er zuckte spielerisch die Achseln. »In eine Bar oder zu mir«, sagte er und grinste sie an. Seine schwarzen Haare waren dicht und seidig, und Anna wollte sie berühren. »Zu dir«, sagte Anna. Sie gingen über einen kaum beleuchteten Platz, in dessen Mitte ein Brunnen stand. »Küß mich«, sagte Anna unvermittelt. Gianni zog überrascht die Augenbrauen hoch, doch sein Blick war neugierig. Er zog sie zu dem Brunnen und küßte sie ungestüm, als sei ihre Aufforderung das Zeichen für ihn, sich nicht zurückzuhalten. Anna hielt seinen Kopf, verkrallte sich in seinem Haar und spürte die Erleichterung, die über sie kam, als sie ihrer Energie freien Lauf lassen konnte. Sie küßten sich, bis sie keine Luft mehr bekamen. Keuchend lösten sie sich voneinander. »Wie weit ist es noch? fragte Anna. Gianni zeigte auf die Gasse, die von dem Platz abging. »Dort hinten«, sagte er.

Ein graues halbhohes Betonhaus aus den Sechzigern. »Ich hab nur ein kleines Zimmer hier«, sagte Gianni entschuldigend, als er die Metalltür aufschloß. »Eigentlich wohne ich in Lugano. Ich bin nur während der Woche hier.«

Als sie die Treppe hinaufstiegen, spürte Anna, wie ihre Erregung schwand. Vielleicht hätte sie ihn doch mit ins Hotel nehmen sollen. Die Umgebung konnte hinderlich sein. Doch dann richtete sie den Blick auf seinen wohlgeformten Hintern in den Jeans und lockerte sich wieder. Sie würde das Ambiente ignorieren.

Sie sah sich kurz um in dem Zimmer. Eine funktionale Unterkunft, sauber. Kochnische mit Duschkabine, ein weiß bezogenes Bett, ein häßlicher hellbrauner Kleiderschrank. Die einzigen persönlichen Dinge waren ein Poster vom AC Mailand über dem Bett und ein Bild von einer schwarzlockigen Schönheit auf dem Nachttisch. »Meine Schwester«, sagte Gianni, und es klang, als könne es die Wahrheit sein. Er förderte aus einem Schrank in der Kochnische zwei Gläser und eine Flasche Cynar zutage, wirkte plötzlich verlegen. Anna trank einen Schluck von dem bitteren Aperitif, dann stellte sie ihr Glas ab und sagte: »Komm.« Er nahm sie wieder in die Arme, und die Befangenheit verflog. Anna tastete mit beiden Händen über seinen muskulösen Rücken, seinen Hintern, bot ihm ihren Mund. Er umschlang sie, und sie spürte, wie sich sein Geschlecht aufbäumte, an sie drängte. Ihr Höschen war so feucht, daß ihre Schenkel zu kleben schienen. Sie riß seinen Gürtel auf, schob seine Hose hinunter, er zerrte ihr das Kleid über den Kopf. Sie taumelten aufs Bett, und Anna zog ihn sofort in sich, schrie auf, als er sie füllte und erschütterte und sie alle Gedanken aufgab, nur noch Fleisch und rotglühendes Beben war, dem eine pastellfarbene Leichtigkeit folgte, bis zur nächsten Folge strahlender Explosionen. Sie waren sich einig in ihrer Gier und ihrer Direktheit. Sein schweißglänzender olivbrauner Körper gab ihr, was sie brauchte, und sie ritt ihn, bis sie über ihm zusammenbrach, funkelnde Sterne sah, die in tausend Teile zersplitterten. Doch sie hatte noch immer genug Kraft, um ihn zu empfangen, als er sie nahm, und sie kam ihm so heftig entgegen, daß sie glaubte, zu zerreißen, sie wollte nichts zurückhalten, alles ausschöpfen.

Anna kam erst wieder zu sich, als sie etwas Kaltes am Bein spürte. Die schweißnassen Laken. Sie mußte kurz eingeschlafen sein. Gianni lag neben ihr auf dem Rücken. Als sie sich aufrichtete, schlug er die Augen auf. Er gefiel ihr immer noch, doch sie wußte, daß sie sofort gehen mußte, wenn sie keinen schalen Nachgeschmack zurückbehalten wollte. Sie erwog kurz, sich zu duschen, entschied sich jedoch dagegen. Dies war eine andere Form der Intimität, die sie immer zu vermeiden suchte. Sie sagte: »Ich geh jetzt«, zog sich an und fuhr sich durch die Haare. Er setzte sich auf, zog ein Laken über sich, hob die Hand und rief ihr »Ciao« zu, als sie hinausging.

Sie fröstelte in der Nachtluft. Ihre Haare waren noch feucht, ihr Körper klebte. Sie zog die kurze Jacke fester um sich und ging mit schnellen Schritten Richtung Piazza, um sich nicht in den Gassen zu verirren. Dort wich sie den Lichtern aus. Sie wußte, daß man ihr ansah, was sie gerade getan hatte. Am liebsten hätte sie ihre Sonnenbrille aufgesetzt.

Der Mietwagen roch nach Polstersitzen und Armaturen, als sie einstieg. Dann verbreitete sich der Geruch von Schweiß und Sperma, vermischt mit Spuren von Parfum und After-shave. Sie fuhr nach Ascona zurück, trat heftig aufs Gas. Es gab keinen Grund zur Eile, und doch fühlte sie sich gehetzt, als müsse sie einem Bann entfliehen.

Sie spürte ihre Muskeln am nächsten Morgen. Das befriedigte sie, als hätte sie damit Buße getan für eine Verirrung, körperliche Zeichen gesetzt für ihre Ungebundenheit. Doch Alexanders Blick ließ sie nicht los.

Der Morgendunst löste sich nicht auf, die Sonne verharrte hinter der hellen Wolkenschicht. Kein Licht zum Fotografieren, doch sie konnte schon Motive besichtigen. Anna beschloß, ins Val Bavona zu fahren, das Tal, das sie zu dieser Reise veranlaßt hatte.

Als sie die Ebene verließ und an der Ponte Brolla ins Maggia-Tal einfuhr, war sie sofort fasziniert von der Landschaft. Tief unten grub sich eisgrünes Wasser einen Weg durch hoch aufragende, zerklüftete Felswände, in denen im Laufe der Jahrtausende bizarre Nischen, Kanten und Ecken entstanden waren. Weiter oben am Lauf des Flusses Felsteiche. Hier erlaubte das reißende Wasser, daß man sich ihm näherte, sich erfrischte In jedem Stein ein Kosmos an Formen, dachte Anna. Diese Felsen haben so viel Zeit gesehen.

Dann wurde das Tal breiter. Die Berge blieben auf Abstand, die Ebene in der Mitte bot flachen Dörfern Raum, wirkte zersiedelt. Erst als sie ins Bavona-Tal abbog, boten sich Anna wieder Anblicke, die sie berührten. Eine schmale Straße, die steil anstieg. Am Rand Felsbrocken, groß wie Häuser, irgendwo hingestürzt bei einem Steinschlag. Moos und Flechten hatten sich auf den Kolossen angesiedelt.

Dörfer, in denen die Menschen das Bedrohliche nutzten, in ihre Welt einfügten. Kleine graue Granitbauten, die sich an solche Felsen schmiegten, sich auf sie stützten. Sie wirkten nicht geduckt, eher stoisch. Wer in diesen Dörfern lebte, konnte neben den mächtigen Bergen bestehen. Oder glaubte es zumindest.

Das Licht wurde flächiger, greller, die Sonne zerstreute die Wolken. Anna entdeckte eine Brücke über den Fluß und parkte den Wagen. Fallendes Gestein am Ufer, in der Bewegung erstarrt. Das Wasser wand sich um riesige Quader, sprang über geschliffenes Geröll hinweg. Dunkelgraue und weiße Steine, von einem Geflecht von Linien durchzogen. Felsplateaus, von Moosen in vielfarbige Landschaften verwandelt. Kahle schwarze Kastanienbäume am Rand. Hier, in der harschen Abgeschiedenheit, kam der Frühling viel später. Teiche und Wasserfälle in Miniatur. Bewegung, nicht aufzuhalten. Sie suchte sich überall einen Weg, drängte vorwärts.

Anna begann die Ausschnitte zu sehen, die verfremdeten Räume, die Spielmöglichkeiten, die ihr diese Landschaft bot. Sie würde sich den Felsen nähern, mit ihren Bildern Geschichten über sie erzählen.

Sie fuhr weiter. Zu ihrer Linken wichen die Berge zurück. Ein gischtender weißer Wasserfall stürzte über eine schwarze Steinschlucht zu Tal, verband sich mit dem Fluß, der hier begradigt war. Über den Quadern, die ihn zähmten, weiche grüne Grasmatten und ein Bergdorf mit einem Kirchturm, einem einfachen Gartenrestaurant. Anna parkte und stieg aus. Dies hier war, was sie eine »innere Landschaft« nannte; ein Ebenbild von Gefühlen und Stimmungen. Das Dorf strahlte etwas Erdenfernes aus, wie eine Ansiedlung am Rande der Welt. Es wirkte still, fast verlassen. Lange stand Anna da und betrachtete das schäumende weiße Wasser, das in die Tiefe fiel, direkt aus dem Himmel, den Wolken, in denen der Gipfel sich versteckte. Das stetige Rauschen übertönte alle anderen Geräusche. Die Luft roch frisch und kühl. Der Fluß schien sie mitzubringen aus dem ewigen Eis, den kalten grünen Gletschern irgendwo am Ende dieses Tals.

Sie überquerte die Brücke, ging langsam durch das Dorf. Enge Gassen. Ein braun-weißer Hund flitzte an ihr vorbei. Steinbänke vor den winzigen Behausungen aus unbehauenem Granit. Auf den Grasflächen vor der Kirche weideten schwarze Schafe mit ihren Lämmern. Am Ende des Orts der schräge Hang, kahle graue Buchen und Kastanienbäume.

Anna setzte sich auf einen Felsen am Rand einer Wiese. Lauschte dem Gluckern eines Brunnens, betrachtete das Haus gegenüber. Es gleich den anderen, doch das Dach des angrenzenden Gebäudes war gläsern. Ein Atelier, dachte Anna. Eine Frau kam um die Ecke, ging auf das Haus zu. Sie war sehr schlank, fast mager, trug helle Hosen und einen dunkelbraunen Pullover. Ihr glattes braunes Haar hatte sie im Nacken lose zusammengebunden.

Sie stellte einen Karton mit Lebensmitteln auf dem Granittisch neben sich ab, schloß die Tür auf. Anna beobachtete sie und hatte plötzlich den Wunsch, sie kennenzulernen.

Als die Frau nach dem Karton griff, bemerkte sie Anna. Sie trug die Sachen ins Haus, dann kam sie wieder heraus und näherte sich Anna. Ein schmales Gesicht mit einer feinen geraden Nase. Sanftmütige, aufmerksame Augen. Eine Madonna, dachte Anna. Aus einem verwitterten blaßrosa Marienaltar an einem entlegenen Pfad.

Die Frau ließ sich neben Anna auf dem Felsen nieder. »Ist das nicht ein wunderbarer Ort?« sagte, sie und wies auf das Dorf. »Ich wollte immer zwischen Steinen leben. Sie beruhigen mich.«

»Fühlen Sie sich nicht eingeschlossen hier?« fragte Anna. »Kein Horizont. Im Winter stelle ich es mir erdrückend vor.«

»Ich fühle mich geschützt durch die Berge«, antwortete die Frau und sah Anna von der Seite an. »Sie halten vieles von mir fern. Und sie relativieren mich. Man bleibt bescheiden hier, weil man unwichtig und machtlos ist. Aber wollen Sie nicht ein Glas Nostrano mit mir trinken? Ich bin Ev Waldhoff.« Sie strahlt das Unerschütterliche der Berge aus, dachte Anna. Doch die Berge können auch zu Tal stürzen. Ist ihr das bewußt?

Sie gingen zu Evs Haus hinüber, aßen auf der Terrasse knuspriges Holzofenbrot und Ziegenkäse und tranken Rotwein.

»Sie sind Fotografin?« fragte Ev und wies auf Annas Kamera.

Anna nickte. »Ich bin hergekommen, weil ich ein Bild von den Steinen im Fluß gesehen habe. Ich brauche noch Arbeiten für eine Ausstellung, und ich wußte, daß ich hier Motive finden würde. Und Sie sind Malerin?« sagte sie lächelnd und deutete auf das Glasdach.

»Steinbildhauerin«, antwortete Ev.

Anna warf unwillkürlich einen Blick auf Evs Hände. Sie waren zierlich und glatt wie geschliffener Marmor. Die Hände einer Bildhauerin hatte sie sich immer rauh und kräftig vorgestellt, wie die eines Bauarbeiters.

»Das machen alle«, sagte Ev, ohne hinzuschauen, und nahm sich ein Stück Käse. »Sie mustern alle meine Hände. Ich weiß auch nicht, warum man die Arbeit nicht sieht. Wahrscheinlich, weil Stein mein Element ist. Ich verschmelze irgendwie mit dem Stein, wenn ich ihn berühre. Ich bin eins mit ihm, wenn ich ihm Gestalt gebe, ihm Form abringe. Ich feile und poliere nur, ich kann das Material nicht spalten oder brechen. Ich verabscheue Kanten und Winkel. Man kann sich weh tun daran.«

Sie blickte Anna an, und ihr Lächeln hatte etwas Entrücktes, Abwesendes. Sie lebt in einer Welt für sich, dachte Anna, hat sich dem Ort angeglichen. Was mag sie erlebt haben? Sie empfand plötzlich Zärtlichkeit, den Impuls, über die feinen Hände zu streichen, so wie sie vielleicht den Marmor streichelten, den Granit, den sie schliffen, bis er weich und geschmeidig wirkte, obwohl er von Natur aus ruppig und blättrig war.

»Sind Sie ganz allein?« fragte sie unvermittelt, obwohl sie wußte, daß die Frage aufdringlich war.

Ev warf den Kopf zurück und lachte. Ihr Lachen hörte sich kräftig an, kehliger als ihre Sprechstimme. Sie schüttelte den Kopf. »Merkwürdig, ich werde so leicht für halb verrückt und vereinsamt gehalten. Ich scheine das auszustrahlen. « Sie nahm einen Schluck Wein. »Nein, bin ich nicht. In diesem Dörfchen ist man nicht allein, man hat eine große Familie. Man hält automatisch zusammen, wenn man so abgeschieden lebt. Ich bin sehr integriert hier, auch wenn ich aus der Deutschschweiz komme. Die Menschen hier haben begriffen, warum ich bei ihnen lebe und daß ich sie besser verstehe als die Leute aus Zürich.

Und was die andere Form von Alleinsein betrifft: Es gibt einen Mann in Zürich. Manchmal bin ich dort, doch so selten wie möglich, eigentlich nur, wenn ich etwas organisieren oder mich in meiner Galerie zeigen muß. Manchmal ist er hier. Das ist eine gute Lösung für uns beide. Wir beengen uns nicht und entdecken immer wieder etwas Neues aneinander.

Wollen wir uns nicht duzen, wenn wir uns schon so intime Fragen stellen?« Sie hoben ihr Glas und stießen an.

»Und du, Anna?« gab Ev die Frage zurück. »Bist du allein?« Ihr Blick war forschend, und Anna fühlte sich unstet und ruhelos im Vergleich mit dieser zentrierten Frau. Sie räusperte sich.

»Im Grunde schon. Ich halte Männer nicht lange aus. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht glaube ich, sie könnten meine Kraft rauben, wenn sie mir zu nahe kommen.« Sie verstummte. Der Gedanke kam ihr zum ersten Mal. Sie kannte Ev kaum und vertraute ihr Dinge an, die sie noch nie jemandem erzählt hatte.

Sie spürte, daß auch Ev sie in Gedanken berührte, doch sie bewegten sich beide nicht, blickten vor sich hin.

Ev schaute zum Himmel auf. »Könnte noch regnen heute«, sagte sie beiläufig. »Möchtest du meine Arbeiten sehen? «

»Oh, gerne«, sagte Anna. Sie war froh, sich aus der Spannung lösen zu können.

Das Atelier roch weiß: nach Licht, Staub und feinem Steinpuder. In Regalen standen Figurinen, Kugeln auf Sockeln und steinerne Gebilde, die sich reckten und dehnten und flossen. Werkzeuge auf einem alten Holztisch. Auf zwei Säulen in der Mitte des Raums zwei Skulpturen, die Anna sofort anfassen wollte. Eine kreisrunde Marmorscheibe, kantenlos, von einer weichen Furche durchzogen. Alles an diesem Stein sah aus, als schmeichle es den Fingerspitzen. Er wirkte offen und zugleich unveränderlich.

»Sie heißt ›jetzt und nirgendwo‹·«, sagte Ev hinter ihr. »Sie ist gerade erst fertig geworden.«

Anna drehte sich zu Ev um. »Darf ich sie anfassen? «

Ev nickte. »Natürlich.«

Der geschmeidige Stein fügte sich in Annas Hand, als sei er dafür geschaffen. Sie strich seine Form nach und wurde still innerlich, als habe sie etwas gefunden, was ihr gefehlt hatte. Es fiel ihr schwer, sich wieder davon zu lösen.

Ev war neben sie getreten und sah auf ihre Hände. »Sie ist offen. Wind und Wasser können hindurchfließen. «

»Ich weiß«, sagte Anna. »Unglaublich schön. Ich beneide dich um das Greifbare deiner Arbeit. Meine Fotos kann ich nicht anfassen. Sie wirken nur übers Auge. Aber hiernach kann man süchtig werden.«

Ev lachte. »Ja, ich bin froh, daß sie so wirken. Es fällt mir immer wahnsinnig schwer, sie herzugeben. Ich leide auch bei der Vorstellung, daß meine Arbeiten an Menschen verkauft werden, die nicht gut mit ihnen umgehen. Aber damit muß ich leben.« Sie zuckte die Achseln. »Jetzt und nirgendwo eben. Ich muß sofort mit der nächsten anfangen. Dann geht es mir wieder gut.«

Anna spürte Ev neben sich. Ein schwacher Duft ging von ihr aus, violett-purpurfarben. Er erinnerte sie an schwere seidene Gewänder und festlich geschmückte Boote auf den Kanälen Venedigs. Sie ist so verwirrend, dachte Anna. Ihr Haar. Ich würde so gerne ihr Haar durch meine Finger gleiten lassen. Was strahlt sie aus? Ist es Absicht? Werde ich verführt?

»Hier weiß ich noch nicht, wohin sie mich lenken will«, sagte Ev, wandte sich ab und ging zu der anderen Säule. Ein marmornes Oval lag darauf. Mulden schmiegten sich zwischen Hügel, Gräben wanden sich hindurch. »Aber ich glaube, es wird ›Suche‹ heißen oder so ähnlich. Sie seufzte und strich gedankenverloren über das steinerne Objekt. »Sie läßt mir keine Ruhe im Moment. Ich träume oft nachts davon.«

Anna ging zu dem Regal und betrachtete die kleineren Skulpturen. Sie griff nach einer kleinen Halbkugel, die sich nach innen wölbte wie ein Mund. »Verkaufst du das?« Sie wollte einen dieser Steine um sich haben.

»Das Venusauge«, sagte Ev. »ja, ich glaube schon. Ich habe es so lange, und ich glaube, dir wird es guttun.« Sie blickte auf die Halbkugel in Annas Händen. »Ja, sieht aus wie für dich geschaffen. « Sie schwieg kurz. »Ich gebe es dir für ein Foto von dir.«

»Meine Fotos sind auf dem Markt noch nicht besonders wertvoll«, sagte Anna.

»Das ist doch unwichtig«, sagte Ev und runzelte die Stirn. »Es geht um den ideellen Wert.«

»Okay«, sagte Anna. »Ich werde dir ein Bild widmen. Es gibt noch keines, das zu dir paßt. Kann ein Weilchen dauern.«

»Zeit spielt keine Rolle«, antwortete Ev lächelnd. »Hier nicht, für mich nicht.«

Der Stein war warm geworden in Annas Händen. Er fühlte sich wie ein Teil ihres Körpers an. Sie hielt ihn behutsam, wie eine Schale. Ev nahm Annas Hände und schloß sie über dem Stein. Ihre eigene Wärme kam hinzu, nicht hitzig, ganz verhalten, wie wohltemperierter roter Wein.

Anna hob langsam den Kopf und blickte Ev an. Sie spürte, wie sie mit ihrem ganzen Körper auf diese Wärme reagierte, sie aufnahm. Und nach mehr verlangte. Sie entfaltete sich, einer Blüte gleich, und ihre Haut war bereit für Nektar oder Regen oder silbrigen Morgentau. Sie warf sich bereitwillig in Evs dunkle Augen, badete darin, zeigte sich ihr. Ihre Scheu war verflogen. Sie wollte sich einer Gespielin anschließen, zum ersten Mal. Gedacht hatte sie manchmal daran, war aber nie einer Frau begegnet, die sie wirklich begehrt hätte. Jetzt sprach ihr Körper für sie, und sie legte die Halbkugel beiseite, verflocht ihre Finger mit Evs seidigem Haar, ließ es zerrinnen wie weißen Sand und vereinigte ihre Lippen mit dem weichen Mund der anderen Frau. Die Zeit zerdehnte sich endlos, sie trieben träge einen Strom hinunter, ineinander verschlungen in lauem, freundlichem Wasser.

Irgendwann spürte sie, wie Evs Hände unter ihren Pullover glitten, und wo sie vorbeikam, erwachte etwas, räkelte sich oder griff begehrlich nach ihr. Anna atmete heftiger, als ihre Brüste gegen Evs Hände drängten, dann plötzlich Wind und Nässe spürten und sich prall wie reife Melonen anfühlten, zum Platzen gespannt. Sie wollte schneller atmen, als sie konnte, und ein Gurren schwirrte aus ihrer Kehle, das sie noch nie gehört hatte. Ihr Kopf bog sich nach hinten, und ihre Hände schienen sich in Fell zu krallen, als Ev sie mit sich zog, sachte bettete auf den Boden, auf Pulver aus Stein, und Annas Körper formte wie ein Kunstwerk, mit zarten Fingerspitzen, kraftvoll knetenden Händen, mit trockenen und benetzten Lippen, waghalsigen Zähnen, wehendem Haar und ozeanischem Atem.

Anna wölbte sich ihr entgegen, weit und pulsierend, schwer wie ein Lavastrom, leicht wie ein fliegender Fisch. Bunte Glasblüten zersprangen unter ihren Lidern, formierten sich neu, zerfielen in funkelnde Bilder und rissen sie mit sich in einen Farbenstrudel, sie fiel, fiel tief und federte lachend auf einer gespannten Membran ab, die sie hochschleuderte, immer wieder, bis sie zum Liegen kam, ein Lächeln auf den Lippen.

Silbernes Klingeln vermischte sich mit dem steten Rauschen des Wasserfalls und Evs ruhigem Atem. »Was ist das?« flüsterte Anna an Evs Wange.

Ev regte sich. »Die Schafe«, murmelte sie schläfrig. »Sie haben Glöckchen am Hals, damit man weiß, wo sie sind.«

Es wurde bereits dunkel. Sie hatten den Nachmittag in Evs Schlafzimmer verbracht, auf einem altmodischen Holzbett. Hatten sich erforscht, keine Stelle ihres Körpers vernachlässigt, bis sie die Orientierung verloren, alle Ordnung verschwunden war. Manchmal wunderte Anna sich, daß sie nicht erstaunter war, doch Evs Körper schien ihr fast so vertraut wie ihr eigener, und sie fühlte sich ebenbürtig.

Ihre Rundungen fügten sich ineinander, als seien sie füreinander geschaffen. Ev fuhr träge mit den Fingern durch Annas kurzes weiches Haar. »Wie ein kleines Tier«, flüsterte sie. “Geht’s dir gut?«

Anna nickte und gab einen zustimmenden Laut von sich. Doch die Frage riß sie aus ihrer Selbstvergessenheit. Sie löste sich sachte aus Evs Armen, rollte sich auf den Rücken und starrte an die weißverputzte Decke des niedrigen Raums. Das dämmrige Gefühl, daß sie etwas vergessen hatte. Vergessen wollte. Ein hageres Gesicht mit brennenden Augen, die sie an sich zogen und fesselten. Die ihre Nähe verlangten. Und wußten, daß sie damit rechnen konnten.

Ev sah zu ihr herüber. »Dich quält etwas«, sagte sie leise.

Anna schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber reden«, sagte sie abrupt. Dann zögerte sie und setzte hinzu: »Ich bin mir über etwas im unklaren, und das mag ich nicht.«

Ev nickte und setzte sich auf, schob sich ein Kissen in den Rücken. »Kann ich gut verstehen«, sagte sie. Sie sah nachdenklich zum Fenster hinaus. Anna schaute sie an. Ihr braunes Haar lag lose über ihren Schultern. Sie hat die schönsten Brüste, die ich je gesehen habe, dachte Anna. Perfekte Halbkugeln. Als hätte sie selbst sie modelliert. Das leichte Lächeln wirkte abwesend. Als hätte ich sie nicht gerade seufzen und aufschreien hören, dachte Anna. Ihre Augen gebrochen und ihre Hände zwingend. Eine Madonna, die sich auf einen Handel eingelassen hat. So sollte man sie sehen.

Sie zögerte. »Ich würde dich gerne fotografieren«, sagte sie.

Ev wandte ihr den Kopf zu. Das Lächeln wurde breiter, fröhlich. »Schön«, sagte sie. »Dann mußt du mindestens bis morgen bleiben, und wir können bei Carla zu Abend essen. Das wollte ich dir nämlich gerade vorschlagen.«

Carlas Grotto war ein niedriger, rauchgeschwärzter Raum mit Deckenbalken, den man über eine ausgetretene Stiege erreichte. Ein Kamin, in dem ein Feuer glomm, dunkelrote Glut. Derbe Holztische. Auf den Simsen vor den kleinen Fenstern gewaltige Bergkristalle, in denen sich das Licht der Kerzen brach. Männer mit bäuerlichen Gesichtern, die Augen glänzend vom Wein, den sie aus bunten Porzellangefäßen tranken. Ein stämmiger junger Mann mit dichtem schwarzem Haar, der sich zu ihnen setzte und sie mit Blicken verschlang, während er mit ihnen sprach. Ev lachte mit ihm, wirkte in all der Hitze und Begehrlichkeit glatt und kühl, während Anna meinte, jeden einzelnen Körper zu spüren. Sie war schweißüberströmt, fröstelte, als der Mann von schwarzen Messen zu erzählen begann, die angeblich im Nachbardorf stattfanden. Eine schöne schwarzhaarige Hexe sollte daran beteiligt sein. Ev lachte ungerührt, obwohl der Mann, begeistert von seiner Erzählung, sie lüstern ansah. Anna trank so viel Wein, daß alle Konturen unscharf wurden und Ev sie an der Hand die Stiege hinunterführen mußte. »Und die gute Hexe?« murmelte Anna, als sie über die unebenen Wege zu Evs Haus stolperten. Sie schrie auf, als etwas im Dunkeln an ihr vorbeiraste und ihr Bein streifte.

»Schsch, das war der Dorfhund« beruhigte Ev sie. »Er ist immer unterwegs. Er kann nicht langsam laufen und schläft so gut wie nie. Als treibe ihn etwas um, als müsse er irgendeine Aufgabe erfüllen. «

Die Bilder aus Carlas Grotto begleiteten Anna in den Schlaf. Bilder aus einer Höhle.

Sie folgte der Frau, aber sie hatte ihr Gesicht noch nicht gesehen. Es war von großer Wichtigkeit, diese Frau nicht aus den Augen zu verlieren. Sie war schlank und groß und trug ein glänzendes schwarzes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Einen Umhang aus demselben Stoff, der ihr hinterherwehte. Das Licht brach sich darin und verschwand. Ihre Schritte waren fest und sicher. Die Absätze ihrer Schnürstiefel klackten auf dem Kopfsteinpflaster. Ihr schimmerndes schwarzes Haar war zu einem langen Zopf geflochten.

Das Dorf schien wie ausgestorben. Katzen huschten davon, sobald sie die Schritte der Frau hörten. Anna wußte, daß sie jemanden vor dieser Frau schützen mußte. Deshalb folgte sie ihr.

Sie ließen das Dorf hinter sich, gingen einen schmalen Pfad über eine Wiese entlang. Anna versteckte sich, so gut es ging, hinter Bäumen. Wieso wurde sie das Gefühl nicht los, daß die Frau von ihrer Anwesenheit wußte?

Sie näherten sich einer kleinen, halbverfallenen Kapelle. Die Frau verschwand darin. Anna schlich sich heran. Vorsichtig zog sie die schwere, verwitterte Holztür einen Spalt auf und spähte in den Innenraum. Sie hatte eine Menschenmenge erwartet, versammelt, um einen unheimlichen Ritus zu zelebrieren. Doch die Kapelle war leer. Nur die Frau im schwarzen Kleid stand mit dem Rücken zu Anna vor einer Art Altar, einem groβen grauen Granitquader, und arrangierte einen Strauß blutroter Rosen in einer Vase. Einzig die Rosen leuchteten farbig in dem Bild, alles andere war schwarz oder grau.

»Komm herein«, sagte sie. Ihre Stimme war klar und wohltönend und hallte von den Wänden wider.

Anna erschrak. Das Erschrecken fuhr durch ihren ganzen Körper, ein kaltes Zucken.

Sie betrat die Kapelle, ging Schritt für Schritt auf die Frau zu. Als sie kurz vor ihr war, drehte die Frau sich um, und diesmal war das Erschrecken noch größer. Sie kannte die Frau, und sie kannte sie nicht. Sie glich einem anderen Menschen, einem Mann, als wäre sie seine Schwester; aber Anna konnte sich nicht auf den Mann besinnen, sosehr sie sich auch bemühte. Sie sank vor der Frau auf die Knie und ergriff ihre Hand. Eine schmale alabasterfarbene Hand. Anna küßte die Hand. Ihre Lippen fühlten sich eisig an, aber zwischen ihren Beinen hatte die Berührung ein samtiges Glühen hervorgerufen.

Die Frau legte ihr die Hand unters Kinn und zog sie hoch. Sie lächelte Anna an. Sie war schön. Weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz, rot wie Blut, dachte Anna.

»Ich bin Esma«, sagte die Frau. »Ich bin eine Hexe. Du hast von mir gehört.«

Anna nickte. Sie schien stumm geworden zu sein.

Esma nahm sie bei der Hand und führte sie zum Altar. »Es heißt von mir, ich raube Jungfrauen die Unschuld. Das ist wahr. Wenngleich ich das nicht unter der Statue einer gehörnten Gottheit tue, wie immer geraunt wird. Das ist Legende. Und es geschieht zum Wohle der Jungfrauen. Heiße meinen Gefährten willkommen. Mit ausladender Geste wies sie auf einen Seiteneingang. Durch das graue Gestein trat ein großer, hagerer Mann. Als Anna sein Gesicht sah, erschrak sie aufs neue. Es glich dem einer Frau, die sie kannte, doch ihr wollte nicht einfallen, wer jene Frau war. Der Mann hätte ihr Bruder sein können.

»Aman«, sagte Esma zu ihm. »Laß uns beginnen. «

Ich bin keine Jungfrau mehr, schoß es Anna durch den Kopf, doch da lag sie schon auf dem rauhen Stein, und sie war nackt. Ein Blick des stummen Einverständnisses zwischen den beiden, dann trat Esma zu dem Altar und begann mit den Fingernägeln sachte Kreise über Annas Körper zu ziehen. Sie hinterließen hitzige Sonnen und Spiralen, bis Anna das Gefühl hatte, tätowiert zu sein. Ihre Lippen schienen zu schwellen, ihr Blut drängte nach Berührung. Esmas Zähne zerrten zart an Annas Nippeln, sie wuchsen, steil wie rote Türme. Ein Stöhnen entrang sich ihr, und sie sah schäumendes Wasser, als eine kühle Schlangenzunge sich an ihrer aufgeplatzten Spalte zu schaffen machte, sie reizte, bis sie zitterte, eisige Nadelspitzen und heißes Pech, und Anna bäumte sich auf und schrie, als sei ein Geist in sie gefahren. Etwas riß sich los in ihr und durchbrach etwas, ein gewaltiges Beben, etwas Gefangenes.

Sie schlug die Augen auf und sah, wie Esma sich aufrichtete, zufrieden lächelnd sich die Lippen leckte und Aman zunickte. Er reichte ihr eine weiße Marmorschale; Esma plazierte sie unterhalb von Annas vulkanischer Spalte.

Aman sah Anna an, als er vortrat und sein groβes steifes Glied aus seinem Gewand befreite. Ruhe lag in seinem Blick, etwas Ebenmäßiges, das Anna nicht verstand. Doch sie war plötzlich überzeugt, daß all dies hier gut war, daß sie neugeboren sein würde danach. Als Aman sie um die Hüften faßte und in sie eindrang, schnappte sie nach Luft vor Gier, keuchte und wurde kurz darauf von einer rot-schwarzen Flutwelle erfaßt, die ihr das Bewußtsein raubte. Sie erwachte von sopranhohen, kurzen Schreien und blickte irritiert in Richtung der Töne. Auf einer Holzbank lagen Aman und Esma. Er versenkte sein gewaltiges Glied in ihr, sie umschlang ihn mit den Beinen und ritt dem Höhepunkt entgegen. Als sie kam, nahm das hohe Singen kein Ende mehr. Aman entlud sich mit einem dunklen Stöhnen in ihr, und Anna zuckte, als schleudere er seinen Samen in ihre empfängliche Höhle. Dann standen die beiden auf, als sei nichts geschehen, und ordneten ihre Kleider. »Das Recht der ersten Nacht«, sagte Esma zu Anna, dann verließen die beiden die Kapelle durch den Seiteneingang, und Anna fragte sich, wo das Hundebellen herkam; es klang wie eine ganze Meute. Es hörte nicht auf, und als sie schließlich hochfuhr und feststellte, daß sie sich im Schlafzimmer von Ev Waldhoff befand, atmete sie tief durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Als Anna wenige Stunden später durch den Sucher blickte, war der Traum ausgeblendet. Evs Hand auf einem Stein, locker geöffnet, als wolle sie nach etwas greifen. Ihr schlanker Körper an einen Felsen geschmiegt, als umarme sie ihn, doch ein wenig verdreht, aus der Entfernung betrachtet konnte sie auch tot sein. Oder ein Trugbild. Ihre Nippel, zart und dunkel, rieben sich an hellem Marmor.

Die Rollen kehrten sich um. Anna war strikt und knapp, wenn sie arbeitete. Sie gab Befehle, nüchtern, sah nicht mehr die Frau, der sie nahe gewesen war, nur das Modell, die Form, das Licht. Suchte die richtige Atmosphäre. Imaginierte die Ausstrahlung des Fotos. Hoffte, daß sie nichts übersah, was die Vollkommenheit stören konnte.

Ev fügte sich willig, schien Freude daran zu haben.

Ihr Haar, das in der Gischt davonschwamm, ihr Hals gebogen wie der eines Schwans, die Augen geschlossen, die stillen Züge seltsam wächsern. Ihre Lippen an stachligen Gräsern. Ihre Zähne, die in einen faustgroßen Kiesel bissen. Ihre Vulva, aufklaffend wie eine Blüte, im Halbschatten eines ovalen Felsschlunds.

Anna hatte noch nie pornographische Aufnahmen gemacht und es auch nicht vorgehabt. Doch Evs Körper entwickelte eine eigene Sprache in dieser Landschaft, leitete sie. Er verschmolz mit ihr, kollidierte mit ihr und forderte sie heraus. Alle Aufnahmen schienen Anna folgerichtig zu sein.

Sie spürte sich nicht mehr, während sie arbeitete, nur die Kamera, ihre Verläßlichkeit, ihre mechanische Gewißheit. Sie merkte nicht, daß sie noch atmete. Erst als sie aufhörte, als das Licht nicht mehr gut war, holte sie tief Luft und sah Ev an. »Zieh dich schnell an«, sagte sie. »Es ist ja schon kalt.«

»Noch nicht«, flüsterte Ev. Sie standen in einer abgelegenen Schlucht, zwischen mannshohen Felsen. Ein leichter Wind strich hindurch, jagte das Wasser, das sich zu Tal wand. Die Sonne zog sich zurück. Ev drängte Anna an einen der Quader, spaltete ihre Lippen mit der Zunge. Anna hob die Hände, legte sie auf Evs Hintern. Schutzlos fühlte sie sich an, so nackt, doch sie war ein Wesen, das in diesem Tal lebte, im klaren Wasser badete, sich von Tauben und schwarzen Beeren ernährte. Ihre Fingerspitzen erwärmten sich auf Evs Haut, vergaßen das kühle Metall der Kamera. Evs Finger gruben sich in ihren Schoß, sie mußte gewartet haben auf diesen Moment, drängte, und als Anna die Lippen zwischen Evs Beinen spürte, klebrig und feucht, als wolle sie Insekten locken, platzte ihre unnahbare Fassade auf, sie versenkte sich in die zuckende Nässe, die sich an ihre Finger klammerte, wollte die Schreie aus Evs Kehle hören, lauter als das Wasser, und sie kamen stoßweise und vermischten sich mit einem langgezogenen Laut von Anna, als sei sie das Echo.

»Er ist Galerist, in Ascona«, sagte Anna. Sie saßen auf Evs Terrasse, beide erschöpft von der Session, träge zurückgelehnt, die Füße auf der Mauer. Der Nostrano stieg Anna zu Kopf. Es war schon fast dunkel, nur über dem Wasserfall leuchtete der Himmel noch in einem helleren Blau. Eine Katze schlich über die Wiese. Anna dachte an die Smaragdeidechse, die sie am Nachmittag gesehen hatte. Ein blaugrün schillerndes Reptil, das sich langsam bewegte wie ein Tier aus der Urzeit. Sie strich sich mit beiden Händen über die Stirn und durchs Haar. Die Luft war kühl geworden, roch nach Wasser und Gras.

Anna wollte weitersprechen, Ev erklären, was sie empfand, doch die Worte blieben aus. Sie zuckte die Achseln. Ihre Schutzschilde lösten sich auf, sie glaubte, daß Ev sie verstehen würde, aber ihr war selbst unklar, was mit ihr geschah. »Ich kann es nicht erklären. Es kommt mir vor, als befehle er mich zu sich. Es ist schwer, sich dagegen zu wehren. Als hätte ich nur diese eine Chance im Leben, etwas Wichtiges über mich zu erfahren.«

»Aber es ist etwas Dunkles, und du hast Angst.« Evs Stimme schien zu schweben. Anna nickte, ohne Ev anzusehen. Die Kerze zwischen ihnen flackerte unruhig.

»Bist du nicht neugierig?«

»Doch«, sagte Anna. Ihre Stimme kratzte im Hals. »Aber ich fürchte mich. Das ist mir noch nie passiert. Ich fürchte mich, weil ich weiß, daß ich bei diesem Mann nicht mehr auf Abstand bleiben kann. Er hat irgend etwas in mir aufgerissen. «

Ev seufzte. »Du hast längst entschieden, Anna. Räumliche Distanz ändert nichts, verstärkt nur die Unruhe. Geh zurück. Du bist stark, du wirst ihn aushalten.«

Annas Augen brannten. »Ich habe noch nie eine Frau wie dich getroffen«, sagte sie leise und trank einen Schluck Wein, um die Enge im Hals loszuwerden.

Noch immer vermieden sie es, sich anzusehen. Hinter Evs Haus ging jemand vorbei. Die Schritte verloren sich zwischen den Häusern. Auch Evs Stimme klang scheu, als sie sprach. »Ich bin froh, daß wir uns kennengelernt haben. Du bist gerade in einer Zeit gekommen, in der ich etwas verwirrt war. Jetzt fühle ich mich wieder klar.«

»Gut«, sagte Anna, stand auf und rieb sich die Arme. »Mir ist ein bißchen kalt. Wollen wir reingehen? «

Als sie am nächsten Tag zu dem Wasserfall hinübersah, einen letzten Blick auf das Dorf warf, das sich in die Mulde am Fuße des Berges schmiegte, empfand sie viel Zärtlichkeit für Ev, die Madonna am Wegkreuz, die sich der Welt verweigerte und ihr Leben der Erweichung von Stein verschrieben hatte. Vielleicht würden sie sich eines Tages wiedersehen, doch das war für Anna jetzt nicht wichtig. Sie sah nur noch, was direkt vor ihr lag, und wie das enden würde, wußte sie nicht.

Feuerlilien

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