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2.1 Was ist DGS nicht?
ОглавлениеUm es gleich einmal vorwegzunehmen: DGS ist genauso strukturell komplex und funktional adäquat wie alle anderen natürlichen Sprachen auch. Dennoch gibt es immer wieder Missverständnisse, von denen wir vier besonders aufgreifen möchten: DGS ist nicht international, sie ist kein Fingeralphabet, sie ist keine Pantomime und sie ist nicht gebärdetes Deutsch.
DGS ist nicht international
Menschen, die das erste Mal mit Gebärdensprachen konfrontiert sind, stellen häufig als Erstes diese Frage: „Ist Gebärdensprache eigentlich international?“ Wenn diese dann verneint wird, wird das zumeist mit einem: „Schade, das wäre doch aber so praktisch!“ kommentiert. Der bedauernde Unterton ist dabei selten zu überhören. Dabei ist die Sache mit der Nicht-Internationalität weder verwunderlich noch bedauerlich. Die Antwort liegt darin begründet, dass DGS genau das ist, was der Name sagt: eine Sprache. Und zwar eine ganz natürliche, die (vorwiegend gehörlose – aber nicht nur) Menschen verwenden, um all die Dinge zu tun, die man so mit natürlichen Sprachen macht: Witze reißen, sich erklären, schimpfen, flirten, Geschichten erzählen, Wegbeschreibungen liefern, Pläne schmieden usw. Für die Entstehung von Gebärdensprachen spielen insbesondere solche Orte eine zentrale Rolle, an denen gehörlose Menschen zusammenkommen und gemeinsam soziales Miteinander schaffen. In der Vergangenheit waren dies oft Schulen und Internate. Das hat auch dazu geführt, dass in verschiedenen Ländern unterschiedliche Gebärdensprachen entstanden sind. So gibt es neben der Deutschen Gebärdensprache zum Beispiel auch eine Griechische, eine Amerikanische oder eine Syrische Gebärdensprache. Darüber hinaus können Gebärdensprachen aufgrund ihrer Entstehungsgeschichten auch verschiedene Dialekte haben (s. Kap. 2.2.2). So sehen einige Gebärden im Süden Deutschlands anders aus als im Norden, Westen oder Osten.
Gebärdensprachen sind wie Lautsprachen keine starren Systeme. Heute ist es möglich, auch mit Gebärdensprache Theologie, Medizin oder Quantenphysik zu studieren. Weil DGS damit in Kontexten Anwendung findet, für die gebärdensprachliche Interaktion bis vor wenigen Jahren nicht möglich war, hat dies natürlich direkte Auswirkungen auf die Entwicklung der DGS, insbesondere im Bereich des Lexikons. In der sukzessiven Weiterentwicklung zeigt sich nicht nur das Potential von Gebärdensprachen, sich sozialen Entwicklungen anzupassen, sondern sie ist auch ein Indiz für die Natürlichkeit der Sprachen.
DGS ist nicht das Fingeralphabet
Das Fingeralphabet bietet die Möglichkeit, mit Hilfe verschiedener Handzeichen die Buchstaben der deutschen Schriftsprache manuell darzustellen und auf diese Weise Wörter der deutschen Sprache in die Luft zu buchstabieren (s. Abb. 1).
Abb. 1: Das Wort ‚Haus’ im deutschen Fingeralphabet (oben) und die Gebärde HAUS in DGS (unten)
Fingeralphabete sind eine wunderbare Erfindung für solche Fälle, wenn es beispielsweise darum geht, spezielle lautsprachliche Wörter, für die es (noch) keine entsprechenden Gebärden gibt, in Gespräche zu integrieren. Auch bei Eigennamen für Orte und Personen kommt das Fingeralphabet regelmäßig zum Einsatz. So gesehen findet das Fingeralphabet durchaus seine Anwendung in gebärdensprachlicher Kommunikation. Im engeren Sinne sind Fingeralphabete jedoch künstlich entwickelte Systeme, mit deren Hilfe sich Wörter der Lautsprache räumlich-visuell darstellen lassen. Quasi ein Mittelding zwischen Laut-, Schrift- und Gebärdensprache.
Fingeralphabete eignen sich nicht dazu, sich Buchstabe für Buchstabe durch ein Gespräch zu daktylieren (= mit den Fingern buchstabieren). Wollte man dies tun, wäre das nicht nur unglaublich anstrengend, sondern würde in etwa so aussehen, wie es sich anhören würde, wenn man sich per Artikulation einzelner Laute unterhalten wollte. So nach dem Motto: „H-a-l-l-o-O-m-a-W-a-n-n-k-o-m-m-s-t-D-u-u-n-s-W-e-i-h-n-a-c-h-t-e-n-b-e-s-u-c-h-e-n?“ So redet natürlich kein Mensch! Sprache funktioniert anders. Wie wir später noch ausführen werden, machen sich Gebärdensprachen in ganz spezieller Weise die visuell-räumliche Modalität zunutze. Durch systematische Kombinationen u.a. von Handformen, Bewegung und Gesichtsausdruck können verschiedene bedeutsame Informationen simultan kommuniziert werden (s. Abb. 1).
Übrigens hat jede Gebärdensprache ihr eigenes Fingeralphabet. In manchen Sprachen wie der Deutschen oder der Amerikanischen Gebärdensprache (American Sign Language, ASL) reicht dafür eine Hand, für andere, wie zum Beispiel die Britische Gebärdensprache (British Sign Language, BSL), braucht man beide Hände.
DGS ist nicht Pantomime
Wer gehörlosen Menschen schon einmal dabei zugeschaut hat, wie sie sich auf DGS unterhalten, wird festgestellt haben, dass – je nach Thema der Unterhaltung und Temperament der Beteiligten – ausladende Armbewegungen und lebendige Mimik gebärdensprachliche Unterhaltungen bestimmen. Auf den ersten Blick sieht es dabei manchmal so aus, als könne man selbst als völlig „unvorbelasteter“ Beobachter das eine oder andere verstehen oder doch zumindest einen Eindruck davon bekommen, worum es gerade geht. Die Räumlichkeit der Sprache und der Körpereinsatz auf der ganzen Linie legen darum zuweilen, wenn auch irrtümlicherweise, die Vermutung nahe, Gebärdensprache sei so ähnlich wie Pantomime. Abgesehen davon, dass beide auf ihre Art physische Formen der Kommunikation darstellen, unterscheiden sie sich doch grundlegend. Pantomime bildet komplexe Zusammenhänge bildlich ab. Dabei wird in der Regel der gesamte Körper eingesetzt. Gebärdensprachen sind jedoch natürliche Sprachen, die in ihrer medialen Realisierung zwar räumlich-visuell und somit sichtbar artikuliert werden, von ihrem Aufbau her jedoch wie Lautsprachen nicht ganzheitlich, sondern auf verschiedenen Ebenen systematisch aufgebaut sind. Wie Wörter zum Beispiel aus einer begrenzten Anzahl von Lauten zusammengesetzt sind, besteht ein Gebärdenzeichen aus einer limitierten Anzahl von Handformen. Es ist also in erster Linie nicht so sehr das Bild an sich, sondern sprachliche Gesetzmäßigkeiten, an denen sich der Aufbau einer gebärdeten Äußerung orientiert. Abgesehen davon lassen sich in DGS ganz abstrakte Inhalte vermitteln, für die es keine direkten bildlichen Vorlagen gibt, die man für die Gebärde benutzen könnte. So gibt es zum Beispiel Gebärden für abstrakte Ausdrücke wie ‚Glück‘, ‚Linguistik‘ und ‚philosophieren‘.
Nicht zuletzt ist bei Pantomime der gesamte Körper im Einsatz und auch der Raum, den der Darsteller einnimmt, ist dabei grundsätzlich nicht begrenzt. Bei gebärdensprachlicher Kommunikation hingegen werden sprachliche Äußerungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur im Raum vor dem Oberkörper der gebärdenden Person artikuliert. Einfach ausgedrückt: Der Pantomime-Künstler läuft aufgeregt durch den Raum, der DGS-Nutzer produziert dagegen konventionalisierte sprachliche Zeichen und zeigt mit seinen Händen, wie eine Person aufgeregt durch den (Gebärden-)Raum läuft.
DGS ist nicht gebärdetes Deutsch
Manchmal werden wir gefragt, ob man in Gebärdensprache auch wirklich all das ausdrücken kann, was man auf Deutsch kommunizieren kann. Dahinter verbirgt sich im Grunde genommen die Annahme, dass die Deutsche Gebärdensprache so etwas wie „Deutsch auf Gebärdensprache“ oder „gebärdetes Deutsch“ ist. Wichtig ist zunächst einmal festzuhalten, dass es so etwas tatsächlich gibt: gebärdetes Deutsch bzw. Lautsprachbegleitende Gebärden (LBG).
Bei Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG) handelt es sich um eine Kommunikationsform, bei der Deutsch gesprochen wird. Gleichzeitig werden zu allen oder oft auch nur zu einigen Wörtern Gebärden produziert. Manchmal werden Flexionsendungen der deutschen Wörter zusätzlich durch das Fingeralphabet visualisiert. Es handelt sich bei LBG nicht um eine eigenständige Sprache, sondern um eine (zusätzliche) Visualisierung von gesprochenem Deutsch. LBG werden deshalb vor allem benutzt, um das Verstehen von gesprochenem Deutsch zusätzlich zu unterstützen. Um einen LBG-Satz zu verstehen, muss man nicht nur die Gebärdenzeichen kennen, sondern auch mit der grammatischen Struktur der deutschen Sprache vertraut sein. Oft werden nur einige Schlüsselwörter in einem Satz mit Gebärden begleitet. Dies wird auch als Lautsprachunterstützende Gebärden (LUG) bezeichnet.
ICH | GEHEN | NACH | HAUSE |
ICH | NACH-HAUSE |
Abb. 2: Deutscher Satz mit LBG: ICH GEHEN NACH HAUSE (oben), DGS-Satz: ICH NACH-HAUSE („Ich gehe nach Hause“) (unten)
Für die LBG werden lediglich einzelne Gebärden aus der DGS entliehen. LBG folgen aber nicht der Grammatik der DGS (s. Abb. 2). DGS hat eine eigene Grammatik, die insbesondere die Möglichkeiten des visuellen Raums ausnutzt. Wie das genau aussieht, erklären wir in Kap. 2.2.