Читать книгу Liebe würde helfen - Claudia Brendler - Страница 3

Hanne

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Sie hat keine Erinnerung, wie sie hierhergekommen ist. Hierher, vor diese Haustür, die sie kennt, natürlich kennt sie diese Tür, seit mehr als vier Jahren steht sie jeden Mittwoch um sechzehn Uhr dreißig davor und drückt auf die Klingel. Gleich wird sie Tobis Schritte hören, er wird die Tür öffnen, sie werden einander begrüßen, er wird durch den Flur vorausgehen wie immer, und sie wird auch diese Klavierstunde durchstehen. So, wie sie alles durchsteht. Seit fünf Wochen und zwei Tagen geht es nur noch darum, Durchstehen, Durchhalten, Weitermachen, wie, ist erst mal egal, Hauptsache durch. Was hinter dem Durch kommt, kann sie sich nicht vorstellen. Sie muss mit dem Bus hergefahren sein, wie immer. Muss gestanden oder gesessen, aus dem Fenster geschaut oder den Boden betrachtet haben, all die kleinen Pfützen, die die Schuhe der Leute hinterlassen, muss ausgestiegen und den üblichen Weg zu Katrins Haus gegangen sein, vorbei an den Geschäften, Dönerbuden, Pizzerien, Cafés, dem Bioladen, bis zu der ruhigen Seitenstraße mit den Reihenhäusern. Sie kann sich an kein Detail des Wegs erinnern, wo war sie währenddessen, haben Außerirdische sie entführt und wieder abgesetzt? Solche Gedanken fliegen sie jetzt manchmal an, abwegige Gedanken, die sie zum Lachen reizen, eine Verrückte, der Teile ihres Alltags fehlen. Ganz sicher hat sie vor dem Weggehen ihre Zähne geputzt, so sorgfältig wie immer, danach die Zungenreinigung, Zahnseide, antibakterielle Spülung. Der Geschmack von Zahnpasta und Spülung ist verflogen, sie schiebt sich ein Pfefferminz in den Mund und drückt wieder auf den Klingelknopf. Ist heute überhaupt Mittwoch? Ihr Handy ist nicht in der Tasche, wahrscheinlich zu Hause gelassen. Nein, in der Wohnung. Zu Hause gibt es nicht mehr, sie sollte das Wort nicht mehr denken. Sie dreht sich um. Die Straße hinter dem winzigen Vorgarten ist leer. Am Eingang des kleinen Parks steht ein Mann mit Hund. Er trägt einen Hut, einen Cowboyhut aus schwarzem Leder. Kurz fragt sie sich, ob er real ist. Was denn sonst, sie ist nicht verrückt, sie weiß auch, welcher Wochentag ist. Vorgestern war Montag, sie war bei der Therapeutin. Gestern war Dienstag, ein Nachmittag an der Musikschule, die Schüler wie Gespenster, sie selbst ein Gespenst. Das Regentropfen-Lied aus der Klavierschule für die Kleinen; Yann Tiersen, die Filmmusik von Amélie; eine dieser Kitschmelodien aus den Biss-Filmen; Mozart; Bartok; ein Lied aus der Eiskönigin; Ravel; Gershwin. Sie hat funktioniert. Die kleinste Schülerin, kaum sieben Jahre alt, hat nach der Stunde mit dem winzigen Zeigefinger über ihren Handrücken gestrichen, ganz kurz, ganz zart: Bist du traurig, Frau Martini? Sie hat überstürzt aufs Klo gehen müssen.

Der Mann mit dem Hund kommt nun die Straße herunter. Der Hund wieselt voran, schnüffelnd, er ist groß, hell, freundlich. Ein Kinderhund, Familienhund. Sie geht vor zum niedrigen Zaun des Vorgartens, fragt den Mann, wie spät es ist. Als er sein Handy herauszieht, versucht sie, einen Blick aufs Display zu werfen, dort müsste auch das Datum stehen, der Wochentag, zu klein, sie kann es nicht entziffern. Fünf nach halb fünf, sagt er, seine Stimme ist ein bisschen rau. Einer, der sich oft räuspert. Vielleicht erträgt seine Frau das ständige Geräusper nicht und schickt ihn deswegen mit dem Hund raus.

Danke, sagt sie, hält dabei automatisch die Hand vor den Mund, wie immer, wenn jemand nahe bei ihr steht. Nur der Zaun ist zwischen ihnen, und der Mann mustert sie, wirkt, als wollte er noch etwas sagen oder fragen. In diesem Moment hört sie Tobis Schritte im Haus, hört, wie er die Tür aufreißt, und sie bedankt sich noch einmal und geht zurück.

»Ich hab … gerade geübt, hast du schon mal geklingelt?« Tobi steht ihr gegenüber und schaut zu ihr herab. Ist es möglich, dass ein Vierzehnjähriger innerhalb einer Woche um mehrere Zentimeter wächst? Katrin ist klein. In der Schule waren sie ein ungleiches Freundinnenpaar, Katrin und sie. Klein und schmal, groß und plump. Daran muss sie jetzt denken, während sie Tobi ins Haus folgt und sich dabei wieder plump vorkommt. Tobi schlängelt sich durch den Flur, vorbei an herumstehenden Getränkekästen, entschuldigt sich, dass er sie warten ließ, nicht gehört hat. Im Wohnzimmer ist es warm. Und es duftet. Blumen. Ein riesiger Strauß, er beherrscht den Tisch, orange und weiß, der Duft ist stark, ihr wird schwindlig davon. Was daran liegt, dass sie seit Jans Geständnis kaum noch essen kann. Wenn man nicht isst, hat man umso mehr Mundgeruch. Schnell steckt sie ein frisches Pfefferminz in den Mund und sagt: »Schöner Strauß, sind das Fresien?«

Tobi zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung, hat Mama bekommen.« Er wendet sich ab, dreht sich zum Klavier, wirft sich fast herum. Sie zieht den Mantel aus und hängt ihn über die Stuhllehne. Ihre Hosen rutschen, passen nicht mehr, dabei hat sie sie erst vor kurzem gekauft. Genau vor fünf Wochen und einem Tag. Dem Tag nach Jans Geständnis, dass es die Neue gibt. Enge Hosen, figurbetonende Pullover, die jetzt an ihr herumschlottern. Tobi sitzt schon auf der Klavierbank, schlägt rasch die Noten auf. Natürlich hat er nicht geübt, wahrscheinlich ein Computerspiel gespielt. Sie zieht einen Stuhl heran. Nicht zu nahe, so wie sie es auch in der Musikschule hält, um niemanden mit ihrem eventuellen Geruch zu belästigen. Jan konnte nichts für seine Geruchsempfindlichkeit. Für ihn hat sie auf Parfüm und Cremes verzichtet, zugelassen, dass er ihr das Deo aussuchte, sogar die Pfefferminzbonbons. Das mit dem Mundgeruch kam erst später in ihrer Beziehung. Diese eine Autofahrt, als er es kaum neben ihr ausgehalten hat, so schlimm muss ihr Mundgeruch gewesen sein. Sie hatte kein Pfefferminz dabei, saß steif, aufgerichtet, sprach nicht mehr, traute sich kaum, auszuatmen. Ihre Zähne sind in Ordnung, der Zahnarzt hat nie eine Ursache gefunden, auch gerochen hat er nichts. Tobi hat schon angefangen zu spielen, die ersten Akkorde des C-Dur-Präludiums. Sie muss sich konzentrieren. Das hat sie auf einer Fortbildung gelernt: Die Augen schließen, nicht die Noten mitlesen – sie kennt das erste Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier sowieso auswendig –, hören, was der Schüler zu geben hat. Tobi hat nach der ersten Modulation von C nach G wie immer Holpriges zu geben, entschuldigt sich, fängt von vorne an. Er riecht nach Schweiß, eine Pubertätsausdünstung, sie kennt das auch von anderen Schülern und Schülerinnen, keine leichte Zeit, wenn man alles verströmt, Hormone, Schweiß, Hoffnung, Verzweiflung, wenn man sich auf den eigenen Körper nicht mehr verlassen kann, wenn er zum Rätsel wird. Sie erinnert sich gut an ihr eigenes Aufgewühltsein in Tobis Alter, während Katrin damals immer gelassen schien, zumindest äußerlich. Wie eng war ihre Freundschaft eigentlich? Hat Katrin gewusst, warum sie in dieser Zeit nur Jacken mit weiten Taschen trug? Wie sie sich für ihre Schaufelhände geschämt, sie immer in diesen Taschen versenkt hat? Außer in der Klavierstunde, da wurde sie dafür gelobt, dass sie mühelos eine Dezime greifen konnte. Aber das zählte nicht, Beliebtheit zählte, Begehrtsein. Katrin hat auf Klassenpartys viel herumgeknutscht, schon mit vierzehn, beinahe schamlos, sie erinnert sich an Katrin auf einer Matratze, während ihr der Klassenkamerad, wie hieß er, Steffen?, den Rock hochschob, im Halbdunkel. Wenn Tobi wüsste, was sie denkt, verdammt, sie muss zuhören, mit geschlossenen Augen, dann hört man nicht nur besser, man riecht auch mehr. Wenn man sich die Welt erschnüffeln will, muss man Augen und Ohren verschließen, Nase am Boden, wie ein Hund, alles erschnüffeln, Ausdünstungsspuren, Hormonspuren, Lebensspuren, Jan und sie haben mal einen Hund anschaffen wollen, es dann doch nicht getan.

Tobi ist wieder hängengeblieben. Ob er nicht lieber etwas Neues anfangen will, fragt sie, den Fluch der Karibik zum Beispiel, das ist ein bisschen leichter und macht sicher Spaß. Tobi schüttelt den Kopf. Er mag dieses Präludium, sie weiß es, er hat es schon öfter gesagt, Tobi ist einer der wenigen Schüler, die freiwillig Bach spielen. Sie gehen die Stelle, an der er scheitert, zusammen durch, es liegt am vierten Finger, er muss den fünften nehmen, sonst stolpert er beim Lagenwechsel. Tobi bemüht sich, streicht eine Locke zurück, seine Haare sind inzwischen richtig schwarz. Bartflaum in seinem Kindergesicht, über der Oberlippe und auf den Wangen. Vor ein paar Jahren sah er Katrin noch ein bisschen ähnlich, inzwischen haben sich wohl die Gene seines Vaters durchgesetzt. Sie weiß wenig über Katrins Exmann. Erst nach Katrins Scheidung sind sie sich wieder über den Weg gelaufen, beim zwanzigjährigen Abi-Treffen.

Ob Tobi seinen Vater liebt, mit ihm reden kann, sie würde ihn gern danach fragen. Soweit sie weiß, gibt es eine neue Frau, neue Kinder, auch die Frau verlassen von einem Mann, wegen einer anderen, alle verlassen alle, Patchworkfamilien sind heute die Normalität. Was sich alles geändert hat in kaum drei Jahrzehnten, sie selbst hat sich als Kind noch dafür geschämt, dass sie eine vom Vater verlassene Tochter war. Haltlos, so hat sie sich immer gefühlt, schon als Schülerin, die Musik war ihr Halt, später war Jan ihr Halt, eigentlich will sie in der Therapie über all das gar nicht reden, will einfach nur ihr altes Leben zurück. Die Therapie ist eine Nottherapie. Ein paar Stunden zur Überbrückung, während sie auf einen richtigen Platz wartet. Sie hat sofort nach Jans Geständnis angerufen. Alle Notfallnummern, die sie finden konnte. Dann ist sie einkaufen gegangen. Vollkommen betäubt.

Tobi hat den Lagenwechsel geschafft, scheitert aber an dem nächsten arpeggierten Akkord und beißt auf seiner Unterlippe herum.

»Scheiße. So eine blöde Scheiße«, sagt er, dann entschuldigt er sich. Etwas Tieftrauriges geht von ihm aus, es hat nichts mit verpatzten Lagenwechseln oder verstolperten Arpeggien zu tun. Direkt danach fragen kann sie nicht, sie fragt nur: »Und sonst? Alles okay? Wie geht’s in der Schule?«

»Hab noch so viele Hausaufgaben.« Tobi schaut auf die Tasten. Auch das ist nicht der Grund, sie spürt es. Manchmal erzählt er ein bisschen von der Schule, er hängt in verschiedenen Fächern, nur in Mathe ist er gut. Freunde kommen in seinen Erzählungen nicht vor, das ist ihr aufgefallen.

Ob sie ihm helfen könne, fragt sie, hält dabei die Hand vor den Mund. Ein Dreiwortsatz schießt ihr durch den Kopf: Mundgeruch macht einsam. Aus einem Werbespot für Gebissreiniger, jetzt fällt es ihr wieder ein, sie war noch ein Kind, und die Omis, von denen sich alle abwandten, haben ihr leidgetan.

»Helfen? Bei den Hausaufgaben?« Tobi lächelt sein Zahnspangenlächeln. »Geht das? Ich meine … ich hab Klavierstunde, dafür bezahlt Mama dich doch.«

Es klingt ein bisschen nach Dienstbotentum, genau das ist der Grund, warum sie sich normalerweise weigert, zu Privatschülern nach Hause zu gehen. Nur bei Katrin hat sie eine Ausnahme gemacht, Tobi war neun damals, Katrin im Dauerstress, keine Zeit, ihn zu bringen und abzuholen. Jetzt könnte er längst mit dem Bus fahren, aber es ist dabei geblieben. Im Moment kann sie sowieso nicht in der Wohnung unterrichten. Überall Umzugskisten, die meisten Möbel sind weg. Sie hat noch keine neue Wohnung gefunden, müsste Tag und Nacht suchen, bei diesem schwierigen Wohnungsmarkt und ihrem geringen Gehalt, aber sie sucht nicht, sie tut nichts, als irgendwie durch die Tage zu schwimmen.

»Das ist schon okay«, sagt sie, »zeig mir einfach, was du aufhast«, und Tobi springt auf, kommt einen Moment auf dem Parkett ins Rutschen. Seine riesigen Füße in gestreiften Wollsocken. Soweit sie weiß, strickt Katrin nicht. Vielleicht von der Oma? Der Frau von Tobis Vater?

Im Zimmer ist es dämmrig, sie steht auf und knipst die Lampe über dem Tisch an. Draußen auf der Straße geht der Mann mit dem Hund auf und ab. Was für ein langer Spaziergang. Er trägt nur eine Lederjacke zum Hut, Jeans, Stoffturnschuhe. Kurz hat sie den Impuls, ihn hereinzubitten. Hier ist es warm. Zu warm. Fast heiß. In der Wärme entfaltet sich der Blumenduft, wird immer aufdringlicher. Unangenehm.

Tobi hat seinen Schulrucksack angeschleppt und breitet Blätter auf dem Tisch aus, Texte und Fragebögen. Vor allem die Deutschhausaufgabe macht ihm zu schaffen, Gedichtinterpretation. Damit kann er nichts anfangen, rein gar nichts. Sie setzt sich neben ihn, versucht, die Vase mit den Blumen ein Stück wegzuschieben. Zu schwer, zu voll, der Strauß zu üppig. Tobi zeigt ihr die Gedichte, sie sollen erst nur kategorisiert werden: Romantik, Dadaismus, moderne Lyrik, Rap. Eigentlich nicht schwierig. Eichendorffs Mondnacht. Schwitters. Bachmann: Erklär mir, Liebe. Eine neuere Dichterin, die sie nicht kennt. Den Rapper kennt sie auch nicht. Die Vase ist zu nahe. Dieser Duft. Der süßliche Duft des Verblühens, fast könnte einem schlecht werden. Kommt davon, wenn man die Nasenflügel zu weit aufsperrt. »Nasenflügel«. Sie spricht das Wort aus, ohne es zu wollen, hört sich selbst zu wie einer Fremden. Und spürt sofort Tobis Irritation.

»Könnte auch in einem Gedicht stehen, so ein Wort«, sagt sie schnell und hält sich dabei die Hand vor den Mund. »Was meinst du, in welcher Epoche würden sie solch einen Begriff am ehesten verwenden? In welcher eher nicht?«

Tobi zögert, rutscht auf dem Stuhl hin und her, sie zeigt auf den Eichendorff: »Und meine Nase spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus.«

Tobi kichert. »Nice«, sagt er und beugt sich über den Fragebogen. Anscheinend hat er jetzt irgendetwas verstanden, er füllt aus und kreuzt an. Sie hofft, dass er noch mehr aufhat, Mathe, Latein, Physik, egal was.

In der nackten Wohnung, die einmal ihr Zuhause war, hallt jeder Schritt. Diesen Monat zahlt Jan noch seinen Teil der Miete. Ab und zu kommt er vorbei, um etwas zu holen. Viel von ihm steht nicht mehr dort. Sie hatten getrennte Zimmer, jeder seinen Bereich, so wollten sie es: zusammenwohnen, aber nicht zu eng. Ihre Wohnung war auch sein Arbeitsplatz, ebenfalls ihr Arbeitsplatz, wenn sie übte oder zu Hause unterrichtete, die Musikerin und der Grafiker. Jetzt ist er mitsamt seinem Büro bei der Neuen eingezogen, die Neue ist schwanger.

Seine Beteuerungen: Nur Wochen habe die Beziehung gedauert, nur ein paar Wochen habe er sie angelogen, nicht länger, alles noch ganz frisch, und dann gleich schwanger, die Neue will ihn haben, macht Nägel mit Köpfen oder Kinder mit Köpfen, was denkt sie da, es sind die Blumen, die Blumen, dieser Duft hat beinahe etwas Toxisches.

Tobi schiebt den ausgefüllten Bogen zu ihr herüber und greift nach seinem Handy. Sie schaut auf die Kreuze, alles stimmt, soweit sie es beurteilen kann. Auf der Wanduhr ist es Viertel nach fünf, die Klavierstunde ist um.

»Wann kommt deine Mutter denn heute nach Hause?«, fragt sie.

»Ich glaub, sie hat nach der Arbeit noch eine Besprechung.« Tobi tippt auf dem Handy herum, sie spürt, wie er sich bemüht, den nächsten Satz beiläufig klingen zu lassen: »Hab irgendwie Lust auf Pizza.«

»Pizza?«, fragt sie, wozu das Echo, vielleicht, um ihnen beiden Zeit zu geben, denkt sie. Tobi tippt, und sie fragt sich, wo ihr Handy eigentlich ist. Vielleicht hat Jan sich gemeldet. Und wenn.

»Wir könnten uns vielleicht eine holen. Ich hab Geld«, schiebt Tobi schnell nach, und kurz spürt sie seine Einsamkeit, als wäre es ihre eigene. Eine kindliche, ausgelieferte Einsamkeit, zerzauster Jungvogel, weit weg vom Nest. Auch zu Hause kann man sich mutterseelenallein, von aller Welt verlassen fühlen. Sie würde ihm gern sagen, dass sie das versteht, natürlich lässt sie es, sagt nur: »Okay. Gute Idee.« Und versucht ihrerseits, sich ihre Erleichterung – oder Bedürftigkeit – nicht anmerken zu lassen.

Als sie das Haus verlassen, flackern die Laternen auf. Der Mann mit dem Hund ist weg. Wieder der Gedanke, dass er vielleicht nicht real war. Am Ende ist sie verrückter, als sie dachte. Blödsinn, sie hat mit ihm gesprochen.

Zwei Straßen weiter gibt es eine Pizzeria. Sie bestellen zwei Pizzen zum Mitnehmen, außerdem einen Salat, Katrin würde sicher wollen, dass Tobi auch etwas Gesundes isst. Die Pizzeria ist klein, nur drei, vier Tische, ein Tresen, an der Wand ein Gemälde, ein Meeresstrand, der ihr gar nicht italienisch vorkommt, mit Hochhäusern im Hintergrund. Hinter dem Tresen ein Mann mit schütterem Haar und wachem Blick, er lächelt, hält sie wahrscheinlich für Mutter und Sohn. Sein Akzent klingt osteuropäisch, ein Pole, Ungar, Russe vielleicht. Ihn umgibt etwas Trauriges, es umschwebt ihn, umhüllt ihn, etwas wie gelassene Trauer, eine Trauer, an die man sich gewöhnt hat. Vielleicht, denkt etwas in ihr, würden seine und ihre Trauer sogar zusammenpassen, würden die Düfte ihrer Trauer sich mischen, wenn sie sich umarmen würden, wortlos.

Was denkt sie da. Sie will ihn nicht umarmen, will niemanden umarmen. Der Mann hinter dem Tresen nickt. Als hätte sie etwas gesagt. Im Lokal sitzt nur ein einziges Paar, beide sind jung und dick, haben ihre Anoraks noch an, zwei gleiche Daunenanoraks, in Rot, sie essen schnell, mit den Fingern, obwohl Besteck und Papierservietten auf dem Tisch liegen, sogar eine Blume in einer Vase steht dort, gelb. Der traurige Mann packt ihre Pizzen ein, Tobi schiebt einen Zwanziger über die Theke, besteht darauf, sie einzuladen. Sie muss mit Katrin reden, das Geld von den Klavierstunden abziehen.

In der Wohnung deckt Tobi den Küchentisch: Teller, Wassergläser, Besteck, kleine Schüsseln für den Salat, violette Servietten. Seine welpenhaften Bewegungen, sein Eifer, mit dem er ihr dabei ein Computerspiel erklärt, das sie schon von anderen Schülern kennt. Auf der Ablage steht eine Flasche Rotwein, angebrochen. Sie gießt sich ein Glas ein, trinkt, während Tobi seine Pizza zersäbelt und Bissen für Bissen in den Mund schiebt. Die Trennung hat auch etwas Gutes, denkt sie nach dem zweiten Schluck, jede Trennung, jeder Neuanfang hat etwas Gutes, so sagt man doch. Zum Beispiel geht sie wieder aufrecht, schleicht nicht mehr gekrümmt herum, immer auf der Hut vor einer ätzenden Bemerkung von Jan. Zum Schluss konnte sie ihm nichts mehr recht machen. Er musste doch längst bemerkt haben, muss doch gespürt haben, wie seine Liebe zu ihr immer weniger wurde, wie sie schrumpfte, vertrocknete. Wie feige von ihm, denkt sie, früher hat er sie gebraucht, sich an sie geklammert wie ein Kind, ich hab dich lieb, hab dich lieb, hast du mich denn lieb, hast du mich wirklich lieb, ich hab dich lieb, hab dich, hab dich über. Die Grenze ist schmal, vielleicht merkt man es nicht gleich, wenn man sie überschreitet.

»Schmeckt es dir nicht?«

Tobi hat seine Pizza schon zur Hälfte verschlungen, sie schneidet sich einen Bissen von ihrer ab.

»Doch, schon, aber … ich hab’s ein bisschen am Magen. Wenn du willst, kannst du nachher von mir noch was haben.«

»Ich kann doch nicht zwei Pizzas …« Tobi grinst, ein bisschen Tomatensauce um den Mund.

»Du brauchst die Kalorien. Jede einzelne. Aber iss auch Salat, Vitamine brauchst du noch mehr.«

Damals, kurz nach dem Abi-Treffen, als sie das erste Mal bei Katrin eingeladen war, saß Tobi mit ihnen an diesem Tisch und malte. Wie geht es dir, was hast du gemacht, ah, getrennt, und ich, ja, ich bin mit jemandem zusammen. Er ist Grafiker. Jan. Nein, verheiratet sind wir nicht, wir glauben an die Freiwilligkeit. Essen. Sie muss essen. Wenigstens eine Pizzaecke. Das muss doch zu schaffen sein. Die Küchentür steht offen. Sie glaubt, die toxischen Blumen bis hierher zu riechen. Auf einmal weiß sie, woran der Duft sie erinnert. An Jans Deo. Ein Billigdeo aus dem Supermarkt. Die Sprühdose war blau, aber es roch nicht blau, es roch orangerosa, blumig, betäubend, er kaufte immer mehrere Dosen, hortete sie, eine oder zwei davon stehen noch im Einbauschrank im Bad. Er schwitzt schnell und stark, aber sie hat seinen Schweiß nie gerochen, nur das Deo, das er sich nie ausreden ließ. Er war derjenige, der übersensibel war, sie nahm alles hin. Ob die Neue auch für ihn auf Cremes und Parfüm verzichtet, ob er ihren Schweiß erträgt, den Geruch einer Geburt, nach Windeln, nach Kinderkacke? Sie wünscht ihm viel Kinderkacke. Am besten kackende Zwillinge. Nein, Drillinge, mit Dauerdurchfall.

Von draußen jetzt Stimmen. Katrin. Und ein Mann. Sie müssen schon im Flur sein. Tobi hört auf zu essen, irgendetwas ist in seinem Blick. Sie schiebt ihr Glas ein Stück von sich fort. Katrin erscheint in der Tür, schimpft über die Getränkekisten im Flur, warum Tobi sie nicht weggeräumt habe, stockt.

»Oh, du bist noch hier.«

Sie erklärt, rechtfertigt sich fast, der Mann bleibt im Flur stehen, anscheinend unsicher, abwartend, vielleicht ist er die Besprechung.

»Wie nett«, sagt Katrin und lächelt. Wenn sie lächelt, passiert etwas mit ihrem Gesicht, es verliert seine Zartheit, das fein Gemeißelte, es wird Mund, zu viele Zähne, schöne, ebenmäßige, weiße Zähne, aber zu viele, sie passen nicht zum Rest, Katrins Gebiss ist zu groß für ihr Gesicht, Großmutter, warum hast du so viele Zähne, damit ich dich besser fressen kann. Vielleicht machen diese Zähne Männern Angst. Vagina dentata, sie hat den Begriff während des Studiums in einer psychoanalytischen Vorlesung gehört.

»Erschöpft«, sagt Katrin gerade, »du wirkst erschöpft, ist was mit dir?«

»Nein, nein, alles gut, nur ein bisschen schlecht geschlafen.«

Sie hat niemandem von der Trennung erzählt. Sie weiß nicht warum. Und wie lange sie alles noch geheim halten kann.

»Ich … muss jetzt.« Sie erhebt sich, schiebt den Stuhl weg.

»Jetzt iss doch wenigstens auf«, sagt Katrin. Sie trägt einen halblangen Rock, Stiefel, etwas Gerüschtes unter der Bluse, die betont schlicht ist, dazu eine dünne Lederjacke.

»Nein, nein, ich wusste nicht, dass du … Schöne Blumen. Im Wohnzimmer, meine ich.«

»Wir sollten mal wieder was zusammen trinken gehen, in Ruhe«, sagt Katrin.

Sie stehen jetzt nebeneinander, blicken beide zu Tobi, der schweigend, beinahe wütend, Pizzastücke in sich hineinstopft.

»Bis zur nächsten Klavierstunde«, sagt sie, »und … danke.« Sie meint die Pizza, aber es klingt fast, als meinte sie etwas anderes. »Okay«, sagt Tobi nur, und Katrin findet ihn unhöflich, er sollte aufstehen, ihr die Hand geben. Jetzt kann sie unmöglich von dem Pizzageld anfangen, muss es mit Katrin am Telefon besprechen. Allein der Gedanke daran erschöpft sie, am liebsten würde sie auf der Stelle einschlafen.

Im Flur stellt Katrin ihr den Mann vor, Holger, seinen Beruf nennt sie nicht, dafür ihren: Tobis Klavierlehrerin.

»Oh, Klavierlehrerin«, wiederholt er.

»Diplom-Musikpädagogin«, sagt sie und vergisst, die Hand vor den Mund zu halten. Sie stehen dicht beieinander in der Enge zwischen den Getränkekästen, er ist nicht viel größer als sie und ihrem Geruch ausgeliefert, Pizza, Rotwein, dem Unerträglichen, das Jan zuletzt an ihr gerochen hat.

Er kippt nicht um, zuckt noch nicht einmal zusammen. Er ist auf echsenhafte Weise glattrasiert, auch am Kopf, beim Lächeln spannt sich die Haut über den Wangenknochen.

Seine Echsenhaftigkeit passt zu Katrins Zähnen, daran denkt sie, später, schon im Bus, sie weiß nicht, wie sie darauf kommt, ihre Gedanken schwirren, irren, flirren in ihrem Kopf herum, in einem leeren, verfallenen Gehirn, ausgeräumt wie die Wohnung. Wie hat sie direkt nach der Trennung nur die Energie aufgebracht, das Sozialkaufhaus anzurufen und ihre Möbel abtransportieren zu lassen? Weg mit dem alten Leben, weg, alles weg, nichts behalten. Sich selbst gleich mit weggeben, in Vergessenheit geraten, der Welt verlustig gehen, für wen wäre ihr Verschwinden ein Verlust? Ihr fallen die nahen Verwandten ein, ihre Mutter, Tante, ihr depressiver Cousin, zwei, drei Kolleginnen, die eher Freundinnen sind, ein guter Freund, fünfhundert Kilometer entfernt, Katrin vielleicht, Tobi? Würde sie ihren Schülern fehlen? Wenn ja, dann nur kurz. Sie könne anrufen, wenn es sehr schlimm werde, hat ihr die Psychologin angeboten, sie war zu Tränen gerührt. Sie steigt aus. Die Straße mit den Häusern ist wie immer. Auf Jans Parkplatz steht der VW-Bus der Nachbarn. Neue Aufkleber auf der Heckscheibe, sie müssen wieder im Urlaub gewesen sein. Aufschließen. Erst die Haustür, dann die Wohnungstür. Das Aufschließen ist immer das Schwerste. Im Kühlschrank ist noch eine Flasche Weißwein. Wie hat ihre Wohnung früher geklungen, wie hat sie gerochen? Wie riecht eine Beziehung, eine Liebe? Ihr fällt nur Jans Deo ein. Und genau danach riecht es im Flur. Und darunter nach etwas anderem, sie findet erst keinen Begriff dafür. Das Licht brennt, auf dem Boden liegt ein Zettel. Sie soll morgen um elf da sein, die Maklerin kommt. Sie ruft nach Jan, hofft für einen Moment, er wäre noch da, hofft gleichzeitig das Gegenteil. Niemand antwortet. Da ist nur der Geruch. Deo und dieses andere, etwas Stechendes. Nach Zoo. Sie geht dem Geruch nach, im Bad ist er stärker. Die blaue Dose mit dem Deo steht auf dem kleinen Absatz am Wannenrand. Auf dem Boden ein Handtuch. Eins von den blauen, das sie früher gern benutzt hat. Hat er sich schnell gewaschen, nachdem er irgendetwas ins Auto geschleppt hat, sich gewaschen und besprüht, damit er für die Neue gut riecht?

Ich brauch ein starkes Deo, glaub mir, ich stinke. Das hat Jan einmal gesagt, auf seine ironische und gleichzeitig selbstbewusste Art, sie haben beide gelacht, wahrscheinlich hat sie ihn geküsst: Du doch nicht. Tränenblind hebt sie das Handtuch auf, und da strömt es ihr entgegen: animalisch, raubtierhaft, abstoßend. Die Waschmaschine ist noch da, sie steckt das Handtuch hinein. Und in diesem Moment kommt das, was ihre Geruchs- und Geschmacksnerven längst wissen, bei ihrem Verstand an: Auf der Ebene der Pheromone ist es ihr gelungen, sich zu entlieben.

Wenn es nur nicht so lange dauern würde, bis der Rest von ihr es auch begreifen wird, sie weiß es, weiß es schrecklich genau. Jahre wird sie brauchen, jede einzelne Zelle in ihr wird sich blind und dumm stellen, sich der Erkenntnis widersetzen wie ein rebellischer Schüler. In der Küche – der Smoothie-Maker fehlt – gießt sie sich Wein ein und geht mit dem Glas ins Wohnzimmer. Auch dort riecht sie es, das Gemisch aus Deo und Animalischem. Feiner, ferner, aber vorhanden. Der goldgelbe Orientteppich vor der Heizung ist weg. Sie haben ihn kurz vor dem Ende gekauft, als könnte ein Teppich eine Liebe retten. Einen Tisch gibt es nicht mehr, sie stellt das Glas auf eine Umzugskiste und öffnet das Fenster weit.

Liebe würde helfen

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