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Fünf

- 1690 -

Als Sean am nächsten Tag seine Großmutter besuchen wollte, hielt ihre Zofe ihn mit der Begründung davon ab, dass es ihr schlechter ginge und sie dringend Ruhe brauche. Sean machte sich große Vorwürfe, da er dachte, dass die Erzählung am Vortag seine Großmutter zu sehr angestrengt hatte. Mit besorgtem Gesicht machte er sich gewohnheitsmäßig auf den Weg in Richtung Arthurs Zuhause, doch nach ein paar Schritten fiel ihm wieder ein, dass sie ja nicht mehr miteinander sprachen. Sean drehte traurig um, er hätte Arthurs Trost sehr gut gebrauchen können und war noch niedergeschlagener als zuvor.

Es dauerte noch eine ganze Woche, bis Sean und Arthur wieder miteinander sprachen. Der Anlass für das Wiedersehen war eine Neuigkeit, die Arthur nicht für sich behalten konnte. Eine Weile hatte er sich gegen den Drang wehren können, Sean davon zu erzählen, aber es war doch zu aufregend. Auf dem Weg zum Palais kehrte Arthur zwar zweimal wieder um, aber er erreichte es dann beim dritten Anlauf schließlich doch.

Arthur klopfte an die riesige Eingangstür und verspürte immer noch dieselben Beklemmungen wie beim allerersten Mal bei Familie McCunham. Der Verwalter Angus McMannis öffnete kurz darauf, begrüßte den jungen Gast freundlich und ließ ihn mit einer einladenden Geste eintreten. Angus fragte Arthur, ob er ihn hinaufbegleiten sollte, doch als dieser verneinte, widmete er sich wieder anderen Pflichten.

Arthur schaute ehrfürchtig zur hohen Decke der Eingangshalle. Ihm wurde wieder einmal bewusst, wie unterschiedlich die Lebensweisen der beiden Jungen waren. Langsam schritt Arthur die große gewundene Treppe empor und er hatte das Gefühl, dass man in diesem Haus gar nicht schnell laufen konnte, man musste wandeln. Im oberen Stockwerk angekommen, hatte er noch einen langen Gang vor sich, bis er Seans Gemach erreichte. Arthur betrachtete beim Vorbeiwandeln ehrfürchtig die alten Gemälde an der Wand und zählte die Türen. Vor Seans Tür angekommen, blieb er erst eine Weile unsicher stehen, bevor er klopfte.

„Wer ist da?“, hörte Arthur die vertraute Stimme von innen und spürte, wie sich eine Mischung aus Abneigung und Freude in seinem Bauch ausbreitete. Doch er musste zugeben, dass die Freude durchaus überwog. Er räusperte sich, weil er vor Scham einen Kloß im Hals hatte, bevor er antwortete:

„Arthur!“

Drinnen blieb es still und Arthurs Befürchtung, dass Sean ihn nicht sehen wollte, schien sich zu bewahrheiten. Traurig und enttäuscht lief Arthur wieder Richtung Treppe. Nach ein paar Schritten hörte er jedoch, wie eine Tür geöffnet wurde und Hoffnung keimte in ihm auf. Er blieb stehen und drehte sich um. Zu seiner größten Freude sah er, dass Sean aus der Tür schaute.

„Komm rein“, rief Sean kühl.

Arthur beeilte sich und ging schneller zu Seans Tür, als ihm seiner Meinung nach die Gemäuer erlaubten. Sean war bereits wieder in sein Zimmer geeilt und zeigte steif auf den Stuhl an seinem Schreibtisch. Arthur bemerkte, dass er dabei jeglichen Blickkontakt vermied.

„Setz dich.“

Arthur ließ sich irritiert auf dem Stuhl nieder und überlegte sich ernsthaft, ob es ein Fehler gewesen war, herzukommen.

„Was ist denn los?“, wollte Sean ungeduldig wissen und blickte dabei aus dem Fenster.

Betrübt und entmutigt versuchte Arthur, sich daran zu erinnern, was er Sean eigentlich mitteilen wollte. Als es ihm wieder einfiel, begannen seine Augen zu strahlen.

„Meine Mutter ist schwanger!“, platzte es nun aus ihm heraus.

Seans schlaffer, trauriger Körper straffte sich wie vom Blitz getroffen. Unwillkürlich schaute er Arthur nun doch an.

„Waaas? Das ist ja großartig!“ Sean sprang zu Arthur und umarmte ihn, er hatte doch glatt vergessen, böse auf Arthur zu sein. Arthur erwiderte die Umarmung glücklich. Die Freunde hatten sich endlich wiedergefunden.

„Wann ist es denn soweit?“, fragte Sean aufgeregt.

„Im Herbst. Mann, ich kriege noch einen Bruder!“

„Oder eine Schwester…“, überlegte Sean und lächelte schelmisch.

Beide fingen an zu lachen und fühlten sich, als ob ein schwerer Stein von ihrer Brust entfernt worden war. Sie waren glücklich. Eine Weile sinnierten die beiden noch darüber, wie das Leben mit Arthurs neuem Geschwisterchen sein würde. Sean war auch nur ein bisschen neidisch auf seinen Freund. Raelyn, die Sean mit 41 Jahren bekommen hatte, war eindeutig zu alt, um noch einmal schwanger zu werden. Seans Geburt grenzte bereits an ein Wunder.

Sean fragte Arthur nicht noch einmal nach dem Stein. Der Streit war beendet und sie konnten wieder gemeinsam lesen und auf den Frühling hoffen. Sie schauten dabei häufig auf das endlose Meer und schworen sich, eines Tages mit einem großen Schiff in die weite Welt zu segeln.

Als einen Monat später in den Wäldern überall die blaue Glockenblume blühte, waren der Schnee getaut und die Lebensgeister der Menschen auf Dunnottar Castle wieder erwacht. Sean konnte endlich wieder hinausgehen und ausreiten. Und seine Mutter erholte sich zum Glück von einer schweren Lungenentzündung.

Ende Mai geschah etwas Wunderbares. Als Sean und Arthur gerade wieder einmal durch die Zinnen des Tower Houses hindurch über das weite Festland blickten, sahen sie auf dem Weg aus Richtung Stonehaven einen einzelnen Reiter näherkommen. Er hatte viel Gepäck und war ziemlich schnell unterwegs. Die beiden Jungen mussten warten und ihre Ungeduld im Zaum halten, denn es dauerte eine ganze Weile, bis der Mann den Pfad zur Landzunge erreichte. Bei den Stufen angekommen, stieg er ab und führte sein braunes Pferd, das sehr erschöpft aussah. Arthur und Sean rannten neugierig zum Torhaus.

Sie kamen gerade am Tor an, als der Reiter vor dem Wächter seine Kapuze lüftete und verkündete, wer er war. Aber Arthur brauchte den Namen gar nicht zu hören.

„Jaimie!!“, rief Arthur fröhlich und fiel dem Mann um den Hals. Sean hätte nie gedacht, dass dieser zur Burton-Familie gehören würde. Jaimie hatte nämlich als einziges Kind von Fiona und Tevin die dichten dunkelbraunen Haare seines Vaters geerbt, die ihm bis zur Schulter reichten. Sean war sprachlos. Jaimie auch, weil sämtliche Luft von seinem kleinen Bruder aus seinen Lungen gepresst wurde. Er hatte Mühe, nicht von Arthur umgeworfen zu werden.

Der Wachmann war sich nun sicher, dass dieser junge Mann kein Räuber war und ging schmunzelnd wieder in sein Wachhäuschen.

Für Sean dauerte die Umarmung Stunden. Er wollte endlich mehr von dem geheimnisvollen Bruder wissen. Als sich Arthur schließlich löste, bemerkte Sean, dass beide Brüder Tränen in den Augen hatten. Wieder einmal wünschte er sich selbst einen Bruder.

Plötzlich wurde die fröhliche Stimmung düster und Arthur schlug wild auf Jaimie ein. Dabei schrie er:

„Warum bist du weggegangen? Mutter ist fast gestorben vor Sorge! Du elender…“

„Halt! Hör auf Arthur!“ Jaimie hielt gekonnt beide Handgelenke seines Bruders fest. „Lass es mich doch erklären!“

Arthur hörte auf, ihn zu schlagen. Er war erschöpft.

„Komm, wir gehen erst einmal nach Hause. Ich erkläre es besser allen“, sagte der Ältere beschwichtigend und Arthur nickte.

Um Sean kümmerten sich die Brüder überhaupt nicht mehr. Das ist wohl eine Familiensache, dachte er traurig. Schweren Herzens ging er nach Hause und hoffte, so schnell wie möglich alles von seinem Freund zu erfahren. Er hätte zu gern gesehen, wie die anderen Burtons auf Jaimie reagierten.

***

Die nächsten Stunden im Burton-Haus waren sehr emotional aufgeladen, wobei die unterschiedlichsten Gefühle, von Freude über Neugier bis Wut, dabei eine Rolle spielten. Arthur hatte seinen Bruder überreden können, dass er den Heimkehrer vorstellte. So rief Arthur laut, als er die Haustür öffnete:

„Mutter! Vater! Ich habe jemanden mitgebracht.“

Fiona, die es schon gewöhnt war, dass ihr jüngster Sohn durch das ganze Haus rief, kam in die Küche und wollte gerade etwas erwidern, als ihr der Wäschekorb aus den Händen fiel und sich sämtliche saubere Wäsche auf dem Küchenboden verteilte. Fiona griff sich betroffen ans Herz, ihr Mund formte ein stummes „OH!“. Einen Moment lang hatte sie Angst, ohnmächtig zu werden. Dann weinte sie. Und ging mit ausgestreckten Armen auf ihren ältesten Sohn zu. Dass sie dabei über die Wäsche lief, bemerkte sie nicht.

„J…Jaimie!“, konnte Fiona nur stammeln und drückte ihren Sohn an ihre Brust. Jaimie war erstaunt, dass sich dabei ein kleiner Bauch zwischen ihnen befand, da seine Mutter sonst immer eine sehr schlanke Figur hatte.

„Mutter, Ihr seid schwanger?“, fragte er überrascht.

„Und du bist wieder da!“, sagte seine Mutter nur.

„Arthur, hole sofort deinen Vater und deine Geschwister! Jaimie, schaffe deine Sachen nach oben. Wenn alle da sind, kannst du erzählen. Ich bin schon so gespannt auf deine Geschichte.“

Ihre beiden Söhne gehorchten und entfernten sich aus der Küche. Doch bevor Jaimie in den oberen Stock ging, half er noch seiner Mutter, die herumliegende Wäsche einzusammeln. Als Jaimie weg war, machte Fiona etwas zittrig Wasser für eine Suppe warm.

Arthur rannte unterdessen zu den Stallungen, weil er hoffte, dort den Rest seiner Familie anzutreffen. Und er hatte Recht gehabt. Tevin, Rory und Shona misteten gerade die Ställe aus.

„Vater, Jaimie ist wieder da!“, rief Arthur außer Atem. Tevin und seine zwei Kinder schauten erstaunt von der Arbeit auf, ließen alles stehen und liegen und rannten ohne ein Wort nach Hause. Zum Glück war Shona noch so geistesgegenwärtig, dass sie die Boxen der Pferde schloss.

„Wo ist er?“, hörte Fiona ihren Mann rufen, bevor er ins Haus polterte. Rory, Shona und Arthur folgten ihm auf dem Fuße.

Jaimie, der gerade wieder von oben herunterkam, sah die Miene seines Vaters und wäre am liebsten wieder umgekehrt. Doch Tevin hatte ihn bemerkt, trat mit großen Schritten durch die Küche und zog seinen Sohn unvermittelt am Ohr.

„Au!“, schrie Jaimie und versuchte, sich aus dem schmerzenden Griff zu befreien. Doch das gelang ihm nicht.

„Was hast du Bursche dir dabei gedacht?! Uns solche Sorgen zu bereiten! Und ganz besonders deiner Mutter, die alles für dich gemacht hat! Du undankbarer Junge!“

Tevin nahm seine rechte Hand von Jaimies Ohr und erhob sie zum Schlag. Es wäre eine saftige Ohrfeige geworden, wenn nicht Fiona dazwischen gegangen wäre.

„Lass den Jungen, Tevin! Willst du ihn gleich wieder davonjagen? Jetzt, wo er endlich wieder da ist! Kommt, lasst uns gemeinsam zu Abend, als wieder vollständige Familie.“

Fiona machte sich daran, das Essen weiter vorzubereiten. Tevin ließ Jaimie los und grummelte etwas Unverständliches.

Bis jetzt hatten sich Rory und Shona im Hintergrund gehalten. Doch nun, als die Gefahr vorüber war, rannten sie zu Jaimie und umarmten ihn stumm. Sie waren von ihren Gefühlen überwältigt. Auch Jaimie sagte nichts. Er war noch zu sehr von der Auseinandersetzung mit seinem Vater eingeschüchtert.

Als dann alle am Tisch saßen, ging es wieder lebhaft wie immer zu. Jaimie war der Mittelpunkt des Geschehens und erzählte mit zahlreichen Unterbrechungen durch seine neugierigen Zuhörer, was er in den letzten vier Jahren erlebt hatte.

Ein Mitglied der Familie war besonders glücklich über die Rückkehr Jaimies: Rory. Er hoffte nun, dass er doch nicht Stallmeister werden musste, sondern sein großer Bruder - wie es eigentlich geplant war.

***

Sean hingegen machte sich etwas enttäuscht auf den Weg zu seiner Großmutter. Ihr ging es zum Glück besser, so dass sie wieder Besuch empfangen konnte. Sean war sehr froh darüber und hatte seine regelmäßigen Besuche wieder aufgenommen. Doch obwohl er vor Neugier platzte, zu erfahren, wie es mit der Belagerung weitergegangen war, fragte er seine Großmutter nicht mehr danach. Zu groß war seine Angst, dass die Erinnerung daran sich wieder schlecht auf ihren Gesundheitszustand auswirken könnte.

Zu seiner großen Freude saß Kendra aufrecht in ihrem Bett, löffelte eine dampfende, wohlriechende Suppe und lächelte fröhlich, als er ihr Zimmer betrat.

„Hallo, mein lieber Junge. Du kannst jetzt gehen, Senga.“

Bei diesen Worten knickste Kendras Zofe kurz, nahm ihrer Herrin vorsichtig die Schüssel ab und verließ leise das Gemach. Kendra wandte sich wieder ihrem Enkel zu.

„So Sean, du willst sicher erfahren, wie es mit der Belagerung weiterging, oder?“

Sean konnte sein Glück kaum fassen und nickte eifrig.

„Wo war ich letztes Mal stehen geblieben?“

„Die Bewohner sollten in der Nacht nach Stonehaven fliehen.“

Kendra überlegte. „Gut. Es waren noch ein paar Stunden Zeit, bis es dunkel sein würde. Einige der Bewohner überlegten, was sie bei der Flucht mitnehmen sollten, doch andere waren der Meinung, dass es zu gefährlich war, noch einmal die Behausungen aufzusuchen. Es wurde heftig diskutiert und am Ende einigten wir uns, dass wir nichts holen konnten, sondern nur die Dinge, die wir bei uns hatten, mitnehmen durften.

Die Frau des Pastors hielt sich als Einzige nicht an die Abmachung und holte die Reichsinsignien aus dem Keller unter dem Palais. Sie ließ sich nicht davon abhalten und schlüpfte bei vollem Beschuss aus der Kapelle, um nach kurzer Zeit mit einem schweren Bündel in der Hand wiederzukommen. Eine mutige Frau.

„Ich habe von ihr gelesen, ihre Tat war sehr bedeutend für Schottland“, ergänzte Sean.

Kendra nickte und fuhr fort: „Das größte Problem für die Flucht stellten die gebrechlichen Leute dar. Wenn man den Pfad zum Meer nehmen will, muss man laufen können, wie du weißt. Die Säuglinge und kleinen Kinder würden getragen werden, das war klar, aber was sollte mit den fußlahmen Alten geschehen? Wir wussten keinen Ausweg. Es betraf fünf alte Menschen, darunter deine Urgroßmutter Ivera.“

„Oje, das ist schlimm. Was wurde schließlich gemacht?“, fragte Sean mitfühlend.

„Ach, mein Junge. Am Abend kam noch einmal Hamish zu uns und wir fragten ihn, was wir tun sollten. Er sah auch keinen anderen Ausweg, als diese Menschen auf der Burg zu lassen. Er wollte Männer einteilen, die nach ihnen schauen sollten, aber das war kein großer Trost für uns. Die fünf alten Menschen waren sehr tapfer und gaben uns zu verstehen, dass sie sich ihrem Schicksal fügen wollten, doch ich sah die Angst in jedem einzelnen von ihnen. Ich hatte kein besonders gutes Verhältnis zu meiner Schwiegermutter Ivera, aber so eine grässliche Zukunft wünschte ich ihr auf keinen Fall und sie tat mir sehr leid.“

Kendra machte eine andächtige Pause und fuhr dann fort. „Weiterhin mussten wir klären, an wen wir uns wenden konnten, wenn wir sicher in Stonehaven angekommen wären. Die meisten Burgbewohner hatten Freunde oder Verwandte dort, doch was sollte mit mir und meiner Familie geschehen? Ich kannte niemanden in Stonehaven.“

„Wo kommt Ihr eigentlich her, Großmutter?“

Kendras Blick wurde weicher.

„Meine Familie stammt vom Leslie-Clan ab, ich bin in Inverurie12 geboren und aufgewachsen.“

„Wo liegt das?“

„Im Landesinneren, dort wo der Fluss Urie in den Don fließt. Es ist wunderschön dort.“

Sie blickte in die Ferne.

„Aber nun weiter mit der Frage, wo wir in Stonehaven wohnen sollten. Es war Ivera, die uns mitteilte, dass sich das Haus ihrer Vorfahren in Stonehaven befindet, und erklärte uns den Weg dorthin. Ich war dankbar und bestürzt zugleich, da wir sie selbst nicht mitnehmen konnten.

In der Abenddämmerung kamen vereinzelt unsere Männer zu uns, um sich von uns zu verabschieden, doch dein Großvater war nicht dabei. Ich machte mir große Sorgen, ob ihm etwas zugestoßen sei, und wurde immer verzweifelter. Hatte mir Hamish den Tod seines Sohnes verschwiegen? Als schon einige aufbrechen wollten, platzte ich fast vor Ungeduld und Entsetzen. Dann kam er doch, mein Aidan, und ich war in diesem kurzen Augenblick tatsächlich glücklich. Doch dann durchfuhr es mich wie ein Blitz. Dies war der Abschied von meinem geliebten Gefährten und ich wusste nicht, wann oder ob ich ihn wiedersehen würde. Ich konnte meine Gefühle nicht verbergen und schluchzte in seinen Armen. Unsere beiden Söhne fragten verständnislos, warum ich so traurig sei und Aidan versuchte, es ihnen zu erklären.

Dann mussten wir aufbrechen. Zum Glück ist es von der Kapelle nicht weit bis zum hinteren Tor, an dem der steile, schmale Pfad beginnt. Da es die vom Festland abgewandte Seite ist, konnten wir ungesehen zu dem Pfad gelangen. Die Nacht war stockfinster, da dicke Wolken den Mond verdeckten. Wir hatten einige Kerzen aus der Kapelle mitgenommen und versuchten, die Flammen vor dem hartnäckigen Wind zu schützen. Bist du diesen Pfad schon einmal bei Nacht hinabgestiegen, mein Junge?“

„Nein, Großmutter. Aber ich kann mir gut vorstellen, wie schwer das sein muss. Schon bei Tag ist es wichtig, auf jeden einzelnen Schritt zu achten, damit man nicht die Stufen hinabfällt.“

„Genau. Der Abstieg war sehr mühsam und wir mussten uns gegenseitig helfen. Ich war dankbar darüber, dass wir kein Gepäck hatten.

Zu unserem Pech machten die Belagerer eine Feuerpause und so mussten wir uns ruhig verhalten, um zu vermeiden, dass uns die Soldaten hörten. Das fiel vor allem den Kindern schwer. Es waren schließlich auch Säuglinge und Kleinkinder dabei, denen man die Situation nicht erklären konnte. Mit meinen beiden Jungen hatte ich zum Glück keine Schwierigkeiten, sie waren wirklich brav und verhielten sich ganz still.

Nach einer halben Ewigkeit erreichten wir das Meer und konnten endlich in die Höhle neben dem Pfad gehen, wo die Boote auf uns warteten.“

Kendra räusperte sich und Sean gab ihr ihren Becher. Sie trank gierig ein paar Schlucke und gab ihn dann ihrem Enkelsohn zurück. Sie machte eine Pause und überlegte. Sean wartete ungeduldig.

„Und was ist dann passiert?“

„Wir haben uns schnell auf die Boote verteilt. Da die Männer auf der Burg geblieben waren, mussten wir Frauen und die größeren Kinder rudern. Wir bemühten uns, dass auf jedem Boot zwei bis drei halbwegs kräftige Personen vorhanden waren.“

Sean nickte.

„Das Folgende entpuppte sich als noch schwieriger als das Hinabsteigen des Pfades. Wir mussten in fast völliger Dunkelheit die knapp zwei Seemeilen13 bis nach Stonehaven rudern, gegen eiskalten Wind und recht hohe Wellen. Am Anfang, in Reichweite der Soldaten, hatten wir ständig Angst, dass sie uns entdeckten. Das erste Stück waren wir zwar noch von den Felsen der Halbinsel verborgen, doch dann ruderten wir ungeschützt weiter. Das Rauschen der Wellen und des Windes übertönte unser Rudergeräusch und die Stimmen der Kinder. Wir kamen recht gut vorwärts, doch dann hörte ich Schreie vom Ufer.“

„Haben die Soldaten Euch entdeckt?“, fragte Sean aufgeregt.

„Ja, und mir blieb vor Schreck das Herz stehen. Wir strengten uns noch mehr an, schnell voranzukommen. Doch dann bemerkte ich, dass die Schüsse wieder anfingen, diesmal in unsere Richtung.“

„Oje! Ist jemand getroffen worden?“

„Es war eine große Distanz für Musketen, so wurden zum Glück nur ein paar leicht verwundet.“

„Gott sei Dank! Wie ist es weitergegangen?“

Sean war so angespannt, dass er mit den Händen rang und auf den Lippen herumkaute.

„Wir ruderten, was wir konnten und waren bald aus der Schussweite heraus. Die Strecke nach Stonehaven zog sich hin und wir kamen an den Rand unserer Kräfte. Aber wir haben es schließlich geschafft und sind erschöpft und erleichtert im Morgengrauen im Hafen von Stonehaven angekommen.

Einige Fischer empfingen uns und wir erzählten ihnen unsere Geschichte. Sie halfen uns, die Boote zu vertäuen, redeten uns gut zu und informierten ihre Angehörigen. Wir mussten uns kurz ausruhen, bevor wir uns voneinander verabschieden und uns zu unseren Bekannten aufmachen konnten. Völlig erschöpft und mit mulmigem Gefühl machten wir drei McCunham-Frauen uns mit unseren Kindern auf den Weg zu Iveras Verwandten.“

„Wie haben sie reagiert auf den unangekündigten Besuch?“

„Catriona erschrak fürchterlich, als so früh am Morgen drei verängstigte Frauen mit neun Kindern bei ihr erschienen und noch einmal, als wir ihr vom Schicksal der Burgbewohner erzählten. Sie war die Witwe von Iveras Neffen Farlan, dem Sohn ihres Bruders Callum und alleinstehend. Sie wohnte nur mit ihrer ledigen jüngsten Tochter Margarete sowie ein paar Bediensteten zusammen. So bot das große, alte Barclay-Familienhaus genug Platz für uns alle und da die Dame sehr nett war, hieß sie uns nach ihrem ersten Schock herzlich willkommen. Dankbar und erschöpft bezogen wir unsere Zimmer und ruhten uns etwas aus.

Die nächste Zeit wurde schwer für uns. Anfangs hatten wir noch die Hoffnung, bald etwas von unseren Männern zu hören, doch es kam keine Nachricht. Es traute sich niemand, zur Burg zu reiten und sich die Lage anzuschauen. Zu groß war die Angst vor den englischen Soldaten. Sie hatten begonnen, die umliegenden Orte zu plündern und kamen auch bald nach Stonehaven. Auch ihre Vorräte wurden immer knapper und sie nahmen sich einfach, was sie wollten. Wenn sie kamen, versteckten wir uns in einem Schuppen, der im hauseigenen Wald stand. Wir lebten in ständiger Angst vor den Soldaten, es war kaum auszuhalten. Ein Wunder, dass sie uns nichts Schlimmeres antaten, als uns die Lebensmittel zu rauben. Aber wie konnten wir ohne Lebensmittel überleben? Ohne den Fisch, der zu unserem Hauptnahrungsmittel wurde, hätten wir es sicher nicht geschafft. Auch alle unsere Kinder überlebten, wenn auch nur knapp.

Ein halbes Jahr verging und meine Hoffnung war dahin, jemals wieder meinen Ehemann oder mein Zuhause wiederzusehen. Auch meine Schwägerinnen Cailin und Sinann hatten den Mut verloren. Wir halfen und stützten uns gegenseitig, so gut es ging. Es war ein trostloses Leben. Das einzig Gute an unserer Situation war, dass Stonehaven am Meer liegt und die Fischer nach wie vor jede Nacht hinausfuhren.

Eines Morgens auf dem Fischmarkt am Hafen erblickte ich ein paar Boote auf dem Meer. Als sie langsam näherkamen, erschrak ich fürchterlich. Auf diesen Booten quälten sich unsere Männer zum Hafen, am Rande der Erschöpfung. Ich stellte meinen Korb hin, rannte zum Kai, winkte stürmisch und rief den Männern entgegen. Unwillkürlich suchten meine Augen nach deinem Großvater und ich fand ihn zu meiner größten Freude, auch meinen Schwiegervater. Doch ich erkannte sie kaum wieder, so abgehärmt sahen sie aus.

Ich konnte es kaum erwarten, dass endlich die Boote anlegten, und musste mit Schrecken feststellen, dass die Männer von Nahem noch viel schlimmer aussahen, als von der Ferne. Sie waren völlig ausgehungert, verschmutzt, einige trugen dreckige Verbände an den verschiedensten Körperteilen und alle hatten einen leeren, hoffnungslosen Blick. Sie mussten sich gegenseitig stützen, um aus den Booten zu gelangen. Ich hatte Tränen in den Augen bei diesem elenden Anblick und eilte schnell zu Aidans und Hamishs Boot, um ihnen beim Aussteigen zu helfen. Aidan sagte nichts, nickte aber dankbar. Auch Hamish blieb stumm. Sofort alarmierten wir die anderen Angehörigen, die bald aufgeregt rufend herbeieilten.

Leider konnten nicht alle Männer flüchten, einige waren gestorben oder zu verletzt, um transportiert zu werden. Zu meiner allergrößten Bestürzung betraf dies auch Aidans beide Brüder.

So kannst du dir sicher vorstellen, wie schlecht es mir ging, als ich kurze Zeit später nur mit deinem Großvater und deinem Urgroßvater unser derzeitiges Zuhause erreichte. Ich wagte kaum, in die erwartungsvollen Gesichter meiner Schwägerinnen zu blicken, und als ich tieftraurig den Kopf schüttelte, sah ich, wie diese beiden tapferen Frauen zusammenbrachen. So konnte ich mich nur bedingt über die Rückkehr deines Großvaters freuen.

Später, als er sich etwas erholt und gestärkt hatte, erzählte uns dein Großvater von den letzten acht Monaten. Hamish schlief noch, er war zu erschöpft. Ich kann das Grauen nicht beschreiben und die katastrophalen Zustände, die auf der Burg geherrscht hatten. Ich möchte mir nicht ausmalen, was diese Erfahrung mit den überlebenden Männern tief im Innern angestellt haben musste, als die Vorräte an Munition und Proviant abnahmen, Kameraden verletzt wurden oder starben, die Gebäude immer mehr auseinanderfielen, und dazu wenig Schlaf und der ständige Lärm. Daran muss jeder noch so starke und tapfere Mann zerbrechen. Die nächsten Jahre waren schwer für Aidan und mich, doch er konnte diese schlimmen Erinnerungen irgendwann aus seinem alltäglichen Leben verbannen. Er war ein starker Mann, dein Großvater.“

Kendra hielt ehrfürchtig inne, in Gedanken ganz bei ihrem Gatten.

Sean räusperte sich. „Wie konnten die Männer fliehen?“

„Dein Großvater dachte, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte. Aber im März fingen die Soldaten mit dem Dauerbeschuss an und es gab keine Verschnaufpausen mehr. Hamish wurde irgendwann klar, dass sie die Burg nicht länger halten konnten und gab schweren Herzens den Befehl zur Flucht. Sie hatten dem Dauerbeschuss immerhin zehn Tage getrotzt, doch nun war Schluss. Die Männer erlösten die Verletzten und Alten schweren Herzens, nahmen die letzten Boote und ruderten mit letzten Kräften ohne Hindernisse nach Stonehaven.

Und somit fiel im Mai 1652 nach achtmonatiger Belagerung die letzte Festung Schottlands an die Engländer. Wir erfuhren dann, dass Cromwell Lordprotektor geworden war, und Schottland stand ab diesem Tag unter englischer Militärbesetzung.“

„Heißt das, sie haben ihre eigenen Leute umgebracht?“, fragte Sean verständnislos und zutiefst bestürzt.

„Ja. Sie wollten nicht, dass sie den Engländern in die Hände fallen.“

„Das ist grauenhaft.“

„Ich weiß.“

Die beiden schwiegen eine Weile.

Dann fragte Sean:

„Was passierte dann mit Dunnottar Castle?“

„Englische Soldaten waren ab dann dort stationiert und wir dachten, dass unsere Burg für immer für die Familie McCunham verloren sein würde.“

Sean nickte traurig. Plötzlich klopfte es an der Tür und Kendra sagte:

„Herein!“

Die Tür öffnete sich und Kendras Zofe kam ins Zimmer.

„Was ist, Senga?“, fragte Kendra matt.

Senga machte einen Knicks. „Der junge Laird wird zum Abendessen erwartet, Mylady.“

Kendra nickte und bedeutete ihr, dass sie sich entfernen dürfe. Zu Sean sagte sie: „Gut, mein Junge. Wir sehen uns ein andermal. Bis bald.“ Sie winkte ihn zu sich und küsste ihn auf die Wange. Sean umarmte seine Großmutter benommen.

„Ich komme bald wieder, liebe Großmutter. Ich wünsche Euch einen guten Abend.“

Kendra nickte und rutschte erschöpft wieder tiefer in ihre Decken.

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