Читать книгу Georgianas Gemälde - Claudia Romes - Страница 6

Zwei

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Die Zeit verging wie im Flug, und ehe sich‘s Sam versah, nahte der letzte Tag von Svenssons aufgestellter Frist. Am Tag zuvor hatte Brian die gefundenen Tonscherben als eindeutig maurische Keramik bestätigt. Noch war die Frage nicht geklärt, wie sie auf Tintagel Castle gekommen waren. Sam hatte Sorge, dass sie schon bald keine Gelegenheit mehr haben würde, es herauszufinden. Peters Eifer hatte seit seiner Ansprache über das Nicht-aufgeben-Wollen nicht nachgelassen. Er hatte Sam in den letzten Tagen mit unerwarteter Verlässlichkeit, Fleiß und schier unerschöpflichem Tatendrang überrascht und somit gezeigt, was wirklich in ihm steckte. Er und Cathy hatten sich als wahre Freunde bewiesen. Für Sam war es ein Trost zu wissen, dass sie in ihrem Glauben an den Schatz von Tintagel nicht allein war. Doch auch das konnte ihren Kummer darüber nicht mildern, dass ihr Abenteuer schon bald zu Ende sein würde. Nicht mehr lange und Svensson würde auftauchen und ihr buchstäblich die Kelle aus der Hand reißen. Bei dem Gedanken daran wurde ihr schwindelig. Ihr Herz begann zu rasen, und sie hatte Mühe zu atmen.

Ein seltsamer Traum hatte sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Ihr Vater war darin vorgekommen. Er hatte sie zur Ruine geschickt, wo sie von einer ihr unbekannten Frau in einem roten, altertümlich aussehenden Kleid erwartet wurde. Ihr langes dunkles Haar war vom Wind verweht worden, während sie aus traurigen Augen zu ihr aufgesehen hatte.

Der Traum war wie ein Weckruf für Sam gewesen. Vor Sonnenaufgang war sie zu Tintagel Castle gefahren, einen zusätzlichen Scheinwerfer im Gepäck, der die Grabungsstelle im Innern der Ruine ausleuchten sollte. Die Nacht verlieh dem Ort etwas Mystisches. Über ihr befand sich das beinahe sternenklare Himmelszelt. Nur vereinzelte Wolken zogen am vollen Mond vorbei und warfen ihre Schatten auf die Burgreste. Sam knipste das Licht ihrer Stirntaschenlampe an. In der Dunkelheit war das Gelände nicht ungefährlich. Spitze Steine ragten aus dem unebenen Untergrund. Die ungesicherten Stufen wurden zu nicht zu unterschätzenden Stolperfallen. Obwohl Sam das Gelände kannte, war es eine Herausforderung, in der Nacht dort zu sein. Es war ungewöhnlich kalt für Juni. Ihr Atem stieg als dampfende Wolke auf. Sie schlang sich ihren Schal enger um den Hals. Nichts war zu hören, außer das Meeresrauschen, das eine seltsam beruhigende Wirkung auf Sam hatte. Sie hatte keine Angst, des Nachts allein auf der Ruine zu sein. Was sie fürchtete, war zu versagen. Tintagel Castle aufzugeben und damit das Vermächtnis ihres Vaters.

Es war erst wenige Stunden her, dass ihr Team zusammengepackt hatte. Sam hätte am liebsten die Zeit angehalten. Aufgeben kam für sie nicht infrage – auch jetzt nicht. Es mochte verrückt sein, dass sie ihrem Traum folgte und ihren Scheinwerfer genau an der Stelle positionierte, an der die Frau gestanden hatte. Wahrscheinlich weigerte sich ihr Unterbewusstsein loszulassen – Tintagel und ihren Vater. Sam klammerte sich an ihren Traum wie an einen letzten Strohhalm. Und wie sie so auf die Mauern blickte, die silbern im Licht des Vollmondes schimmerten, war es, als wäre sie immer noch darin gefangen. Als wäre sie nicht allein auf der Burg, was sie merkwürdigerweise keineswegs als unangenehm empfand. Sie schloss den Scheinwerfer an den Generator an. Das Licht war grell. Es warf seinen runden Schein auf den harten, steinigen Boden. Was hatte sie schon zu verlieren? Sie stemmte die Arme in die Seite und schaute sich die beleuchtete Stelle genau an. Der Bereich war so unscheinbar, dass ihm bisher niemand große Beachtung geschenkt hatte. Vor fünfhundert Jahren war er nichts als ein Durchgangsweg gewesen, auf dem Pferde gerastet und vermutlich Händler ihre Waren feilgeboten hatten.

Sam ging völlig ohne Erwartungen an die Sache heran. Sie nahm den Metalldetektor und überprüfte damit den unwillkürlich geworfenen Lichtkreis. Es war, als würde der Mond sich darin spiegeln. Sorgfältig tastete sie sich Stück für Stück vor. Nachdem sie eine Weile gesucht hatte, ließ sie ernüchtert die Schultern hängen.

„Wie bescheuert“, murmelte sie, sank auf ihre Fersen und ließ den Detektor zur Seite sinken. „Das hat doch alles keinen Zweck.“

Sie wollte gerade aufstehen, als der helle Ton des Metalldetektors erklang. Stirnrunzelnd hielt Sam inne und festigte ihren Griff um das Suchgerät. Um einen Fehler auszuschließen, ließ sie es noch einmal über die Stelle gleiten, die den Alarm ausgelöst hatte. Sofort schlug der Detektor erneut an. „Okay.“ Sie legte das Gerät beiseite, nahm Handschaufel und Kelle zur Hilfe und grub vorsichtig.

Das Geräusch herabfallender Steine über die Klippe ließ sie herumfahren. Sie blickte sich danach um. Manchmal kamen Jugendliche aus dem Dorf hierher. Das war nichts Ungewöhnliches, auch wenn dieser Teil der Ruine für die Zeit der Ausgrabung für Besucher gesperrt war. Ein weiterer Grund, weshalb Svensson die Finanzierung streichen wollte. Cornwall wollte die Touristen nicht länger vertrösten. Schließlich ging es dabei ums Geld.

Erneut drang das Geräusch an Sams Ohren. Sie rappelte sich hoch und schaute in die Richtung, aus der sie es vermutete. „Hallo? Ist da jemand?“

Der Duft von Lavendel lag auf einmal schwer in der Luft. Als hätte jemand direkt neben ihr einen Raumduft oder ein Parfüm versprüht. Merkwürdig, dachte Sam. Ihr war mulmig zumute, doch sie konnte niemanden entdecken. Unmerklich schüttelte sie sich, wandte sich wieder ihren Gerätschaften zu und grub unermüdlich weiter.

Nach einer Weile war ihr von der Anstrengung ganz heiß geworden. Hastig zog sie ihre Jacke aus, warf den Schal unsanft beiseite. Sie war getrieben von dem Wunsch, diese Ausgrabung doch noch zu einem Erfolg zu bringen; von dem Glauben, dass sie diesmal richtig war. Sie wollte Svensson und allen anderen Skeptikern beweisen, dass sie recht hatte, dass diese Burg einen Schatz hütete, der größer war als alles, was in den letzten Jahren auf britischem Boden gefunden worden war.

Während einer Verschnaufpause warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr – halb vier. Um sechs würden Peter und Cathy kommen. Vielleicht würde sie bis dahin gefunden haben, was den Metalldetektor alarmiert hatte.

„Oh Gott“, murrte sie und strich sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. „Bitte lass es nicht nur eine alte Coladose sein.“

Nur wenige Meter von ihr entfernt hatte Cathy die Münzen entdeckt. Auch die Tonscherben hatten sie in unmittelbarer Nähe gefunden. Je mehr Erde Sam abtrug, umso intensiver wurde das Gefühl, dass sie nah an etwas Großem war. Also arbeitete sie weiter. Sie hatte bereits etwa einen halben Meter tief gegraben, ohne auf etwas gestoßen zu sein. Akribisch überprüfte sie mit dem Handmetalldetektor jeden noch so kleinen Erdklumpen. Sie war wie im Rausch. Und als die Sonne den Himmel über dem Ozean in ein warmes Rot tauchte, merkte sie es kaum.

Der Schweiß perlte ihr von der Stirn, als sie mit der Spitze ihrer Schaufel unerwartet auf steinharten Untergrund traf. Hastig hielt sie den Detektor in die Grabung. Der anhaltende, grelle Ton signalisierte ihr, dass sie fündig geworden war. Vorsichtig befreite sie den harten Untergrund von der restlichen Erde und stieß auf einen rostverkrusteten Eisenring in glattem Stein.

„Was haben wir denn hier?“, murmelte sie und griff aufgeregt nach der Spitzkelle, um ihn vorsichtig aus dem Erdreich zu lösen. Doch er war wie angeschweißt. Mühselig schaufelte sie die Erde um ihn herum weg, bis ihre Arme von der Anstrengung schmerzten. Keuchend rang sie nach Atem. Ihr Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust. Vor Erregung, vor Angst, davor, keine Zeit mehr für diesen Fund zu haben, der ihre Aufmerksamkeit verdiente. Nachdem sie auch die Umrisse des Steins zum Großteil freigelegt hatte, gab es keine Zweifel mehr. Er hatte keinen natürlichen Ursprung. Der Stein hatte einen Durchmesser von ungefähr einem Meter und eine quadratische Form. Er war gemeißelt, schien in den Boden eingelassen worden zu sein und der Metallring war mit ihm verbunden. Eilig grub Sam die Umrisse weiter aus, sodass ein schmaler Spalt zwischen der Abgrenzung zur umliegenden Erde entstand. „Das ist doch nicht möglich“, raunte sie vor Erstaunen. Mit der Hand wischte sie sich über die Stirn und atmete angestrengt durch. Dann stemmte sie sich auf die Beine und lief ins Zelt, wo sie eine Kopie des Grundrisses der Burg verwahrte. Mit zittrigen Fingern faltete sie den Plan auseinander und fuhr mit der Hand über die feinen Linien. Wieder und wieder las sie die Beschriftungen, bis sie sich sicher war. „Es ist kein Verlies eingezeichnet!“, murmelte sie stirnrunzelnd.

Rasch holte sie den dicken Ordner hervor, in dem die Informationen zusammengefasst waren, die ihr Vater über die Burganlage gesammelt hatte. Sie blätterte wie wild darin und schüttelte anschließend den Kopf. Aus den Dokumenten ging eindeutig hervor, dass die Burg keine unterirdischen Räume besessen hatte. Was hatte sie dann entdeckt? Waren die Aufzeichnungen vielleicht unvollständig? Sam ließ die Dokumente liegen, kramte ihr Handy aus der Hosentasche und wollte Cathys Nummer wählen, da hörte sie, wie ein Auto die schmale Straße zum Burggelände hinauffuhr. Sie rannte bis zur Anhöhe, um nachzusehen, wer es war. Im matten Licht der aufgehenden Sonne erkannte sie Cathy in ihrem dunkelblauen Geländewagen. Lächelnd legte sie auf und verstaute das Handy zurück in ihrer Hosentasche. Neben Cathy saß Peter. Offenbar hatten auch sie es nicht länger zu Hause ausgehalten. Sam konnte es kaum erwarten, ihre Meinungen zu der Steinplatte zu hören, die sie entdeckt hatte. Sie hatte bereits eine Vermutung, um was es sich dabei handeln könnte. Zugegeben, ihr Verdacht, dass sie einen alten Schacht entdeckt haben könnte, war gewagt. Wenn sie tatsächlich so etwas wie eine Falltür entdeckt hatte, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der darunterliegende Raum die vergangenen Jahrhunderte nicht überstanden hatte. Vermutlich war er längst verschüttet. Erde und Geröll hatten ihn unpassierbar gemacht, und das, was einmal darin gewesen war, zerstört. Daran wollte Sam jedoch nicht denken. Noch nicht.

„Beeilt euch!“ Hastig winkte sie Cathy und Peter zu sich.

„Ist was passiert?“ Cathy hörte sich besorgt an. Als sie sah, dass Sam grinste, entspannte sie sich.

„Ihr müsst euch das ansehen!“ Sam konnte noch immer nicht fassen, dass sie endlich etwas entdeckt hatte. Es war ein Erfolg. Auch wenn sie noch nicht wusste, was sie eigentlich gefunden hatte.

Cathy und Peter eilten den Hang hinauf.

„Ich frag lieber nicht, seit wann du hier bist.“ Cathy erreichte Sam atemlos. Mit zerknitterter Miene sah sie an Sam hinunter, deren Wangen schlammbeschmiert und deren überanstrengte Augen gerötet waren. „Du siehst furchtbar aus.“

Sam lächelte breit und überging Cathys Feststellung. „Ihr werdet nicht glauben, was ich gefunden hab.“

„Schlaf war es jedenfalls nicht“, neckte Peter sie. Cathy versetzte ihm einen Knuff mit dem Ellenbogen in die Seite. „Alles okay mit dir?“ Sie musterte Sam aufmerksam. „Hast du etwa in der Dunkelheit gegraben?“

„Hab ich.“ Sam wedelte aufgebracht mit einer Hand. „Das ist jetzt unwichtig.“

„Du hättest mich ruhig anrufen können. Das ist hier nicht ganz ungefährlich. So allein – erst recht ohne Licht.“

„Ich hatte ausreichend Licht. Ich habe mir noch einen Scheinwerfer mitgenommen.“ Sam deutete zur Fundstelle. „Nun kommt endlich. Ihr werdet staunen.“

„Wir müssen erst noch die Ausrüstung aus dem Kofferraum holen“, merkte Cathy an.

„Vergiss die Ausrüstung.“ Sam wandte sich um und ging. „Das kann warten. Kommt endlich!“ Hastig rannte sie voraus. Cathy und Peter folgten ihr.

„Jetzt hat sie völlig den Verstand verloren“, raunte Peter kopfschüttelnd.

„Schttt!“, machte Cathy. „Sie kann dich hören. Jetzt lass uns erst mal nachsehen, was sie uns zeigen will.“

Im Licht des immer noch eingeschalteten Scheinwerfers sah Sam aus wie eine Erscheinung. Geheimnistuerisch stand sie da und wies vor sich auf das Loch im Boden. „Und? Hab ich zu viel versprochen?“, fragte sie, als Peter und Cathy bei ihr ankamen.

Staunend ging Cathy vor der Steinplatte in die Knie. „Was ist das?“

Peter kam neben sie. „Das wird Mr Svensson umstimmen!“

„Vielleicht wird er es nicht als wichtig genug ansehen.“ Sam machte ihre Sorge laut.

„Aber das muss er! Es ist eine erstaunliche Entdeckung!“ Peter war vollkommen fasziniert.

„Was denkst du, was das ist? Ein Verlies?“ Cathy tappte vorsichtig mit der Schuhspitze auf den Stein.

„Eine Schatzkammer?“, warf Peter grinsend ein.

Sam schüttelte den Kopf. „Den Aufzeichnungen zufolge gab es so etwas an dieser Stelle der Anlage nicht.“

„Was ist es dann?“ Peter umkreiste Sams Fund wie ein Adler seine Beute.

Sam zuckte die Schultern. „Ehrlich. Ich weiß es nicht.“

Peter beugte sich zu dem stark verrosteten Metallring. „Sieht aus wie eine Art Falltür.“

Cathy nickte. „Sie muss in einen unterirdischen Raum führen. Vielleicht in einen Keller.“

„Was es aber laut Bauzeichnungen auf Tintagel an dieser Stelle nicht gab“, erklärte Sam mit Nachdruck.

Cathy und Peter sahen verwundert zu ihr auf.

„Was könnte es sonst sein?“ Cathy kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Könnte es später gebaut worden sein?“

„Das halte ich für unwahrscheinlich. Es findet auch in neueren Aufzeichnungen keine Erwähnung.“ Sam dachte angestrengt nach.

„Vielleicht ist es ein Fragment der Burg“, vermutete Cathy. „Etwas, das von oben herabgefallen ist, hier liegen blieb, aber eigentlich irgendwo anders hingehört.“

Peter kletterte aus dem Loch und klopfte die Erde von seiner Jeans. „Ich glaube nicht, dass wir dahinter irgendetwas finden. Ist wahrscheinlich nur die Platte.“

„Eine steinerne Platte mit einem Griff“, ergänzte Sam, die nicht fassen konnte, dass ausgerechnet er diesen Fund eher nüchtern betrachtete.

„Ein Griff als Türöffner“, spekulierte Cathy.

Peter zuckte die Schultern.

„Also, ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich würde es gern herausfinden.“ Sam sah mit einem leichten Lächeln zwischen den beiden hin und her.

„Oh ja. Ich auch!“ Cathy klang fest entschlossen. Die Frauen sahen zu Peter, der nicht sehr überzeugt aussah. War das … Angst, die in seinen Augen stand?

„Komm schon, Peter“, stichelte Cathy. „Du bist doch sonst so wild darauf, einen Schatz zu finden.“

Peter prustete, dann zuckte er die Achseln. „Na schön, ist ja nicht so, als wären wir in Die Mumie kehrt zurück, oder so. Gehen wir es an.“

„Sehr gut!“ Sam klatschte freudig in die Hände.

„Und wie sollen wir das Ding bewegen?“ Peter stützte die Hände in die Hüfte. „Es ist ja förmlich mit dem Boden verwachsen.“

Sam dachte angestrengt nach. Die Zeit saß ihnen im Nacken. Der Druck, schnell eine Lösung zu finden, war unerträglich.

„Wir brauchen einen Kran. Ich denke, im Notfall würde auch ein kleiner Bagger gehen“, sagte Cathy.

Sam sah sie an, als hätte sie gerade einen schlechten Witz erzählt. „Wo um alles in der Welt willst du jetzt einen Kran herbekommen?“

Cathys Blick glitt zu Peter. „Du kennst doch viele Leute auf dem Bau. Kannst du nicht irgendjemanden anrufen, der uns helfen kann?“

„Damit würden wir uns nicht an archäologische Vorgaben halten“, wandte Sam, Vernunft geplagt, ein. „Wir könnten etwas von historischer Bedeutung beschädigen.“

„Also ich würde da jetzt ein Auge zudrücken, Frau Doktor“, zog Peter sie auf.

„Peter hat recht.“ Cathy kam neben Sam. „Wir haben keine Zeit für aufwendige Vorgaben. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird jemand anderes herausfinden, was hinter dieser Tür liegt. Dann wäre alles hier umsonst gewesen. Jahrzehntelange Arbeit, deine und die deines Vaters.“

Sam seufzte bitterlich. „Wir halten uns damit nicht an die Regeln“, brummte sie, als wäre es ihre Pflicht, die anderen noch mal darauf hinzuweisen.

„Manchmal muss man die Regeln brechen, um voranzukommen.“ Peters ungewohnte Weisheit rüttelte Sam auf. „Willst du nun wissen, ob wir einen Zugang zu einem Geheimraum entdeckt haben, oder nicht?“ Er stemmte die Hände in die Hüfte.

Eine Weile starrten Peter und Cathy Sam an, dann nickte sie ab, und Peter zückte sein Handy. „Ich werde einen Kumpel anrufen, der uns vielleicht helfen kann. Ist mir noch einen Gefallen schuldig.“ Peter ging zu den klippennahen Mauern, um in Ruhe zu telefonieren. Sam beobachtete ihn gedankenversunken dabei. Die aufgehende Sonne umspielte Peters Silhouette. Allmählich tauchte sie die Ruine in ein warmes Licht. Würde die Uhr nicht so gnadenlos ticken, wäre dies der Beginn eines wundervollen Tages.

„Haben wir auch einen Plan B?“ Cathy lehnte sich zu Sam. „Ich meine, wenn Peter es nicht schafft, einen Kran oder so etwas zu beschaffen. Was dann?“

„Keinen Plan B“, antwortete Sam verdrossen, ohne ihren Blick von Peter zu nehmen, auf dem nun ihre Hoffnungen ruhten.

„Das dachte ich mir.“ Cathy zog einen Mundwinkel zur Wange. „Vielleicht geht es auch mit einem Brecheisen.“

Sam wandte sich ihr abrupt zu. „Das ist nicht dein Ernst!“

„Ist es auch nicht“, entschuldigte sich Cathy rasch. „Es war nur so ′ne fixe Idee, die infrage käme, wären wir keine sorgsam arbeitenden Wissenschaftler, sondern …“, sie suchte nach dem passenden Begriff, „Schatzräuber.“ Verschwörerisch sah sie zu Sam. „Ich meine ja nur … Die haben keinen Zeitdruck und müssen nicht erst auf große Gerätschaften warten.“

Sams Augenbrauen schnellten hinauf. „Dir ist schon bewusst, dass wir diese Steinplatte unter Umständen unwiderruflich zerstören würden?“

Cathy nickte seufzend. „Sicher. Deswegen ja auch. So etwas machen wir nicht.“ Sie legte den Kopf schief. „Wobei …“

„Hm?“ Sam hob die Brauen.

„Na ja.“ Cathy biss sich auf die Unterlippe. „Die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Platte mit einem Kran oder einem Bagger beschädigen, ist mindestens genauso groß.“

Sam verschränkte die Arme vor der Brust und schnaufte durch. Natürlich hatte Cathy recht. Trotzdem fand sie deren Vorschlag für einen Plan B völlig inakzeptabel. Sie würde sich nicht auf das Niveau von Raubgräbern herablassen. Auch wenn ihnen die Zeit davonlief. Raubgräber arbeiteten nur für sich. Dabei zerstörten sie historische Schätze. Geschichte, die für die Menschheit von unschätzbarem Wert war.

Peter verstaute das Handy wieder in seiner Hosentasche. Als er zu Sam und Cathy zurückkehrte, verriet sein missmutiger Gesichtsausdruck, dass er kein Glück gehabt hatte. „Da ist leider nichts zu machen. Nicht vor nächster Woche.“

„So ein Mist!“ Cathy stampfte wütend mit dem Fuß auf.

„Das war’s“, sagte Sam. „Lasst uns zusammenpacken.“

„Du willst aufgeben?“ Peter konnte nicht glauben, was er hörte.

„Wir können diesen Fund doch nicht einfach so ignorieren“, versuchte Cathy sie umzustimmen.

„Vielleicht reicht er Svensson aus, und er verlängert die Frist“, meinte Sam, auch wenn sie daran ihre Zweifel hatte.

„Das wird er nicht tun.“ Cathy war sich sicher.

„Er ist ganz wild darauf, in Karnak zu investieren“, stimmte Sam ihr zögernd zu. „Und er wird sich nicht von einer Steinplatte davon abbringen lassen, hinter der wahrscheinlich nichts als Geröll liegt.“ Sie ließ die Schultern hängen. „Es ist doch so, vermutlich ist darunter nichts als ein ehemaliger Getreidespeicher, der längst verschüttet und damit unzugänglich ist. Warum sollte Svensson sich davon umstimmen lassen, wenn in Karnak Pharaonen-Gold und John Cockburn mit einer Sondersendung auf ihn wartet, die ihn berühmt macht.“

„Cockburn? Is′ ja cool!“ Peter war ein eingefleischter Fan seiner Sendung.

Cathy verzog angewidert das Gesicht. „Dieser Schmierlappen“, sagte sie und rollte mit den Augen. „Ich schalte immer sofort um, wenn ich den im Fernsehen sehe.“

„Das tue ich auch“, pflichtete Sam ihr bei.

Peter schüttelte verständnislos den Kopf. „Ihr habt ja keine Ahnung, was gut ist.“

„Dieser Möchtegern-Wissenschaftler sicher nicht“, fauchte Cathy.

„Hey.“ Sam hob schlichtend eine Hand. „Wir sind nicht hier, um zu streiten.

Beide schauten reuig zu ihr auf.

„Wir haben alles versucht“, raunte Sam mit traurigem Blick auf das, was sie gefunden hatte. „Wenn wir jetzt nicht weiterkommen, soll es eben nicht sein.“ Sie hatte genug Enttäuschungen erlebt. Die Zeit arbeitete gegen sie. Was konnte sie daran schon ändern?

Cathy sah auf ihre Armbanduhr. „Uns bleiben mindestens noch fünf Stunden, bis Svensson hier auftaucht.“

Sam ließ ihre Augen schweifen. Suchend nach einer anderen Möglichkeit, hoffend darauf, dass ihr ein Plan C in den Sinn kam, und das möglichst sofort.

„Wir können natürlich warten“, begann Cathy. „Warten, bis diese Raubgräber hierherkommen. Die Platte hast du ihnen ja schon freigelegt. Wenn wir Glück haben, erfahren wir irgendwann aus der Zeitung, was darunterliegt.“

Sam spannte verbittert ihre Kiefernmuskeln an.

„Die gehen bestimmt nicht zimperlich mit der Platte um“, fuhr Cathy seufzend fort. „Wenn die etwas bei ihrer Suche zerstören, dann ist das eben so.“

„Was, wenn es kein Getreidespeicher ist?“, warf Peter ein.

„Was, wenn da unten tatsächlich der Schatz liegt, von dem dein Vater dir erzählt hat, Sam?“

Sie betrachtete ihn nachdenklich.

„Also, ich will nicht, dass ihn andere finden!“, stellte Peter klar.

„Ich auch nicht!“, sagte Cathy entschlossen.

Sam gab ein lautes Seufzen von sich, dann wandte sie sich an Peter. „Geh und hol die Brecheisen aus dem Wagen. Ein Versuch ist es wert.“ Peters Miene hellte sich augenblicklich auf. Er eilte davon. Sam sah ihm nach, bis Cathy sich neben sie stellte. Über ihr Gesicht huschte ein erleichtertes Lächeln.

„Wenn niemand von dieser Steinplatte weiß, kann sie auch versehentlich beschädigt worden sein.“ Sam dachte laut. „So etwas kommt vor … bei Zufallsentdeckungen.“

„Auf jeden Fall!“, stimmte Cathy vorbehaltlos zu. „Wir tun das Richtige. Wir sind so nah am Ziel.“

„Was, wenn wir sie nicht bewegen können?“ Sam sah Cathy an. In ihren Augen spiegelte sich schon jetzt die Enttäuschung darüber, dass alles umsonst war. Svensson könnte ihr die Lizenz entziehen, wenn er herausfand, was sie vorhatten.

Cathy nahm Sams schmutzige Hände in ihre. „Dann haben wir es wenigstens versucht.“ Sie drückte ihre Hände leicht. „Ist es das nicht wert?“

Sam schluckte schwerfällig, als Peter mit zwei Brecheisen und einem Seil zu ihnen kam. „Wir gehen nicht korrekt vor, das wisst ihr?“ Sam war einfach danach, das nochmals klarzustellen.

Peter und Cathy nickten im Gleichklang.

„Wenn das mein Vater wüsste“, murmelte Sam, als sie eines der Brecheisen an sich nahm. „Darüber darf ich gar nicht nachdenken.“

Cathy lächelte bestärkend. „Er wäre stolz auf dich.“

Sams Anspannung legte sich ein wenig. Sam lachte leise, dann klopfte sie mit Hammer und Meißel die Ränder des Steins ab, um die Furche zwischen ihm und der Erde zu vertiefen. Anschließend führte sie ihr Brecheisen dazwischen.

Neben ihr schob Peter die Spitze seines Eisens so tief es ging unter den Rand der Platte.

„Dann mal los.“ Peter zog das Seil durch den Metallring und befestigte es an der Anhängerkupplung seines Vans.

Cathy beobachtete ihn aufmerksam. „Das Metall ist unter Umständen Hunderte von Jahren alt. Es ist nicht gesagt, dass es hält.“

Peter zuckte die Schultern. „Sieht stabil genug aus.“

Cathy und Sam tauschten irritierte Blicke.

„Was bleibt uns anderes übrig?“ Peter klopfte die Brecheisen mit der schmalen Spitze voran zu beiden Seiten tiefer in die Spalten zwischen Boden und Platte. „Ihr haltet die Eisen fest, während ich den Van starte und versuche, die Platte wegzuschieben. Sobald sich etwas bewegt, schiebt ihr die Eisen tiefer unter die Platte. Habt ihr das verstanden?“

Sam und Cathy nickten angespannt. Als der Motor des Vans aufheulte, überkam Sam ein mulmiges Gefühl. Erst jetzt wurde ihr klar, dass das, was sie vorhatten, nicht nur gegen unzählige Vorschriften verstieß, sondern noch dazu sehr gefährlich war. Sollte sich unter ihnen tatsächlich ein Hohlraum befinden, könnte er einstürzen. Die Platte könnte sie und Cathy in die Tiefe reißen. Doch noch bevor Sam diese Horrorvorstellung überdenken konnte, drang das Geräusch durchdrehender Reifen zu ihnen vor. Das Seil war auf Spannung. Noch hielt der Metallring stand. Mit einem reißenden Klirren hob er sich vom Stein, an einer Seite wurde die Platte wenige Millimeter hinaufgezogen. Ein lautes Rumpeln war zu hören, als würde unter ihnen etwas in sich zusammenfallen. Sam bekam es mit der Angst zu tun.

„Zurück, Cathy!“ Sam sprang auf, lief dem Seil entlang zum Weg und winkte Peter hektisch zu. „Stopp!“, schrie sie aus Leibeskräften. Aber er hörte sie nicht. Stattdessen gab er weiter Gas. Das Seil spannte sich noch mehr, um kurz darauf an Sam vorbeizuzischen. Peter bremste ruckartig ab, stieg aus dem Wagen und kehrte zu Sam zurück. Diese wandte sich nach Cathy um.

„Das Metall hat nachgegeben“, sagte sie entrüstet.

Peter stürmte zur Platte. „Nicht nur das“, kommentierte er den Anblick des Steins, der sich nun ein Stück weit aus der Erde hob. „Dann kommt es jetzt also auf uns an.“ Er krempelte sich die Ärmel hoch. „Mädels, ich weiß nicht, ob meine geballte Manneskraft dafür ausreicht.“

„Und das will schon was heißen“, sagte Cathy und schob eines der Eisen tiefer unter die Platte, während Sam es ihr auf der gegenüberliegenden Seite nachtat.

„Ihr hebt sie an, und ich versuche, das Seil darunter zu schieben“, sagte Peter. „Wenn wir Glück haben, können wir den Stein anschließend zur Seite rücken. Bereit?“

Cathy und Sam nickten, dann drückten beide die Brecheisen so fest sie konnten hinunter. Peter lag auf dem Boden, direkt neben der Platte und schob das Seil vorsichtig durch den schmalen Spalt zur anderen Seite hindurch.

„Es funktioniert!“ Sam keuchte. Das Eisen unter ihr brachte den Stein zum Bersten, sodass sich eine Ecke davon ablöste.

„Na toll“, jammerte Sam. „Ausgerechnet die Archäologin beschädigt das Fundstück.“

„Ich nehm’s auf meine Kappe.“ Peter war es gelungen, das Seil zu verknoten. Sam und Cathy ließen sich völlig außer Atem nach hinten fallen.

„Packt mit an“, sagte Peter. „Sam und ich ziehen am Seil. Cathy, du schiebst.“

Sam griff nach der abgebrochenen Ecke des Steins. Als sie diese aufheben wollte, stutzte sie. Darunter kam ein kleines schwarzes Loch zum Vorschein.

„Was ist das?“ Cathy hielt inne.

Kleinere Steine purzelten klackernd hinein. Ihr Aufprall hallte wider.

„Da geht es definitiv runter“, stellte Sam fest.

Peter und Cathy sahen sich aufgeregt an.

„Lasst uns jetzt versuchen, den Stein wegzubewegen“, sagte Peter und packte mit beiden Händen das Seil.

„Bei drei.“ Sam umklammerte das andere Ende. „Eins – zwei – drei.“ Beide zogen kräftig, während Cathy am Boden gegen den Stein drückte.

Langsam gab die Platte nach und ließ sich mit einem schleifenden Geräusch wegschieben.

„Genug!“, schrie Cathy, vor der dunklen Öffnung hockend, die ungefähr einen halben Meter maß. „Seht doch!“

Rasch gingen Sam und Peter näher heran. Staunend standen die drei vor dem Erdloch.

„Es ist tatsächlich ein Hohlraum.“ Sam ging neben Cathy davor in die Knie.

„Wie tief geht’s da runter?“ Peter kam hinter die beiden.

Sam leuchtete mit der Taschenlampe durch die Öffnung.

„Kannst du irgendwas erkennen?“, fragte Cathy.

„Nicht viel.“ Sam stierte mit schmalen Augen in die Dunkelheit. „Ich schätze, wir müssen es herausfinden. Was sagt die Zeit?“

Cathy warf einen Blick auf die Uhr. „Gleich halb acht.“

Sam schnaufte durch. „Svensson kommt gegen elf.“ Ihr Herzschlag ging schnell. Sie spürte, wie nah sie an einer bedeutenden Entdeckung waren.

„Sollen wir doch auf ihn warten? Vielleicht ändert er ja seine Meinung, wenn er das Loch hier sieht.“ Peter löste das Seil vom Stein und wickelte es auf.

„Er wird es für irgendeinen Abfallschacht halten und uns fortschicken.“ Sam fasste sich an die Stirn und dachte nach.

„Was willst du sonst tun?“ Cathy sah sie prüfend von der Seite an. Sam fasste einen halsbrecherischen Entschluss.

„Ich geh da jetzt runter.“ Entschlossen stand sie auf und drückte den Rücken durch.

„Das ist nicht dein Ernst?“ Cathys Augen bildeten eine sorgenvolle Linie.

„Eine Alternative haben wir nicht“, rechtfertigte sich Sam. „Ich will nicht das Risiko eingehen, dass Svensson uns trotz dieses Fundes Tintagel streicht. Ich möchte wissen, was da unten ist.“

„Es ist nicht sicher“, versuchte Cathy, sie zur Vernunft zu bringen.

„Manchmal müssen wir eben ein Risiko eingehen, um voranzukommen“, wiederholte Sam die Worte ihrer jungen Grabungshelferin.

Cathy ließ ein Stöhnen hören. „Du weißt doch gar nicht, was dich da unten erwartet.“

„Genau“, warf Peter ein. „Was, wenn es eine unterirdische Schlangenhöhle ist?“

Cathy rümpfte die Nase. „In England?“

Sam band sich das Seil um die Hüfte. „Du guckst eindeutig zu viele Abenteuerfilme, Peter.“

Es dauerte nicht lange, da war Sam mit Helm, Atemschutz und einer großen Taschenlampe aus ihrer Notfallausrüstung bereit, in die Höhle hinabgelassen zu werden.

Peter sicherte sie mit dem Zehn-Meter-Seil ab, das andere Ende wickelte er um sich selbst.

„Sei bitte vorsichtig!“, mahnte Cathy, als Peter Sam in den Hohlraum herabließ. Langsam tauchte Sam in die Dunkelheit hinab. Das matte Tageslicht drang zu einem schmalen Streifen gebündelt hinunter. Sam baumelte knapp über dem Boden, als die Seillänge aufgebraucht war. Rasch befreite sie sich aus dem Knoten und spürte im nächsten Moment festen Boden unter den Füßen.

„Was siehst du?“ Cathys Stimme hallte im Raum wider, den es für Sam nun zu erkunden galt. Sie schaute hinauf. Feiner Staub rieselte von der Decke auf sie herab. Blinzelnd wandte sie sich ab.

„Sag uns, was du siehst!“, forderte Peter gespannt. „Ist es ein alter Lagerraum?“

„Ich weiß es noch nicht genau“, antwortete Sam ihnen.

Im Erdloch roch es modrig. Sam schickte das Licht der Taschenlampe zu allen Seiten und hielt vor Verwunderung die Luft an. Sie war in keinem Verlies, keinem Keller. Vor ihr waren halb verrottete Möbelstücke, völlig eingestaubte Stoffreste, Keramik, Porzellan. Zweifellos waren diese Sachen schon lange hier unten.

„Sag schon, was du siehst, Sam!“, forderte Cathy ungeduldig.

„Ja! Wir sterben hier oben vor Neugier“, pflichtete Peter ihr bei.

Der Anblick hatte Sam die Sprache verschlagen. Mit jedem Schritt, den sie tat, knirschte es unter ihr. Sam leuchtete auf den Boden, der mit fauligem Holz übersät war. Sofort presste sie ihre Atemmaske fester über Mund und Nase. In einer Ecke entdeckte sie ein reflektierendes Licht, das von einem alten Silberspiegel zu kommen schien. Sein Rahmen war mit dichten Spinnweben überzogen. Das Glas mit schwarzen Flecken besprenkelt.

„Wie groß ist der Raum?“ Cathy konnte ihre Neugierde nicht bändigen.

Sam stieg achtsam über das am Boden liegende alte Gebälk hinweg. In der Nähe des Spiegels glitzerte etwas im Licht. Langsam ging sie darauf zu, um es sich genauer anzusehen. Im nächsten Moment erschrak sie. Das, was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie stieß einen spitzen Schrei aus.

„Was ist los?“ Peter beugte sich alarmiert über die Öffnung.

„Sam? Alles in Ordnung?“ Cathy klang besorgt.

„Mir geht’s gut“, erklärte Sam, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war.

„Was hast du gefunden, Sam? Was ist es?“ Cathys Stimme drang gedämpft zu ihr hinunter.

Sam schluckte angestrengt. „Es … es ist ein Grab“, antwortete sie stockend. Das Licht ihrer Taschenlampe war nun auf die Überreste eines Menschen gerichtet.

„Was meinst du damit?“, hakte Cathy nach.

Mit klopfendem Herzen näherte sich Sam den menschlichen Überresten. „Hier liegt jemand.“

„Oh, mein Gott“, hörte sie Cathy sagen.

„Sollen wir die Polizei rufen?“, fragte Peter, ein Verbrechen witternd.

Sam hielt das Taschenlampenlicht auf den Körper. Der Schmuck sowie die Kleidungsreste ließen darauf schließen, dass es sich um eine Frau handeln musste. „Keine Polizei!“, antwortete Sam. Die Haut der Toten war ledrig, wie bei einer Mumie. Reste von dunklem Haar waren auf dem Kopf erkennbar. „Wohl eher die Jungs aus dem Institut für mittelalterliche Forensik.“

„Denkst du, es ist ein mittelalterliches Grab?“, fragte Cathy perplex.

Sam leuchtete mit der Taschenlampe umher. „Hier unten ist es wie in einer Kühlkammer“, sagte Sam. „Das, verbunden mit dem salzigen, feuchten Erdreich, könnte die Leiche konserviert haben.“

Sam wurde schwindelig. Ein Zeichen dafür, dass ihr das durch das verfaulte Holz entstandene Methan an diesem Ort nicht länger bekam. Offenbar reichte ihr Atemschutz für eine so hohe Konzentration in der Luft nicht aus. Sie geriet ins Straucheln. Wieder nahm sie einen starken Lavendelduft wahr. Das war unmöglich! Sie taumelte zur Seite. Ein Balken löste sich über ihr und kam polternd neben ihr auf. Ihr blieb fast das Herz stehen.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Cathy.

„Ich fühle mich nicht so gut“, gestand sie mit abfallender Stimme. Um sie herum begann sich alles zu drehen.

„Dann mach, dass du da rauskommst, und zwar schnell“, befahl Cathy.

Sam ging zurück zur Öffnung, griff nach dem Seil und wickelte es sich um die Taille.

„Halt dich gut fest!“ Peter zog sie wieder hinauf. Keuchend kletterte Sam zurück an die Oberfläche. Sie stützte die Unterarme auf die Knie und schnaufte erschöpft aus. Anschließend riss sie sich die Maske vom Mund und sog die frische Luft tief in sich ein. Es dauerte eine Weile, bis der Schwindel verflogen war.

Cathy reichte ihr eine Flasche Wasser. „Alles okay?“

Sam nickte matt, griff nach dem Wasser und nahm einen großen Schluck.

„Was hast du da unten gefunden?“, wollte Peter wissen.

Sam war immer noch atemlos, strahlte aber. „Wir haben es geschafft!“ Sie nickte euphorisch. „Ich kann zwar noch nichts Genaues sagen, aber das da unten“, sie deutete zum Hohlraum, „ist eine echte Sensation. Dort ist jemand begraben worden – vor langer Zeit. Dort warten haufenweise Fundstücke auf uns. Aus welcher Epoche kann ich jetzt noch nicht datieren, aber auf jeden Fall schon nicht mehr aus dem letzten Jahrhundert. Das da unten ist deutlich älter.“

Cathy und Peter schauten einander entgeistert an.

„Wir müssen Svensson anrufen. Und zwar gleich“, sagte Sam. „Wenn er das hier sieht, ist Tintagel nicht länger die unscheinbare mittelalterliche Ruine. Und unser Budget ist gerettet.“

„Wir dürfen bleiben?“ Cathy schaute Sam zweifelnd an.

„Davon gehe ich aus!“ Sam nickte.

Cathy sprang auf und klatschte freudig in die Hände.

„Moment mal.“ Peter kratzte sich ratlos am Kopf. „Du willst sagen, dass da unten eine Leiche ist. Ein echter Toter?“

Sam prustete. „Genau das meine ich. Und ich denke, er ist eine Sie.“

„Eine Frau?“ Cathy machte große Augen.

„Wahrscheinlich.“ Sam nickte knapp. „Natürlich kann man das erst genau sagen, nachdem alle Untersuchungen abgeschlossen sind, aber für mich sieht es sehr danach aus.“

„Was, wenn die Frau ermordet wurde?“ Peter wirkte angespannt. „Und das nicht irgendwann vor Hunderten von Jahren? Was, wenn wir hier in einen Kriminalfall reingestolpert sind? Versteht mich nicht falsch, aber wieso ist sie nicht schon eher entdeckt worden?“

„Weil es keine typische Grabungsstelle ist“, erklärte Sam. „Die Falltür liegt mitten auf einem unbedeutenden Gelände. Es ist unwahrscheinlich, dass man dort eine außergewöhnliche Entdeckung macht. Vor allem, weil dieser Hohlraum nirgendwo vermerkt ist. Niemand hat erwartet, dort etwas zu finden.“

„Ich hab die Stelle zuvor auch schon mit dem Detektor überprüft“, sagte Peter grübelnd. „Er hat nie ausgeschlagen.“

„Der Metallring war ungefähr anderthalb Meter unter der Erde. Wahrscheinlich hättest du exakt den Punkt, an dem er lag, treffen müssen.“ Cathys Erklärung war plausibel. Sam hatte nichts hinzuzufügen. Sie rappelte sich auf. „Ich geh und rufe Svensson an.“ Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding.

Cathy stützte sie. „Soll ich das übernehmen? Du bist immer noch ganz käsig.“

Sam nickte dankbar ab und übergab Cathy ihr Handy. „Aber … mach es bitte spannend.“

Cathy nickte lachend. „Keine Sorge. Das werde ich.“

Keine halbe Stunde später traf Svensson ungeduldig auf Tintagel Castle ein. Cathy hatte am Telefon nichts von der mittelalterlichen Leiche erwähnt, auf die sie gestoßen waren. Sie hatte ihm lediglich gesagt, dass er unbedingt kommen müsste.

Mit schmalen Augen betrachtete er Sam, als er im Innern der Burg ankam. „Wenn Sie mit mir über eine Fristverlängerung verhandeln wollen, muss ich Sie leider enttäuschen. Ich habe mir Brians Bericht über die Tonscherben angesehen. Maurisch oder nicht, Scherben allein können eine solche Ausgrabung nicht finanzieren.“

„Keine Sorge, deshalb haben wir Sie nicht herbestellt.“

„Weswegen dann? Ich bin ganz Ohr.“

Sam bedeutete ihm, ihr über das Burggelände zu folgen. Vor dem mit einem Absperrband gesicherten Loch im Boden machte sie Halt. Peter hatte es erst kurz zuvor damit kenntlich gemacht. „Wir haben etwas gefunden.“

Svensson sah verdutzt zwischen ihr und dem Hohlraum hin und her. Er zog seinen Hut, fuhr sich mit der Hand über das Haar – so, wie er es immer tat, wenn er von etwas angetan war.

„Was ist es? Ein Kellergewölbe?“

Sam schüttelte den Kopf. „Laut den Aufzeichnungen, die wir über die Burganlage haben, hat es so etwas wie einen Keller oder ein Verlies nie gegeben.“

Svensson lauschte angetan. „Was kommt sonst infrage?“

„Nun“, begann Sam und räusperte sich nervös. „So genau wissen wir das noch nicht.“

„So?“ Svensson blickte mürrisch drein.

„Es ist ein Grab“, mischte sich Peter ein. Sam bedachte ihn mit einem bösen Blick.

Svensson schaute abwechselnd zu Peter und zu Sam. „Ein Grab?“, wiederholte er ungehalten.

„Dort unten liegt jemand“, klärte Peter ihn auf. Sam presste beklommen die Lippen aufeinander.

„Und woher wissen Sie das, wenn ich fragen darf?“ Svenssons Blick haftete an Sam.

„Na ja“, stammelte diese. „Das wissen wir deswegen, weil … ich es mir angesehen habe.“

Svenssons Brauen schnellten hinauf. Vorsichtig näherte er sich dem Erdloch. „Sie meinen … Sie waren da drin?“

„War ich“, gestand Sam leise.

Svensson schnappte nach Luft, dann nickte er anerkennend. „Ihr Eifer in allen Ehren, aber … das hätte böse ausgehen können.“

„Ich weiß.“

„Es hätte einstürzen können.“

„Ja.“

„Sie haben Ihr Leben aufs Spiel gesetzt.“

„Das hab ich.“

Svensson wandte sich ihr zu. Sam befürchtete, dass er sie anschreien würde, dass er ihr klarmachen würde, wie dumm es von ihr gewesen war, das Erdloch selbst zu erkunden, stattdessen klopfte er ihr auf die Schulter. „Dr. Bellings, ich erkenne viel von mir in Ihnen wieder.“

„Ach ja?“, stotterte sie ungläubig.

„Ein solch überstürztes Verhalten hat den ein oder anderen unserer Zunft bereits das Leben gekostet. Aber der Welt mindestens genauso viele unersetzliche Entdeckungen eingebracht.“

„Uns lief die Zeit davon.“ Cathy zuckte im Vorübergehen die Schultern.

„Ganz zu schweigen von der Gefahr, etwas von unschätzbarem Wert zu zerstören – bei einem so harschen Vorgehen.“ Er seufzte mit starrer Miene. „Sie drei sind wirklich unverbesserlich.“ Sein strenger Ton klang aufgesetzt. „Sie haben also einen Toten dort unten entdeckt?“

Sam nickte.

„Welche Epoche vermuten Sie?“

„Das kann ich nicht genau sagen.“ Sam grübelte. „Dreizehntes Jahrhundert vielleicht?“

Svensson grunzte spöttisch. „Unmöglich! Das wäre ja …“

„Aus der Zeit vor den Rosenkriegen. Ich weiß.“

„Richard von Cornwalls Zeit.“ Svensson kannte sich aus.

Sam nickte unschlüssig.

„Das halte ich für unwahrscheinlich. Aber gut …“

Nervös wartete Sam auf seine Entscheidung. Auch Peter und Cathy verharrten angespannt bei ihnen.

„Na schön“, grummelte Svensson und brachte seinen Hut in Form. „Ich weiß zwar noch nicht, wie ich das dem Tourismusverband erklären soll, aber ich werde Ihnen ein Forschungsteam der Universität finanzieren.“

Sam fiel ein Stein vom Herzen. Sie lächelte erleichtert. Cathy fiel ihr glücklich um den Hals.

„Ich hoffe für Sie, dass es sich lohnt!“, betonte Svensson.

„Danke, Sir.“ Sam schüttelte seine Hand. „Haben Sie vielen, vielen Dank!“ Sie begleitete ihn zu seinem Wagen.

„Jaja, schon gut.“ Er stieg ein. „Sie können heute Nachmittag mit den Geologen rechnen. Und ich schicke auch einen Forensiker bei Ihnen vorbei.“

Sam nickte entgeistert. Sie stand wie angewurzelt da, während Svensson davonfuhr. Einen so großen Fund hatte sie noch nie gemacht. Mit dem Prozedere war sie nicht vertraut. Bisher kannte sie es nur aus der Theorie. Aus dem Studium und von Berichten anderer Archäologen. Jetzt war ihre Zeit gekommen. Es war ihr Fund. Vielleicht war es der Fund, auf den sie ihr Leben lang gewartet hatte, der Schatz, von dem ihr Vater immer gesprochen hatte. Sie nahm einen tiefen Atemzug und schaute hinauf zum Horizont, an dem wieder mehr Wolken entlangzogen. Sie warfen ihre Schatten auf die Ruine. Vereinzelte Sonnenstrahlen trafen auf die Mauerreste.

Andächtig kehrte Sam zu dem Hohlraum zurück, den sie entdeckt hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit drangen wieder Sauerstoff und Tageslicht hinein. Sie spürte ein inniges Glück in sich, eine Vorfreude auf das, was es über diese Kammer und die Frau zu erforschen gab, die vermutlich darin umgekommen war – über ihre Entdeckung. Nie zuvor war das Bedürfnis nach Antworten stärker in ihr gewesen. Wer war diese Frau, die tief unter der Burganlage ihr Grab gefunden hatte? Sam wollte es herausfinden. Sie wollte das Rätsel um die Tote lösen, ihr einen Namen geben und einen Platz in der Geschichte.

Georgianas Gemälde

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