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Erdbeerwild
(Stockholm, Schweden)
ОглавлениеEs war ihm nicht möglich, seine Beine auszustrecken. Schon jetzt bemerkte er, wie es zu kribbeln begann. Zunächst nur zögerlich, aber er wusste ganz genau, dies würde bis zur Unerträglichkeit zunehmen. Als ob kleine Ameisen in seinen Nervenbahnen unterwegs wären. Außerdem saß der Gurt stramm und fesselte ihn. Zu atmen fiel ihm schwer. Er spürte, wie sich kleine Tropfen aus Schweiß an mehreren Stellen seines Körpers bildeten und zu kleinen Lachen sammelten. Einatmen, ausatmen. Konzentration. Es war wichtig, Ruhe zu bewahren. Das hatte er irgendwo gelesen, er hatte die Quelle vergessen. Sobald er in Panik verfiel, war alles zu spät. Er kam hier nicht raus. Es lag nicht in seiner Hand. Dabei hatte er sich nichts vorzuwerfen. Absolut nichts. Er war hier gegen seinen Willen.
Es hatte so schön begonnen. Die Planung hatte er jedoch ihr überlassen. Dass dies ein großer Fehler gewesen war, fiel ihm jetzt wie Schuppen von den Augen. Diese Erkenntnis kam zu spät für ihn. Es gab kein Zurück. Er steckte ziemlich in der Klemme. Ob er das hier überleben würde? Er selbst schätzte seine Chancen dafür als ziemlich gering ein. Hatte er überhaupt ein Testament gemacht? Solange er niemanden eigens festlegte, ging alles den normalen gesetzlichen Weg. Seine Frau und ihr gemeinsamer Sohn waren seine Erben. Die Lebensversicherung wies einzig seine Frau als Begünstigte aus. Ob sie ihrem Sohn etwas davon abgeben würde? Er jedenfalls wünschte es sich. Herrgott noch mal, weshalb fiel ihm das ausgerechnet jetzt ein? Als ob es in dieser aussichtslosen Situation nichts Wichtigeres für ihn gäbe.
Er spürte das leise Rütteln und vernahm ein schnurrendes Geräusch. Es begann also. Seine letzten Minuten brachen an. Seine Atmung ging flach. Er mühte sich ab, so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen. Wieso war er so grenzenlos dumm gewesen, ihr zu vertrauen? Das hatte er nun davon. Seine eigene Gutmütigkeit war der einzige Grund für seine missliche Lage. Er trug selbst die Schuld daran. Das machte es nicht leichter für ihn.
»Norbert?« Edelgard griff entschlossen nach der Hand ihres Mannes. »Weshalb bist du so still? Du sagst gar nichts.« Sie tätschelte seinen Arm. »Du hättest besser Julians Geschenk annehmen sollen.«
»Was?«, klang es gepresst aus der Kehle ihres Mannes.
»Diesen Kurs gegen Flugangst. Julian wollte dir einen schenken! Aufgedrängt hat er ihn dir regelrecht. Meine Güte, wie einem kranken Gaul hat er dir zugeredet. Aber du wolltest ja nicht. Stur wie ein alter Esel. Du bist blass, mein Lieber. Möchtest du etwas zu trinken?«
Norbert schüttelte den Kopf.
»Guck, jetzt sind wir schon auf der Startbahn. Meine Güte, zu Beginn ist es immer ein wenig wie Busfahren. Aber das legt sich rasch.«
»Aus einem Bus kann ich jederzeit aussteigen. Aus diesem Ding hier nicht.«
»Jetzt übertreibst du aber, Norbert. Der Busfahrer lässt dich nur an den festgelegten Haltestellen aussteigen. Dazwischen sitzt du genauso fest wie in einem Flugzeug.«
»Aber …« Norbert brach ab. Er wusste aus Erfahrung, Edelgard würde nicht damit aufhören, die Vorzüge einer Flugreise zu preisen. Im Gegensatz zu ihm war sie allerdings völlig frei von Flugangst, die ihm jedoch im Moment das Leben ziemlich vermieste.
»Stell dir bloß vor, wir wären erst mit dem Zug an die Ostsee gefahren, um die Fähre weiter nach Stockholm zu nehmen. Weißt du, wie lange wir da unterwegs wären? Dieser Flug hier«, sie drückte seine Hand, »dauert lediglich zwei Stunden. Norbert, bis wir unsere Flughöhe erreicht haben, gehen wir bald schon wieder in den Sinkflug.«
Norberts Gesichtsfarbe, bis dahin leidlich rosa, hellte sich auf. Er wirkte ziemlich käsig, mit einer leichten Tendenz zu grün.
Edelgard riss beherzt eine Tüte aus dickem Papier aus dem Netz, das an der Rücklehne des Sitzes vor ihr angebracht war, und drückte sie ihrem Mann in die Hand. »Für alle Fälle.«
Für den Rest des Fluges schwieg Norbert, sosehr Edelgard sich auch bemühte, ihm ein weiteres Wort zu entlocken. Als er nach der Landung endlich den für ihn sehr engen Gurt lösen und aufstehen durfte, zerrte er vom Gang aus sein Gepäckstück aus dem Klappfach über ihren Sitzen. Dass die Passagiere hinter ihm warten mussten, weil es nicht auf Anhieb klappte, brachte ihn nicht aus der Ruhe. Heute würde ihn überhaupt nichts mehr dazu veranlassen, seine Fassung zu verlieren. Er hatte soeben diesen Todesflug überstanden und war heil davongekommen. Schlimmeres als die beiden letzten Stunden, in denen er aus Angst sein Hemd komplett durchgeschwitzt hatte, konnte ihm nicht passieren.
*
Sie liebte das Blau des Wassers, das es während klarer Tage annahm, besonders. Die Sonne schien im Juni schon in den frühen Morgenstunden mit einer Intensität, die sie in Mitteleuropa höchstens um die Mittagszeit erreichte, bevor sie am späten Nachmittag bereits wieder schwächelte. In Schweden jedoch war das Licht während der Sommerhälfte von einer Klarheit, die alles durchdrang. Das Wasser in den Schären war von einer ganz eigenen Farbe, wie sie es sonst nirgendwo anders erlebt hatte. Sie fühlte sich mit jeder Faser ihres Körpers hier zu Hause. Der Platz, an den sie eindeutig gehörte. Nirgendwo sonst auf der Welt hatte sie dieses Gefühl. Die Luft, die sie einsog, durchströmte ihre Lunge und drang vor bis in die Spitzen der Bronchien, von wo aus der Sauerstoff ihren Körper mit dem lebenswichtigen Stoff versorgte. Es fühlte sich für sie an, als würde sie bis in die Zehenspitzen hinein atmen. Obwohl sie natürlich wusste, dass dies physikalisch nicht möglich war. Alles war so lebendig, hier im Einssein mit der Natur. Nichts in der Welt brachte sie von hier weg. Kein verlockendes Jobangebot, auch kein Liebhaber, der sie zum Umzug in eine andere Stadt bewegen wollte.
Wie von Riesenhand zerstreut lagen die mehreren Tausend Inseln unterschiedlicher Größe vor Stockholm. Die Ostsee umspülte die steinernen Gebilde. Wenn nicht viel los war, kamen sogar Seehunde. Die größeren Inseln waren beliebte Ausflugsziele für Feierlustige. Mit Schrecken dachte sie an Mittsommer. Dann schwärmten wieder alle aus. Einige legten sogar an Privatinseln an. Sie wollte keinen Besuch auf ihrer Insel. Erst recht keinen ungebetenen.
Ihre Insel hatte bereits dem Großvater gehört, der sie irgendwann einmal gekauft hatte. Er war es gewesen, der das kleine rote Holzhaus mit den weißen Fensterrahmen errichten ließ. Soweit sie ihre Erinnerungen zurückverfolgen konnte, hatte sie während ihrer Kindheit dort die meisten Wochenenden und die Urlaubszeit des Vaters verbracht. Im Sommer hatten sie alle gemeinsam mit angepackt, das Haus zusammen neu angestrichen und nötige Renovierungsarbeiten durchgeführt. Ihre Mutter hatte das Haus nicht gemocht, da es ohne Strom und nur mit Holz zu beheizen war. Irgendwann war die Mutter nicht mehr mitgefahren und an den Wochenenden in der Stadt geblieben, wo es für sie bequemer war. Vielleicht lag es ein wenig daran, dass sie Gustav nicht mochte. Vaters große schwarze Dogge, die sich auf der Insel frei bewegen durfte. Gustav liebte es, sich, wenn jemand irgendwo saß, von hinten anzuschleichen und plötzlich seinen Kopf über dessen Schulter zu recken. Des Öfteren war die Mutter dabei fürchterlich erschrocken und hatte sich über das Tier beschwert. Ihr Mann lachte nur dazu und tätschelte Gustav den Nacken.
Wer hätte es dem Vater verübeln wollen, sich eine Geliebte zu nehmen? Eine, die mit ihm auf seine Insel fuhr? Nach dem Ableben des Großvaters war die Insel wie selbstverständlich in seinen Besitz übergegangen. Seine Schwester, die in New York lebte, zeigte kein Interesse daran. Wie sie überhaupt kaum mehr nach Stockholm reiste. Der letzte Besuch ihrer kinderlosen Tante lag viele Jahre zurück. Der Kontakt zu ihr war lose.
Wenn der Vater eines Tages nicht mehr da war, dann ging das Eiland in ihr Eigentum über. Das hatte sie ihm in die Hand hinein versprochen. Ihm lag viel daran. Galt es doch, das Geheimnis der Insel zu wahren. Ein Geheimnis, das die beiden teilten und welches sie miteinander verband. Um das sie niemand, der davon in Kenntnis gelangen sollte, beneiden würde. Es war besser, nur sie beide wussten davon. Und sie setzte alles daran, dass dies so blieb. Wirklich alles. War sie denn nicht immer Vaters kleines Mädchen gewesen? Der Vater hatte ihr immer näher gestanden als ihre Mutter. Weitaus näher.
Sie erhob sich von dem großen runden Stein, auf dem sie gegessen hatte, und ging zum Haus zurück.
*
Nachdem Norbert sich beruhigt hatte und er und Edelgard endlich im Besitz ihres vollständigen Gepäcks waren, suchte er mitsamt seinem Koffer eine der Flughafentoiletten auf. Als er wieder herauskam, trug er ein frisches Hemd.
»Du hast nicht viele Hemden dabei«, empörte sich Edelgard. »Sollen wir gleich zu Beginn einen Waschsalon aufsuchen?« Sie selbst trug eine leichte Baumwollhose und eine Bluse aus Leinen, die perfekt mit ihrer Haarfarbe harmonierte. Unmittelbar vor ihrer Reise war sie bei ihrer Friseurin gewesen und hatte sich einen neuen Haarschnitt gegönnt. Ihr kinnlanges Haar war frisch durchgestuft, was ihm deutlich mehr Fülle verlieh. Die leichten Strähnchen, die je nach Lichteinfall farblich changierten, waren ein Vorschlag von Sandra gewesen, der sie seit Jahren in diesen Dingen bedingungslos vertraute. Ein frisches Make-up, abgestimmt auf die Bedürfnisse nicht mehr ganz junger Haut, komplettierte ihren Auftritt.
»Julian wird ja wohl eine Waschmaschine haben.«
»Lieber Himmel! Wir wollen dem Bub nicht zur Last fallen.«
»Weshalb dem Bub? Du wirst sie doch auch einschalten können. Oder hast du das verlernt?«
»Papperlapapp. Ich habe Urlaub! Schon vergessen? Wo ist Julian überhaupt? Er will uns doch hier in Arlanda abholen.«
»Ich hätte nichts gegen frische Luft einzuwenden. Lass uns nach draußen gehen. Womöglich wartet er dort auf uns.« Norberts Blick verweilte trotzdem kurz an der einladenden Theke eines Fastfood-Restaurants, das auf einem großen Plakat einen Bio-Burger anpries. »Guck, die Burger sehen richtig gut aus.«
»Mom! Paps! Hej!«
»Hej, Julian!« Edelgard ließ ihren Koffer stehen und umarmte ihren Sohn, der auf sie zugestürmt war.
»Edelgard! Soll dir der Koffer wieder geklaut werden? So wie damals in Berlin, als wir deine Großtante auf diesem Kreuzfahrtschiff besuchten? Willst du nicht besser auf ihn achten?«
Seine Frau ignorierte den Einwand und konzentrierte sich stattdessen auf ihren Sohn. »Gut siehst du aus, Julian. Ich bin so neugierig auf die Stadt. Und auf deine Wohnung! Meine Güte, ich war noch nie in Skandinavien. Das ist wirklich aufregend! Wer hätte gedacht, dass wir einmal hierherreisen?«
Nachdem Norbert Julian, der ihn beinahe um Haupteslänge überragte, ausgiebig auf die Schulter geklopft hatte, nahm Edelgard den Griff ihres Koffers wieder auf.
»Wir fahren mit dem Zug in die Stadt. Das ist sogar relativ preiswert. Die Station erreichen wir von hier aus zu Fuß.«
»Verstehe. Du hattest die ganze Zeit über schon am Telefon gesagt, dass hier alles so teuer ist.« Edelgard nickte ihrem Sohn wissend zu.
»Für Urlauber beispielsweise aus Deutschland. Für die Stockholmer nicht so sehr, die verdienen entsprechend. Was wirklich teuer ist, sind Wohnungen. Ich selbst bin richtig gut dran, weil ich von meiner Firma eine zur Verfügung gestellt bekommen habe.«
»Auf die bin ich echt gespannt, Julian.« Edelgard strahlte ihn an.
»Außerdem ist es toll, dass wir nicht in ein teures Hotel müssen, sondern auf deiner Gästecouch übernachten dürfen«, ergänzte Norbert.
»Alter Geizhals. Von dem gesparten Geld können wir toll mit Julian essen gehen.«
»Kommt, der nächste Zug fährt bald. Ich habe für euch Wochenkarten besorgt.« Julian zog zwei aufladbare Plastikkarten aus seiner Jackentasche. »Die müsst ihr bei jedem Betreten einer Station am Eingang ans Lesegerät halten.«
Julian war ihr einziges Kind. Als er klein war, hatte Edelgard sogar ein paar Jahre auf eine eigene Berufstätigkeit verzichtet und ganz für ihre Familie gelebt. Später, als Julian aufs Gymnasium kam, hatte es sich ergeben, dass die Pfarrerin in ihrem Ort eine Sekretärin suchte. Für Edelgard war es der perfekte Job.
Während sie ihren Sohn anhimmelte, freute sie sich wie schon so oft darüber, dass Julian vom Aussehen her nach ihrer Verwandtschaft kam und keine Ähnlichkeit mit seinem sehr rundlich gewordenen, nicht allzu hoch gewachsenen Vater aufwies. Julian war größer als seine Eltern und schlank wie seine Mutter. Sein dichtes Haar war wie Edelgards dunkelblond, die Augen braun. Ihre Schwiegermutter hatte früher wegen der mangelnden Ähnlichkeit Julians mit seinem Vater öfter spitze Bemerkungen gemacht. Als sie Norbert unverhohlen einen Vaterschaftstest empfahl, verbot ihr dieser empört, jemals wieder einen solchen Verdacht zu äußern. Auch wenn die Ehe mit Norbert aus Edelgards Sicht nicht immer ein Grund zum Jubeln war und sie früher das eine oder andere Mal tief in sich den Wunsch verspürt hatte, etwas nachzuhelfen, um endlich Witwe zu werden, so gestand sie sich inzwischen ein, dass Norbert durchaus seine guten Seiten hatte.
Zu Edelgards Bedauern war die Schwiegermutter damals jedoch nicht lange gekränkt gewesen und setzte ihre ausgiebigen Besuche bei ihnen unverdrossen fort. Nachdem im Anschluss an Julians Konfirmation nach ihrer Abreise Julians Zahnbürste auf unerklärliche Weise verschwunden war, setzte die Schwiegermutter wenig später völlig überraschend ihren Enkel im Testament sogar als Alleinerben ein. Norbert hatte ihr bereits mehrfach vergeblich dazu geraten, um eine Generation mit der Erbschaftssteuer zu überspringen. Da er selbst als Jurist im Finanzamt tätig war, kannte er sich aus mit solchen Dingen.
Norbert und Julian saßen ihr im Zug gegenüber. Der Vater befragte den Sohn zu seiner Arbeit bei einer großen Versicherungsgesellschaft. Aber darüber war Edelgard bereits hervorragend informiert, da sie selbst regelmäßig mit Julian telefonierte. Sie blickte aus dem Fenster, als sie durch die Vororte Stockholms fuhren. Leider hatte sie Julian zu der Zeit, als er auf Malta arbeitete, nicht besucht. Diesen Fehler wollte sie während seines Aufenthaltes in Schweden nicht wiederholen.
Sie spürte eine Hand auf ihrem Arm.
»Mom, wir müssen umsteigen. Wir sind an der Centralstation angekommen. Wir müssen in die grüne Linie.«
»Grüne Linie?«
»Jede Linie der U-Bahn hat eine andere Farbe, so kann man sie leicht auseinanderhalten. Wir müssen in Richtung ›Hässelby strand‹ fahren. Wir steigen in Bromma aus. Das ist der Vorort, in dem ich wohne.«
Nachdem sie die S-Bahn-Haltestelle verlassen hatten, folgten sie der Straße, die zur linken Seite leicht bergauf führte. Zu ihrer Überraschung stellte Edelgard fest, dass viele Fenster der Häuser, an denen sie vorbeigingen, nicht mit Gardinen verhangen waren, so, wie sie es von zu Hause her kannte.
»Die Fenster, ich weiß nicht. Das sieht irgendwie nackig aus. Gar nicht gemütlich.«
»Die Schweden wollen vermutlich das wenige Licht während des dunklen Halbjahres nicht aussperren und haben deshalb keine Gardinen.«
»Da kann doch jeder reingucken! Außerdem ist es jetzt Sommer. Da wird es doch kaum dunkel.«
»Mom, in Schweden guckt man fremden Leuten nicht durchs Fenster in die Wohnung.«
Edelgard schüttelte den Kopf. »Wieso denn nicht? Ich finde es großartig, im Winter spazieren zu gehen und durch Fenster in beleuchtete Wohnzimmer zu linsen. Das ist so heimelig. All die mit Lichterketten geschmückten Räume. Also wirklich! Wenn jemand nicht will, dass man bei ihm hineinguckt, muss er halt die Vorhänge zuziehen!«
Julian lächelte nachsichtig. Die sprichwörtliche Neugierde seiner Mutter war ihm bewusst. »Die Leute hier sind eben anders. Zurückhaltender als in Deutschland. Wer sein Fenster trotzdem blickdicht machen will, kann die Jalousie herunterlassen. Dazu muss man doch keine Staubfänger aus Stoff ans Fenster hängen.«
Norbert blieb nach ein paar Metern schwer atmend stehen.
»Paps, soll ich deinen Koffer nehmen?« Julian wandte sich besorgt seinem Vater zu.
Norbert schielte nach seiner Frau. Unter normalen Umständen hätte er Edelgard den Koffer jetzt aufs Auge gedrückt. Schließlich verfügte sie über zwei kräftige Arme. Aber wenn sein Sohn dabei war, ging das natürlich nicht. Was sollte der denn von seinem Vater denken? Doch auch Julian wollte er sein Gepäckstück nicht übergeben – er sollte schließlich nicht fälschlicherweise annehmen, er sei alt und kraftlos.
»Passt schon«, sagte er deshalb resigniert und setzte sich tapfer erneut in Bewegung.
Edelgard passte sich seinem Tempo an und ging hinter ihm. Das neue Outfit, das sie ihrem Göttergatten für den Besuch bei Julian mit viel Mühe aufgeschwatzt hatte, stand ihm gut, stellte sie bei sich fest. Sein uralter beigefarbener Breitcordanzug, den er mit Vorliebe trug, befand sich ohnehin beinahe in Auflösung. Den hatte sie kurz vor ihrem Abflug heimlich in einer Box für Kleiderspenden entsorgt. Norbert hatte die Nähte des guten Stücks derart beim Tragen überdehnt, dass der Stoff an einigen Stellen bereits mürbe geworden war. Man hätte gut und gern eine Zeitung durch ihn hindurch lesen können. Sie hatte ihren Mann zwei Wochen vor der Reise mit der Idee zu einer spontanen Einkaufstour überrumpelt und ihm eine komplett neue Garderobe aus warmen Erdtönen aufgeschwatzt. Norbert hatte zwar etwas gemurrt, als er an der Kasse den Zahlbetrag sah. Nichtsdestotrotz hatte ihn Edelgard zu einem Friseur bugsiert und dem heimlich ins Ohr geraunt, er solle ihrem Mann einen modischen Haarschnitt verpassen, während sie die prall gefüllten Tüten ans Auto schleppte. Ihrem Wunsch, das Rasieren zu vernachlässigen und sich einen Bart stehen zu lassen, hatte Norbert sich bislang erfolgreich verweigert. Edelgard lächelte still. Ihr Mann wusste nicht, dass sie das Ladegerät seines Rasierers heute früh heimlich aus seinem Kulturbeutel entfernt hatte. Sie war gespannt darauf, wie er mit Bart aussehen würde. Früher hatte sie gedacht, zu viel Gesichtsbehaarung stünde ihm nicht. Aber wieso nicht mal etwas Neues wagen?
Die Blocks, auf die sie zusteuerten, waren im nüchternen Stil gehalten. Jede Wohnung war mit einem großen Balkon ausgestattet. Zwischen den Häusern wuchsen hohe Kiefern. Es wirkte auf Edelgard so, als wäre die Siedlung in einen bereits vorhandenen Wald gebaut worden.
»Weshalb sind denn die Autos nur auf einer Straßenseite geparkt? Ist das hier eine Einbahnstraße?« Edelgard wunderte sich.
»Ist es nicht, aber es ist ziemlich wichtig, die Parkvorschriften zu beachten. Wegen der Straßenreinigung darf man an bestimmten Tagen nur auf einer der beiden Seiten parken. Sonst kommt die lapplisa.«
»Die wer?«
»So heißen die Politessen auf Schwedisch.«
Julian benutzte einen kurzen gewundenen Weg, um zur Haustüre zu gelangen. Dort tippte er einen Code in ein metallenes Tastenfeld ein. Daraufhin ertönte ein Summen und Julian drückte die Tür auf.
»Edelgard, das wäre was für dich! So oft, wie du deine Schlüssel suchst!« Er wandte sich an seinen Sohn. »Die Handtasche deiner Mutter weist unergründliche Tiefen auf.«
Edelgard prustete los. »Und für dich erst! Wo du dir nicht einmal die Geheimzahl deiner Kreditkarte merken kannst. Du könntest gleich ein Abo beim Schlüsseldienst buchen.«
Norbert ging wortlos ins Haus.
Im ersten Stock angelangt, öffnete Julian mit derselben Methode seine Wohnungstür.
Die Wohnung selbst war hell und übersichtlich eingerichtet. Deshalb wirkte sie nicht so beengt, wie Edelgard zunächst befürchtet hatte. Der helle Parkettboden und die weiß getünchten Wände ließen in Verbindung mit der klug gewählten Einrichtung die Räume größer erscheinen, als sie tatsächlich waren. Ihr Sohn war offensichtlich noch nicht dazu gekommen, Bilder aufzuhängen. Sie nahm sich vor, ihm, sobald sie wieder zu Hause war, ein Poster zu senden. Eines von ihnen dreien, auf Fotoleinwand gedruckt.
»Die 50 Quadratmeter sind aber wirklich gut aufgeteilt«, staunte sie, als sie von der Küche aus durch einen kleinen Schlafraum mit Bett und einer unterhalb der Decke befestigten Stange als Schrankersatz in das Wohnzimmer ging, wo neben einer bequemen Sitzgruppe ein kleiner Esstisch mit vier weißen Stühlen stand. Auf der schmalen Fensterbank neben der Balkontür befand sich ein Topf mit einer weißen Orchidee. »Außerdem ist es klasse, dass du Urlaub bekommen hast, während wir hier sind.«
»Ich habe mir gedacht, heute essen wir hier. Die Couch lässt sich ausziehen, die müsste für euch beide reichen.«
»Für mich schon«, griente Norbert, während Edelgard auf den Balkon trat.
»Ein Reh! Dort, zwischen den Bäumen!«, rief sie erstaunt aus.
»Die kommen hier öfter her. Weil ihnen niemand etwas tut, sind sie ganz schön zutraulich.«
»Was ist mit Elchen?«, wollte Edelgard wissen.
Julian lachte. »Dazu müssen wir nach Skansen. Dort könnt ihr Elche mitten in der Stadt sehen.«
»Skansen? In unserem Reiseführer steht, das ist ein Freilichtmuseum«, mischte Norbert sich ein.
»Es ist ein Freilichtmuseum und ein Zoo. Man kann es mit einem gemeinsamen Ticket besuchen.«
Während die beiden Männer sich zurück ins Wohnzimmer begaben, nahm Edelgard den schräg gegenüberliegenden Block genauer in Augenschein. Er hatte fünf Etagen, genau wie der, in dem sie momentan weilte. Die Balkone ohne Blumenschmuck erinnerten sie an den des schwedischen Kommissars Beck in der gleichnamigen Fernsehkrimireihe, der einen ähnlichen hatte. Des Öfteren wurde der müde Kommissar zu Feierabend von seinem Nachbarn, der aus für sie ungeklärten Gründen eine Halskrause trug, behelligt. Bestimmt war das Tragen der Halskrause prompt in einer der wenigen Folgen erklärt worden, die sie nicht kannte.
Der unterste Balkon gegenüber weckte spontan ihre Aufmerksamkeit. Eine junge Frau mit schulterlangen blonden Haaren eilte nach drinnen, genau in dem Moment, als Edelgard sie erblickte. Sie guckte sogar zu ihr herüber, als ihre Hand nach dem Jalousiengurt griff und ihn betätigte.
Edelgard begab sich ebenfalls nach drinnen.
»Paps ist im Bad. Mom, was ich dich immer schon mal fragen wollte – ist es dir damals, als du mich bekommen hast, eigentlich schwergefallen, deine Arbeit aufzugeben?«
»Was hätte ich denn tun sollen? Wir hatten niemanden vor Ort, der mich unterstützt hätte. Meine Mutter wohnte weit weg. Und dich als Baby schon in eine Krippe zu geben, das hätte ich wirklich nicht über mich gebracht. Du warst so ein süßes Kind.«
Julian zog eine Grimasse. Er konnte selbst aufs Gramm genau angeben, wie viel er bei der Entbindung gewogen hatte, über die Größe wusste er ebenfalls Bescheid. Edelgard hatte ihm ausführlich von der glücklichen Geburt erzählt. »Gab es damals keine Elternzeit?«
»So wie heute war das nicht geregelt. Auf keinen Fall hätte ich wieder auf meinen alten Arbeitsplatz zurückgekonnt. Der war ohnehin zeitlich befristet, so war das damals an der Uni, an der ich arbeitete, üblich.«
»Das war praktisch für deinen Dienstherrn, also wirklich! Wieso hat Paps sich nicht beurlauben lassen? Beamte können, soweit ich weiß, zwölf Jahre lang freigestellt werden. Und du hättest dich um einen neuen Vertrag kümmern können.«
»Ach, Julian. Dein Vater hat mehr verdient als ich. Wir hatten uns grade das Haus gekauft. Das musste abbezahlt werden.«
»Also, hier in Schweden ist es üblich, dass Eltern sich die Erziehungszeit teilen. Es ist ganz normal, dass Väter sich ebenfalls um die Kinderbetreuung kümmern.«
»Julian, jetzt sag bloß … Warum denkst du so viel darüber nach? Hast du etwa eine Freundin? Weshalb hast du nichts davon erzählt?«
»Am Telefon? Nee, ich wollte es dir persönlich sagen.«
»Wir lernen Sie hoffentlich kennen?«
Julian legte sich nicht fest. »Mal sehen, wie sich das einrichten lässt.«
Edelgard legte ihre Hand auf Julians Arm. »Will sie denn mit dir in Deutschland leben?«
»Mom, ich finde es großartig hier in Stockholm. Die Menschen sind anders als zu Hause. So gelöst. Und respektvoll. Sie lassen den anderen so sein, wie er ist, ohne ihm ständig vorzuhalten, was er falsch macht. Irgendwie kommen mir die Leute hier entspannter vor. Zumindest in der Hauptstadt.«
»Aber …« Edelgard schluckte. »Dann sind ja meine Enkelkinder so weit von mir weg.«
»Mom! Enkelkinder. Da sind noch keine in Sicht! Ich habe lediglich überlegt, weshalb du damals beruflich pausiert hast. Außerdem ist Stockholm nicht aus der Welt. Wie lange seid ihr geflogen? Zwei Stunden!«
»Dein Vater hat Flugangst. Du möchtest im Flugzeug nicht neben ihm sitzen!«
»Das wird sich geben.«
»Du hast keine Ahnung. Es ist bühnenreif, was er da aufführt. Er hat sich benommen, als ob er gleich sterben würde. Ein sterbender Schwan ist nichts dagegen! Er könnte wirklich damit auftreten.«
»Dann fahrt ihr eben mit dem Zug! Über Hamburg und Kopenhagen. Oder mit der Fähre. Von Rostock aus.«
»Bist du glücklich mit ihr?«
Julian nickte. Er zog sein Smartphone aus der Jackentasche. »Ich zeige dir ein Foto.«
Edelgard blickte auf den kleinen Bildschirm. Eine groß gewachsene blonde Frau war zu sehen. Ihr Sohn hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Die beiden wirkten sehr verliebt. Es versetzte ihr einen kleinen schmerzhaften Stich. Eine Fremde. Julian hatte ihr bislang nicht einmal erzählt, dass es jemanden in seinem Leben gab. So etwas Wichtiges erzählte man seiner Mutter doch! War sie denn nicht immer die Person gewesen, die ihm am allernächsten stand? Die Erkenntnis, dass eine andere Frau diesen Platz nun einnahm, war wie ein Nadelstich direkt in ihr Herz. Sie versuchte tapfer, sich ihre Kränkung nicht anmerken zu lassen.
»Was macht sie beruflich?«
»Wir sind Kollegen in derselben Firma.«
»Kann sie kochen?«
»Mom, echt jetzt, was soll das? Ich habe keine Stelle für eine Haushälterin ausgeschrieben!« Um vom Thema abzulenken, sagte er: »Paps hat mir mal erzählt, du wolltest damals nach deinem Studium in Biologie eigentlich promovieren.«
»Ja, schon. Aber mein Doktorvater ist gestorben und alles hat sich irgendwie verzögert. Ja, und dann war ich schwanger. Danach hat sich mein Leben sowieso verändert.«
»Paps meint, du warst richtig gut, damals an der Uni.«
Edelgard wurde verlegen. »Das hat er gesagt?«
»Ja, du hättest sogar bessere Noten gehabt als er. Er war sehr stolz auf dich.«
Norbert, stolz auf sie? Edelgard war verblüfft. Davon hatte ihr Mann ihr gegenüber nie etwas gesagt. Norbert schien für sie nach der Devise zu leben: »Nicht getadelt zu werden, ist genug des Lobes.« Solange er, wenn er abends nach Hause kam, sein Essen auf dem Tisch und im Kühlschrank ein Bier vorfand, schien er zufrieden mit sich selbst und der Welt zu sein.
»Wirklich?«
»Klar. Du meinst doch nicht etwa, dass ich mir das ausdenke?«
Edelgard lehnte sich zurück. Wie lange waren sie und Norbert schon ein Paar? Hatte ihr Mann noch mehr Seiten, die sie nicht kannte? War er gar nicht nur das bequeme Trampeltier, als das er sich ihr gegenüber so oft gab? Es hatte Zeiten in ihrem Leben gegeben, da hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, ob ein Leben ohne ihn nicht angenehmer für sie wäre.
»Aber warum hat er …«
»Dir das nie gesagt? Mom, du kennst Paps besser als ich. Und du weißt ja, Männer und Gefühle. Da redet er halt nicht so gerne drüber.«
»Dir gegenüber hat er es aber geäußert!«
»Das war so ein Vater-Sohn-Gespräch. Irgendwann kurz nach meinem Abi. Bei einer Flasche Rotwein. Du warst mit deinem Gemeinde-Chor auf Reisen. Wir haben sogar gemeinsam gekocht.«
»Ihr habt was?!«
»Gekocht.«
»Nein, ich meine das andere. Ihr habt Wein getrunken?«
Norbert kam zurück. »Entschuldigung, dass es etwas länger gedauert hat.«
»Macht nichts, Schatz. Möchtest du etwas zu trinken?« Edelgard lächelte ihn glücklich an.
Norbert sah unsicher von seiner Frau zu seinem Sohn. Worüber hatten die beiden sich miteinander unterhalten, dass sie jetzt derart nett zu ihm war? Plante sie für morgen womöglich eine Achterbahnfahrt im Vergnügungspark Gröna Lund auf der Halbinsel Djurgården? Ihm steckten noch immer der Flug und seine damit verbundene Angst in den Knochen. Auf keinen Fall würde er in eine Achterbahn einsteigen! Egal, was die beiden vorhatten. Nichts auf der Welt konnte ihn dazu bewegen.
Vorsichtig sagte er: »Ein Pils würde ich nicht ablehnen.«
»Keinen Wein, Paps?«
»Hier in Schweden? Nein danke.«
»Die bauen sogar welchen an.«
»Bei den klimatischen Bedingungen in den nördlichen Breiten haben sie hier sicher nicht sehr viel Wein. Den muss ich niemandem wegtrinken! Mir ist ein Bier immer noch lieber. Meine Güte, das wisst ihr beide nun wirklich. Aber was ich ansprechen wollte: Ich war mir sicher, das Ladegerät für meinen Rasierapparat eingesteckt zu haben! Sehr sicher sogar. Aber es ist nicht in meinem Kulturbeutel, ich habe eben nachgesehen.«
»Rasierst du dich neuerdings zweimal am Tag, Paps? Du hast dich doch sicherlich heute Morgen rasiert. Weshalb frägst du jetzt danach? Ich dachte, im Alter lässt der Bartwuchs nach!«
»Das liegt bestimmt zu Hause. Vielleicht wolltest du es einstecken, dann ist dir ein Gedanke dazwischengekommen und du hast es liegen lassen.« Edelgard gelang ein unschuldiger Gesichtsausdruck.
»Ich kann mich ganz genau erinnern, es eingepackt zu haben.«
»Nimm einfach meinen Rasierer.« Für Julian war das Problem seines Vaters damit gelöst.
*
Die Schlangen im Systembolaget wurden täglich länger. Ein deutliches Indiz für die bevorstehenden Mittsommerfeiern, wenn die Menschen sich vermehrt mit Alkohol eindeckten. Hochprozentiges wurde ausschließlich in den Geschäften des Monopolisten angeboten. Im Supermarkt gab es lediglich Bier, das vom Alkoholgehalt eher an Limonade erinnerte. Einer ihrer Kollegen hatte extra eine Fahrt auf einer der Ostsee-Fähren ins Ausland gebucht und ließ sich den dort viel billigeren Alkohol direkt mit der Sackkarre ans Auto im Bauch des großen Schiffes liefern. Sie rümpfte angewidert ihre Nase, als sie durch das bodenhohe Schaufenster die geduldig Wartenden sah. Mit Schaudern erinnerte sie sich an die Erzählungen einiger ihrer früheren Kommilitonen, die ein Auslandssemester in Deutschland verbracht hatten und bei den dort überaus beliebten sommerlichen Schwedenfesten weit über ihren Durst hinaus tranken. Sie selbst mochte keinen Alkohol und behielt lieber die Kontrolle über sich. Verachtung war noch das Geringste, was sie für Menschen empfand, die sich ins Koma soffen.
So viele Fremde kamen ins Land, aus Ländern, die nichts mit Europa zu tun hatten. Als ob hier nicht schon genug Menschen lebten. Zumindest für ihren Geschmack. Sie hatte sich extra für einen Job entschieden, in dem es für sie keinerlei Kundenkontakt gab. Es reichte ihr völlig aus, sich ihr Büro mit einem Kollegen teilen zu müssen. Dies reizte ihre soziale Kompetenz vollends aus. Mehr Berührungspunkte zu anderen brauchte sie weiß Gott nicht in ihrem Alltag. Sie trennte Berufliches und Privates strikt. Oft erfand sie eine Ausrede, um nicht an der täglichen Fika teilnehmen zu müssen. Die Kaffeepause mit Süßem war den meisten ihrer Kollegen heilig. Auch in dieser Hinsicht ähnelte sie ihrem Vater, wie in so vielem anderen. »Du bist wie sein Zwilling, nicht wie sein Kind«, hatte die Mutter oft bemerkt. Sie selbst hatte dies immer für einen Scherz gehalten. Aber es war die Wahrheit. Sie waren sich derart ähnlich, dass sie sich mit zunehmendem Alter eher wie sein Klon als sein Kind fühlte. Ihre Mutter hatte sich genetisch bei ihr nicht durchzusetzen vermocht. Lag es daran, dass sich die Mutter, seit sie denken konnte, immer seinen Wünschen anpasste? »Papakind« war einer von ihren nettesten Ausdrücken für sie gewesen. Wie lange hatte sie sie eigentlich nicht mehr gesehen? Besaß sie überhaupt ihre aktuelle Adresse?
Die Fremden hielten sich nicht immer an die Gepflogenheiten hier. Musste sie sich sorgen? Würde an Mittsommer eine Horde Betrunkener an ihrer Insel anlegen und sie erstürmen? Sollten sie nach Plätzen suchen, um ihren Flüssigkeitsüberschuss wieder loszuwerden, würden sie über die gesamte Insel stromern. Darin lag eine große Gefahr, Vaters Geheimnis zu lüften. Das konnte sie nicht dulden. Letztendlich würde es auf sie zurückfallen. Nichts davon gewusst zu haben, würde ihr niemand abkaufen. Und es war ja so, dass sie Bescheid wusste. Von Beginn an. Bis zum Ende.
Sie bemerkte selbst an sich, wie sie von Tag zu Tag unruhiger wurde. Schon ein paar Einladungen von Kollegen zum Shrimps-Essen und Champagner-Trinken hatte sie für Mittsommer ausgeschlagen. Das Beste würde sein, sie meldete sich bereits am Abend vorher im Büro krank und verbrachte den riskanten Tag in ihrem roten Holzhaus auf den Schären. Im Haus befand sich eine alte Waffe des Großvaters. Ihr Vater hatte irgendwann einmal, auf welchen Wegen auch immer, Munition dafür besorgt. Sie stellte sich vor, dass es nicht allzu schwer sein konnte, zu schießen. Ein Schuss wäre durchaus ein wirksames Mittel, um Fremde vom Anlegen abzuhalten. Diese Vorstellung vermochte sie ein wenig zu beruhigen. Noch heute würde sie Ballistol kaufen, um die Waffe zu reinigen. Dies hatte ihr der Vater neben vielem anderem beigebracht. Er war unumschränkt die wichtigste Person in ihrem Leben. Keiner der Männer, mit denen sie sich von Zeit zu Zeit einließ, konnte auch nur annähernd an ihn heranreichen.
*
Als sie am nächsten Tag aus dem Haus gingen, lugte Edelgard hinüber, wo die Frau am Abend zuvor so flink vom Balkon in die Wohnung gehuscht war. Sosehr sie sich bemühte, sie konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Außer, dass an besagtem Fenster die Jalousien geschlossen waren. Was im Vergleich zu den anderen Fenstern in der Gegend ziemlich ungewöhnlich war.
»Was ist denn da drüben, Mom?«
»Nichts.«
»Für ›nichts‹ guckst du aber ziemlich neugierig.«
Edelgard verzichtete auf eine Antwort. Manches Mal verstand es ihr Sohn vorzüglich, sie zu nerven. Mit der Annahme, nach der Pubertät wäre es damit vorbei, hatte sie sich wohl getäuscht.
Julian führte sie über eine Brücke zur Altstadt Stockholms Gamla Stan. Die befand sich auf einer eigenen Insel. Edelgard zeigte sich beim Durchschlendern schnell begeistert von den schönen Plätzen und den Gassen mit ihren hübschen Häusern und vielen Läden.
»Da muss ich rein!«, rief sie Julian und Norbert zu und verschwand in einem Hutgeschäft. Sie interpretierte das reizende Schaufenster als persönliche Einladung an sie, das Geschäft zu betreten. Ein Hut aus Filz erweckte sofort ihre Aufmerksamkeit. Er war geformt wie ein Topfhut aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, die gemeinhin als die Goldenen bezeichnet werden. Lila, mit verschiedenenfarbigen Federn darauf drapiert. Edelgard war komplett hingerissen von dem ausgefallenen Exemplar.
»Ich habe ein Hutgesicht, gell, Norbert?«, sagte sie um Bestätigung heischend zu ihrem Mann, während sie sich glücklich von allen Seiten in dem mehrteiligen Spiegel betrachtete.
»Du siehst damit aus wie ein schwedisches Blumenhuhn.«
Norberts Humor war mal wieder unschlagbar. Blumenhühner waren eine besondere schwedische Art dieser Tiere, das wusste sie wohl. Sie trugen den Namen, weil ihr Gefieder besonders bunt war. Edelgard verzog keine Miene, zückte ihre Kreditkarte und erwarb den Hut. Ganz sicher würde sie sich den Kauf nicht von ihrem Mann verderben lassen! Männer und Shopping. Da prallten zwei Welten aufeinander.
»Den nehme ich mit auf meine nächste Chor-Reise. Alle werden von mir wissen wollen, wo ich ihn herhabe.«
»Pass bloß auf, dass du damit keinen Tierschützern begegnest. Du gerätst mit dem Ding auf dem Kopf in Verdacht, eigens ein Huhn dafür gerupft zu haben.«
Edelgard ignorierte den Einwand ihres Mannes und nahm mit einer würdevollen Handbewegung ihre Papiertüte entgegen.
Vor der nächsten Schaufensterauslage drückte Norbert sich die Nase platt. Bunte Süßigkeiten lagen dort ausgebreitet. Zuckerstangen und Bonbons in allen Farben ergaben ein optisches Potpourri. Aus der leicht geöffneten Ladentür strömte ein verlockender Duft nach Lakritze und Vanille. Wie von unsichtbaren Fäden eines Puppenspielers gezogen schritt Norbert mit verklärter Miene in das Geschäft. Tatsächlich lag in seiner Gangart etwas von einer willenlosen Marionette. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck puren Entzückens. Die hölzerne Ladentheke mit ihren vielen Gläsern erinnerte an einen alten Tante-Emma-Laden. Norbert war in seinem Element und orderte kräftig bei der freundlichen Verkäuferin, die Englisch sprach.
»Das trägst du jetzt den ganzen Tag mit dir herum?«, zog ihn Edelgard auf, als diesmal er die volle Papiertasche an sich nahm.
»Bis abends ist sie bestimmt leichter geworden«, kommentierte Julian, dem die Naschsucht seines Vaters bestens bekannt war, und griff selbst flink nach einer Zuckerstange. Genießerisch wickelte er sie aus und steckte sie sich in den Mund. »Wir müssen unbedingt zum Balkon!«
»Balkon? Den haben wir doch in deiner Wohnung«, fragte Norbert erstaunt.
Julian lachte. »Damit ist eine Aussichtsplattform gemeint, von der man einen der besten Blicke auf Stockholm hat. Ihr werdet schon sehen! Paps, gib die Tüte her. Ich trage sie für dich.«
»Damit sie leer ist, wenn ich sie zurückbekomme?«
»Vertraust du mir nicht?«, fragte Julian in gespielter Empörung. »Ich will lediglich, dass du nicht so schwer tragen musst.«
»Wie aufmerksam, nein, kaum zu überbieten, mein Sohn!« Norbert umklammerte die Tüte und machte keinerlei Anstalten, sie Julian auszuhändigen.
Edelgard genoss das Geplänkel zwischen »ihren beiden Männern« und spazierte, die Tasche mit ihrem neu erworbenen Hut am Arm, zufrieden hinter den beiden her.
Sie stimmte Julian voll und ganz zu. Die Aussicht vom Fjällgatan war wirklich spektakulär. Fand Edelgard zumindest. Sie folgte mit ihren Blicken dem ausgestreckten Arm ihres Sohnes.
»Dort liegt Djurgården. Da müssen wir unbedingt hin.«
»Was gibt es dort zu sehen?«
»Die Vasa, ein spektakuläres Schiff. Extra auf Geheiß des Königs im Jahr 1628 für den Krieg erbaut, fuhr sie nur knapp einen Kilometer weit, um dann zu versinken. Man hat eigens für sie ein Museum geschaffen. Erst im letzten Jahrhundert wurde sie geborgen. 333 Jahre nach ihrem Untergang.«
»Wasa? War das der Knäckebrotkönig?«
Julian knuffte seinen Vater in die Seite. »Paps, du und deine Witze! Viel später hat sich eine Firma so benannt, wie der König hieß, warum auch immer. Da war der schon längst tot.«
Während Norbert kicherte, zog Edelgard eine Grimasse. Manchmal war der Humor ihres Mannes wirklich etwas seltsam und erschloss sich anderen nicht auf Anhieb. Aber da vorne, schlenderte da nicht die Frau, die sie gestern auf dem Balkon am Haus gegenüber gesehen hatte? Die hatte ebenfalls so langes helles Haar und sah ihr überdies frappierend ähnlich. Julian lenkte sie jedoch von ihrer Überlegung ab.
»Mom, für dich gibt es dort etwas, was dich womöglich mehr interessieren wird als ein Kriegsschiff.«
Edelgard war neugierig, was nun kommen würde. Hinter ihnen schob sich soeben eine Gruppe Schaulustiger vorbei, in der Englisch gesprochen wurde. Gefolgt von einer Gruppe weiterer Touristen, die sich in einer Sprache unterhielten, die sie nicht verstand. Sie tippte auf Japanisch.
Norbert summte ein paar Takte eines Schlagers.
»Na, Mom, klingelt es bei dir ebenfalls?«
»Da klingelt gar nichts.« Edelgard schüttelte den Kopf.
Norbert legte seinen Arm um sie, während er weitersummte. »Meine Dancing Queen«, raunte er ihr zu, »weißt du noch, damals beim Abschlussball unserer Schule?«
»Unser Abiball?« Edelgards Wangen nahmen eine rosafarbene Tönung an. Sie beide waren seit ihrer gemeinsamen Schulzeit zusammen. Norbert war als Sitzenbleiber in ihre Klasse gekommen. Er hatte damals aufgrund seines Alters die anderen um Haupteslänge überragt und es hatte ihr geschmeichelt, dass der älteste Junge der Klasse sich für sie interessierte. Gemeinsam waren sie nach dem Abitur aus ihrer Heimatstadt zum Studium in eine andere Stadt gezogen. Der Popsong war damals schon ein paar Jährchen alt gewesen.
»Zu dem Lied haben wir zusammen getanzt.« Norbert drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ihr habt gemeinsam getanzt?«
Edelgard winkte verlegen ab. »Wir waren sogar im Tanzkurs.«
Doch Norberts Erzähldrang war geweckt. »Ich habe mit deiner Mutter in jungen Jahren so manche Pirouette gedreht!«
Julian dämmerte etwas. »Hast du ihr bei diesem Lied einen Heiratsantrag gemacht?«
Edelgard lag daran, dieses Thema möglichst rasch zu beenden. »Das war ein anderes Mal.«
»Aber Paps hat Oma um Erlaubnis gefragt?«
»Meine Schwiegermutter hat mich mit großer Herzlichkeit aufgenommen.« Norbert grinste zufrieden bei dieser Erinnerung.
Eine Aussage, die Edelgard bezüglich ihrer eigenen Schwiegermutter nicht bestätigen konnte. Da, wo sie beide herkamen, gab es sogar den Begriff »Gegenmutter«. Für Edelgards Dafürhalten umschrieb das passend die negative Haltung von Norberts Mutter ihr gegenüber. Aus deren Sicht kein Wunder. War sie ihrer Meinung nach immerhin ihres einzigen Kindes beraubt worden, das sie nun viel zu selten zu Gesicht bekam. Aber Edelgard hatte kürzlich eine famose Idee entwickelt, um die Schwiegermutter zu beschäftigen. Sie musste unbedingt bei passender Gelegenheit Julian davon erzählen! Und sie würde peinlich genau darauf achten, dass ihr Gatte nicht mithörte. Der bewertete die Angelegenheit womöglich anders als sie selbst. Dabei war die Lösung, die sie für ihr anstrengendes Problem gefunden hatte, wirklich genial.
»Julian, das Riesenrad dort drüben! Wo gehört das dazu?«, schwenkte Edelgard um auf ein anderes Thema, bevor sie sich womöglich in Norberts Gegenwart verplapperte. Sie war sich unsicher, wie Norbert die Sache aufnehmen würde. Gegenüber allem, was seine Mutter betraf, verstand er wenig Spaß. Er war geprägt davon, immer alles zu ihrer Zufriedenheit zu erledigen.
»Das gehört zu Gröna Lund …« Julian stoppte, weil in ihrer Nähe eine schrille Stimme ertönte.
Die dazugehörige Frau hockte auf dem Boden und durchwühlte hektisch ihre Tasche. »Ich weiß genau, dass sie eben noch da war. Meine Geldbörse ist weg!«, rief sie aufgebracht.
»Meine ebenfalls!« Ihr Begleiter klopfte auf die Außentasche seiner Jacke. »Geklaut, oder wie?«
Die beiden sahen sich um.
Edelgard eilte zu ihnen. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Spielt Mom immer noch Miss Marple?«, raunte Julian seinem Vater zu und folgte seiner Mutter.
»Alles ist weg! Meine Kreditkarten, mein Pass! Wie fliege ich jetzt morgen zurück nach Hamburg? Eine Katastrophe.«
»Meine Brieftasche ist auch verschwunden! Ausweis, alles weg.« Der Mann war wütend. »Ich dachte, Stockholm sei eine sichere Stadt! Zumindest als ich hierherreiste.«
»Haben Sie Ihr Smartphone noch?«, fragte Julian die beiden.
Der Mann griff in die Innentasche seiner Jacke. »Ja, das ist da.«
»Wenden Sie sich an die deutsche Botschaft. Die Adresse finden Sie rasch im Internet.«
»Aber wie kommen wir dahin? Unser Geld ist weg!«
Julian zog seine Börse, entnahm ihr einen Schein und eine Visitenkarte.
»Nehmen Sie sich ein Taxi. Wenn Sie wieder zu Hause sind, melden Sie sich bei mir und geben mir das Geld zurück.«
»Danke sehr, Herr …?«
Julian tippte auf die Karte, die der Mann in der Hand hielt. »Buchmann. Viel Glück!«
Er zog seine Eltern weiter.
»Schrecklich, im Urlaub alle Papiere zu verlieren«, kommentierte Edelgard das soeben Erlebte.
»Es gibt Schlimmeres, Mom. Es ist ärgerlich, nichts weiter.«
»Wer das wohl war? Lieber Himmel, so ein Raub hätte uns genauso treffen können!«
»Mom, übertreibe bitte nicht derart. Von ausrauben kann hier keine Rede sein. Niemand wurde bedroht oder ist körperlich zu Schaden gekommen. Das war Diebstahl, nichts weiter.«
»Deine Mutter sieht überall Verbrecher. Kannst du mir getrost glauben.«
»Ach was, ich sehe lediglich die Realität. Oder was war das eben? Ich habe mir nicht etwa eingebildet, dass das nette Paar beklaut wurde?«
»Lass uns etwas essen gehen.« Norbert hatte keine Lust darauf, das Thema Kriminalität ausgerechnet im Urlaub zu vertiefen. Wenn Edelgard erst einmal damit begonnen hatte, war es schwierig, sie davon abzuhalten, sich permanent neue kriminelle Ereignisse auszudenken, die ihnen ihrer Ansicht nach zustoßen könnten.
Julian führte seine Eltern in ein Restaurant. Norbert stellte erstaunt fest, dass es für schwedische Verhältnisse einen relativ günstigen Mittagstisch gab. Jedenfalls waren die Preise, die deutlich über denen in vergleichbaren Gaststätten in Deutschland lagen, weitaus niedriger als die auf der Abendkarte.
»Ich finde gar kein Surströmming.« Norbert blätterte in der Speisekarte. »Einer meiner Kollegen hat mir das empfohlen. Ich soll das unbedingt probieren, während wir hier sind, hat er gesagt.«
Julian grinste. »Hat er das?«
»Es sei eine Delikatesse, die man unbedingt kosten müsse. Ich würde etwas versäumen! Das will ich natürlich auf gar keinen Fall.« Wie immer war Norbert kulinarischen Hochgenüssen gegenüber sehr aufgeschlossen und voller Elan, etwas Neues zu testen.
»Also, Paps, es ist so …«
»Das gibt es nur in richtig teuren Restaurants? Bieten die es deshalb hier nicht an? Kann man es nicht im Supermarkt kaufen und wir essen es gemütlich in deiner Wohnung?«
»Auf gar keinen Fall!«
»Ist es derart teuer? Ach, komm schon, das gönnen wir uns. Wenn wir dich schon mal besuchen. Da will ich nicht auf jeden Cent gucken.«
»Es ist eine seltsame Delikatesse, um die es sich hierbei handelt. Vielleicht schmeckt sie dir gar nicht.«
»Woher willst du das wissen? Hast du sie schon gekostet?«
Edelgard hatte schweigend zugehört. Nun schaltete sie sich ein. »Norbert, das ist Stinkefisch. Da hat dich dein Kollege ganz schön verschaukelt.«
»Stinkefisch?«
»Mom liegt richtig. Surströmming ist vergorener Fisch aus der Dose. Die Dosen sind vom Gärprozess sogar verbeult. Keine Ahnung, weshalb das hier als Delikatesse gilt. Ehrlich gesagt riecht es schon ziemlich eigenartig, um es mal sanft auszudrücken. Es gibt sogar Leute, die sagen, es stinkt fürchterlich. Du verpasst sicherlich nichts, wenn du es nicht probierst. Lass uns lieber etwas anderes Typisches bestellen. Außerdem isst man Surströmming hauptsächlich im Norden Schwedens und nicht in der Hauptstadt.«
»Wie wäre es mit diesen kleinen Hackfleischbällchen?« Edelgard tippte mit ihrem Finger auf die Karte. »Köttbullar?«
Norbert fragte: »Die kennst du von deinen hemmungslosen Teelichter-Einkaufstouren in einem bekannten Möbelhaus?«
Edelgard ignorierte seinen Einwand. »Also, ich nehme die. Wie wäre es mit einem Lachs für dich, Norbert? Wegen deiner Cholesterinwerte sollst du viel Fisch essen.«
Norbert nickte mit einem glücklichen Lächeln. Wie besorgt seine Frau um ihn war. Er gratulierte sich gedanklich zu seiner Entscheidung für sie. Obwohl sie ihn ständig dazu nötigte, in Urlaub zu fahren, und sich dabei oft waghalsig verhielt. Etwa indem sie gemeinsam mit ihm auf Burgen mit steilen Abhängen stieg und dann am Rand balancierte. Schon des Öfteren hatten andere Reisende sie beide auf solche Gefahrensituationen hingewiesen. Wie schnell konnte es geschehen, dass man aufgrund eines einzigen Fehltrittes abstürzte! Aber diese Abenteuerlust hielt seine Liebe zu ihr jung. Wie gut, dass er damals nicht auf seine Mutter gehört hatte, die ihm diese Ehe hatte ausreden wollen. Mutti hatte nicht immer recht! Das hatte er damals intuitiv gespürt. Und erst ihr gemeinsamer Sohn! Edelgard hatte ihn mit der Geburt Julians zum Vater gemacht. Das war für ihn die größte Freude.
Er nickte seiner Frau zu. »Lachs klingt gut. Den nehme ich gerne.«
Julian schloss sich der Entscheidung seines Vaters an und gab die Bestellung auf. Danach erhob er sich, um Wasser zu holen. Das stand in einer Karaffe, neben einer Kanne Kaffee, zur Selbstbedienung auf einem kleinen Tisch bereit.
Als er mit den Gläsern zurückkam und sich wieder setzte, hatte seine Mutter die nächste Frage parat. »Deine Freundin lernen wir doch kennen?«
»Lass den Buben in Ruhe. Sei nicht derart neugierig.«
»Das ist keine Neugierde, Norbert! Du verwechselst das, wie so oft, mit Anteilnahme.« Sie trank einen Schluck. »Also, Julian, wann und wo?«
Julian nahm seine Serviette und tupfte sich den Mund ab. So gewann er immerhin ein klein wenig Zeit, um nachzudenken. »Tja, ich weiß nicht so genau …«
»Mittsommer! Wie wäre es damit? Das ist die perfekte Gelegenheit, um das neue Familienmitglied kennenzulernen.«
»Mom! Wir kennen uns erst seit ein paar Wochen.«
»Kein Grund, sie uns nicht vorzustellen. Ich werde sie mit offenen Armen empfangen. Das kannst du mir glauben.«
Norbert seufzte in Erwartung der wiederholt erzählten Geschichte, wie sie selbst von ihrer eigenen Schwiegermutter abgelehnt worden war.
»Ich freue mich so darauf.« Edelgard lächelte erwartungsvoll.
»Na gut, ich kann ja mal darüber nachdenken. Und sie fragen.«
»Lass dir nicht zu viel Zeit. Mittsommer steht direkt vor der Tür.«
»Schon klar.«
»Wie heißt sie eigentlich?«
»Frida.«
Nach dem Hauptgang ließen sie sich Erdbeeren als Nachspeise bringen.
»Die Erdbeeren sind aber besonders klein«, nölte Norbert.
»Es sind wilde Erdbeeren. Die sehen anders aus als die in deutschen Supermärkten.« Edelgard nahm vorsichtig eine in den Mund. »Fruchtig. Eindeutig. Schmeckt perfekt. Mit so einem vollen Aroma kriegst du die bei uns gar nicht.«
Norbert genehmigte sich ebenfalls eine Beere.
»Du hättest dich wohl besser für Kaka entschieden. Davon servieren sie hier ziemlich große Portionen.«
»Bitte! Was empfiehlst du uns da? War in deinem Glas zufällig Hochprozentiges drin? Hast du nur für uns Wasser geholt und in deinem befand sich etwas anderes? Derartige Witze hast du seit deiner Pubertät nicht mehr zum Besten gegeben.«
Julian grinste. »Was ihr euch schon wieder vorstellt! Alter, kannste dir nicht ausdenken. ›Kaka‹ ist das schwedische Wort für ›Kuchen‹.« Er blickte auf seine Uhr. »Warum ruft eigentlich Oma nicht an?«
Norbert griff nach der Getränkekarte. »Wir telefonieren nicht mehr täglich.«
Julian lachte. »Was ist denn da kaputt? Das machst du doch schon, seit ich denken kann, und erzählst ihr dabei, was es mittags in der Kantine gab!«
»Du telefonierst doch auch mit deiner Mutter!«
»Das ist was anderes.« Edelgard sah sich nicht in der Lage, diesen Einwurf zu unterdrücken. Sie fand den Vergleich unerhört. Im Gegensatz zu Norberts Mutter hatte sie ihren Sohn ja wohl losgelassen! Zumindest sie selbst betrachtete ihr Verhältnis zu Julian derart.
»Versteh ich nicht. Wenn meine Mutter dich anruft, ist es was anderes, als wenn du Julian anrufst?«
»Von Moms Warte aus schon.« Julian konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er selbst verstand es in der Regel geschickt, sich vom Spannungsfeld der beiden Frauen fernzuhalten. »Erzähl schon, was ist los mit Oma?«
»Oma hat …« Norbert suchte nach den richtigen Worten.
Edelgard stupste ihn an. »Erzähl es endlich! Es ist etwas wirklich Positives.«
»Jetzt bin ich echt neugierig. Was hat Oma?«
Norbert räusperte sich. »Holst du mir bitte ein Glas Wasser, Julian?«
Der griff nach dem Glas seines Vaters und stand auf. »Ey, du machst es echt spannend.« Er beeilte sich, mit dem Getränk zurückzukommen, und nahm wieder Platz. »Also, was ist los?«
Norbert nahm einen großen Schluck, bevor er sprach. »Mutti hat jemanden kennengelernt.«
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört. Der zweite Frühling ist angebrochen. Sie hat keine Zeit mehr, sich um ihren Sohn zu kümmern.« Edelgard strahlte. »Der neue Mann in ihrem Leben tut ihr augenscheinlich gut. Sie blüht richtig auf!«
»Kümmern! Also, Edelgard, Mutti nimmt Anteil an meinem Leben. Das ist was gänzlich anderes.«
Edelgard schwieg zu dieser Bemerkung.
»Mutti hat einen Herrn in ihrem Alter kennengelernt. Den sieht sie häufig.«
»Die beiden erwägen sogar, ihre Haushalte zusammenzulegen«, platzte Edelgard heraus.
Norbert verschüttete sein Wasser, als er erneut trinken wollte. »Na ja, so weit sind wir noch nicht.«
»Was heißt hier ›wir‹? Ziehst du auch mit ein, Paps? Wird das eine WG? Anstelle von einem Altersheim für Oma?«
Norbert ignorierte den Scherz seines Sohnes. »Ich rate Mutti dazu, nichts zu überstürzen. So etwas will schließlich gut überlegt sein.«
»Also, ich finde Theodor ziemlich nett. Ein akkurater und pünktlicher Herr. Außerdem sehr kultiviert! Die beiden passen gut zusammen! Sie ergänzen sich prächtig. Und sie haben dieselben Interessen. Theater, Konzerte, sie sind nur noch gemeinsam unterwegs. Theodor ist seit drei Jahren verwitwet.«
Norbert betrachtete sein Hemd, welches er mit Wasser bekleckert hatte. »Ich mache das eben auf der Toilette trocken.« Er stand auf und entfernte sich.
Als er außer Hörweite war, sagte Julian: »Verstehe. Paps spricht nicht gerne darüber.«
»Meine Güte, er tut so, als ob er einen Stiefvater bekäme! In seinem Alter! Er übertreibt maßlos. Theodor drängt sich ihm wirklich nicht auf.«
»Wo hat Oma ihren Liebhaber denn kennengelernt?«
»Liebhaber? Um Himmels willen! Erwähne das bloß nicht in Norberts Gegenwart. Er scheint diese Verbindung rein platonischer Natur zuzuordnen. Da bin ich allerdings anderer Meinung.« Sie kicherte. »Also, neulich …« Sie besann sich, dass sie im Begriff war, mit ihrem Sohn ein pikantes Thema bezüglich seiner Großmutter zu erörtern, empfand dies rasch als äußerst unangemessen und wechselte deshalb das Thema. »Die beiden unternehmen wie gesagt viel gemeinsam.«
»Lass mich raten. Ist er ihr im Supermarkt begegnet? Sie haben beide gleichzeitig nach dem letzten Brokkoli gegriffen?«
»Kannst du schweigen?« Edelgard blickte hektisch in Richtung Toilettentür. »Norbert darf das nie erfahren. Hörst du? Niemals!«
»Klar schweige ich. Versprochen! Rück endlich raus damit!«
»Schwöre es!«
»Mom! Okay, ich schwöre. Wenn du unbedingt willst. Aber jetzt erzähl’s doch endlich. Du machst es richtig spannend!«
»Ich habe sie in einem Dating-Portal angemeldet. Natürlich heimlich.«
»Was? Mom, das hätte ich dir gar nicht zugetraut!«
»Ich dachte mir, es kann nicht schaden, wenn sie wieder einen eigenen Lebensinhalt hat. Sie hat mir ein bisschen zu viel Anteil an unserem Leben genommen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Die täglichen Telefonate? Ihre Ratschläge bezüglich deiner Haushaltsführung? Ich erinnere mich. Manches Mal hatte ich den Eindruck, sie gibt dir ständig eine Art Bedienungsanleitung für Paps.«
»Die hat sich bloß schrecklich gelangweilt. Stell dir vor, es funktioniert hervorragend mit Theodor! Sie ist richtig glücklich mit ihm.«
»Aber …«
»Ein einziger Herr hat sich gemeldet. Der dann auch angebissen hat. Jener Theodor.«
»Wie hast du ihm erklärt, dass Oma nichts davon weiß?«
Sie kicherte. »Er wurde ebenfalls hinter seinem Rücken angemeldet. Von seiner Enkelin. Die fand, der alte Herr sei einsam, und sie wollte ihm etwas Gutes tun. Wir beide haben uns ausgetauscht und dann beschlossen, Konzertkarten zu kaufen. Die beiden hören gern klassische Werke. Da hat sich das so ergeben. Wir haben ihnen Karten für nebeneinanderliegende Plätze geschenkt und Gutscheine für die Sektbar. Das hat sie ins Gespräch gebracht.«
»Sektbar? Das wird ja immer doller.«
»Hör zu, Julian. Oma denkt, sie hat ihren Theodor völlig zufällig getroffen. Seine Enkelin hält ebenfalls dicht. Du lässt sie bitte in diesem Glauben, wenn das Thema darauf kommt! Und kein Sterbenswörtchen darüber zu deinem Vater!«
»Bestimmt nicht!«
»Es ist viel entspannter bei uns, seit ihn seine Mutter nicht mehr täglich anruft. Und vor allem, seit sie nicht mehr bei uns nach dem Rechten sieht. Ob auch wirklich alles gründlich genug geputzt ist. So wie früher in den 50ern, als die Leute mit ihrer übertriebenen Sauberkeit den Dreck des schrecklichen Krieges wegzuputzen versuchten.«
»Du hast mein Ehrenwort, Mom.«
Norbert kam zurück. Auf seiner Brust lagen Fitzelchen des Papiertuchs, mit dem er versucht hatte, sein Hemd zu trocknen.
»Wofür gibst du deiner Mutter ein Ehrenwort?«
»Ehrenwort?«, echote Edelgard. »Da hast du dich verhört, Schatz. Wir besprechen unser morgiges Tagesprogramm.« Zur Bekräftigung stieß sie unterm Tisch sanft mit ihrer Fußspitze gegen das Schienbein ihres Sohnes.
Der nickte pflichtschuldig. »Genau. Mom und ich überlegen, was wir unternehmen wollen.«
Am nächsten Tag überraschte Julian seine Eltern mit einem spontanen Vorschlag.
»Und Frida wird das wirklich mögen?« Norbert war skeptisch. »Überfallen wir sie nicht damit? Sie kennt uns doch gar nicht.«
»Höchste Zeit, sie zu treffen! Ich will sie unbedingt kennenlernen.« Edelgard war sofort dabei.
»Ich denke, sie wird sich freuen. Seit Tagen erzählt sie mir, sie habe kein Feuerholz mehr in ihrem Haus. Sie selbst hat keine Zeit, welches einzukaufen und mit dem Boot hinzubringen. Deshalb sähe es furchtbar schlecht aus, dort Mittsommer zu verbringen. Wir füllen das Holz auf und gleichzeitig den Kühlschrank. Das wird eine tolle Überraschung für sie. An Mittsommer bringe ich sie unter einem Vorwand dazu, mit uns auf die Schären zu fahren.«
»Warst du schon mal dort?«
Julian zögerte. »Nein.«
»Ich finde die Idee zauberhaft. Aber wie finden wir hin, wenn du selbst noch nicht dort warst?« Edelgard mischte sich in das Gespräch ein.
Er tippte auf seinem Smartphone herum. »Ich habe die Koordinaten.«
»Will ich wissen, wo du die herhast?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Miss Marple. Willst du nicht. Die kleine Insel befindet sich im Schärengarten in der Nähe von Sandön. Es steht ein einziges Haus dort. Und das ist Fridas. Sie hat mir davon erzählt. Aber ich war noch nicht dort, weil sie bislang keine Zeit dafür hatte. Wir sollten unbedingt Brennholz hinschaffen. Abends kann es dort sehr kühl sein, auch jetzt um diese Zeit.«
»Aber wie kommen wir ins Haus?«
»Mom, du kannst echt Fragen ohne Ende stellen. Entweder ist es offen oder der Schlüssel liegt unter der Fußmatte. In Schweden hält man respektvoll Abstand. Was denkst du denn? Da würde niemand Fremdes einfach so reingehen. Man legt auch nicht auf einer kleinen Insel an, die einem nicht gehört.«
Edelgard schwieg zu diesen Erläuterungen. Bei sich fand sie, ein Schlüssel unter dem Abstreifer sei schon eine ziemlich direkte Einladung, ein Haus zu betreten.
»Ich besorge rasch alles mit einem Kumpel, der ein Auto hat. Er besitzt auch ein kleines Boot. Damit bringt er uns in den Schärengarten. Wenn wir alles abgeladen haben, können wir in Sandhamn Kuchen essen.«
Edelgard nutzte Julians Abwesenheit, um sich in der Wohnung nützlich zu machen, während Norbert auf der Couch ein wenig vor sich hin döste. Als sie gerade dabei war, das Balkongeländer mit einem Lappen abzuwischen, wurde im Haus gegenüber in der untersten Wohnung die Jalousie hochgezogen. Die blonde Frau steckte noch im Schlafanzug. Edelgard vermutete, dass sie ungewöhnliche Arbeitszeiten haben musste, wenn sie um diese Zeit zu Hause war. Oder sie hatte Urlaub. Aber verbrachte man den wirklich in seiner Wohnung? Vielleicht arbeitete die Frau ja im Schichtdienst. In einem Krankenhaus. Das ergab Sinn! Sie verdunkelte tagsüber ihre Wohnung, damit sie schlafen konnte. Das schwedische Sommerlicht hatte eine völlig andere Intensität als das in Deutschland. Heute Morgen, als sie um 7 Uhr aufgewacht war, hatte sie wegen der Helligkeit angenommen, es wäre schon mittags, und war ziemlich erschrocken, weil sie im ersten Moment meinte, versehentlich einen halben Urlaubstag verschlafen zu haben.
Edelgard hielt in ihren Gedanken inne. Aber sie hatte die Frau doch gestern auf der Aussichtsbühne gesehen?
Jetzt rauchte die Unbekannte hastig eine Zigarette auf ihrem Balkon und verzog sich wieder in ihre Wohnung. Kurz darauf verließ sie das Haus mit einem großen Rucksack auf dem Rücken. Edelgard tauchte ihren Lappen in den Eimer mit warmem Wasser und wrang ihn aus. Während sie damit über das Geländer strich, fiel ihr die Kahlheit des Balkons ins Auge. Hier fehlte etwas, das blühte! Sie musste unbedingt einen Blumenkasten besorgen und ihn bepflanzen. Julian würde sie nichts davon sagen und ihn damit überraschen.
Entgegen seiner Befürchtung wurde es Norbert auf dem kleinen Boot nicht übel. Julians Freund Filip, der sie mit dem landesüblichen »Hej« begrüßt hatte und wie viele Skandinavier Englisch sprach, steuerte es mit ruhiger Hand, sodass es kaum schaukelte. Lediglich wenn größere Boote vorbeifuhren und die davon verursachten Wellen dann auf ihres trafen, wiegte es sich sanft. Sie fuhren beinahe eine ganze Stunde zwischen unzähligen steinernen Inseln hindurch. Einige waren mit mehreren Häusern besiedelt, andere hingegen nur mit einem einzigen oder gar nicht. Die Ostsee war silbrig grau. Sie sahen Fähren, so groß wie Kleinstädte. Möwen begleiteten sie eine Weile, bis sie sich anderen Booten zuwandten, wo sie ein paar Krümel erwarteten. Die Luft roch frisch, aber kaum salzig. Das Binnenmeer Ostsee konnte beim Salzgehalt nicht mit dem Atlantik mithalten.
Edelgard genoss die Sonnenstrahlen. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und saß zufrieden auf der Bank an Deck.
Der Steg an Fridas Insel bot gerade Platz für ein einziges Boot. Julian half Filip, es zu vertäuen. Norbert schätzte die Größe des Eilands auf ungefähr 100 mal 50 Meter. Hinter großen, vom Wind glatt geschliffenen grauen Steinen duckte sich ein rot angestrichenes Haus mit weißen Fensterrahmen in einer Mulde. Daneben stand ein einzelner Baum, der sich mit einer dünnen Erdkrumme zufriedengab. Julian lief zur Tür und rief: »Ist offen! Wir können rein!«
Als Edelgard, Norbert und Filip Julians Einkäufe anschleppten, stellten sie gemeinsam mit ihm überrascht fest, dass sich an der Seite des Hauses unter einer Abdeckung sehr wohl Feuerholz befand. Sogar eine ziemliche Menge davon. Julian konnte dafür aufgrund von Fridas Beteuerungen keine Erklärung finden. Im Haus selbst erwarteten sie schlichte helle Holzmöbel. Die Küche war ganz gut ausgestattet, wenngleich alles einen alten Eindruck machte. Sogar ein Kühlschrank war vorhanden.
»Wie wird der denn betrieben?«, wunderte sich Edelgard.
»Mit Gas.«
»Und das Badezimmer?«
»Ich fürchte, Mom, du wirst dich draußen nach einem Plumpsklo umsehen müssen. Am ehesten hinterm Haus. Mit Kanalisation ist hier nicht zu rechnen.« Er zeigte ein schiefes Lächeln. »Sicherlich gibt es eine Gartendusche.«
»Denk nicht, dass mir das etwas ausmacht. Ich hatte in meiner Jugendzeit eine Freundin, die wohnte mit ihren Eltern auf einem Bauernhof. Ich erinnere mich noch gut daran, wie das bei denen war. Da gab es ein Plumpsklo auf dem Hof und gewaschen hat man sich in einer Schüssel in der Küche.«
»Ist das diese Plumpsklo-Geschichte, die du früher öfter zum Besten gegeben hast? Julian kennt die gar nicht.« Norbert unterdrückte mit Mühe ein Grinsen.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst!«
»Komm schon! Erzähle sie.«
»Glaubst du wirklich, Julian will so olle Kamellen hören?«
»Früher hast du so gerne davon erzählt. Julian, deine Mutter hat ganze Stammtischrunden damit unterhalten.«
»Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern.«
»Ist deine Jugendzeit so lange her?«
Edelgards Faszination für den Humor ihres Mannes hielt sich in Grenzen. In engen. »Derart lange liegt meine Jugendzeit jetzt auch wieder nicht zurück. Jedenfalls hatten wir längst einen Farbfernseher, als ihr noch schwarz-weiß geguckt habt.« Insgeheim freute sie sich über die geglückte Retourkutsche.
»Mom! Diese alten Geschichten. Und Paps ist vor dem Testbild eingeschlafen. Nicht einmal der nächtliche Pfeifton der Sendeanstalt hat ihn geweckt.«
»Fabelhaft, Julian, ich muss meine Erinnerungen gar nicht schriftlich für dich festhalten! Du kannst sie selbst mündlich an meine Enkel weitergeben.«
»So wie früher. Schon in der Steinzeit saßen die Menschen in Höhlen um ein Feuer und haben sich gegenseitig Geschichten erzählt.«
»Jaja, Norbert. Es ist gut. Und genau aus dem Grund grillen Männer heute so gerne. Weil sie das Feuermachen von der Urzeit her kennen. Alte Instinkte und so.« Edelgard verschwand hinter dem Haus.
Sie war kaum weg, als ihr gellender Schrei erklang.
Julian rannte sofort hinaus und lauschte in die Richtung, aus welcher Edelgard immer noch hektisch kreischte. Norbert und Filip folgten ihm.
»Wenn deine Mutter schreit, ist etwas Schlimmes passiert. Die bringt nämlich so leicht nichts aus der Fassung.«
»Mom?« Julian folgte weiter ihrer Stimme. Edelgard befand sich tatsächlich hinter dem Haus. Aber sie zeigte nicht auf das kleine Holzhaus mit dem in die Tür geschnittenen Herz, sondern auf eine ziemlich große Hundehütte. Saß da ein Tier drin? So groß, wie die Behausung war, wäre darin Platz für einen Dobermann. Aber weshalb sah und hörte man nichts von ihm? Hatte er sich vor dem Schreien verkrochen und zitterte nun vor Angst? Wer versorgte ihn, wenn er alleine auf der Insel lebte? Bewachte er das Haus? Es konnte einem zwar wirklich bange werden, wenn Edelgard schrie, und sie konnte mit der von ihr erreichten Lautstärke vermutlich einen Einbrecher verjagen, aber dass sie einen großen Hund damit einzuschüchtern vermochte, erschien Julian ziemlich unwahrscheinlich. Vermutlich würde dessen Aggressivität durch die Lautstärke nur noch weiter angeheizt.
»Mom! Was ist denn los?« Mit einem Satz war Julian bei seiner Mutter.
»Da drin sitzt jemand.« Edelgard zitterte am ganzen Körper.
»Ein großer Hund?«
Sie schüttelte ihren Kopf.
Norbert, der ebenfalls hinters Haus gekommen war, nahm sie in seine Arme. »Beruhige dich. Wir sind bei dir.« Er hielt sie fest und streichelte ihren Rücken.
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Da drin ist etwas ganz Entsetzliches, Furchtbares. Julian, du solltest die Polizei rufen.«
Julian näherte sich der Hütte, ging in die Hocke und beugte sich vor. Gleich darauf schnellte er hoch und wich einige Schritte zurück. Er winkte Filip herbei, der in einigen Metern Abstand gewartet hatte.
»Filip, look here!«
»Horrible.«
»Small person. Perhaps a woman.«
Filip zog sein Smartphone aus der Hosentasche und zeigte Julian das Display.
Der sagte zu seinen Eltern: »Kein Empfang. Wir müssen mit dem Boot fahren. Am besten nach Sandhamn auf Sandön.«
»Ich bleibe auf keinen Fall hier zurück.« Edelgard hatte wieder zu ihrer normalen Tonlage gefunden.
»Aber du hast sie entdeckt, Mom.«
»Meine Güte, Julian, das kann ich auch auf einem Revier aussagen. Auf dieser Insel bleibe ich keine Minute länger. Nicht gemeinsam mit einer Leiche! So wie die aussieht, sitzt die da schon länger.«
»Was ist mit dem Essen?« Norbert wandte sich an Julian. »Das nehmen wir doch wieder mit? Ich halte es in Anbetracht der momentanen Situation für ziemlich unangebracht, hier Mittsommer zu feiern. Obwohl es durchaus bedauerlich ist.«
*
Sie haben mich befragt. Klar, es ist ja meine Insel. Sie sind deshalb sogar zu meiner Arbeitsstelle gekommen. Es war mir schrecklich peinlich, wegen der Kollegen. Ich weiß, wer die Frau ist. Aber was hätte ich machen sollen? Meinen eigenen Vater anzeigen? Weil er sie auf der Insel zurückgelassen hatte? So etwas tut man nicht. Außerdem war sie tot. Es hätte sie nicht wieder lebendig gemacht. Was mich wirklich verletzt, ist der Umstand, dass Julian ohne mich rausgefahren ist. Noch dazu mit drei weiteren Leuten. Ich hatte meinem neuen Freund vertraut. Wirklich dumm, dass er zur Insel gefahren ist, um mir eine Freude zu machen. Er wollte alles für Mittsommer vorbereiten und dann mit mir und den anderen hinausfahren. Ich hätte den Zettel mit den Koordinaten nicht auf meinem Schreibtisch herumliegen lassen sollen. Die Überraschung ist geglückt, das kann man sagen. Aber die lag eher auf seiner Seite.
Vater hatte eine Asiatin kennengelernt. Die seien so anschmiegsam, war seine Rede. Ich konnte sie von Anfang an nicht leiden. Vater schenkte ihr meines Erachtens viel zu viel Aufmerksamkeit. Nachdem Mutter sich von ihm getrennt hatte, stand ihm nicht mehr der Sinn nach einer selbstbewussten Frau. Die neben ihm ihr eigenes Leben führt und nichts mit ihm gemeinsam hat. So drückte er sich zumindest mir gegenüber aus. Mutter tat nie, was er sagte. Sie wollte auch nicht auf die Insel. Dabei war es dort so schön ruhig. Hin und wieder das Kreischen der Seevögel. Unser Hund war dort auch gerne. Keine lästigen Geruchsspuren, die ihn in der Stadt beinahe wahnsinnig machten. Mutter war eher der gesellige Typ, sie mochte die Einsamkeit nicht. Mir hätte es völlig genügt, mit Vater alleine auf der Insel zu sein. Er hat mir Angeln beigebracht und gezeigt, wie man Fische ausnimmt. Das waren meine glücklichsten Tage.
Die Asiatin war nicht so gehorsam, wie Vater es gerne gehabt hätte. Die beiden hatten einen fürchterlichen Streit. Worum es genau ging, weiß ich nicht. Zur Strafe ließ er sie auf der Insel zurück. Er hat nicht bemerkt, dass ich das Haus heimlich abschloss und den Schlüssel an mich nahm. Ich konnte doch nicht ahnen, dass es kurz darauf zu einem dramatischen Wetterumschwung kommen würde. Vor dem aufkommenden Sturm mit ungeplantem Kälteeinbruch hatte sie sich in die Hundehütte verkrochen. Genau dort hatte Vater sie wenige Tage später gefunden und sie einfach darin gelassen. Ich hatte, Unangenehmes ahnend, flink vor ihm das Boot verlassen und, während er es vertäute, das Haus aufgeschlossen und den Schlüssel an seinen gewohnten Platz gelegt. Dass sie sich in die Hundehütte verkrochen hatte, schrieb er ihrer Angst vor Gewittern zu. In Panik handeln Menschen unüberlegt. Sich in der Hütte zu verkriechen, war ziemlich dumm von ihr, so fand er. Wir sprachen nie wieder über sie. Ich hatte Vaters ganze Aufmerksamkeit wieder für mich allein. Da die Asiatin illegal in Schweden war, fiel ihr Verschwinden niemandem auf. Genau genommen war sie ja auch nicht verschwunden. Sie war die gesamte Zeit über auf der Insel. Bis die neugierige Mutter meines Freundes ihre Ruhe gestört hat. Ich weiß nicht, welche Strafe mir bevorsteht. Mein Vater war es doch, der sie auf der Insel zurückgelassen hat. Von der Sache mit dem Schlüssel weiß niemand. Womöglich habe ich gegen das Bestattungsgesetz verstoßen. Aber eigentlich hat sie ja niemand bestattet. Vater lebt seit drei Jahren in einem Heim, ich besuche ihn, sooft es mir möglich ist. Ihn zu befragen, ist für die Polis zwecklos. Er ist an Demenz erkrankt. Egal, was die ihn fragen, er wird sich an nichts erinnern können. Oft erkennt er nicht einmal mich, wo wir uns doch so nahestehen. Ich fühle trotzdem noch die enge Verbindung zu ihm. Diese Asiatin war lediglich eine kurze Episode, eine Art Verirrung. Sie hat nicht zu unserer Familie gehört. Ob die Polis mir glauben wird, wenn ich behaupte, ich habe von alldem nichts gewusst? Keiner kann mir das Gegenteil beweisen.
*
»Was ist mit Frida, Julian? Du trennst dich hoffentlich von ihr!« Edelgard ordnete die Pflanzen, die sie mehr oder minder gegen den Willen ihres Sohnes erworben hatte, auf dem Balkon. »Nach diesem grausigen Fund.« Sie zog eine Grimasse, um ihr Missfallen zu unterstreichen.
»Mom, ich weiß es nicht. Es ist zu viel auf einmal für mich. Immerhin hat sie niemanden umgebracht und vergraben.«
»Auf ihrer Insel saß eine Leiche! Schon vergessen?« Edelgards Stimme überschlug sich beinahe vor Entrüstung.
Norbert rief aus dem Wohnzimmer: »Sie zu vergraben, ging ja auch schlecht. Die Schäreninseln sind aus Granit. Sie hätte einen Presslufthammer gebraucht!«
»Das ist nichts, worüber man Witze macht. Ich habe sie schließlich gefunden. Das war weiß Gott kein schöner Anblick. Ich hatte mir unseren Ausflug auf die Insel anders vorgestellt und mich sogar richtig darauf gefreut. Die Schäreninseln sind wirklich toll.«
»Lass erst mal die Polis ihre Arbeit machen. Soweit ich informiert bin, befragen sie Frida eingehend. Nach diesem Vorfall hat sie sofort Urlaub genommen, aber ich habe mit ihr gesprochen. Für mich klang sie ziemlich überrascht von dieser Angelegenheit. Vielleicht gibt es eine einfache Erklärung für alles.«
»Eine Schiffbrüchige hat sich auf die Insel gerettet?«
»Weshalb nicht?«
»Komm schon, Julian. Diese Frida zieht dich da in etwas hinein. Das gefällt mir nicht. Die Frau ist nichts für dich. Das habe ich im Gefühl. Sie tut dir nicht gut!«
Während Edelgard mit Julian auf dem Balkon diskutierte, fiel ihr auf, dass in der Wohnung der seltsamen Frau gegenüber die Jalousien hochgezogen waren. War die nicht vorhin weggegangen?
Julian folgte ihren Blicken. »Was ist, Mom? Hast du eine weitere Verbrecherin ausgemacht?«
»Mit der Frau, die dort wohnt, stimmt irgendwas nicht.«
»Du liest wirklich zu viele Krimis. Paps hat völlig recht, wenn er das immer wieder sagt.«
»Sie liest sie nicht nur. Sie guckt auch im Fernsehen ständig welche«, ließ sich Norbert von drinnen vernehmen.
»Ich habe ein Fernglas im Koffer.«
»Mom! Wozu das denn?«
»Dein Vater und ich reisen weiter ins Baltikum. Ich möchte an der Ostsee Vögel beobachten.«
»Aha. Vögel.«
Edelgard verschwand kurz im Wohnzimmer, um gleich danach mit dem gesuchten Gegenstand wiederzukommen. Sie setzte die Gläser vor ihre Augen und stellte sie scharf. »Das gibt’s doch nicht!«
»Was, Mom?«, fragte Julian gedehnt. »Hat sie ihre Wohnung nicht aufgeräumt? Nein, jetzt weiß ich es: Eine Leiche sitzt an ihrem Esstisch. Halt! Zwei Leichen? Präpariert und mit Gurten an ihren Stühlen befestigt!«
»Ich war mir sicher, die Frau von dort drüben auf dem Aussichtspunkt gesehen zu haben. Du weißt schon, da, wo das deutsche Paar bestohlen wurde.«
»Ja, und? Was bitte ist daran verdächtig?«
»Auf ihrem Tisch liegen unzählige Geldbörsen.«
»Sie macht vielleicht Döstädning.«
»Was soll das bitte sein?«
»Aufräumen. Sie mistet aus, was sie nicht mehr braucht. Womöglich zieht sie bald um und trennt sich von überflüssigen Sachen, die sie seit Jahren nicht in Benutzung hat. Das ist übrigens keine schlechte Idee. Sollte jeder hin und wieder machen. Es sammelt sich derart viel an. Wenn ich da an euren Keller zu Hause denke …«
»Du meinst, sie entrümpelt? Nein, das sieht für mich wirklich gänzlich anders aus. Die Frau ist eine Taschendiebin. Auf dem Tisch liegt ihre Beute. Wir müssen unbedingt die Polis verständigen.«
»Mom! Was denken die, wenn du hier ein Verbrechen nach dem anderen entlarvst?«
»Aber man kann ihr das auf keinen Fall durchgehen lassen! So etwas geht doch nicht.« Edelgard schritt unruhig auf dem Balkon auf und ab. »Jetzt habe ich eine Idee! Ihr habt doch sicherlich einen Hausmeister!«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich habe eben Rauch in der Wohnung gesehen …«
»Da ist aber nichts zu erkennen. Beim besten Willen nicht.«
»Glaub mir einfach. Da war Rauch. Ich finde es dringend notwendig, dass dort jemand nach dem Rechten sieht. Nicht auszudenken, wenn sich dort ein Schwelbrand unbemerkt ausbreitet! Das gefährdet das gesamte Haus! Es könnten Menschen sterben.«
Nur wenige Minuten nach Julians Anruf beim Hausmeister, zu dem ihn seine Mutter mit beharrlichem Drängen nötigte, fuhren Feuerwehr und Polis beim gegenüberliegenden Haus vor.
»Die sichern jetzt die Beweismittel. Die Feuerwehr kriegt die Wohnungstür rasch auf und die Leute von der Polis werden staunen, wenn sie da reingehen. Ich gehe jede Wette ein, dass die Geldbörsen des bestohlenen Paares, das wir auf der Aussichtsplattform getroffen haben, mit den anderen auf dem Tisch liegen. Na, das wird eine Überraschung für die Dame, wenn sie nach Hause kommt! Ich glaube, die ist vorhin weggegangen.«
»Könnte man so sehen. Mit der Begrüßung rechnet sie bestimmt nicht.«
»Julian, wie bist du dieser Frau eigentlich nähergekommen?«
»Äh … der dort drüben? Die kenne ich überhaupt nicht.«
Seine Mutter gab ihm scherzhaft einen leichten Klaps auf den Arm. »Du weißt schon, wen ich meine. Natürlich Frida. Erzähle mir von ihr. Mir ist klar, dass ihr zusammen arbeitet. Aber wie seid ihr ein Paar geworden? Hast du sie nach Dienstschluss auf einen Kaffee eingeladen?«
»Nicht jetzt, Mom. Mir ist momentan nicht danach. Aber was ist das eigentlich für eine Plumpsklo-Geschichte, die Paps auf der Insel angedeutet hat? Von der habe ich noch nie gehört!«
»Oh, mein Gott! Also wirklich, daran werde ich nicht so gerne erinnert. Ich erzähle dir ein anderes Mal davon.«