Читать книгу Wo verdammt ist Frau Wermes? - Claudia Tondl - Страница 6

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REPORTERDrei, zwei, eineinhalb, eins und: Aufnahme. Ich bin Hans Munk. M-U-N-K. Munk. An diesem Montagmorgen will ich Gesichter zu den Akten sehen. Ich will wissen, wie es den Menschen in den Schränken geht. Dazu befinde ich mich hier innerhalb der Glasflügeltür im grün markierten Bereich der hiesigen AMS-Geschäftsstelle. Gerade eben ist auch die letzte Reinigungskraft mit ihrem Putzwagen aus dem Bild gerollt. Der Geruch wiesenfrischen Grüns liegt in der Luft. Sonst dürfte sich die restliche Ausstattung der Beratungszone noch in der Reinigung befinden. Ah, nein, da kommt sie schon. Tipp topp. Hinter mir rollt die Informantin nun fünf Türen – Dreinullfünf, Dreinullsechs, Dreinullsieben, Dreinullneun, Dreinullelf – und ihren Helpdesk in die Szene

Guten Morgen

und fixiert alles an den dafür vorgesehen Plätzen. Jede Handbewegung sitzt. Da ist Routine im Spiel, das merkt man sofort. Alles läuft gut, hier, im obersten Stock. Wir sind vorbereitet auf den tagtäglichen Ansturm der KundInnen. Ich sehe sie bereits schon auf der anderen Seite der Glasflügeltür Position beziehen. Sie bereiten sich offensichtlich auf ein Rennen um die heißen Plätze vor. Es ist 6.14 Uhr. Schon wird gescharrt, geschnaubt und gestiert. Hier drinnen wird ein Ansturm erwartet, das spürt man ganz deutlich. Bewegung liegt in der Luft, die Atmosphäre verdichtet sich. Wie fühlen Sie sich in dieser wegweisenden Situation?

INFORMANTINUnterwegs zum Job mit dem Arbeitsmarktservice.

REPORTER6.15 Uhr. Mit dem Öffnen der Glasflügeltür schwappt unverzüglich eine Flut Menschen herein und noch ehe man sich versieht, sind bereits alle Sitzplätze besetzt. Ich schaue in die Runde und sehe Dicke, Dünne, dicht aneinander gedrängt in unterschiedlichen Farben, Neuangelegte und Zerfledderte. Tatsächlich habe ich das Gefühl, sie alle aus Frau W.s Schrank zu kennen.

Ein Mann tritt auf.

MANNGuten Tag.

INFORMANTINAls Ihre Informantin begrüße ich Sie bei Ihrer regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice. Als Dienstleistungsunternehmen am Arbeitsmarkt unterstützen wir Ihre Eigeninitiative und helfen Ihnen bei Ihrer Stellenvermittlung durch professionelle Beratung, adäquate Information, persönliche Qualifizierung und finanzielle Förderung. Ihre Nummer: soundso. Sie werden aufgerufen.

REPORTERDas Begrüßungsprozedere verläuft reibungslos und wirkt auf mich wie ein beständiger Bestandteil für unbeständige Zeiten.

Der Mann setzt sich.

MANNDer letzte freie Platz!

REPORTERIch nehme den Mann unter die Lupe. Er ist frisch rasiert. In seinen Haaren hat der Kamm tiefe Spuren hinterlassen, in seinem Gesicht das Alter. Zwei Ameisen verschwinden eilig unter seinem Hemdkragen. Seine Situation scheint umfangreich, jedenfalls zeugt seine abgegriffene Mappe von großer Last. Wird er mir ein paar Fragen beantworten? Möchte er von mir angesprochen werden? Ich höre genau hin. Ganz leise kann ich sein munteres Pfeifen hören.

MANN(Mit meinem Fuß klopfe ich sachte den Takt.)

REPORTERGerade als ich mich dem Mann für ein kurzes Interview nähern möchte, wird eine der Türen aufgerissen und ein AMS-Angestellter betritt mit einem Stapel Akten

FRANZRote Akten, es sind immer rote Akten.

REPORTERmit einem Stapel roter Akten den Wartebereich. Er ist etwas untersetzt, trägt knieschonende Hausschuhe, sein Alter lässt sich absolut nicht schätzen. Es scheint, als hätte ihn die immerwährend gleiche Aufgabe der bürokratischen Routine für immer und ewig in einem zeitlosen Jetzt eingefroren.

Türknallen.

MANNHallo Sie, Sie können mir bestimmt/sagen warum

FRANZPardon, unterwegs zum Job.

Türknallen.

REPORTERDie um mich aufkeimende Unruhe zeigt, es hätte eine brennende Frage werden können. Doch der AMS-Angestellte mit den Akten ist auch schon wieder in der nächsten Tür verschwunden. Hat er Antworten? Trägt er Verantwortung? Um das herauszufinden, muss ich wohl wie alle anderen hier warten. Etwas Zeit habe ich ja noch bis zu meinem Termin.

INFORMANTINSelbstverständlich können Sie sich die Wartezeit an unserem Samsomat verkürzen. Mit einem Tipp1 auf den Touchscreen unseres Selbstbedienungscomputers mit Karaokefunktion erhalten Sie Wissenswertes und mehr, zum Beispiel Informationen über offene Lehr- und Arbeitsstellen im In- und Ausland.

REPORTERMit Karaokefunktion?

INFORMANTINUnd Wissenswertes und mehr.

REPORTERSamsomat?

INFORMANTINDas steht für AMS-Automat, also vollautomatisches AMS. Hat mir Herr Samson erklärt.

REPORTERHerr Samson?

INFORMANTINSamsomat.

REPORTERWie funktioniert der Samsomat?

INFORMANTINMit einem Tipp2 auf den Touchscreen unseres Selbstbedienungscomputers/mit Karaokefunktion

REPORTERNun. Sehen wir uns das einmal an. Samsomat, der. Ein intuitiv bedienbares Selbstbedienungsterminal zur Anzeige freier Stellen. Karaokefunktion kann ich wie erwartet keine finden. Schade eigentlich. Dafür eine Printfunktion, die den Arbeitslosen passende Suchergebnisse ausdruckt. Gut, Samsomat, dann sage mir, wo ich mich bewerben kann. Der Computer will einiges vonmir wissen, die üblichen Standardfragen zur optimalen Filterung spezifischer Datensätze. Meine Antworten passen in den vorhandenen Stellenprofilen zu

Bitte, warten. Ich warte.

Null Stellenangebote.

Was sagt man dazu? Niemand braucht einen Qualitätsjournalisten? Nun, gut. Immerhin bin ich ja mit dieser Reportage beauftragt. Und diesen Auftrag werde ich erfüllen. Sofort mache ich mich wieder an meine qualitative Arbeit. Schließlich werde ich hier noch einiges Gehaltvolle investigieren. Doch zuerst warte ich auf meinen Termin bei Frau W. Das wird eine gute Reportage.

Frau 1 tritt auf.

INFORMANTINAls Ihre Informantin begrüße ich Sie bei Ihrer regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice. Als Dienstleistungsunternehmen/am Arbeitsmarkt

FRAU 1Papperlapapp.

REPORTERMeine erste Verwunderung weicht einem gedanklichen Blitzlichtgewitter brandaktueller Schlagwörter. Altersarmut. Altersteilzeit. Altersvorsorge. Das sind die Themen, die unser Publikum interessieren. Nun weiß ich bestimmt, es wird eine gute Reportage und die alte Dame macht in ihrer Adrettheit einen doch recht resoluten Eindruck. Ihre Handtasche trägt sie fest unter ihrem Arm geklemmt. Mit der geradezu perfektionierten Unauffälligkeit älterer Menschen schickt sie ihren prüfenden Blick durch den Raum, um feststellen zu müssen, dass

FRAU 1für mich kein Platz mehr frei ist.

REPORTER(Sie räuspert sich bestimmt.)

Die Karaokefunktion zeigt den Text an, den das Publikum chorisch spricht.

PUBLIKUMWir sind die Masse der Arbeitslosen. Wir sind viele. Wir schauen. Wir warten. Wir haben weiter nichts zu tun.

REPORTER(Sie räuspert sich noch einmal.)

Die Karaokefunktion zeigt den Text an, den das Publikum chorisch spricht.

PUBLIKUMUnser Warten besetzt die Plätze.

REPORTERIch lasse meinen Blick über die vielen stummen Gesichter der Wartenden schweifen und hoffe, dass er irgendwo auf ein aussagekräftiges Augenpaar trifft.

FRAU 1Ich stehe.

REPORTERWeiterhin reagiert niemand. Ich spüre, da muss ich dran bleiben. Also bohre ich nach und finde in der wartenden Menge bloß Distanziertheit, Unsicherheit, Beklemmung.

INFORMANTINSehr geehrte Kundinnen und Kunden. Aufgrund der derzeit auftretenden längeren Wartezeiten möchten wir Sie bitten, Ihren Sitzplatz Menschen zu überlassen, die ihn notwendiger benötigen. Wir danken für Ihr Verständnis.

MANNAls trainierter AMS-Kunde weiß ich mit bestimmten Situationen umzugehen. (Mit einem schnellen Handgriff hole ich meine mitgebrachte Zeitung aus meiner Manteltasche.)

REPORTERDer Mann vertieft sich in scheinbare Abwesenheit. Kann das als Zeichen mangelnden Miteinanders in Zeiten einer zunehmend wettbewerbsorientierten Ich-Gesellschaft gewertet werden?

Franz kommt mit einem Stapel roter Akten durch eine Tür. Türknallen.

FRAU 1Gut, dass du gerade/da bist.

FRANZSetz dich und halt deine Klappe.

FRAU 1Zuerst will ich von dir wissen, warum/du nie

FRANZScher dich doch endlich zum Teufel.

MANNHallo Sie, Sie können mir bestimmt/sagen warum

Franz verschwindet mit dem Stapel roter Akten durch eine Tür. Türknallen.

REPORTER(Fast hätte ihn die Alte noch erwischt.)

INFORMANTINDas unaufgeforderte Öffnen von Türen ist ausnahmslos Angestellten gestattet. Sie werden aufgerufen.

FRAU 1Ich protestiere.

REPORTERÜbrig bleibt ein vielstimmiges Warum. Diese Frage scheint eine gute Frage zu sein, also greife ich sie dankbar auf und frage mich ebenfalls. Warum?

Die Karaokefunktion zeigt den Text an, den das Publikum chorisch spricht.

PUBLIKUMWir warten. Wir warten und hoffen, bemerkt zu werden. Wir warten und hoffen, gebraucht zu werden. Wir wollen beteiligt sein.

REPORTERNun. Hier im sonst so mucksmäuschenstillen Wartebereich weht aktenkundig plötzlich ein anderer Wind. Der Boden beginnt zu beben, Türen klappern, das Licht flackert. Ein Sturm zieht auf.

FRAU 1Eine tiefgestrickte rechte Masche, eine Masche links. Eine tiefgestrickte rechte Masche, eine Masche links. Eine tiefgestrickte rechte Masche, eine Masche links. Eine tiefgestrickte rechte Masche, eine Masche links. Eine tiefgestrickte rechte Masche, eine Masche links. Und eine Weile so weiter.

INFORMANTINDer Kran knarrt!

REPORTERDie vielen Arbeitslosen klammern sich an ihre Mappen, halten sich an ihren individuellen Lebensläufen und Dokumenten fest und blicken in die Zukunft. Ich höre ein sausendes Geräusch, dem ein heftiger Rums folgt. Mit einem Schlag kehrt Totenstille ein. In einigen Augenpaaren flackert plötzlich Hoffnung, andere heften ihren Blick gespannt an eine der Türen. Und tatsächlich! Eine Tür

INFORMANTINTür Dreinullsechs

REPORTERTür Dreinullsechs springt auf.

INFORMANTINNummer soundso: Ihre Chance auf einen Job in Dreinullsechs.

REPORTERJemand huscht an mir vorüber und schafft es mit einem filmreifen Hechtsprung gerade noch durch die sich bereits wieder schließende Tür.

Türknallen.

INFORMANTINErfolgreich unterwegs zum Job mit Ihrem Arbeitsmarktservice!

REPORTERUnd schon sitzt die Alte auf dem frei gewordenen Platz und klappert mit ihren Stricknadeln, als wäre weiter nichts geschehen.

Die Karaokefunktion zeigt den Text an, den das Publikum chorisch spricht.

PUBLIKUMWir schauen. Wir warten. Unser Warten besetzt die Plätze.

REPORTEREs ist noch keine Stunde vergangen und die Luft hier in der grün markierten Zone ist merkbar stickig. Die fehlenden Grünpflanzen leisten einen erheblichen Beitrag. Fenster gibt es hier keine. Platzangst. Meine Linie zieht gedanklich einen Kreis durch den gegenüberliegenden Park und ich löse meinen Krawattenknoten.

INFORMANTINSie werden gebeten, Ihren Schirm aufzuspannen.

REPORTERAber draußen scheint doch die Sonne!

INFORMANTINDer wohltuende Klang des Regens beruhigt.

REPORTERTatsächlich prasseln nun für eine Weile Tropfen an die nicht vorhandenen Fensterscheiben. Die Luft klärt etwas auf. Ich atme ein. Ich atme aus.

Frau 2 tritt auf.

FRAU 2Hallo.

INFORMANTINAls Ihre Informantin begrüße ich Sie bei Ihrer regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice. Als Dienstleistungsunternehmen am Arbeitsmarkt unterstützen wir Ihre Eigeninitiative und helfen Ihnen bei Ihrer Stellenvermittlung durch professionelle Beratung, adäquate Information, persönliche Qualifizierung und finanzielle Förderung. Ihre Nummer: soundso. Sie werden aufgerufen.

FRAU 2Danke.

Dreinullfünf, Dreinullsechs, Dreinullsieben, Dreinullneun. Dreinullneun? Aber ...

INFORMANTINSelbstverständlich können Sie sich die Wartezeit an unserem Samsomat verkürzen. Mit einem Tipp3 auf den Touchscreen unseres Selbstbedienungscomputers mit Karaokefunktion erhalten Sie Wissenswertes und mehr, zum Beispiel Informationen über offene Lehr- und Arbeitsstellen im In- und Ausland.

REPORTERDie Wartenden sind nun wieder damit beschäftigt, ihrer Rolle gerecht zu werden. Die meisten Blicke fixieren dabei einen bestimmten Punkt an der Wand. Man mag träumen. Aber die quietschenden Schritte der jungen Frau verankern einen fest am grasgrünen Boden der AMS-Realität.

FRAU 2Entschuldigung, ich suche Dreinullacht. Der Empfangsschalter hat mich an Dreinullacht weiterverwiesen.

INFORMANTINDreinullacht ist übersiedelt.

REPORTEREine Lücke im System?

INFORMANTINZu wem wollen Sie?

FRAU 2Auf meiner Karte steht: Frau Wermes.

REPORTERSofort beginnt in mir ein filigranes Wir-Gefühl zu keimen. (Ich will mich der jungen Frau vorstellen.)

INFORMANTIN

Wo verdammt ist Frau Wermes?

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