Читать книгу Mami Bestseller Staffel 7 – Familienroman - Claudia Torwegge - Страница 6
Оглавление»Du bist verrückt, Julia, total verrückt!« Viktoria Fabian sah die Freundin kopfschüttelnd an.
Julia Correll streckte die schlanken Glieder in dem eleganten grünseidenen Hausanzug.
»Das mag dir auf den ersten Blick so scheinen, Vicky. Ich nehme es dir nicht übel, daß du an meinem Verstand zweifelst, aber ich werde meinen Plan durchführen.«
»Julia, ich bitte dich! Du willst ein Kind, aber keinen Ehemann, das ist… nun, du machst es dir zu einfach. So etwas geht doch nicht. Außerdem braucht ein Kind beide Eltern, und es ist egoistisch von dir, nicht zu bedenken, was du so einem kleinen Wesen vorenthalten willst!« Vicky ereiferte sich.
»Quatsch«, sagte Julia, griff zu ihren Zigaretten und zündete sich eine an. »Schau dir doch die Kinder an, die in kaputten Ehen aufwachsen. Es gibt nicht wenige, wie du weißt. Meinst du nicht, daß es da manches Kind mit nur einem Elternteil einfach besser hat? Wenn ich ein Kind habe, das seinen Vater nie kennenlernen wird, dann kann es ihn schließlich auch nicht vermissen.«
»Das ist ein Irrtum!« widersprach Vicky nachdrücklich. »Das wird ihm seine Umwelt sehr bald bewußt machen. Im Kindergarten oder spätestens in der Schule wird es dann feststellen, daß seine Spielkameraden Väter haben, und es wird dich fragen, warum es selbst keinen hat. Was willst du ihm dann antworten?«
»Die Wahrheit«, sagte Julia bestimmt. »Ich würde ihm sagen, daß ich nicht hätte heiraten wollen, weil ich glaubte, daß eine Ehe mich nicht glücklich machte, daß ich aber auf ein Kind nicht hätte verzichten wollen.«
»Und du glaubst, daß ein kleines Kind das verstehen wird?«
»Warum nicht? Kinder sind nicht so dumm, wie man immer meint. Wenn man ihnen die Dinge offen erklärt, begreifen sie sie schon.«
»Willst du nicht doch versuchen, einen Mann zu finden, den du wirklich liebst und mit dem du auch leben möchtest? Schau, wenn dir einer gut genug ist, der Vater deines Kindes zu werden, so muß er doch so viele Vorzüge besitzen, daß du es wagen könntest. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß du einen x-beliebigen Mann zum Vater deines Kindes machen wolltest.«
»Natürlich nicht«, erklärte Julia bestimmt. »Im Gegenteil, ich würde sehr genau wählen, und er müßte ganz bestimmte innere und äußere Vorzüge besitzen.«
»Ich finde es ekelhaft, wie du darüber so – so kühl reden kannst, als handele es sich um die Auswahl eines guten… na, ich sage lieber nicht, was ich meine, du verstehst es wohl auch so.«
»Allerdings«, sagte Julia und lächelte überlegen. »Genauso ist es. Ich will in diesen Mann keine Gefühle investieren, aber ihn achten können und wissen, daß er als Mensch wertvoll ist, daß mein Kind von ihm gute Erbanlagen mit auf die Welt bekäme.«
»Du redest wie ein Biologe, wie ein Vererbungsforscher, gräßlich! Wenn ich dich nicht lange genug kennen würde, liebe Julia, du wärest mir direkt unsympathisch.«
»Tue deinen Gefühlen keinen Zwang an«, entgegnete Julia nun merklich kühler. Und sie dachte, daß sie wohl besser daran getan hätte, Viktoria nicht in ihre Pläne einzuweihen.
»Sei nicht eingeschnappt«, sagte Vicky versöhnlich. »Schau, ich bin deine Freundin und werde es bleiben, aber du kannst deshalb nicht verlangen, daß ich immer alles billige, was du tust. Mit einer, die dir nach dem Mund redet, ist dir schließlich auch nicht gedient, oder? Na, siehst du. Wenn dein Entschluß feststeht, will ich jetzt meinen Protest zurückhalten und gern mit dir über die Verwirklichung sprechen, denn das wolltest du doch, nicht?«
Julia nickte.
»Wie du weißt, bin ich durch die Erbschaft meiner Großmutter nun eine vermögende Frau, frei in meinen Entscheidungen und vor allem frei von jedem beruflichen Zwang.«
»Stimmt, du könntest einem Kind eine finanziell gesicherte Zukunft bieten. Manche Eltern können das immerhin nicht, und es ist für ein Kind natürlich schon ein Plus«, gab Vicky zu. »Ich dachte allerdings, du liebtest deinen Beruf so sehr, daß du ihn nie aufgeben wolltest? Schließlich bist du eine sehr beschäftigte Schauspielerin und…«
»Vollbeschäftigt stimmt zwar«, fiel Julia ihr ins Wort, »aber keine der ersten Garnitur. Und das wünscht sich eigentlich jede in meinem Beruf. Ich habe meine Theaterengagements, mache Hörspiele im Radio und liefere Synchronstimmen für Film und Fernsehen. Man kennt meine Stimme vielleicht, mich selbst aber höchstens in ein paar Provinzstädten. Ich verzichte nicht auf großen Ruhm, wenn ich das alles aufgebe. Hundert andere springen nur zu gern für mich ein, unersetzlich bin ich also nicht. Soll ich so weitermachen, bis ich unter den komischen Alten rangiere, wo ich es doch finanziell nicht mehr nötig habe? Soll ich heiraten, um meines Geldes wegen geheiratet zu werden?«
»So wie du aussiehst, wird dich jedermann um deiner selbst wollen«, sagte Vicky neidlos und schaute
die Freundin an. Julia war eine wirkliche Schönheit! Sie war mittelgroß, besaß eine ausgezeichnete Figur und ein wunderschönes, ausdrucksvolles Gesicht mit schmaler gerader Nase, mandelförmigen dunklen Augen und einem vollen, gutgeschnittenen Mund. Aschblondes, leicht gelocktes Haar kontrastierte ganz eigenartig zu den dunklen Augen und einem auch im Winter stets leicht gebräunten Teint. »Hast ja schließlich auch vor deiner Erbschaft etliche Männer gekannt, die dich vom Fleck weg geheiratet hätten, oder?«
»Du weißt, Vicky, daß gutes Aussehen nicht immer ein Vorzug ist. Man gerät an Männer, die sich mit einem schmücken wollen wie… na, wie mit einem schicken Auto beispielsweise. Schauspielerin dazu, auch das reizt. Du hast ja teilweise meine Enttäuschungen miterlebt. Nicht jede Frau hat solch ein Glück wie du mit deinem Peter.«
»Stimmt.« Vicky nickte überzeugt, und ihr zumeist freundliches Gesicht strahlte von innen heraus. Sie war seit vier Jahren mit einem Zahnarzt verheiratet und sehr glücklich mit ihm. Peter Fabian war der Typ des ruhigen, gutmütigen Mannes, der im häuslichen Alltag seiner Frau die Führung überließ, sich und seine Aktivitäten auf den Beruf konzentrierte. Sie hatten einen kleinen Buben von drei Jahren, ein reizendes Kerlchen, keine finanziellen Sorgen, ein hübsches Haus – nichts fehlte zu ihrem Glück. Vicky war eine reizende Frau, nicht eigentlich hübsch, aber sehr sympathisch und eine aufrichtige Freundin dazu, wie Julia in den langen Jahren, da sie sich kannten, immer wieder festgestellt hatte.
»Muß es unbedingt ein eigenes Kind sein?« fragte Vicky nach einer Weile. »Es gibt doch so viele bedauernswerte Würmchen, die in Waisenhäusern ein liebearmes Leben führen. Wenn du dir nun dort ein Kind aussuchtest und zunächst in Pflege nimmst, das wäre doch auch eine Möglichkeit, findest du nicht?«
»Ich hatte es gelegentlich auch erwogen«, erwiderte Julia überraschend. »Aber dann sagte ich mir, daß ich doch eine gesunde Frau bin, die ein eigenes Kind haben könnte, und ich kam wieder davon ab.«
»Aber für dich, in deiner Lage, wäre es doch viel einfacher, zu einem Kind zu kommen, meinst du nicht auch?« beharrte Vicky.
»Deinen Thomas, den nähme ich jedenfalls sofort!« Julia lächelte.
»Siehst du, also müßte es vielleicht gar kein eigenes sein!«
»Ach, ich weiß nicht recht. Man weiß doch gar nicht, woher so ein Kind kommt. Es mag süß und hübsch sein, aber – um wieder wie ein Biologe zu sprechen, wie du vorhin so kritisiert hast – über seine Anlagen weiß man doch wenig und…«
»Aber man kann es doch erfahren. Den Jugendämtern ist doch die Herkunft eines jeden Kindes bekannt«, warf Vicky ein.
Julia sagte nichts, schaute jedoch skeptisch vor sich hin.
»Soll ich uns mal bei dem Heim anmelden, das mir bekannt ist?« Vicky ließ nicht locker.
»Ich glaube, man gibt Kinder immer nur Elternpaaren«, meinte Julia daraufhin. »Eine Adoption ist auch schwierig für Alleinstehende. Vergiß nicht, eine Schauspielerin wird oftmals noch mit einer unsoliden Person gleichgestellt, und man wird mich am Ende nicht für seriös genug befinden.«
»Na, das bliebe noch abzuwarten. Du wirkst nicht wie so ein Sexfilmsternchen, du bist eine großartige und ernsthafte Schauspielerin, eine gescheite und gewissenhafte Person, die etwas, was sie sich vorgenommen hat, auch nach besten Kräften durchführen wird.«
»Danke für die Blumen, Vickylein. Ich könnte dich direkt zu meiner Fürsprecherin machen.«
»Klar, wenn du mal eine brauchst, Peter und ich sind zur Stelle.«
Anschließend lenkte Vicky das Thema in andere Bahnen. Sie dachte, daß Julia das alles noch einmal durchdenken sollte und nicht zu etwas gedrängt werden durfte, was sie nicht wirklich wollte.
*
Die hübsche kleine Villa, die Julia in einem vornehmen, aber älteren Stadtteil bewohnte, hatte sie von ihrer Großmutter geerbt. Die alte Dame war zu ihren Lebzeiten ziemlich knauserig gewesen. Julias Berufswahl hatte sie nie gebilligt. Eine Schauspielerin galt für sie als unsolide. Da jedoch keine anderen Erben vorhanden waren, hatte sie ihr Testament schließlich doch zu Julias Gunsten verfaßt. Diese hatte das nie zu hoffen gewagt, denn die Kontakte zwischen der verschrobenen alten Frau und Julia waren weder besonders eng noch herzlich gewesen.
Doch nun gehörte ihr das schöne alte Haus, das in einem herrlichen, parkähnlichen Garten lag, dazu ein stattliches Vermögen, allerlei Beteiligungen und Aktienpakete.
Julia setzte sich in einen der modernen Sessel, die sie vor dem Fenster zu einer gemütlichen Sitzgruppe zusätzlich erworben hatte. Sie schaute hinaus in den Garten mit seinen schönen alten Bäumen, dem hoch aufgeschossenen, verwilderten Rasen. Sie rekapitulierte das Gespräch mit der Freundin und fragte sich, ob es für sie eine Lösung bedeutete, wenn sie deren Vorschlag befolgen und ein fremdes Kind zu sich nehmen würde.
Es fanden sich Für und Wider, und sie sah sich außerstande, zu einem Entschluß zu kommen. Schließlich griff sie zu einem Rollenbuch, um einen neuen Text zu lernen.
»Du willst wirklich mit mir ein Kinderheim aufsuchen?« sagte Vicky erfreut. »Prima, Julia, daß du dich dazu entschlossen hast. Es ist ein Versuch, und wir werden ja sehen, wie du hinterher denkst. Ich werde mich in dem mir bekannten Heim sofort um einen Termin bemühen. Wann paßt es dir denn am besten? Gleich in den nächsten Tagen nachmittags? Gut, ich melde uns an.«
Und dann war es soweit. Beide Frauen waren etwas nervös, als sie schließlich vor der Tür des Heimes standen und auf Einlaß warteten. Sie wurden in das Büro der Heimleiterin geführt und machten sich bekannt. Frau Beier, so hieß die Dame, war eine sympathische Endvierzigerin, graumeliert und mütterlich-rundlich.
»Sie wünschen ein Kind zu adoptieren?« fragte sie, nachdem man Platz genommen hatte, und schaute unwillkürlich Vicky an.
»Nein, ich«, sagte Julia und bekam einen erstaunten Blick, der an ihrem eleganten Kleid, das aus einer exquisiten Boutique stammte, herunterging.
»Aha. Und Ihr Gatte wäre einverstanden?« fragte sie dann.
Julia und Vicky wechselten einen Blick.
»Ich bin nicht verheiratet«, erklärte Julia wahrheitsgemäß.
Frau Beiers Gesicht bekam sogleich einen ablehnenden Zug.
»Ja, so… also wissen Sie, wir sehen so, im allgemeinen lieber, wenn unsere Kinder in kompletten Familien oder jedenfalls bei Ehepartnern unterkommen. Es ist ja elterliche Liebe, die ihnen fehlte, die sollten sie durch eine Adoption möglichst bekommen. Einzelpersonen – ganz gleich ob Mann oder Frau – bekommen sehr schwer die Genehmigung zur Adoption. Ich will sagen, bei ihnen wird doppelt kritisch geprüft, ob sie fähig und in der Lage sind, ein Kind mit allen Verantwortungen aufzuziehen. Darf ich fragen, was für einen Beruf Sie haben?«
»Ich bin Schauspielerin«, antwortete Julia, und ihre Stimme klang ein wenig aggressiv, weil sie die Reaktion der Heimleiterin schon voraussah. Und richtig, deren Miene wurde gleich noch um einiges bedenklicher.
»Schauspielerin – oh – aber – da sind Sie doch viel fort und können sich gar nicht so um ein Kind kümmern«, wandte sie ein.
Siehst du, stand in Julias Blick zu lesen, mit dem sie Vicky anschaute, siehst du, man will mich ja gar nicht!
»Meine Freundin wird ihren Beruf aufgeben, wenn sie ein Kind finden würde, das sie zu sich nehmen möchte«, sagte Vicky schnell und fügte auch hinzu, daß Julia in besten Verhältnissen und in einem schönen Haus lebte und einem Kind alles bieten könnte, was es zu seinem Wohlbefinden und für seinen späteren Ausbildungsweg benötigte.
Julia fand, daß Vicky zu ausführlich wurde und sie geradezu anpries. War das denn nötig? Konnten die es sich hier leisten, voreingenommen zu sein, wenn sie so viele Kinder hatten, die in Heimen verkümmerten? Julia dachte nicht daran, daß sie ungerecht urteilte. Man mußte schließlich bestrebt sein, jedes Risiko für die Kinder auszuschalten, denn eine Sache, die schiefging, ging ja immer zu Lasten der bedauernswerten Kinder.
Julia setzte zum Reden an, aber Vicky gab ihr einen kleinen Stubs mit dem Fuß. Zu offen war in ihrem Blick zu lesen, was kommen mußte.
»Könnten wir uns wohl einmal hier umsehen, damit meine Freundin erst einmal eine Vorstellung von den Kindern bekommt, die hier bei Ihnen leben?« fragte Vicky.
Frau Beier nickte. »Sicher, das können Sie natürlich gern.« Und sie dachte bei sich, daß die elegante Schauspielerin dann vielleicht ohnehin von ihren Plänen absehen würde. Es war einfach, sich vorzustellen, daß man ein Kind zu sich nahm, aber wenn dann Vorstellungen zu Personen wurden und alles sehr greifbar, schreckten manche doch zurück.
Die drei Frauen erhoben sich.
»Wir haben jetzt Freizeit«, erklärte Frau Beier, während sie den beiden anderen voran den Flur entlangging. »Da finden Sie die Kinder bei ihren Lieblingsbeschäftigungen im Haus und Garten.«
Sie öffnete eine Tür.
»Hier ist das Lesezimmer für unsere kleinen Leseratten«, sagte sie und ließ Julia und Vicky eintreten.
Die kleine Bibliothek wies wohlgefüllte Regale an den Wänden auf, und in der Mitte des Raumes war eine Sitzgruppe, wo einige Kinder saßen. Sie erwiderten den Gruß der beiden Damen und schauten sie neugierig an. Sie waren es gewohnt, daß hin und wieder Besucher kamen, aber immer wieder bemächtigte sich ihrer eine große Spannung. Es handelte sich ja meistens um Adoptionswillige, und jedes der Kinder fragte sich erwartungsvoll, ob jemand von ihnen und wer dann ausgewählt werden würde. Die Mehrzahl aller Heimkinder wünschte sich, adoptiert zu werden, sie träumten von Eltern, die sie liebten, und ihnen die fehlende Nestwärme gaben.
Frau Beier stellte die Kinder vor.
»Das ist unsere Marina«, sie wies auf das zunächst sitzende, etwa zwölfjährige Mädchen, das nun aufstand, bis über beide Ohren rot werdend. »Sie ist ein lesewütiges Mädchen, nicht wahr, Marina, bald hast du alle unsere Bücher ausgelesen?« Sie strich dem blonden Mädchen mit den kurzen Haaren und den blauen Augen über den Schopf.
Marina nickte schüchtern.
»Und da ist Robby, unser Wildfang!« Sie zeigte auf einen Zehnjährigen mit frechem Lausbubengesicht, der nun sein Buch beiseite legte.
»Ist das jemand, der ein Adoptionskind sucht?« fragte er und schaute Julia mit großen Augen an. War die aber mal hübsch! Und so schick! Mensch, mit solcher Mutter könnte man aber die anderen schön neidisch machen! Ein hungriger Ausdruck trat in seine Augen, und seine Keßheit, die für ihn ein Schutzpanzer war, schwand dahin. So eine nahm ihn ja doch nicht! Die suchten immer blondgelockte kleine Mädchen von zwei bis vier Jahren, die sie verwöhnen konnten wie kleine Prinzessinnen.
»Hier sind bloß Große«, erklärte Robby altklug. »Die kleinen niedlichen Kinder sind unten im Sandkasten.«
Julia als Schauspielerin hatte ein feines Ohr für menschliche Zwischentöne, und sie empfand die Resignation des Jungen, die aus seinen Worten sprach. Die Hoffnungslosigkeit, hier je herauszukommen.
Julia lächelte ihn an.
»Na, so schrecklich alt ist man mit Zehn ja wohl auch noch nicht, finde ich.«
»Aber die meisten suchen Kleine, nicht wahr, Frau Beier?« wandte er sich an die Heimleiterin.
Die lächelte auch bedauernd.
»So ist es leider. Diese Erfahrung können wir unseren größeren Kindern leider nicht ersparen.«
»Die denken, wir sind frecher«, warf Robby ein und zog sich tiefsinnig am Ohrläppchen.
»Was leider manchmal auch stimmt, sei ehrlich«, Frau Beier lächelte. »Und nun wollen wir noch zu den anderen hinuntergehen«, sagte Frau Beier und öffnete die Tür.
Während Julia hinausging, schaute sie sich noch einmal um, und ihr Blick traf den von Robby. Nun geht sie wieder, ich hatte ja recht, so glaubte sie deutlich darin zu lesen. Irgendwie gab es ihr einen Stich.
Sie sahen noch ungefähr vierzig Kinder, kleine und größere. Reizende Kinder waren dabei, besonders bei den Zwei- bis Fünfjährigen.
»Schau dir die an«, flüsterte Vicky Julia bei einer süßen Dreijährigen zu. »Ist die nicht zum Fressen?«
Julia nickte zwar, aber es war ganz sonderbar, sie mußte an den kleinen Lausbuben im Lesezimmer denken und wie er seine Meinung wieder bestätigt sehen würde, wenn auch sie, wie anscheinend die meisten, sich solch einen hübsch anzusehenden Fratz heraussuchen würde.
»So, nun haben Sie alle gesehen«, sagte Frau Beier, als sie zuletzt noch im Werkraum gewesen waren, wo die Kinder malten und bastelten. »Sie sehen, wir haben hier einen Querschnitt durch alle Altersklassen.«
»Sind alle zur Adoption freigegeben?« fragte Vicky sachlich.
»Nein, natürlich nicht. Es sind die sogenannten Scheidungswaisen darunter, die natürlich noch Eltern haben und nur wegen gewisser Umstände hier sein müssen. Und es gibt auch Mütter, die sich zwar niemals um ihre Kinder kümmern, dennoch keine Adoptionserlaubnis erteilen.«
»Und der kleine Robby vom Lesesaal?« fragte Julia. »Was ist mit dem?«
Erstaunt schaute Frau Beier sie an. Gerade von ihr hatte sie gemeint, wenn sie sich überhaupt für ein Kind interessierte, dann gewiß für eines der niedlichen kleinen Mädchen.
»Robby ist freigegeben. Seine Mutter hat ihn bereits unmittelbar nach der Geburt fortgegeben.«
»Seine Mutter?«
»Robby ist ein uneheliches Kind. Seine Mutter ist…« Frau Beier unterbrach sich. »Ja, interessieren Sie sich denn ernsthaft für ihn, Frau Correll?«
Während sie nickte, wurde es Julia erst klar bewußt.
»Ja«, sagte sie mit fester Stimme.
Auch Vicky sah sie verwundert von der Seite an, da sie ähnlich wie Frau Beier vermutet hatte.
»Dann wollen wir noch einmal in mein Büro gehen«, bat Frau Beier, und ihre Stimme klang plötzlich viel freundlicher.
Als sie dort wieder Platz genommen hatten, holte Frau Beier eine Akte hervor.
»Also, Robert ist der Sohn einer Tochter aus sogenanntem ›guten Hause‹. Eine Studentenliebelei, die nicht ohne Folgen blieb. Es war schon allerhand, daß dieses Mädchen nicht den üblichen Weg beschritt und eine Abtreibung einleitete, sondern das Kind bekam. Dann bestanden ihre Eltern darauf, daß sie es gleich nach der Geburt zur Adoption freigab. Die Schande, die vertuscht werden mußte, Sie verstehen? Seitdem ist Robby in zwei Heimen gewesen und seit einem Jahr bei uns. Zuvor war er schwierig, denn es waren große Heime, und man konnte den einzelnen Kindern dort natürlich weniger gerecht werden. Seit er bei uns ist, ist es viel besser mit ihm geworden. Er hat hier Kontaktpersonen, die ihm näherstehen als in einem Massenbetrieb, und das hat ihm sehr geholfen. Robby ist sehr liebebedürftig und versteckt dieses Gefühl oft unter Ruppigkeit und Ungezogenheit. Ich würde ihn nur jemandem geben, der ihm viel Wärme und Geborgenheit vermitteln könnte und vielleicht auch pädagogische Erfahrungen hat. Es ist für jedes Kind ein Schock, wenn es nach der Probezeit, die wir Adoptiveltern und Kindern zunächst geben, wieder ins Heim zurück muß, weil es halt nicht geklappt hat. Aber dem innerlich so empfindsamen Robby möchte ich das nicht zumuten.«
»Er wünscht sich sehr, adoptiert zu werden, nicht?« fragte Julia.
»Ja, mehr als alle wohl. Er hofft jedesmal aufs neue, wenn Leute kommen, und weiß doch schon aus der Erfahrung seines Heimlebens, daß nur wenige eine Chance haben und ältere Kinder wie er jetzt kaum noch.«
Julia sah die Heimleiterin offen an.
»Ich war skeptisch, als ich hierherkam, ich gebe es offen zu. Meine Freundin…«, sie schaute zu Vicky hin, »hat mich mehr oder weniger dazu überredet. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es ein Kind geben würde, von dem ich mich auf den ersten Blick angesprochen fühlte. Ich bin selbst überrascht, daß es so ist, aber Robby… er gefällt mir.«
»Frau Correll, das ist mehr, als ich erwartet habe, viel mehr, um auch offen zu sein. Aber…« Frau Beier zögerte, »Robby ist auch mir ans Herz gewachsen, verstehen Sie? Trotz seiner Schwierigkeiten, gerade deswegen möchte ich, daß mit ihm nicht experimentiert wird, daß gerade er sich nicht falschen Hoffnungen hingibt.«
»Ich verstehe Sie«, sagte Julia spontan. »Als ich hinausging und mir war, als läse ich bereits Enttäuschung in seinen Augen, da… da wurde mir ganz eigenartig. Ich empfand deutlich, daß man den Jungen einfach nicht enttäuschen dürfte.«
»Sehen Sie. Und deshalb möchte ich Sie bitten, das alles noch einmal gründlich zu überschlafen. Wenn Sie nach ein paar Tagen noch immer der Meinung sind, daß Sie mit dem Jungen Kontakt aufnehmen wollen, dann rufen Sie mich an und wir können es erst einmal einrichten, daß Sie sich kennenlernen. Im allgemeinen halten wir es so, daß die interessierten Eltern die Kinder mal über das Wochenende zu sich einladen oder auch mehrmals, daß dann, wenn sich das als positiv erweist, eine Übernahme des Kindes in Pflege vereinbart wird. Nach oder während dieser Zeit können dann die Adoptivanträge gestellt werden.«
Julia nickte. Das war ein akzeptabler Vorschlag.
»Gut«, sagte sie und erhob sich, »das ist mir recht. Dann darf ich Ihnen einstweilen für Ihre Mühe danken?«
Sie verabschiedeten sich, und Vicky und Julia verließen das Haus.
»Ich bin sprachlos«, sagte Vicky, als sie wieder in Julias Wagen stiegen. »Ehrlich, Julia, ich hätte nicht gedacht, daß du dich überhaupt für ein Kind erwärmen könntest, voreingenommen wie du schließlich warst. Und nun noch dazu für diesen vorlauten kleinen Jungen.«
»Ich versteh’s selbst nicht so ganz«, sagte Julia nachdenklich und vergaß ganz, den Zündschlüssel einzustecken. »Aber der Blick des Jungen geht mir nicht aus dem Sinn. So hoffnungsvoll und resigniert zugleich – ich fühlte mich so angesprochen davon.«
Als Julia an diesem Abend auf der Bühne stand, fühlte sie, daß sie nicht gut war, und nur ihre Routine half ihr, einigermaßen über die Runden zu kommen.
*
Drei Tage später war sich Julia darüber klargeworden, daß sie das Experiment wagen und Robby zu sich nehmen wollte. Sie zögerte nicht, ihren Entschluß in die Tat umzusetzen, indem sie wieder zum Heim fuhr, diesmal aber allein.
Frau Beier zeigte sich überrascht. Sie hatte geglaubt, daß Julia sich nicht mehr melden würde, daß das Ganze die Laune einer etwas exaltierten Schauspielerin gewesen war.
»Gut«, erklärte sie jedoch freundlich, nachdem sie Julias Begründung für ihren Entschluß angehört hatte, »dann würde ich vorschlagen, daß Sie den Jungen an diesem Wochenende einmal zu sich holen, so wie wir es hier im allgemeinen ja handhaben.«
»Das ist mir recht.« Julia nickte. »Darf ich es dem Kleinen sagen? Ich meine, würden Sie erlauben, daß ich ihn selbst einlade?«
»Aber natürlich!« Frau Beier griff zum Haustelefon und bat, daß man ihr Robert Hansen herüberschickte.
Wenig später klopfte es an der Tür. Recht zaghaft, wie es Julia schien. Und ebenso zaghaft öffnete sich nach Frau Beiers »Herein!« dann die Tür.
»Jetzt hat er sicher ein schlechtes Gewissen«, raunte Frau Beier Julia lächelnd zu. »Meistens bedeutet es, daß er irgend etwas ausgefressen hat, wenn ich ihn allein zu mir rufe. Sie wissen ja, er ist nun mal ein Lausbub.«
Julia nickte und schaute dem Jungen, der nun eintrat, mit großen Augen entgegen. Robby entdeckte sie nicht gleich.
»Ich sollte kommen?« fragte er kleinlaut und sah Frau Beier mit so unverkennbar schlechtem Gewissen an, daß Julia unwillkürlich leise lachen mußte und damit ihre Anwesenheit verriet.
Der Junge fuhr herum, und nun war es an ihm, mit runden Augen auf die fremde junge Frau zu schauen, die ihm sogleich bekannt vorkam.
»Robby, das ist Frau Correll«, stellte Frau Beier vor, »würdest du sie bitte begrüßen?«
Robby marschierte auf Julia zu und machte eine zackige Verbeugung, die ein wenig vom Drill des Heimes erkennen ließ.
»Guten Tag«, sagte er, und sein sommersprossiges Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Frau Correll ist deinetwegen hier, Robby«, erklärte Frau Beier.
Robby, der sonst so helle war, konnte sich einfach nicht vorstellen, daß das, was er in seinem kleinen Herzen so heiß ersehnte, wirklich eingetreten war: nämlich, daß es tatsächlich einen Menschen gab, der an ihm Interesse nahm!
»Wollen Sie mich etwa adoptieren?« fragte er, das Wort, das Heimkindern so geläufig ist, ohne Stocken herausbringend.
»So weit wollen wir noch nicht gehen, Robby«, schaltete sich Frau Beier in seine in ihren Augen schon zu weit gespannte Erwartung. »Du weißt ja, daß man das nicht gleich so sagen kann, hast es an anderen Kindern erlebt, daß es nicht immer zur Adoption kommen kann, wenn die Leute, die wegen eines Kindes zu uns kommen, und die Kinder keinen Kontakt bekommen. Das ist…«
»Ich weiß, dann ist es wie bei Andreas, den haben sie wieder fortgeschickt«, unterbrach Robby sie altklug.
Es gab Julia einen Stich, wie der kleine Junge das aussprach. Was für Erfahrungen mußten diese bedauernswerten Kinder sammeln! Nicht nur durch eigene Erlebnisse, sondern auch durch die der Schicksalsgefährten. Wenn eines von ihnen wieder zurückgeschickt wurde, weil es aus irgendwelchen Gründen nicht mit den Pflegeeltern zurechtkam, so war das im Grunde wohl für alle anderen wieder eine negative Erkenntnis! Und Julia schwor sich in dieser Minute, alles zu tun, damit dieser kleine Junge in seinen Erwartungen nicht enttäuscht wurde!
»Du weißt ja, daß wir deswegen erst einmal Besuche zum Kennenlernen verabreden und dann eine Probezeit. Letztere gilt nicht nur für die künftigen Eltern, sondern auch für die Kinder, wie du weißt. Auch die Kinder sollen das Gefühl haben, daß sie die Eltern liebgewinnen können. Man muß zusammenpassen, nicht wahr? Wenn man jemanden auf den ersten Blick gern zu haben glaubt, so muß das noch nicht heißen, daß man gut miteinander auskommt. Würdest du Frau Correll denn gern besuchen?«
Robby, der Julia unentwegt gemustert hatte, nickte zaghaft. Die fremde junge Frau gefiel ihm sehr gut, er war auch schon ein ganz klein wenig Mann, auf den Frauenschönheit nicht ohne Wirkung blieb. Aber sie war sehr fein, und er war nicht sicher, ob sie nicht furchtbar etepetete sein würde. Womöglich liebte sie Kinder, die immer fein angezogen sein mußten, sich nie schmutzig machten und in der Schule zu den Klassenbesten gehören mußten. Besonders das letztere war bei Robby nicht der Fall. Er war zwar von natürlicher Intelligenz, aber das Heimleben hatte seine Spuren hinterlassen. Wie alle lag er hinter denen, die aus einer intakten Familie kamen, an Leistung zurück.
Julia war ein wenig enttäuscht. Sie hatte mehr Begeisterung erwartet, sie konnte ja nicht wissen, was in Robby vorging.
»Ich hole dich am Wochenende, und wir werden es uns richtig gemütlich machen, ja?« sagte sie trotzdem herzlich und lächelte ihn aufmunternd an.
Richtig gemütlich machen, das bedeutete für viele auch nicht das gleiche, wie Robby bereits erfahren hatte. Und so ließ er jetzt auch nur ein vorsichtiges »Hm« hören.
»Gut, Robby, dann kannst du jetzt wieder gehen«, sagte Frau Beier, für die seine Haltung nicht ungewöhnlich war.
»Am Samstag habt ihr ja keine Schule, und Frau Correll holt dich schon morgens ab.«
Robby schob zur Tür.
»Willst du nicht auf Wiedersehen sagen?« fragte Julia etwas betreten.
Er machte kehrt, kam zu ihr und gab ihr seine Hand.
»Also auf Wiedersehen«, sagte er, und da fiel ihm plötzlich etwas ein. »Erlaubt denn Ihr Mann auch, daß ich komme?« Meistens kamen ja die Ehepaare zusammen hierher, um sich ihre künftigen Kinder auszusuchen. Er war zunächst so überrascht und von Julias Aussehen so beeindruckt gewesen, daß er es fast vergessen hatte.
»Ich – ich habe keinen Mann, Robby«, gestand Julia fast ein wenig verlegen.
»Nein?« fragte er äußerst verwundert und schaute Frau Beier an. »Ich dachte immer…«
»Ja, im allgemeinen kommen Eltern zu uns«, beantwortete diese seine Frage, »aber es gibt auch Ausnahmen, da möchte jemand ein Kind haben, ohne verheiratet zu sein. So ist das bei Frau Correll.«
»Stört es dich, daß ich keinen – keinen zukünftigen Vater aufzuweisen habe«, versuchte Julia es ins Scherzhafte zu ziehen.
Robby überlegte ernsthaft und zog seine runde Kinderstirn in angestrengte Dackelfalten. Ein Vater gehörte natürlich zu seinem Elternbild, zu seinen geheimen Wünschen. Manchmal war der ganz praktisch, er wußte es von seinen Schulkameraden. Der spielte mit einem Fußball und wenn einen einer mal verhauen wollte und man konnte mit seinem Vater drohen, wie zum Beispiel der schwächliche Christoph in seiner Klasse, der einen hünenhaften Vater hatte, und bei dem selbst die größten Rowdies vorsichtig waren. Und dann hatten sie meistens Autos, diese Väter.
»Na ja«, sagte er etwas gönnerhaft, »Sie können ja auch nichts dafür, wenn Sie keiner gewollt hat, nicht? Und vielleicht finden wir ja auch noch einen.«
Julia und Frau Beier konnten nicht anders, sie mußten herzlich lachen.
»Ich… danke dir für dein Verständnis«, brachte Julia schließlich heraus. »Und wenn du mir sogar suchen hilfst, wenn wir zwei uns gut verstehen, dann… also, dann bin ich sehr froh.«
»Ich mag ihn, er ist ein drolliges Kerlchen«, sagte Julia spontan.
»Das ist er«, bestätigte Frau Beier es. »Aber bedenken Sie, daß Robby eben trotzdem sein Leben lang in Heimen war und zu vielen Dingen kein reales Verhältnis haben kann. Er ist auch oft verschlossen und nicht immer leicht durchschaubar.«
»Warum sollte er keine Fehler haben«, entgegnete Julia ruhig. »Die haben wir schließlich alle, und ich weiß ja von vornherein, warum manche bei ihm vielleicht stärker auftreten als bei Kindern aus normalen Familien. Ich werde mein Bestes tun, Frau Beier, bitte, glauben Sie mir.«
Diese lächelte. »Sind Sie eigentlich an diesem Wochenende spielfrei, Frau Correll?« fragte sie dann wie beiläufig.
»Selbstverständlich«, nickte Julia, schnell begreifend, worum es ihr ging. »Ich bin ganz für Robby da. Ich habe ja meine Tätigkeit schon stark eingeschränkt und bin nicht mehr fest engagiert. Sollte ich Robby zu mir nehmen, dann höre ich wahrscheinlich ganz mit dem Theaterspielen auf, ich bin ja nicht darauf angewiesen, wie Sie wissen.«
»Ja, schon. Finanziell brauchen Sie es nicht. Aber würden Sie denn für immer auf Ruhm und Beifall verzichten können?« fragte Frau Beier zweifelnd. »Es mag Ihnen jetzt ernst sein mit Ihrem Entschluß, aber oft genug hört man, daß sich Schauspieler zurückziehen, zum Beispiel, wenn eine Frau heiratet oder aus sonstigen Gründen, und nach einiger Zeit vermissen sie das alles mehr, als sie gemeint hatten. Es wäre nicht gut für ein Kind, dann so am Rand zu leben. Deswegen wird es nicht leicht für Sie sein, eine Adoption durchzubringen, weil viele Leute so denken wie ich.«
»Aber das kann doch in jeder anderen Familie auch ähnlich sein«, widersprach Julia heftiger als sie wollte. »Anfangs kümmert man sich um das Kind, und dann zieht man wieder andere Interessen oder Berufliches vor. Warum glaubt man immer, wir Schauspieler sind allesamt leichtlebig und locker und man kann ihnen nicht trauen?«
»Weil dieses Leben eben ein unbeständigeres Leben mit sich bringt und Versuchungen und Gefahren, denen normale Sterbliche weniger ausgesetzt sind«, sagte Frau Beier gelassen. »Sie müssen meine Einwände nicht persönlich nehmen, Frau Correll. Irgend etwas habe ich übrigens bei allen Adoptivwilligen auszusetzen«, lächelte sie dann. »Wir müssen kritisch sein und auf alles hinweisen, verstehen Sie doch. Es geht um die Kinder, aber auch um die Eltern.«
»Sie haben recht«, gab Julia zu und seufzte ein wenig. »Aber ich werde Sie schon überzeugen.«
»Es sollte mich in Robbys und Ihrem Interesse herzlich freuen«, sagte die Heimleiterin und erhob sich.
Julia stand auf.
»Am Samstagmorgen komme ich also. Ist zehn Uhr recht?«
»Ja. Robby wird fertig sein.«
Sie verabschiedeten sich voneinander, und Julia spürte, daß Frau Beier schon wesentlich aufgeschlossener war. Froh, im Herzen die besten Vorsätze, fuhr sie nach Hause.
*
Robby war an diesem Samstagmorgen der Mittelpunkt unter seinen Freunden im Heim. Sie umstanden ihn, wie er abholbereit in der großen Diele neben seiner Plastiktasche stand, in der sich Nachtzeug und Zahnbürste befanden.
»Vielleicht kommt sie gar nicht, deine Schauspielerin«, orakelte Michael, ein rundlicher Zwölfjähriger, und eine Spur Schadenfreude lag in seinem Ton.
»Klar, die kommt bestimmt!« versicherte Robby laut, und ein wenig mußte er damit seine eigenen leisen Zweifel übertönen. So konnte er es ja selbst noch nicht glauben, daß er zu den Auserwählten gehören sollte. Und noch dazu von einer so außergewöhnlichen Frau!
Robby zog aufgeregt an seinem neuen Pullover herum und starrte auf die Tür, die sich eine Minute später öffnete. Es war wirklich Julia, die eintrat, ihn gleich entdeckte und fröhlich zuwinkte.
Dann begrüßte sie als erste Frau Beier, bevor sie Robby die Hand gab. »Bist du fertig?« Gerührt bemerkte sie, wie fein man den Kleinen gemacht hatte. Jedenfalls für Heimbegriffe. Julia selbst wußte schon, daß sie den kleinen Buben ganz anders kleiden würde und daß sein schönes dunkles Haar ganz gewiß nicht zu einer schmalzigen Wassertolle gekämmt werden durfte. Aber soweit waren sie ja noch nicht.
»Wann soll Robby wieder hier sein?« fragte sie Frau Beier.
»Morgen abend um sieben, bitte«, erklärte diese lächelnd. »Damit ihm noch ein bißchen Zeit bleibt, den anderen zu berichten«, fügte sie hinzu. Denn gewöhnlich hatten die kleinen Ausflügler so viel zu erzählen, daß die Nachtruhe in Gefahr geriet.
Julia und Robby verabschiedeten sich und verließen das Heim. Stumm trottete Robby neben Julia her, als sie durch den Garten gingen, und erst auf der Straße, wo Julia der Einfachheit halber geparkt hatte, erkundigte er sich, wo sie denn wohnte.
Julia blieb neben ihrem orangefarbenen Sportwagen stehen und lächelte. »Es ist ein weiter Weg, ich wohne am anderen Ende der Stadt, aber wir müssen ja nicht laufen.«
»Ist – ist das etwa Ihr Auto?« fragte Robby verblüfft.
»Ja. Gefällt es dir wenigstens?«
»Mensch! Ist das ein Schlitten! Und ich dachte immer, so was fahren bloß Männer.«
»Tja«, lachte Julia, »du siehst, da hast du dich gewaltig geirrt. Komm, steig ein und überzeuge dich selbst, ob ich meinen Flitzer fahren kann!«
Sie schloß die Tür zum Beifahrersitz auf, und Robby ließ sich ihre Aufforderung nicht zweimal sagen. Innen schaute er neugierig um sich und konstatierte als erstes, nachdem Julia neben ihm saß: »Zweihundert Stundenkilometer fährt der, ist das ’ne Wucht!«
»So steht es jedenfalls auf dem Tachometer«, sagte Julia, »aber da darfst du ein paar Abstriche machen. Hundertachtzig ist auch schon ganz schön schnell, meinst du nicht?«
»Klar, das reicht auch«, erwiderte Robby, und Julia amüsierte sich über seinen fast tröstenden Ton.
Als sie Robby anschnallen wollte, murrte er ein bißchen.
»Das sieht so ängstlich aus«, meinte er.
»Quatsch!« erklärte Julia energisch. »Dumm ist es einfach, wenn man bei einer harten Bremsung seinen Kopf mit der Scheibe Bekanntschaft machen läßt. Meiner ist mir jedenfalls dafür zu schade. Weißt du, es gibt leider viele leichtsinnige Autofahrer, die daran schuld sind, daß unsereiner ganz plötzlich bremsen muß, und schon ist das Unglück passiert. Die Dummen in jedem Fall sind die, die sich nicht angeschnallt haben.«
Und Robbys Antwort freute sie sehr, sagte sie ihr doch, daß man – wenn man einem Kind eine vernünftige Erklärung gab, auch mit seinem Verständnis rechnen konnte. Das war ein Prinzip, das sie sich weiterhin zu eigen machen wollte!
»Na ja, da haben Sie wohl recht«, meinte er altklug und ließ sich zeigen, wie man den Haltegurt vorschriftsmäßig anlegte. Auf der Fahrt durch die verkehrsreichen Großstadtstraßen beobachtete sie ihren kleinen Beifahrer gelegentlich verstohlen. Wie gespannt er dasaß und wie stolz! Heimkinder haben nun einmal selten Gelegenheit zum Autofahren, und dann mit solch einem Auto! Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er sich wie ein kleiner König fühlte. Aber dann dachte sie daran, daß so etwas seine Gefühle zu ihr beeinflussen könnte, und sie fragte sich, ob das gut war. Am Ende, dachte sie, würde er sie nur um ihres schönen Wagens wegen mögen? Doch dann verwarf sie das rasch wieder. Es half ihr vielleicht, seine Zuneigung schneller zu gewinnen, aber am Ende blieb doch nur Echtes ausschlaggebend, und das würde sie schon fühlen.
»Müssen wir schon zu Ihnen nach Hause fahren?« erkundigte er sich nach einer Weile, und sein Wunsch, noch mit dem schönen Auto herumzufahren, sprach nur zu deutlich aus dieser Frage.
»Nun gut, wir können noch einen kleinen Abstecher auf die Autobahn machen, wenn du willst«, lächelte Julia.
Und ob Robby wollte!
So bog Julia ab und folgte den Schildern, die zur Autobahn wiesen. Als sie schließlich auf das breite graue Band eingerollt waren und mit höherer Geschwindigkeit dahinbrausten, war Robby hell begeistert.
»Das ist toll!« sagte er aus tiefstem Herzensgrund, und man hatte den Eindruck, daß er am liebsten bis ans Ende der Welt gefahren wäre.
»So, genug, jetzt fahren wir zu mir«, sagte Julia nach einer halben Stunde, und es kam auch kein Widerspruch, was sie Robby hoch anrechnete.
»Wohnen Sie in einem Hochhaus?« wollte Robby wissen, als sie durch die Wohnstraße eines neuen Viertels fuhren.
»Nein, so hoch hinaus komme ich nicht. Ich habe von meiner Großmutter ein schönes älteres Haus geerbt, das ich nun bewohne.«
»Ganz allein?« staunte Robby.
»Ja. Ich habe nur eine Haushälterin, das ist die Frau Schütterle, die du gleich kennenlernen wirst, die wohnt noch bei mir. Sie hatte zuletzt meine Großmutter versorgt, und ich habe sie nach deren Tod mit übernommen. Das ist ganz praktisch, denn so ein großes Haus mit einem großen Garten macht viel Arbeit, und ich hatte ja immer noch meine Arbeit nebenbei.«
Robby schwieg, bis sie wenig später vor der vornehmen alten Villa in der Uhlandallee 17 hielten.
»So, hier ist es. Komm, steigen wir mal aus«, sagte Julia.
»Ist das ein großes Haus, fast so wie unser Heim«, stellte Robby fest.
Seine wachen Augen nahmen auch innen alles auf. Unaufhörlich gingen sie herum und schienen alles zu erfassen: die elegante, wenn auch zum Teil altmodische Einrichtung mit den dicken Teppichen, die vielen Blumen überall, den festlich gedeckten Tisch im Eßzimmer.
»Hat einer Geburtstag?« fragte er, als Julia mit ihm eintrat.
»Du, wenn du so willst«, sagte Julia. »Es ist doch dein erster Tag in diesem Haus, und ich wünsche mir und dir, daß du oft und gern herkommen wirst in der nächsten Zeit.« Es klang ein bißchen feierlich, und sie wollte ja keine unnatürliche Stimmung aufkommen lassen. »Und nun laß sehen, ob dir schmeckt, was Frau Schütterle Gutes gekocht hat.«
Frau Schütterle brachte gebratenes Hähnchen und Pommes frites, Salat und Gemüse.
»So, junger Mann«, sagte sie, als sie die Platten auf dem Tisch niedergesetzt hatte, »habe ich wohl deinen Geschmack getroffen? Fräulein Correll hat allerdings bestimmt, was ich kochen sollte.«
»Mein Lieblingsgericht!« sagte Robby, und seine Zunge glitt begehrlich über die Lippen.
Julia und Frau Schütterle lachten.
»Sehen Sie, ich dachte es mir«, sagte Julia. »Alle Kinder mögen das gern. Na, dann greif mal zu, Robby.«
Er war nicht zimperlich, sondern häufte sich seinen Teller ordentlich voll, als befürchtete er, jemand könne ihm etwas wegessen.
»Schaffst du das auch?« erkundigte sich Julia erheitert.
Er brachte seine Riesenportion wirklich hinunter, auch wenn es zuletzt langsamer ging. Julia selbst hatte nur wenig gegessen, sie achtete streng auf ihre Linie.
»Sind Sie denn auch satt?« fragte Robby verwundert, als sie ihr Besteck zur Seite legte.
»Ja, ich esse nicht so viel, ich muß schlank bleiben, weißt du.«
»Ich finde, Sie sind viel zu dünn«, meinte Robby unbekümmert. »Vielleicht finden Sie deshalb keinen Mann?«
»Dieser Junge«, kicherte Frau Schütterle, die immer mit Julia zusammen aß, so auch heute.
Julia lachte. »Das glaube ich nicht, Robby, die meisten von ihnen mögen schlanke Frauen viel lieber.«
Aber Robby schaute sie zweifelnd an.
»Sonst sind Sie aber sehr hübsch«, meinte er gedankenvoll nach einer Weile, während er seinen Nachtisch noch genüßlich in sich hineinlöffelte.
»Danke, das ist ein schönes Kompliment«, lächelte Julia.
Nach dem Essen zeigte sie ihm das Haus und das Gästezimmer, das sie ihm von Frau Schütterle hatte richten lassen.
»Mensch, ganz für mich allein?« Er staunte und strich mit seiner rauhen Bubenhand unwillkürlich über das Bett.
»Hier sind genug Zimmer, da kann jeder allein schlafen.«
Robby schaltete die Nachttischlampe ein und aus. »Und wann muß ich die abends ausmachen?«
»Nun, wenn du müde bist, würde ich sagen.«
Robby grinste. »Oooch, müde bin ich eigentlich nie.«
»Heute werde ich dich schon müde bekommen, verlaß dich drauf. Das Buch, das du da siehst, habe ich dir hingelegt, da darfst du noch drin lesen, wenn du magst.«
Freudig griff Robby nach dem Band von Karl May. »Au, prima, das kenne ich noch nicht!«
»Liest du viel?«
»Ja, aber wir haben nicht so eine große Bücherei im Heim, und Karl May dürfen eigentlich bloß die Älteren lesen«, verriet er.
»Was wollen wir jetzt machen, was meinst du?« fragte Julia, als sie den Rundgang durch das Haus, das Robby weidlich bewunderte, beendet hatten. »Magst du gern Tischtennis spielen? Ich habe im Garten eine Platte. Wir können aber auch in den Zoo und anschließend vielleicht zum Flughafen fahren und ein wenig gucken, das ist auch sehr interessant.«
Robby überlegte. Es war so wunderbar, sich etwas aussuchen zu können, fand er. Im Heim gab es zwangsläufig selten Alternativen.
»Am liebsten würde ich…« Er zögerte.
»Na? Sag schon«, ermunterte ihn Julia.
»Am liebsten würde ich alles machen«, gestand er mit roten Ohren.
Julia lachte. »Das ist ein Wort. Also probieren wir jetzt erst einmal ein Tischtennismatch, und dann fahren wir zum Zoo.«
Auch im Heim gab es ein Tischtennisspiel, und Julia merkte sofort, daß ihr kleiner Gegenspieler nicht ungeübt war. Sie mußte sich regelrecht anstrengen, um ihm und seiner Behändigkeit gewachsen zu sein. Am Ende stand es drei zu drei, und Robby war stolz über seine Siege.
Dann fuhren sie zum Zoo. Hier kannte sich Robby aus, aber er war lange nicht dagewesen und genoß es sehr, die Tiere in ihren Käfigen zu beobachten. Wie allen Kindern machten ihm die Affen am meisten Spaß, er war kaum wegzubekommen.
»Ich hab’ auch ein Tier im Heim«, berichtete er, als sie anschließend zum Flughafen fuhren. »Einen Hamster aber bloß. Soll ich ihn mal mitbringen?«
Für ihn stand also fest, daß er wiederkommen würde, und Julia freute sich, daß es ihr nach so kurzer Zeit gelungen war, seine Zuneigung zu gewinnen. Oder war es am Ende nur das Vergnügen, das sie ihm bot? Nun, was es auch sein mochte, es war doch ein gutes Zeichen.
Auf dem Flughafen zeigte sich Robby hell begeistert, als sie von der Aussichtsterrasse die Düsenriesen landen und aufsteigen sahen.
»Au, das ist toll, da möchte ich, wenn ich groß bin, auch mal mitfliegen!« rief er so laut, daß die Umstehenden zu ihnen hinsahen. Etwas verwundert, denn die elegante Frau sah doch so aus, als ob ein Flug für sie und ihre Familie nichts Besonderes mehr war.
»Sind Sie schon geflogen?« wollte Robby von Julia wissen, und sie nickte. »Schon oft, Robby.«
»Ich glaube, ich werde doch lieber Pilot als Rennfahrer«, verkündete er gedankenvoll.
»Hast ja noch lange Zeit, dir das zu überlegen«, meinte Julia und strich ihm über den dunklen Schopf. »Und nun sollten wir wohl wieder nach Hause fahren, was?«
»Ins Heim?« kam es enttäuscht.
»Aber nein, morgen am Sonntag bist du doch auch noch bei mir. Da machen wir es uns im Haus gemütlich, einverstanden?«
Robby nickte.
»Klar. Haben Sie einen Fernseher?«
»Ja, hast du den übersehen? Sogar einen Farbfernseher.«
»Das ist prima, dann bleibe ich gern drin«, nickte er.
Oh, diese Kinder, dachte Julia, da waren sie wohl alle gleich. Schon Vickys kleiner Bub war mit seinen vier Jahren ein begeisterter Fernseher.
Bevor sie heimfuhren, spendierte Julia ihrem kleinen Begleiter noch ein Eis, das er im Nu verputzt hatte. Und zum Abendessen war sein Appetit bereits wieder groß, und er vertilgte eine große Portion Kartoffelsalat mit Würstchen.
»Willst du baden?« fragte Julia ihn, da sie sah, daß seine Augen wieder kleiner wurden.
»Eigentlich habe ich erst heute morgen geduscht«, erwiderte er zögernd, aber dann fiel ihm das wunderschöne weinrot gekachelte Bad ein, das er bei seiner Gastgeberin gesehen hatte, und er bekam doch Lust, in der großen Wanne herumzuplanschen. »Aber es kann ja nicht schaden, wenn ich noch mal bade«, setzte er deswegen rasch hinzu, und Julia mußte wieder einmal ein Lächeln unterdrücken.
»Gut, dann lasse ich dir Wasser ein, und du kannst dich derweil ausziehen.«
»Ganz?« fragte Robby erschrocken, und seine Hände gingen unwillkürlich dahin, wo man sie auf alten Bildern gelegentlich als Feigenblatt gemalt sah.
»Nein, nicht ganz, wenn du dich genierst«, sagte Julia möglichst gleichmütigen Tones.
»Aber – aber dann wird meine Unterhose ja naß«, wandte er verlegen ein.
»Na und? Dann trocknen wir sie über Nacht wieder«, lachte Julia.
Sie ließ Wasser ein und tat duftenden Badeschaum hinein, und Robby, dem solch ein Luxus ungewohnt war, ließ sich mit Wonne und Schaum und warmem Wasser umschmeicheln.
»Gell, das ist schön?« lächelte Julia.
»Hm«, machte Robby und blies Löcher in die umwogende Schaummasse.
Widerspruchslos ließ er sich dann ins Bett bringen. Julia deckte ihn zu, der in dem großen Bett doch noch sehr klein wirkte. Sie empfand es gerührt und hätte den kleinen Kerl am liebsten in die Arme genommen und herzhaft abgeküßt. Er weckte mütterliche Gefühle in ihr, und sie war glücklich darüber. Aber man mußte wohl vorsichtig sein und durfte ihn nicht gleich mit Zuneigung überfallen. So streichelte sie seine Wange und sagte ihm freundlich gute Nacht.
»Gute Nacht«, murmelte er schon halb schlafend mit ganz kleinen Augen.
»Ein liebes Kerlchen«, sagte Frau Schütterle, die Julia noch in der Küche aufsuchte, weil sie einfach mit jemandem sprechen mußte. Und Frau Schütterle war natürlich von ihren Absichten informiert.
»Ja, das finde ich auch«, nickte Julia und ließ sich auf einem Hocker nieder, zündete sich eine Zigarette an. »Er hat mir ja auch auf Anhieb gefallen seinerzeit. Die Heimleiterin sprach zwar von gewissen Schwierigkeiten mit ihm, daß er verschlossen wäre zeitweise und nicht immer leicht durchschaubar, aber ich finde das nicht. Für ein Kind, das immer nur in Heimen gelebt hat, finde ich ihn sehr normal und vergnügt. Sie hätten sehen sollen, wie er alles genossen hat heute!«
»Ich war skeptisch«, bekannte Frau Schütterle. »Sie haben es vielleicht bemerkt. Aber dieser Junge gefällt mir richtig. Wenn Sie sich für ihn entscheiden sollten, so werden Sie sicher viel Freude an ihm haben.«
»Ich mache mir keine Illusionen, schließlich machen auch eigene Kinder Sorgen, das gehört einfach dazu«, erwiderte Julia ernsthaft. »Aber wenn ich mich für ein Kind entscheide, dann für Robby, das steht fest.«
»Und heiraten wollen Sie nicht?« wagte Frau Schütterle die Frage, obwohl sie Julias Einstellung schon kannte.
»Man soll niemals nie sagen.« Julia lächelte. »Aber im Augenblick mag ich nicht, das steht fest.«
»Aber ob so ein kleiner Junge nicht auch einen Vater braucht?«
»Hat er jetzt einen? Da ist eine Mutter für ihn doch schon sehr
viel. Überhaupt eine Person die ausschließlich ihn liebt und die er lieben kann.«
»Sicher, da haben Sie natürlich recht«, antwortete Frau Schütterle, aber sie dachte, daß es doch schade sei, daß diese hübsche und liebenswerte junge Frau nicht ganz normal einen netten Mann und eigene Kinder haben sollte.
Julia legte sich – mit dem Ergebnis dieses Tages höchst zufrieden – auch früh schlafen, und sie träumte von Robby, der mit ausgebreiteten Armen auf sie zugelaufen kam.
*
In der nächsten Zeit verging kein Wochenende, an dem Robby nicht in der alten Villa in der Uhlandallee zu Gast war. Er und Julia wurden immer vertrauter miteinander. Es gab keinerlei Schwierigkeiten, und sogar Frau Beier zeigte sich überrascht, wie sehr Robby bereits seine Gefühle auf Julia konzentrierte.
»Er hat Sie schon sehr ins Herz geschlossen«, sagte sie, als Julia ihn eines Samstags wieder abholen wollte. »Er wartet eigentlich nur noch auf die Wochenenden und ist in Gedanken oft bei Ihnen.«
Julia nickte. »Ich weiß, er macht auch mir gegenüber immer weniger ein Hehl daraus, und ich bin sehr glücklich darüber. Ich finde deshalb, es wäre doch an der Zeit, daß ich die Pflegschaft beantrage, meinen Sie nicht? Würden Sie es unterstützen?«
»Ja, das würde ich«, sagte Frau Beier sofort. »Wenn Sie wollen, kann ich es für Sie in die Wege leiten. Es wird eine Fürsorgerin zu Ihnen kommen, man wird überhaupt Ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse prüfen, und das dauert ja auch eine gewisse Zeit.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Julia dankbar. »Dann darf ich Robby also fragen, ob er einverstanden ist? Und was meinen Sie, sollte ich auch gleich von der geplanten Adoption sprechen?«
Frau Beier überlegte. »Doch, das können Sie ruhig«, meinte sie dann. »Nur verhehlen Sie ihm bitte nicht die Schwierigkeiten, die man Ihnen machen könnte, weil Sie eben unverheiratet und auch noch ziemlich jung sind. Damit er nicht zu enttäuscht ist, wenn es nicht klappt oder man noch warten möchte, bevor man die Genehmigung erteilt. Sie wissen ja, man soll einem Kind nie etwas vormachen. Robby ist in einem Alter, da er Hemmnisse und Schwierigkeiten durchaus schon begreift.«
»Ich weiß«, nickte Julia, »und ich habe schon selbst erfahren, daß er recht verständig sein kann.«
Sie besprachen noch die notwendigen Formalitäten, und dann holte Julia sich ihren künftigen kleinen Pflegesohn, der freudig auf sie zustürzte.
»Ich habe schon gewartet!« rief er mit einem winzigen Vorwurf in der Stimme.
»Ich war erst noch bei Frau Beier«, erklärte ihm Julia und nahm seine Hand. »Aber nun komm!«
Heute nahm ihn Julia mit ins Arbeitszimmer.
»Wir zwei müssen etwas besprechen«, erklärte sie und machte ein geheimnisvolles Gesicht.
»Ja?« Robby sagte es plötzlich mit ganz dünner Stimme. Er hoffte natürlich, daß Julia ihn für immer zu sich zu nehmen wünschte, aber gesagt hatte sie es in diesen Wochen nie, und so war er nicht sicher, was kommen würde. Nur seinen kleinen Kameraden gegenüber hatte er sich dessen schon gebrüstet, als sei es eine beschlossene Sache. Nun begann sein Herz jedoch zu klopfen.
Julia setzte sich auf die Couch in der Sitzecke und zog ihn neben sich.
»Wir kennen uns doch nun schon recht gut, nicht, Robby?« begann sie.
Dieser nickte bloß.
»Gefällt es dir bei mir? Ich meine, du kommst doch gern her – oder?«
»Ja.« Mehr brachte Robby nicht heraus.
»Würdest du für immer bei mir bleiben wollen, Robby?« fragte Julia, und ihre Stimme schwankte nun auch ein bißchen vor Erregung.
Robby nickte, sah sie aber nicht an.
»Weißt du, du mußt ganz ehrlich sein, Robby, das ist wichtig«, fuhr Julia eindringlich fort. »Sieh mal, es ist ein Unterschied, ob man jemanden hin und wieder gern besucht oder ob man bei ihm leben will. Zum Beispiel, ich besuche meine Freundin Vicky, die du ja auch kennengelernt hast, sehr gern, sie ist ein sehr lieber Mensch und meine beste Freundin. Trotzdem möchte ich nicht bei ihr in ihrer Familie leben. Auch wenn sie mich darum bitten würde, müßte ich ihr das ganz offen sagen. Und genauso ehrlich sollst du sein, ich würde es dir keineswegs übelnehmen.«
»Aber ich will wirklich«, sagte Robby und sah nun auf, und sie las in seinen Augen, daß er nichts anderes wünschte.
Eine Rührung ohnegleichen bemächtigte sich Julias, aber sie nahm sich zusammen.
»Und du meinst, du würdest alle deine Kameraden aus dem Heim nicht vermissen? Hier bist du allein, bedenke es. Natürlich gehst du in die Schule und wirst neue Freunde finden, mit denen du ja auch nachmittags zusammensein kannst. Trotzdem wird alles sehr neu und ungewohnt für dich sein, darüber mußt du dir im klaren sein. Ich will schließlich nicht, daß du enttäuscht bist und am Ende lieber zum Heim zurück möchtest, weißt du. Meinen Beruf übe ich nur noch nebenbei aus, und ich habe auch viel Zeit für dich, aber eben nicht immer wie die Tanten in eurem Heim.«
»Wollen Sie mich denn richtig haben?« fragte Robby, ohne auf das Gesagte einzugehen.
Julia legte den Arm um seine Schultern und zog ihn nahe zu sich heran. »Ja, Robby, das möchte ich! Ich möchte auch versuchen, dich zu adoptieren, obwohl Frau Beier mir erklärt hat, daß es schwierig werden würde. Ich bin unverheiratet und auch noch ziemlich jung. Aber wir wollen alles versuchen, denn – denn ich mag dich sehr gern, Robby. Ich bin außerdem auch allein, und wenn wir zwei zusammen…« Sie kam ins Stocken, weil ihre Gefühle sie nun doch übermannten.
»Wenn man die Adoption erlaubt, sind Sie dann meine… Mutter?« fragte Robby.
Es klang einfach drollig, und Julia mußte lachen.
»Ja, du Lausbub, das wäre ich dann!« rief sie und zog ihn plötzlich in ihre Arme und küßte ihn herzhaft auf beide Wangen.
Bei dieser ersten und noch dazu recht stürmischen Zärtlichkeit stand Robby zunächst steif wie ein Stock. Julia glaubte schon, sie sei zu voreilig gewesen. Doch dann legte er die Arme um ihren Hals und verbarg sein Gesicht an ihrer Brust.
»So eine hübsche Mutter hat dann keiner auf der ganzen Welt«, murmelte er undeutlich. Aber Julia verstand ihn dennoch und umschlang ihn ganz fest. In dieser Minute schwor sie sich, daß sie immer ihr Bestes tun und geben wollte, um dieses Kind zu einem glücklichen Menschen zu machen!
*
Einen Monat später hielt Robert Hansen – der kleine Robby – seinen Einzug in der Villa in der Uhlandallee. Es war alles erheblich schneller und reibungsloser vonstatten gegangen, als Julia und Frau Beier erwartet hatten. Nun war Julia also Robbys Pflegemutter, und die Aussichten für eine Adoption standen nicht einmal schlecht, wenn die Probezeit gut verlief. Natürlich war alles nach Vorschrift gegangen. Die Auskünfte, die die Fürsorgerin eingeholt hatte, waren wohl sehr günstig ausgefallen.
»Du bist mein schönstes Geburtstagsgeschenk«, sagte Julia zu Robby, als er zwei Tage vor ihrem dreißigsten Geburtstag zu ihr kommen durfte.
Robby strahlte. Wann hatte jemals ein Mensch sich über sein Vorhandensein gefreut!
»Feiern wir auch?«
»Ein bißchen schon. Tante Vicky und ihre Familie müssen wir einladen, denn sie war es schließlich, die mich auf die Idee brachte, zu euch ins Heim zu gehen.«
»Sie ist nett«, meinte Robby.
Glücklich nahm er dann von seinem neuen Reich Besitz, das Julia ihm in dem Gästezimmer, das er schon bei seinen Besuchen bewohnt hatte, eingerichtet hatte. Nun waren Regalschränke und ein Schreibtisch hinzugekommen und die Spielsachen, die Julia ihm im Laufe der vergangenen Wochen schon geschenkt hatte, fanden ihren Platz.
»Toll!« sagte er schließlich, vor dem Regal stehend, in dem Bücher und kleinere Gegenstände ihren Platz gefunden hatten. »Gucken Sie mal, wieviel ich habe!«
»Du, Robby, ich muß dich etwas fragen.«
»Ja?« Gespannt sah er sie an.
»Weißt du, ich habe mich gefragt, wie du mich eigentlich jetzt anreden könntest. Frau Correll, wie klingt denn das, wo du schließlich mein Pflegesohn bist. Tante Julia gefällt mir allerdings auch nicht, aber deine Mutter bin ich noch nicht. Was machen wir denn da bloß? Weißt du nicht, was für eine Lösung wir finden können?« Erwartungsvoll schaute Julia ihren Schützling an.
»Ich finde Tante Julia auch doof, das erinnert mich so an eine Heimtante«, sagte Robby wie aus der Pistole geschossen. »Und Mutti oder Mama darf ich noch nicht sagen, wie Sie meinen. Und ich… ich bin es ja auch gar nicht gewohnt… das zu sagen«, setzte er verlegen hinzu.
»Wie wäre es, wenn du einfach Julia und du sagen würdest?« Julia lächelte. »So alt bin ich ja schließlich noch nicht, das getraust du dich doch sicher?«
Robby nickte. »Hm, ja.«
»Also abgemacht? Wollen wir Brüderschaft trinken wie die Erwachsenen, wenn sie sich duzen wollen? Komm!« Sie zog ihn mit sich, und unten im Wohnzimmer holte sie aus ihrer Hausbar eine Flasche, schenkte aus ihr etwas in zwei Gläser.
»Trinken wir denn jetzt richtig Schnaps?« fragte Robby beeindruckt.
»Nein, es ist Fruchtsekt, und von dem darf sogar ein kleiner Junge wie du ausnahmsweise schon mal ein paar Schlückchen sich genehmigen.« Julia lächelte und reichte ihm das Glas. »So, du mußt mich einhaken und alles austrinken. Prost, mein Kleiner!«
»Prost… Julia!« sagte Robby noch ein bißchen zögernd, aber sein Glas ließ er kräftig gegen das ihre klingen, und den prickelnden Inhalt trank er ohne abzusetzen in einem Zug aus.
»Schmeckt gut«, erklärte er und kam sich ungeheuer erwachsen vor.
»So, und nun gibt man sich einen Kuß, und dann ist es ganz vorschriftsmäßig.« Julia küßte Robby herzhaft auf die Wange, und er machte es ihr nach.
»Soll ich mich mit Frau Schütterle auch duzen?« fragte er, anscheinend auf den Geschmack gekommen.
»Ach nein, die ist schon zu alt und würdig. Ich sage ja auch Frau Schütterle zu ihr.«
Das sah Robby ein. Aber er vertraute sich der freundlichen Frau am nächsten Tag mit seiner ersten Sorge an.
»Die Frau… die Julia«, verbesserte er sich schnell, »hat doch morgen Geburtstag, und ich habe gar nichts zum Schenken«, sagte er, als er ihr in der Küche einen Besuch abstattete. »Mein Taschengeld, das ich noch im Heim bekommen habe, ist leider alle, weil… na ja, es war ja auch nicht viel«, überging er dann großzügig den Grund für die Ebbe in seiner Kasse.
»Weißt du was, ich leihe dir etwas«, bot ihm die freundliche Wirtschafterin an. Sie hätte ihm zwar gern Geld geschenkt, aber sein erstes Geschenk für seine junge Pflegemutter würde er bestimmt aus eigenen Mitteln erwerben wollen, so gut glaubte sie ihn schon zu kennen.
»Au, das wäre aber nett«, sagte er strahlend, doch dann wurde sein Gesicht gleich wieder ernst. »Aber was kaufe ich ihr denn?«
»Na, überlege mal.«
»Vielleicht Blumen.«
»Die sind natürlich nie verkehrt.«
»Vielleicht Bonbons oder Schokolade?«
Frau Schütterle lachte.
»Weil du die selbst gern magst, was, du Schlingel? Du weißt doch, die Frau Correll achtet auf ihre schlanke Linie. Weißt du was, ich nehme dich nachher mit zum Einkaufen, und da schaust du dich mal um. Frage nur gleich, ob du mitdarfst.«
Da war Robby natürlich einverstanden, und Julia erlaubte es ihm lächelnd, als er ihr den Grund sagte.
Zum ersten Mal durfte Robby in seinem Leben ein Geschenk ganz selbständig aussuchen, und er tat es mit Feuereifer. Tausend schöne Dinge fielen ihm während eines Rundganges durch ein Kaufhaus ins Auge, und Frau Schütterle mußte ihn immer wieder an seine geringen Mittel erinnern, weil ihm nichts gut genug war. Schließlich fanden sie ein wunderhübsches Pillendöschen für die Handtasche, mit dem auch Frau Schütterle einverstanden war. Daß sie heimlich der Verkäuferin noch zum Kaufpreis dazugab, merkte Robby zum Glück nicht.
Als Robby Julia das Päckchen überreichte und sie in sein gespanntes Gesicht sah, da hätte sie auch über das unnützeste Ding noch Freude empfinden müssen, aber das brauchte sie gar nicht, denn das hübsche Döschen gefiel ihr wirklich
sehr.
»Aber das muß doch teuer gewesen sein«, sagte sie erstaunt, nachdem sie sich zuerst einmal freudig bedankt hatte. »Hattest du denn so viel Geld?«
»Frau Schütterle hat es mir geborgt«, gestand Robby mit rotem Kopf. Und seine Ehrlichkeit freute Julia fast noch mehr als sein Geschenk.
Am Nachmittag kamen die Fabians mit Thomas, der Robby gleich mit Beschlag belegte.
»Na, zufrieden, frischgebackene Mutti?« fragte Peter Fabian schmunzelnd, als die Kinder in Robbys Zimmer verschwunden waren.
»Ich bin glücklich!« bekannte
Julia überschwenglich. »Wirklich, Vicky, ich muß es immer wieder sagen: dein Rat war der beste, den du mir geben konntest! Sicher, ein eigenes Baby wäre auch schön, aber es wäre zu kompliziert gewesen, und außerdem ist es schön, ein Kind zu haben, mit dem man schon reden kann und das glücklich ist, hier zu sein.«
»Tja, dieser Robby ist wohl auch ein Glücksfall«, meinte Vicky. »Er ist wirklich ein liebes Kerlchen, das muß ich zugeben, obwohl ich damals etwas skeptisch war. Wird die Adoption nun durchkommen?«
»Ich habe allen Grund, hoffnungsvoll zu sein.«
»Und das Theater hast du schon aufgegeben?« fragte Peter.
»Ja. Mein letzter Vertrag war ohnehin abgelaufen. Nun synchronisiere ich gelegentlich noch im Studio, um nicht ganz ohne Beschäftigung zu sein. Das heißt, ein Kind füllt natürlich auch aus«, fügte sie rasch hinzu.
»Heiraten solltest du trotzdem«, meinte Peter gedankenvoll. »Auch Robby könnte einen Vater gebrauchen, glaube mir. Es ist nun mal das Natürlichste, daß ein Kind Vater und Mutter hat.«
»Ihr Männer glaubt immer, ohne euch ginge es nicht«, scherzte Julia, und alle lachten.
Sie tranken Kaffee und aßen den leckeren Kuchen, den Frau Schütterle selbst gebacken hatte, wobei Robby wieder zeigte, welch ein unglaubliches Fassungsvermögen solch ein Jungenmagen besitzt.
*
Die Monate gingen dahin. Robby hatte sich vollkommen eingelebt, und Julia und ihn verband wirkliche Liebe. Sie hatte keinerlei Schwierigkeiten mit dem kleinen Jungen. Natürlich war er nicht immer musterhaft brav, aber das erwartete sie ja auch nicht von ihm. Jedes normale Kind hatte seine kleinen Unarten, so sah sie es, wenn er schon mal trotzig, unordentlich oder verspätet war. Durch die strenge Zucht im Heim konnte er die Freiheit, die er bei ihr doch genoß, halt nicht immer ganz abschätzen und schlug gelegentlich über die Stränge. Als er aber schließlich sah, wie groß die Sorgen waren, die Julia sich dann jedesmal machte, passierte es immer seltener. Er war aus Liebe zu ihr von rührender Einsicht.
In der Schule hatten sich seine Leistungen erheblich verbessert, wie Julia bei ihren Vorsprachen erfuhr. Robby lernte weniger aus Einsicht, sondern einfach, um von ihr gelobt zu werden. Und um nicht dumm zu bleiben, wie er öfters versicherte, damit sie sich seiner nicht schämen müsse.
Sein Osterzeugnis war so gut, daß Julia ihn auf dem Gymnasium anmelden konnte. Das machte ihn sehr stolz. Daß seine guten Leistungen für die Adoption mit ausschlaggebend waren, hatte Julia ihm als Ansporn natürlich auch erklärt, und auch das hatte sicher bei seinem Fleiß mitgesprochen.
Als Belohnung hatte Julia ihm einen Urlaub am Meer in Aussicht gestellt, und eifrig schmiedeten sie Reisepläne. Mit Feuereifer betrachtete Robby mit seiner jungen Pflegemama zusammen alle möglichen Prospekte. Immer wieder schaute er sich die verlockenden Abbildungen von blauem Meer, Palmen, weißsandigen Stränden mit badenden Menschen an.
»Und da kann man schon um diese Zeit richtig baden?« fragte er und schaute durch das Fenster in den Garten, wo gerade erste Knospen und ein Schimmer von Grün sich zeigten.
»Na ja, kalt ist das Wasser auch noch«, schränkte Julia ein, »aber am Strand kann man schon sein und Burgen bauen und so. Natürlich nicht hier in Deutschland, sondern im südlichen Mittelmeer.«
»Fliegt man dahin? Einer in meiner Klasse ist schon bis Afrika geflogen, der hat vielleicht angegeben«, berichtete er und verfiel zum ersten Mal seit längerer Zeit einmal wieder in seine alte Unsitte, bei Aufregung in der Nase zu bohren.
»Wenn du deinen Finger suchen solltest, Robbylein…«, erinnerte ihn Julia scherzend, und verlegen tat er schnell beide Hände in die Hosentaschen.
Julia entschied sich für Ibiza und buchte eine zweiwöchige Reise dorthin. Zum Glück war noch etwas frei, aber in einem Hotel der Luxuskategorie, das sie sich nun leisten konnte, gab es immer noch Zimmer.
Dann begab sie sich an die angenehme Beschäftigung mit ihrer Ausstattung. Ohne Murren ließ sich Robby durch sämtliche Kinderboutiquen schleifen und in Hosen, Pullis, Jacken und Badezeug stecken. Ihre Ausbeute war beträchtlich, und wenn sie alles eingepackt hätte, so wären mehr als zwei Koffer gefüllt gewesen. Daheim probierte Robby alles noch einmal an, und er betrachtete sich mit zunehmendem Wohlgefallen im deckenhohen Spiegel von Julias Zimmer.
»Richtig schick, was?« Gestelzt posierte er herum, und Julia lachte laut.
»Bist ein ganz schön eitler kleiner Affe.«
»Wenn du so hübsch bist, kann ich doch nicht wie ein Bettelkind herumlaufen«, argumentierte er nicht ungeschickt.
»Stimmt, der Kavalier muß zu seiner Dame passen«, gab Julia zu.
»Die Kinder im Heim werden mich gar nicht erkennen, wenn ich wiederkomme. Meine Haare sind dann auch schon wieder länger, und wenn ich so braun werde wie die Leute auf den Fotos, Mensch, dann staunen sie aber!«
Robbys Haare durften wachsen, hatte Julia vorgeschlagen, sie mochte die neuen Jungenfrisuren, die nicht mehr so militärisch kurz gehalten waren, zumal Robby so schönes dunkles und dichtes Haar besaß. Richtig süß sah er aus, und die modischen Hosen mit dem weiten Schlag unten und der flotte Ringelpulli standen ihm ausgezeichnet. Sie war stolz auf ihren Sohn, wie sie ihn bei sich bereits immer nannte!
*
Sonne, Palmen, weißer Sand und Meeresbläue empfingen sie auf Ibiza, blühender Frühling! Das Hotel machte auf den ersten Blick einen ausgezeichneten Eindruck, der sich im Laufe der Zeit auch bestätigen sollte.
Im Hotel hatten sie zwei nebeneinanderliegende Zimmer mit einem gemeinsamen Bad und Meeresblick, komfortabel und gemütlich.
Vergnügt ließ sich Robby auf sein Bett fallen.
»Toll ist es hier, richtig toll!«
Im eleganten Speisesaal, wo sie einen Fenstertisch zugewiesen bekamen, folgten ihnen viele interessierte Blicke. In manchen stand deutliche Neugier, ob es sich hier wohl um Mutter und Sohn handelte, denn Julia sah viel jünger aus, als sie war.
»Alle gucken dich an, weil du so hübsch bist«, stellte Robby nach einem Blick in die Runde fest.
»Ich glaube eher, sie überlegen, ob ich deine Mutter bin«, lächelte Julia.
»Das bist du ja«, sagte Robby und beugte sich zu ihr über den Tisch. »Hier kennt uns ja keiner, soll ich einfach Mutti zu dir sagen?«
Julia war gerührt, am liebsten hätte sie spontan ja gesagt. Aber sie wollte dem Gesetz nicht vorgreifen.
»Weißt du, Robbylein, ich finde, daß wir uns das noch aufheben sollten, bis du wirklich mein Sohn bist. Dann feiern wir zwei es richtig, denn dann ist alles ganz richtig, verstehst du das?«
»Hm«, nickte Robby. »Aber wenn mich nun jemand fragt, was du für mich bist, was soll ich dann sagen?«
Julia lachte. »Mein kleiner Bruder«, scherzte sie.
Robby grinste. »Also gut, große Schwester.«
»Aber Respekt bitte ich mir weiterhin aus, hörst du?«
»Klar«, versicherte Robby im
Brustton der Überzeugung.
Das Wetter war so sonnig, daß sie jeden Tag an den Strand gehen konnten. Julia genoß die warme Sonne, Robby spielte am Strand und im Wasser und hatte bald einige Spielkameraden gefunden.
An einem der ersten Tage lag Julia träumend in ihrem Liegestuhl am hoteleigenen Strand einer Bucht. Sie hatte zunächst gelesen, aber nun hielt sie die Augen geschlossen und döste ein wenig, dem Rauschen der Brandung lauschend und dem Geschrei der spielenden Kinder, die in einiger Entfernung herumtobten. Plötzlich fiel ein Schatten über ihr Gesicht. Sie öffnete die Augen und blinzelte. Ein großer gutaussehender Mann stand vor ihr und lächelte zu ihr herunter. Julia wußte, daß er in ihrem Hotel wohnte, sie hatte ihn schon des öfteren gesehen, er war ihr aufgefallen. In seiner Begleitung befand sich ein kleines Mädchen, und sie hatte sich gefragt, wo denn die Mutter des Kindes war, da man nie eine Frau in der Begleitung der beiden sah.
»Erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen setze, gnädiges Fräulein?«
Julia antwortete nicht gleich, so überrascht war sie.
»Wissen Sie, wenn unsere Kinder sich miteinander die Zeit vertreiben, dann könnten wir es doch eigentlich auch tun«, schlug er vor und wies zu dem Grüppchen spielender Kinder, bei dem Robby mit herumsprang und auch jenes kleine Mädchen, das zu dem Mann gehörte.
»Langweilen Sie sich etwa?« fragte Julia ein wenig spöttisch.
Er grinste. »Gott, der Mensch ist nun mal ein Herdentier, Sie sehen es an den Kindern. Warum tun wir Erwachsenen uns eigentlich so schwer und finden uns nicht ebenso zwanglos zusammen? Wir könnten doch jetzt ein bißchen nett miteinander plaudern, meinen Sie nicht? Man will im Urlaub doch nicht nur eine neue Umgebung, sondern auch neue Menschen kennenlernen. Übrigens, mein Name ist Kamphausen – Daniel Kamphausen.«
Er ließ sich ungezwungen in dem freien Liegestuhl neben Julia nieder und lächelte sie draufgängerisch an.
Julia mochte solche Typen von Männern im allgemeinen nicht, die selbstbewußt darauf ausgingen, Bekanntschaften zu machen. Doch dieser Kamphausen war nicht ohne Charme, und außerdem wäre ein bißchen Unterhaltung wirklich nicht zu verachten.
»Da Sie nun schon mal sitzen«, erwiderte sie ironisch, »habe ich wohl nicht sehr viel zu gestatten, zumal der Stuhl für jeden frei ist.«
»Gefällt es Ihnen hier?«
»Doch, sehr gut«, nickte sie.
»Ich bin wegen meiner Tochter hier«, berichtete er. »Sie hatte Keuchhusten, und Flug und Luftveränderung sind da ja gut in dem Fall. Nun gucken Sie nicht so erschrocken, Ihr kleiner Bruder wird sich nicht mehr anstecken, das hat uns mein Arzt hoch und heilig versichert.«
Kleiner Bruder! Julia lächelte in sich hinein. Also nach Mutterwürde sah sie nicht aus, was ja recht schmeichelhaft war.
»Er hatte den Keuchhusten schon, ich bin gar nicht erschrocken«, erwiderte sie dann, denn über alle Kinderkrankheiten, die Robby bisher durchgemacht hatte, war sie natürlich aus seinen Akten genau unterrichtet.
»Na, um so besser. Dann steht unserer Annäherung ja nichts im Wege«, erklärte er zufrieden.
»Es sei denn – Ihre Nase gefiele mir nicht«, schränkte Julia ein.
»Bin ich Ihnen unsympathisch? Dann befreie ich Sie natürlich von meiner Gegenwart«, sagte er gekränkt; aber ob das echt oder nur gespielt war, konnte Julia nicht feststellen. Und außerdem war es sicher ganz nett, sich ein bißchen zu unterhalten.
»Ach, bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte sie möglichst leichthin. »Sie stören mich nicht.«
»Wo ist man denn in Deutschland zu Hause, wenn ich fragen darf?«
Julia nannte den Namen der südwestdeutschen Großstadt, aus der sie kamen.
»Na, so ein Zufall, da kommen wir auch her«, stellte er überrascht fest. »Ist es deswegen, daß mir Ihr Gesicht so bekannt vorkommt? Gleich als ich Sie zum ersten Mal in den Speisesaal kommen sah, dachte ich, ich müßte Sie kennen.«
»Gehen Sie gern ins Theater?« fragte sie. Er schaute verblüfft drein. »Ja – hin und wieder gehe ich. Als meine Frau noch lebte, hatten wir ein Abonnement und…« Er hielt inne und sah sie mit zusammengekniffenen Augen überlegend an. Es schien ihm etwas zu dämmern. »Sind Sie etwa… natürlich, jetzt erinnere ich mich, Sie sind Schauspielerin!« Er sagte es lebhaft und schien es sehr aufregend zu finden.
Julia lächelte. »Stimmt. Zumindest war ich es, jetzt spiele ich nicht mehr.«
»Sie waren das bezauberndste Gretchen, das ich je sah!«
»Bitte keine überflüssigen Komplimente! Selbst wenn Sie mich miserabel gefunden hätten, würden Sie es schließlich jetzt nicht sagen.« Sie verzog spöttisch den Mund.
»Sie wissen genau, daß Sie nicht miserabel waren«, widersprach er. »Heißen Sie Julia Co… Co…« Er zog die Stirn in drollige Dackelfalten.
»Correll«, half sie ihm.
»Richtig, Julia Correll! Also ich muß sagen, ich habe doch ein Riesenglück, unsere Lokalberühmtheit kennenzulernen, die noch dazu eine so bezaubernde Frau ist!« Er strahlte sie so an, daß sie ihm sein reichlich plumpes Kompliment einfach nicht übelnehmen konnte.
Als seine Frau noch lebte, hatte er gesagt, überlegte Julia. Da war er also bereits Witwer und war doch höchstens Mitte Dreißig, sein Töchterchen mochte sieben oder acht Jahre sein. Er schien ein guter Vater zu sein, und das machte ihn ihr sympathischer.
»Warum haben Sie das Theater aufgegeben?« wollte er wissen. »In Ihrem Alter strebt man doch noch nach weiteren Höhen, und wenn man dazu so aussieht wie Sie, hat man doch alle Voraussetzungen dazu. Abgesehen von Ihrem Talent, von dem ich mich ja überzeugen konnte.«
»Sicher, für den Durchschnitt reichte es«, erwiderte Julia lässig. »Aber nicht zu Höhen. Als Broterwerb brauche ich meinen Beruf ohnehin nicht mehr, und da habe ich halt aufgehört, zumal ich jetzt meinen…«, sie lächelte, »kleinen Bruder zu betreuen habe.«
»Ah, Sie… Ihre Eltern leben nicht mehr?« erkundigte er sich teilnehmend.
»Nein«, erwiderte Julia, und das stimmte ja.
»Eine rührend besorgte große Schwester. Der Bub ist zu beneiden.«
»Meinen Sie wirklich?« fragte Julia ernst, und er entschuldigte sich sofort, so habe er es nicht gemeint, es sei natürlich bedauerlich, daß die Eltern nicht mehr da wären.
»Da sind wir irgendwie in der gleichen Lage mit unseren verstümmelten Familien. Ein Grund mehr, daß wir uns ein bißchen zusammenschließen, meinen Sie nicht?«
»Sie sind hartnäckig.« Julia mußte lachen.
»Nun ja, schauen Sie sich im Speisesaal doch einmal genauer um«, meinte er ernster werdend. »Da sitzen Ehepaare oder Familien oder zumindest Paare, die zusammengehören. Man kommt sich ganz verloren vor mit seiner Brut. Wäre es nicht nett, wenn wir künftig an einem Tisch sitzen würden? Soll ich mal unsere Kinder fragen, ob die einverstanden sind?«
Und schon winkte er seine kleine Tochter heran. Das kleine Mädchen mit dem Pferdeschwanz, so schwarzhaarig und mit großen dunklen Augen, hätte Robbys Schwester sein können, dachte Julia unwillkürlich, als sie herangesprungen kam.
»Das ist meine Tochter Anuschka«, stellte Kamphausen sie vor, und die Kleine machte unaufgefordert einen Knicks, und gab Julia artig die Hand. »Und das ist Fräulein Correll, Anuschka, deren Bruder du ja kennst. Denke dir, sie wohnen auch in S., und wir haben gerade beschlossen, daß wir künftig an einem Tisch speisen wollen. Bist du auch dafür?«
Die Kleine nickte so heftig, daß ihr Pferdeschwänzchen heftig wippte. »Ist Robby Ihr Bruder?« fragte sie Julia, und diese nickte lächelnd. Ein reizendes Kind, diese Kleine!
»Wir bauen gerade eine Burg, Robby kann das ganz toll«, berichtete Anuschka bewundernd, und die beiden Erwachsenen lachten.
»Dann lauf nur wieder zu deinem neuen Freund«, sagte Kamphausen, und das kleine Mädchen ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie berichtete offenbar gleich ihre Neuigkeit, denn nun sah Robby zu ihr hin. Doch sein Gesicht wurde finster, und er sagte wohl etwas Unfreundliches zu seiner neuen Spielgefährtin, denn sie schaute ganz betreten drein.
»Wir haben ihn nicht gefragt!« Julia erkannte sofort, was in Robby vorging, und winkte auch ihn heran.
Betont langsam trollte er herbei.
»Was ist denn?« fragte er so mürrisch, wie es sonst gar nicht seine Art war.
Julia stellte ihn Kamphausen vor wie dieser zuvor seine Tochter. Aber Robby machte keine Anstalten, ihm die Hand zu geben.
»Tag«, murmelte er nur ziemlich unfreundlich.
»Wir dachten, daß wir künftig gemeinsam essen und auch sonst einiges unternehmen sollten, junger Mann«, sagte Kamphausen dennoch freundlich. »Deine Schwester und ich haben nämlich festgestellt, daß wir auch aus S. kommen und uns flüchtig sogar kennen.« Er warf Julia einen verschwörerischen Blick zu. »Und da du dich mit Anuschka auch schon angefreundet hast, bist du sicher nicht dagegen, oder?«
Robby hob die Schultern.
»Von mir aus«, sagte er nur und tat äußerst gelangweilt.
Julia überging seine kleine Ungezogenheit. War er am Ende eifersüchtig? Sie hielt es für durchaus möglich und wollte deshalb keine Rüge in Gegenwart des Fremden aussprechen.
»Na prima, daß du auch einverstanden bist«, sagte Kamphausen unbeeindruckt freundlich. »Wie wäre es, wenn ich für morgen einen Wagen miete und wir zu viert mal einen Inselausflug unternähmen?« Er schaute von Robby zu Julia.
Letztere nickte. »Doch, das ist keine schlechte Idee. Land und Leute lernt man ja so am besten kennen. Ich hatte es auch schon erwogen.«
»Kann ich wieder gehen?« fragte Robby.
»Aber ja, spiel nur«, lächelte Julia.
Bis zum Mittagessen blieb Kamphausen bei Julia sitzen, gemeinsam verließen sie mit den Kindern dann den Strand.
»Ich arrangiere das gleich mit unserem Tisch«, sagte Kamphausen, als sie sich trennten, um sich umzukleiden.
Schweigsam trottete Robby neben Julia die Treppe hinauf.
»Was ist denn los, Robby?« fragte ihn Julia oben in seinem Zimmer, als sie ihm seine Sachen herauslegte. »Findest du es nicht gut, daß wir ein bißchen Anschluß gefunden haben? Schau, zu viert macht doch alles mehr Spaß, und du hast doch auch Freunde, mit denen du spielst. Ich unterhalte mich auch ganz gern mal mit anderen Leuten. Und du siehst ja, hier sind viele Familien, die sich ein wenig anschließen. Das ist im Urlaub halt so.«
Robby druckste. Seine Eifersucht war ja uneingestanden, und er konnte es ja nicht erklären, warum es ihn störte, diesen fremden Mann neben Julia zu sehen. Natürlich hatte sie recht, das sah er mit seinen zehn Jahren durchaus ein, er hatte Spielkameraden, und sie saß viel allein und langweilte sich wohl manchmal. Also überwand er sich heldenhaft.
»Na ja, wir können ja öfter mit denen zusammensein, damit du auch Unterhaltung hast. Aber manchmal… ich meine, manchmal bleiben wir doch auch allein, ja?«
»Klar, mein Schatz«, sagte Julia erleichtert. »Man muß ja deswegen nicht gleich wie Kletten aneinanderkleben.«
»Gefällt dir dieser Mann?« erkundigte sich Robby dennoch vorsichtshalber.
»Er scheint ganz unterhaltsam zu sein, das ist für den Urlaub ganz nett«, sagte sie so leichthin, wie es nur möglich war.
Es erleichterte Robby sichtlich.
Wenig später, als sie alle vier am Tisch im Speisesaal saßen, gab er sich sichtlich Mühe, wieder vergnügt und unbeschwert zu sein.
*
Die folgenden Tage waren voller Urlaubsfreuden. Spazierfahrten, Strandspiele, Bootsfahrten, Tennismatchs und abendliche Barbesuche der Erwachsenen lösten einander ab. Immer waren die Kamphausens mit Julia und Robby zusammen, es wurde immer selbstverständlicher, daß sie das meiste zusammen unternahmen.
Robby und Anuschka waren dicke Freunde geworden, und so fand sich der Junge auch damit ab, daß Julia und Daniel Kamphausen einander zwangsläufig näherkamen. Daß Kamphausen in Julia bald sehr verliebt war, mußte ein Blinder sehen, aber Julia wahrte immer eine gewisse Zurückhaltung, obwohl sie mit der Zeit spürte, daß der Mann ihr immer besser gefiel. Zweifellos besaß er echten Charme, und sein blendendes Aussehen konnte eine Frau auch nicht unbeeindruckt lassen, ebensowenig seine heftige Werbung um sie.
Natürlich erfuhr sie nun auch mehr über ihn, nämlich, daß er als Jurist den Posten eines Syndikus einer bedeutenden Firma in S. bekleidete, also einen sehr verantwortungsvollen Wirkungsbereich innehatte. Er war fünfunddreißig und vor drei Jahren Witwer geworden. Seine Frau, eine rasante Autofahrerin, hatte einen schweren Unfall erlitten, an dessen Folgen sie verstorben war. Nun lebte er allein mit Anuschka und einer Haushälterin in einem modernen Bungalow, in einer modernen Wohngegend von S.
»Wie schlimm für Sie und besonders für Anuschka«, hatte Julia anteilnehmend gemeint, als er ihr vom Tod seiner Frau berichtet hatte.
»Sicher«, hatte er nachdenklich und mit einigem Zögern geantwortet, »es war ein schwerer Schock für uns zwei. Ariane war eine sehr vitale und lebensfrohe Frau, noch keine dreißig. Allerdings, sie war nicht der Typ der fanatischen Mutter, und Anuschka war für sie eher ein nettes Spielzeug, mit dem sie sich beschäftigte, wenn sie halt Lust hatte. Ansonsten überließ sie das Kind dem Personal. Anuschka hatte keine so enge Beziehung zu ihr, wie es im allgemeinen zwischen Mutter und Kind der Fall ist. Ich will meiner Frau da nichts nachreden, verstehen Sie. Aber so war es nun mal. Sie hat es auch immer offen zugegeben, daß sie nicht wild auf Kinder sei. Es war…«, er lächelte nicht ganz glücklich, »eine Panne. Gut, sie bekam das Kind, aber sie lebte weiter ihr eigenes Leben mit Vergnügungen, sportlichen Betätigungen und Gesellschaften.«
»Armes Kind«, entfuhr es Julia spontan, doch dann biß sie sich auf die Lippen. »Verzeihen Sie, es kommt mir nicht zu, daß ich…«
»Nein, nein«, winkte er ab. »Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen, wenn Sie darüber Ihre eigene Meinung haben. Nun muß ich sagen, daß Anuschka in meiner Mutter die mütterliche Liebe fand, die sie besonders in den ersten Lebensjahren brauchte. Leider starb auch sie im letzten Jahr, und das war für das Kind wirklich ein schwerer Verlust. Deshalb bemühe ich mich, sie wenigstens im Urlaub ein bißchen zu verwöhnen und ganz für sie da zu sein. Ansonsten ist mir das leider beruflich nicht möglich, weil ich kolossal eingespannt bin. So, wie Sie ja versuchen, Ihrem Bruder die fehlende Elternliebe zu ersetzen, nicht wahr?«
Julia nickte nur. Sie überlegte, ob sie diese Version eigentlich noch aufrechterhalten sollte, da sie sich doch ein wenig besser kannten. Kamphausen schien zudem anzunehmen, daß Robby sonst in einem Heim lebte, denn es war ganz natürlich, daß der kleine Junge sich hin und wieder einmal im Gespräch verplappert hatte und Bemerkungen wie: »Im Heim, da war ein Junge, der…« oder »Wir hatten im Heim auch ein Fräulein, die…« Aber dann dachte Julia, daß es letztlich so ausgehen würde wie mit allen Urlaubsbekanntschaften. Man schwor sich beim Abschied, unbedingt Verbindung zu halten, und am Ende verlief es im Sande, sobald jeder wieder in seinen Lebenskreis zurückgekehrt war. Wozu also sollte sie Robbys und ihre Geschichte ausführlich erzählen?
Die kleine Anuschka kam Julia mit großem Zutrauen entgegen und suchte, ebenso wie ihr Vater, ihre Nähe. Sie vermißte das weiblich-mütterliche Element nach dem Tod der Großmutter sehr.
»Sie sind lieb«, sagte sie einmal zu ihr, als Kamphausen und Robby sich einträchtig mit einer Angel beschäftigten. Sie schworen, daß sie die herrlichsten und natürlich größten Fische angeln würden. Aber Julia lachte nur, erklärte, daß sie dergleichen höchst langweilig fände, und unternahm mit Anuschka einen Spaziergang in den nahegelegenen Ort, wo sie ein paar kleine Sächelchen erstanden.
Julia, die die Kleine an der Hand hielt, drückte die Kinderfingerchen. »Ich mag dich auch, Anuschka.«
»Darf ich Sie und Robby öfter besuchen, wenn wir wieder zu Hause sind?« Mit großen Augen sah Anuschka zu Julia auf.
»Aber gern, Kleines, wenn dein Papi es erlaubt, kannst du jederzeit kommen.«
»Der erlaubt es bestimmt!« Verschmitzt sah die Kleine Julia an. »Der hat Sie nämlich auch sehr gern.«
Julia lächelte verlegen. »Bei Erwachsenen sagt man besser, daß man sich sympathisch ist, weißt du?«
»Aber, wenn ein Mann eine Frau heiratet, hat er sie dann lieb oder sympathet er sie?« Anuschka begriff nicht, wie Julia es meinte.
Diese lachte herzlich. »Nein, mein Kleines, wenn zwei Menschen heiraten, dann haben sie einander natürlich lieb. Das ist dann mehr als nur Sympathie.«
»Ich wünschte, mein Papa hätte Sie lieb«, sagte Anuschka leise und nachdenklich, und Julia erschrak ein bißchen, weil sie die Gedankengänge des kleinen Mädchens natürlich erriet. »Ich werde Papi mal fragen!«
»Untersteh dich!« sagte Julia heftig. »Weißt du…«, fügte sie sogleich wieder ruhig hinzu, »so etwas fragt ein Kind besser nicht.«
»Aber warum nicht? Ist es denn was Schlimmes?«
»Nein, das nicht. Aber ein Mann wie dein Vater hat es bestimmt nicht gern, wenn du ihn deswegen befragst.« Eine sehr erschöpfende Antwort war das nun wirklich nicht, Julia spürte es selbst. Aber zum Glück wurde Anuschka jetzt durch ein Schaufenster abgelenkt, in dem wunderschöne einheimische Puppen ausgestellt waren.
»Die sind schön!« staunte sie, und Julia betrat kurzentschlossen mit ihr den kleinen Laden. »Ich schenke dir eine zur Erinnerung«, erklärte sie, und Anuschka strahlte und hatte zu tun, eine von den hübschen Folklorepuppen herauszusuchen.
Wieder am Strand angelangt, empfingen sie Daniel Kamphausen und Robby mit einigen selbstgefangenen Fischen, die sie stolz herzeigten.
»Haaach, das sind ja bloß Fischchen!« Anuschka lachte.
»Davon verstehst du nichts«, erwiderte Robby von oben herab, und Daniel Kamphausen schloß sich seiner Meinung an und hielt einen längeren Vortrag über die Schwierigkeiten, im bewegten Meer überhaupt etwas zu fangen.
Doch die beiden »Frauen« schauten sich nur verständnisinnig an und blinzelten einander zu.
Kamphausen stieß Robby in die Seite. »Du, die glauben uns nicht, ist das nicht unerhört?« Aber er grinste.
»Sollen sie selbst erst mal etwas angeln«, brummte Robby.
»Nee, tun wir nicht, weil es uns keinen Spaß macht, ätsch!« lachte Anuschka, worauf Robby so etwas murmelte, was sich wie »blöde Frauenzimmer« anhörte.
»Laß nur«, tröstete ihn Kamphausen von Mann zu Mann, »davon verstehen Frauen nichts. Die gehen lieber einkaufen. Habt ihr wieder jede Menge zusammengekauft?« Er schaute Anuschka und Julia schmunzelnd an, deutete auf die Päckchen, die sie trugen.
»Hübsche Sachen kann man hier kaufen«, schwärmte Julia, und Anuschka zeigte stolz ihre Puppe, die Robby jedoch bloß mit einem verachtungsvollen Blick bedachte. Erst das schöne Segelboot, das Julia ihm mitgebracht hatte, ließ auch sein Gesicht strahlen, und schon eilten die beiden Kinder vergnügt zum Wasser, um es auszuprobieren.
Kamphausen schaute ihnen lächelnd nach. »Die verstehen sich recht gut, wie?«
»Hm«, nickte Julia und bat ihn, auf die zwei achtzugeben, damit sie ihre Einkäufe in ihr Zimmer bringen konnte.
Eines Abends unternahmen sie einen Bummel durch die Nachtlokale. Schon im Hotel waren Julia und Kamphausen abends hin und wieder in die hoteleigene Bar hinuntergegangen, um einen Drink zu nehmen und ein wenig zu tanzen. Heute wollten sie mal eine lange Nacht machen, wie Kamphausen unternehmungslustig vorgeschlagen hatte. Mit einigen Tips des Hotelportiers versehen, machten sie sich auf den Weg, nachdem sie die Kinder schlafend wußten.
Julia hatte ein schickes Kleid angezogen, das sie in der Altstadt von Ibiza in einer der gutausgestatteten Boutiquen gekauft hatte. Es war aus leichtem Stoff, rotgrundig mit großen, vielfarbigen Blumen bedruckt, floß leicht und weit an ihrem Körper hinunter und zeigte einen tiefen spitzen Ausschnitt, der einen Blick auf ihr hübsches Dekolleté freigab. Die schwarze spanische Spitzenmantilla, die sie dazu erworben hatte, machte sich gut darüber. Bewundernd schaute Daniel Kamphausen ihr entgegen, als sie in die Hotelhalle hinunterkam. Aber auch er selbst sah in seiner weißen Smokingjacke sehr gut aus.
Er zog ihre Hand an seine Lippen. »Großartig schauen Sie aus, Fräulein Correll!« sagte er und schaute ihr tief in die Augen.
»Danke. Gefällt Ihnen mein Kleid? Ich habe es hier gekauft.«
»Ich meinte vor allem Sie selbst und dann erst Ihr Kleid. Aber…«, er schaute sie von oben bis unten an, »es steht Ihnen wirklich hervorragend. Und nun kommen Sie, das Taxi wartet schon.«
Man brauchte schon einen Geheimtip, um die sehr exklusive Bar etwas außerhalb der Stadt zu finden. Hier trafen sich, das erkannte man auf den ersten Blick, nicht die gewöhnlichen Touristen, sondern die Gäste der Luxushotels. Die Einrichtung war in spanischem Stil gehalten, mit maurischen Akzenten, darunter wertvolle antike Stücke, teure Wandbehänge und echte Teppiche. Das Publikum war elegant, die Bedienung aufmerksam, die Preise allerdings entsprechend hoch.
Sie bekamen einen Tisch in einer gemütlichen Ecke, nachdem Kamphausen dem Oberkellner ein beträchtliches Trinkgeld dezent zugesteckt hatte. Der dunkelrote Wein, den sie bestellt hatten, war ausgezeichnet, aber schwer, und er ging einem gleich in die Glieder.
Auf einer kleinen Tanzfläche tanzten einzelne Paare zu sentimentaler Musik, die sich in den Bars auf der ganzen Welt immer gleich anhört. Natürlich tanzten auch Julia und Daniel Kamphausen, sie hatten ja schon im Hotel festgestellt, daß sie einander gute Partner waren und gaben sich dem Rhythmus losgelöst hin.
Doch, es war schön, wieder im Arm eines Mannes zu liegen, seine bewundernden Blicke zu spüren, seinen Komplimenten und charmanten Plaudereien zuzuhören! Julia genoß es sehr bewußt. Aber sie wollte sich nicht aus der Hand geben, nicht mehr verlieben. Die Angst vor einer neuerlichen Enttäuschung warnte sie.
Daniel spürte es mit dem Instinkt des erfahrenen Mannes, daß sie sich trotz aller Gelöstheit innerlich zurückhielt, und umfaßte sie fester.
»Ich bin sehr verliebt in Sie, Julia«, flüsterte er nahe an ihrem Ohr. »Aber ich bin so unsicher bei Ihnen, und weiß wirklich nicht, ob Sie meine Gefühle erwidern.«
»Müssen es denn immer gleich die ganz großen Gefühle sein? Schauen Sie, eine nette Urlaubsbekanntschaft muß doch nicht die große Liebe sein. Man flirtet ein wenig und geht wieder auseinander, so ist es doch.«
»Aber so braucht es nicht zu sein. Es gibt auch die Ausnahmen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir uns nach diesen herrlichen Tagen nie mehr wiedersehen sollten, Julia. Sie sind frei, ich bin es auch, was spricht dagegen, daß wir uns zu Hause weiterhin sehen?«
»Sie haben Ihren Beruf und Ihr Kind, und ich… nun, ich auch, mein Bruder bedarf meiner schließl…«
»Aber was reden Sie denn da!« unterbrach er sie heftig. »Sie tun so, als hätten Sie die Absicht, nur diesem kleinen Jungen zu leben! Eine junge schöne Frau wie Sie, das ist doch völlig unnatürlich! Warum heiraten Sie nicht?«
Der Tanz war beendet, aber er stand noch vor ihr, hielt sie fest.
»Kommen Sie, setzen wir uns doch, man schaut ja schon nach uns«, sagte sie und zog ihn mit sich zum Tisch. Dort hob sie ihr Glas und trank durstig. »Bitte, Herr Kamphausen, lassen Sie uns doch diesen schönen Abend nicht durch tiefsinnige Reden verderben, was kommen wird oder was kommen sollte. Wir werden es ja sehen, noch sind wir schließlich hier und haben noch eine Woche voller schöner Tage vor uns.«
»Wie Sie wollen«, erwiderte er, und es klang ein wenig verschnupft.
»Trinken wir – Daniel«, lächelte sie ihn an.
»Auf du und du?« reagierte er sofort.
»Also gut«, nickte sie. Sie hoben ihre Gläser, stießen an, daß sie hell aneinanderklangen und leerten sie.
»Und einen Kuß bekomme ich doch auch?« fragte er und beugte sich näher zu ihr.
»Hier?« Unwillkürlich schaute Julia sich um.
»Wen stört es, wer kennt uns denn? Ein Kuß gehört dazu, ich bestehe darauf, Julia«, sagte er so nachdrücklich, daß sie lachen mußte.
»Also gut, ich bin kein Spielverderber. Küssen Sie mich, Daniel!« Und sie neigte sich zu ihm und schloß die Augen.
Und dann spürte sie seine Lippen, warm und leidenschaftlich, und sie vergaß ihre Vorsätze, denn sie war halt nur eine Frau. Sie küßte ihn wieder, dachte nicht mehr an die Umsitzenden.
»Julia«, flüsterte er, als sich ihre Lippen wieder gelöst hatten. »Julia, du bist bezaubernd!«
»Ach, Daniel«, seufzte sie, »und Sie – Sie sind… du bist ein schrecklicher Schwerenöter und ziehst alle Register, um eine schwache Frau zu verwirren.«
»Ja, ich gebe mir alle Mühe«, lachte er leise und nahm ihre Hand in die seine und küßte sie.
Und sie flirteten, tanzten enger und enger, und der schwere Wein tat dazu seine Wirkung, daß sich beide immer beseligter fühlten.
Sie wußten nicht, wie spät es war, als sie schließlich aufbrachen. Die Tische hatten sich jedenfalls schon gelichtet, und als sie zu dem Taxi hinausgingen, das man ihnen bestellt hatte, stellten sie fest, daß es schon dämmerte.
»Wir… wir sind Nachtschwärmer, Daniel«, sagte Julia und hängte sich bei ihm ein. Sie hatte einen süßen Schwips, und ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr so gut, ihre Beine ebenfalls nicht.
»Macht doch nichts, wer… niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann«, zitierte er, und auch seine Zunge lag ihm schwer im Mund.
Julia kicherte. »Ich… dachte bislang immer, daß ich… daß ich eine Frau bin, lieber Daniel.«
Tiefsinnig starrte er sie sekundenlang an.
»Leider, leider, das ist ja eben das Komplizierte. Schon ist man wieder rettungslos verliebt.«
Sie stiegen in das Taxi. Daniel saß sehr dicht neben ihr, legte den Arm um ihre Schultern, jeder spürte intensiv die Nähe des anderen.
Im Hotel brachte er sie zu ihrem Zimmer.
»Muß ich mich verabschieden, oder trinken wir noch einen Kaffee miteinander?« fragte er bittend.
»Oh, Daniel, wo kriegen wir um diese Zeit Kaffee her?« lächelte Julia.
»Wetten, daß? Wenn ich welchen bekomme, trinken wir ihn dann bei Ihnen?«
»Das ist glatte Erpressung«, lachte sie, hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, weil es in dem stillen Gang so laut klang.
»Also?«
»Na schön, wenn Sie zwei Tassen organisieren können, dann trinken wir ihn bei mir«, lächelte sie und verschwand in ihrem Zimmer, sicher, daß er nichts auftreiben könnte.
Aber sie kannte Daniel Kamphausen nicht. In weniger als zehn Minuten klopfte es an die Tür, und als sie öffnete, stand er mit einem Tablett in der Hand vor der Tür. In zwei Tassen dampfte heißer nachtdunkler Kaffee.
»Ja, wie hast du denn…«, wollte Julia fragen, aber er grinste nur geheimnisvoll und trat ein.
Das heiße Getränk tat gut, genießerisch schlürften sie es und saßen dabei auf der kleinen Couch, die in Julias Zimmer stand.
»Wieder ein bissel nüchterner?« Julia lächelte, als Daniel seine Tasse abgesetzt hatte.
Er sah sie an und schüttelte den Kopf.
»Ich bin trunken, Julia, trunken vor Liebe wie Romeo zu seiner Julia!«
Sie versuchte zu lachen, verspürte aber den Ernst, mit dem es gesagt worden war. Ihr Herz schlug plötzlich schneller, und wieder überkam sie eine dumme, süße Schwäche.
Sie wehrte sich nicht, als er sie in seine Arme riß und leidenschaftlich küßte, und sie wehrte sich auch nicht, als er sie zu ihrem Bett trug. Alles versank um sie her, und sie war Frau, nichts als eine schwache Frau.
*
Julia erwachte, als Robby an ihrer Bettdecke zupfte. Ihre Lider waren schwer, mühsam blinzelte sie sich zur Wirklichkeit zurück und erschrak unwillkürlich, als ihr einfiel, daß sie bis vor kurzem nicht allein in diesem Zimmer gewesen war.
»Du schläfst aber fest heute«, wunderte sich Robby, »man kriegt dich ja kaum wach. Seid ihr so spät zurückgekommen?« Ein kleiner Vorwurf lag in seiner Frage.
Julia lächelte ein wenig mühsam. »Nun ja, es war schon etwas später, mein Kleiner. Aber ich springe jetzt gleich unter die kalte Dusche und bin wieder fit, sollst sehen.«
Sie ließ ihren Worten die Tat folgen, und ihr Kopf wurde wieder klarer. Während sie sich ankleidete und zurechtmachte, mußte sie an die aufregenden Stunden denken, die hinter ihr lagen. Bereute sie, was geschehen war? Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Nein, das tat sie nicht! Sie war schließlich eine erwachsene Frau und hatte ein Recht darauf, sich zu nehmen, was sie brauchte. Und dazu gehörte nun einmal die Liebe mit ihrer Zärtlichkeit und Leidenschaft und natürlich ein Mann, der ihr gefiel. Sie dachte an Daniels heiße Liebesworte und fragte sich, ob sie seine Gefühle erwiderte. Aber sie wußte keine Antwort darauf. Vielleicht war da auch etwas in ihr, was sie davon zurückhielt, sich diesem Mann auch mit Herz und Seele hinzugeben. War es so, weil sie ihn im Grunde für einen Don Juan hielt und sich vor einer Enttäuschung fürchtete? Ja, so mußte es sein.
Sie war sich nicht recht darüber im klaren, wie sie ihm nachher am Frühstückstisch entgegentreten sollte, aber dann war es ganz natürlich und zwanglos. Es war Daniel zu verdanken, der sich ganz natürlich gab.
»Guten Morgen, ihr zwei«, begrüßte er sie strahlend, als sie herunterkamen. Er und Anuschka saßen schon am Tisch, hatten gerade ihren Kaffee bekommen. »Ausgeschlafen?« fügte er hinzu und sah Julia bedeutungsvoll an.
»Sie war gar nicht wachzukriegen«, beschwerte sich Robby.
Sie aßen mit bestem Appetit und unterhielten sich normal wie immer. Erst als die Kinder die Erlaubnis zu einer Minigolfpartie bekommen hatten und schon aufbrachen, während die Erwachsenen noch eine Zigarette rauchten, griff Daniel nach Julias Hand.
»Wie fühlst du dich?« fragte er, erst jetzt das vertrauliche Du wieder gebrauchend, das sie unwillkürlich in Gegenwart der Kinder noch vermieden hatten. »Du hast doch hoffentlich weder einen Kater noch bereust du etwas?«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf.
Er atmete tief ein. »Das ist gut. Weißt du, Julia, es war wunderschön. Ich bin sehr glücklich, aber – wie soll ich es ausdrücken, ich habe trotzdem das Gefühl, daß du nicht ganz…«
»Ach bitte, machen wir es doch nicht kompliziert«, unterbrach Julia hastig, weil sie wußte, worauf er hinauswollte und sie ihm seine Frage nicht beantworten wollte. »Ich bereue nichts, das muß dir doch genügen.«
Er hob die Schultern. »Na gut, wenn du meinst? Sprechen wir also davon, was wir heute machen wollen. Wie lauten deine Vorschläge?«
Sie einigten sich auf einen faulen Tag und beschlossen für den nächsten Tag eine Schiffsreise zur benachbarten Insel Formentera.
Natürlich entging es den Kindern im Laufe dieses Tages nicht, daß sie sich duzten. Es war Anuschka, der es zuerst auffiel.
»Du, mein Papi und deine Schwester sagen sich jetzt du«, flüsterte sie Robby zu, der in den Bau einer Wasserburg ganz vertieft war.
»Ja?« Er hob den Kopf und schaute zu den beiden hin, die in einiger Entfernung in ihren Liegestühlen saßen und angeregt plauderten. »Finde ich ziemlich blöd«, knurrte er dann und warf wütend seine Sachen hin.
»Quatsch, du bist blöd!« entgegnete Anuschka heftig. »Ich finde es toll! Ob sie sich lieben und eines Tages heiraten werden?«
»Alle Weiber sind Klatschweiber, du auch, du dumme Gans!« rief Robby wütend und kehrte ihr den Rücken, rannte in das doch noch sehr kalte Wasser, ohne die Kälte zu spüren.
»He, der Robby!« sagte Julia erschrocken, die es zufällig sah. »Ich hatte ihm das Baden doch noch untersagt, es ist doch viel zu kalt! Wie wild er noch dazu hineinläuft! Da muß ich doch gleich…«
Sie sprang auf und lief zum Wasser. »Robby, bitte, komm heraus!« rief sie.
Auch Daniel war herangekommen. »Warum ist er denn so plötzlich hineingegangen?« fragte er seine Tochter streng. Er nahm an, sie habe den Jungen nach der Art vorwitziger kleiner Mädchen vielleicht herausgefordert.
»Er ist wütend, weil ihr euch duzt und weil ich gesagt habe, daß…«
»So ein Bengel!« unterbrach Julia sie. »Schaut nur, ich muß ihm nach, er ist ja schon fast bis zum Hals drin und tut, als hörte er mich gar nicht!« Sie machte Anstalten, Robby zu folgen, doch Daniel hielt sie energisch zurück.
»Komm, bleib, das ist ja wohl Männersache!« Er zog sein Strandhemd über den Kopf und stürzte sich ins Wasser.
»Robby! So höre doch endlich!« rief Julia aufgeregt, doch der drehte sich nicht um. »So ein Lausbub«, murmelte Julia.
Anuschkas Hand stahl sich in die ihre.
»Ich glaube, ich bin schuld, weil ich gesagt habe, daß mein Papa und Sie vielleicht heiraten«, beichtete sie verstört. »Er war furchtbar wütend und hat gesagt, ich wäre eine dumme Gans und ein Klatschweib.«
So war das also! Robbys Eifersucht war größer, als Julia vermutet hatte, wenn er doch imstande war, gleich solch eine Dummheit zu machen. Sicher war er nicht ins Wasser gegangen, um gleich zu ertrinken, aber er wollte die Aufmerksamkeit auf sich lenken, die er jetzt durch Daniel gemindert sah, und auch sein Jähzorn trieb ihn. Kleiner Lausbub! Julia war ärgerlich und gerührt zugleich. Er durfte nicht zum Tyrannen für sie werden, aber andererseits verstand sie ihn ja auch wieder viel zu gut. Da war endlich ein Mensch, den er ganz für sich allein zu haben glaubte, und nun fürchtete er, sie durch Daniel zu verlieren oder zumindest wieder – wie im Heim – ihre Zuneigung mit anderen teilen zu müssen! Das verkraftete er nicht.
Daniel hatte Robby nun fast erreicht. Der Junge hatte wohl bemerkt, daß ihm jemand gefolgt war und war weiter ins Tiefe gegangen, so daß er jetzt beim nächsten Schritt völlig unterging. Aber Daniel hechtete zu ihm und packte ihn mit einem Griff an den Haaren und zog den zappelnden Jungen mit sich.
»Lassen Sie mich los!« prustete er, als er wieder Luft bekam.
»Ich denke ja nicht daran, du kommst jetzt mit heraus, verstanden«, sagte Daniel grob, denn er ärgerte sich über den eigensinnigen kleinen Kerl, der nach seiner Meinung so töricht eifersüchtig auf die große Schwester war. Er wußte ja nicht, wie die Dinge wirklich lagen, und verstand ihn deswegen nicht.
Ob er wollte oder nicht, Robby wurde ziemlich unsanft wieder aufs Trockene gebracht, wo Julia ihn erst einmal in ihren Bademantel hüllte, da ihm die Zähne vor Kälte aneinanderschlugen.
»Dem gehört das Hinterteil versohlt, dem Bürschchen«, meinte Daniel und trocknete sich die Tropfen ab. »Seiner Schwester solch einen Ärger zu bereiten, tz, tz.«
Richtig haßerfüllt wurde der Blick des Jungen daraufhin, und Julia erschrak.
»Aber nein, es war nur ein bissel unüberlegt, gelt, Robby?« sagte sie liebevoll und rubbelte ihn trocken.
Vorwurfsvoll sah Daniel sie an. Er verstand nicht, warum sie so milde war, fand, daß die den Jungen viel zu sehr verwöhnte. Er dachte, daß sich das ändern müsste, wenn sie heirateten. Ja, Daniel war in der letzten Nacht zu dem Entschluß gekommen, Julia zu fragen, ob sie ihn heiraten wollte. Er war bis über beide Ohren in sie verliebt. Außerdem war er der Meinung, daß sie auch für Anuschka eine liebevolle Mutter sein würde, die sie brauchte. Es war ihm ja auch nicht entgangen, daß Anuschka Julia sehr mochte. Er sagte sich, daß Robby ja wohl in einem Internat lebte und somit ihre Kreise nicht ständig stören würde. Trotzdem würde man wohl nicht umhin können, ihn von seinen übertriebenen Besitzansprüchen Julia gegenüber abzubringen. Und damit finge man am besten gleich an.
»Unüberlegt?« sagte er deshalb barsch. »Ich nenne das schlicht und einfach ungezogen.«
»Aber nein, das wollte er ganz gewiß nicht«, verteidigte Julia ihren Schützling temperamentvoll, über Daniels Ton nun auch verärgert.
Es entging ihr, aber nicht Daniel, daß Robby bei ihren heftigen Worten triumphierend schaute. Daniel dachte, daß er deswegen offen mit Julia sprechen müßte, wenn sie seinen Antrag annehmen würde. Würde sie denn? Plötzlich war er nicht mehr so sicher wie in den vorangegangenen Stunden…
Sie saßen danach wie immer beisammen, aber die Stimmung war gespannt, die alte Gelöstheit und die so jungen Gefühle ihrer gerade erwachten Zuneigung wollten nicht mehr recht durchkommen. Sie redeten gezwungen, es gab lange Pausen. Wie ein kleiner Wachtposten saß Robby zudem neben ihnen und war nicht zu bewegen, wieder mit Anuschka zu spielen.
»Ich mag nicht mehr, weil ich noch friere«, erklärte er, als Anuschka ihn immer wieder aufforderte, die Burg zu Ende zu bauen.
Verdammter Lausebengel dachte Daniel ärgerlich, denn er wußte, wie Julia auch, daß Robbys Eifersucht ihn neben ihnen hielt.
Früher als sonst verließen sie den Strand, gingen stumm nebeneinander die wenigen Schritte zum Hotel, und auch im Lift sprachen sie kaum.
»Sehen wir uns beim Abendessen in einer Stunde?« Julia schaute unsicher. »Ich glaube«, sagte sie schließlich zögernd, »Robby gehört ins Bett, und wir essen besser oben eine Kleinigkeit.«
»Wie du willst«, erwiderte Daniel gekränkt, nahm Anuschka an die Hand und ging mit ihr den Gang entlang zu ihren Zimmern.
*
Natürlich waren die vier auch während der folgenden Tage noch viel zusammen, aber es war nicht mehr so wie zuvor. Daniel setzte mehrmals an, um mit Julia zu sprechen, aber tagsüber waren fast immer die Kinder bei ihnen, und für die Abende gab sie ihm auf seine Anfragen jedesmal einen Korb.
Erst am Abend vor Julias und Robbys Abreise – Daniel und Anuschka reisten erst am übernächsten Tag zurück – fragte er sie noch einmal, ob sie in der Bar ein wenig Abschied feiern sollten.
Aber Julia schüttelte den Kopf und sah an ihm vorbei.
»Wir haben ja schon eine sehr frühe Maschine«, erklärte sie, »und da gehen wir besser zeitig schlafen.«
Daniel verstand. Sein Gesicht verschloß sich, da er sich und seine Gefühle so zurückgestoßen sah.
»Dann dürfen Anuschka und ich uns gleich verabschieden«, sagte er steif und streckte ihr die Hand hin. »Gute Reise, Julia, und… alles Gute für die Zukunft.«
»Vielen Dank, und auch für dich und Anuschka alles Gute«, erwiderte Julia. Plötzlich verspürte sie eine seltsame Traurigkeit im Herzen. Nach ihrer Absage war zu erwarten gewesen, daß Daniel sie auch nicht um ein Wiedersehen daheim bitten würde. Dennoch war sie nur geknickt, denn es war doch viel Schönes zwischen ihnen gewesen. Sie nahm sich zusammen und lächelte, drückte seine Hand und streichelte Anuschka über die runde Wange.
»Darf ich Sie mal besuchen?« fragte die Kleine und schaute auch ganz betrübt drein.
»Nein, Anuschka«, sagte Daniel Kamphausen hart. »Darauf wird Fräulein Correll keinen Wert legen. Wir waren Urlaubsbekannte, nichts weiter!« Es klang bitter, und Julia war sehr betroffen, hätte ihm nun doch gern noch ein nettes Wort gesagt. Aber er hatte sich schon umgedreht und war mit seinem Kind davongegangen…
Sie sahen sich nicht mehr. Am nächsten Morgen schliefen die meisten Hotelgäste noch, als Julia und Robby das Taxi bestiegen, das sie zum Flughafen bringen sollte. Und daß droben am Fenster ein Mann hinter der Gardine stand und ihnen traurig nachschaute, bemerkten sie beide nicht.
*
Es war schön, wieder daheim zu sein! Robby nahm von seinem Zimmer und all seinen Spielsachen wieder freudig Besitz, und auch Julia fand, daß ihre Häuslichkeit nicht durch noch so großen Hotelkomfort zu ersetzen war. Frau Schütterle, die in ihrer Abwesenheit auch ihren Urlaub genommen hatte, empfing sie freudig und verwöhnte sie erst einmal wieder mit ihrer Fürsorglichkeit und ihren Kochkünsten.
Natürlich gab es auch mit Vicky ein frohes Wiedersehen, die natürlich begierig war, von ihren Urlaubserlebnissen zu hören. Julia verschwieg ihr die Bekanntschaft mit Daniel Kamphausen und seiner Tochter nicht. Doch Vicky war enttäuscht, daß sich daraus nichts weiter entwickelt hatte.
»Meinst du, daß du dich richtig verhalten hast«, meinte sie vorsichtig. »Robby muß doch wissen, inwieweit er dich in Beschlag belegen kann, daß es noch Bereiche gibt, die dir allein gehören. Du darfst dich ihm nicht versklaven, Julia.«
Diese lachte. »Ach geh, so ist es ja nicht. Weißt du, ich war mir bei Daniel ja auch gar nicht sicher, ob es echte Gefühle waren oder nur ein heftiges Strohfeuer. Er wirkt wie ein Don Juan, sieht viel zu gut aus, um mit einer Frau zufrieden zu sein.«
»Aber, Julia, was hat sein Aussehen mit seinen Gefühlen zu tun! Da tust du ihm sicher Unrecht«, ereiferte sich Vicky.
Julia hob die Schultern. »Mag sein. Aber es ist nun mal so gekommen, und wir werden uns kaum wiedersehen, es sei denn durch Zufall.«
»Ich glaube, sie hat einen kleinen Knacks, was Männer betrifft«, sagte Vicky am Abend zu ihrem Mann Peter, als sie ihm von Julias Affäre berichtet hatte. »Sie wagt es nicht mehr, sich aus der Hand zu geben, aus Angst vor einer neuen Enttäuschung. Schade, denn nach ihren Erzählungen muß dieser Kamphausen recht nett gewesen sein.«
Peter grinste.
»Wenn ich nun auch einmal etwas sagen darf, mein redseliges Weib,
so kann ich dir das bestätigen. Es stimmt durchaus, der Kamphausen ist ein patenter Kerl. Gewiß, was Frauen anbetrifft, war er in den letzten Jahren wohl kein Engel, sie machen es ihm wohl ziemlich leicht, aber…«
»Du kennst ihn?« unterbrach ihn Vicky erstaunt. »Aber davon wußte ich ja nichts?«
»Er ist auch im Golfclub. Ich kann nicht sagen, daß wir uns besonders gut kennen, aber man grüßt sich halt und hört gelegentlich das eine oder andere übereinander. Und da du, mein liebster Schatz, das Golfspielen ja langweilig findest und mich selten genug begleitest, ergab sich eben die Gelegenheit noch nicht, daß ich ihn dir hätte präsentieren können. Allerdings wäre ich wohl auch kaum wild darauf gewesen, dieser Kamphausen sieht viel zu gut aus, als daß ein normaler Ehemann darauf brennen würde, ihn mit seiner Frau bekannt zu machen.« Peter grinste.
»Ja, ja, wer weiß«, neckte ihn Vicky nun in der Art, wie sie oft miteinander plänkelten, »bei so einem Supermann wäre ich womöglich auch noch schwach geworden.« Doch dann wurde sie wieder ernst. »Er ist ehrlich nett, sagst du?«
Nachdrücklich nickte Peter. »Doch, er hat keine Allüren, ist natürlich und freundlich, und seine kleine Tochter, die ich auch schon gesehen habe, ist ein nettes kleines Ding.«
»Es ist ein Jammer«, seufzte Vicky. »Da taucht endlich mal ein Mannsbild auf, das für Julia wie geschaffen scheint, und nun macht der Robby mit seiner Eifersucht alles kaputt! Und ich unglückseliges Weib habe ihr auch noch zugeraten, den Jungen zu adoptieren. Vielleicht war es doch falsch.«
»Ja, ja, es sollte einem eine Lehre sein, sich nicht in anderer Leute Angelegenheit zu stecken«, meinte Peter.
»Aber sie ist meine Freundin, und ich wollte ihr doch helfen und ihr den unseligen Gedanken ausreden, selbst ein Kind zu bekommen, das am Ende keinen Vater haben sollte. Das war doch noch viel verrückter.«
»Stimmt«, nickte Peter. »Manchmal ist sie halt noch exaltiert, die gute Julia.«
»Ach nein, so kannst du nicht sagen«, sagte Vicky, »aber es ist jedenfalls bedauerlich, daß sie die Affäre mit Kamphausen Robbys wegen beendet hat.«
»Jeder ist seines Glückes eigener Schmied«, erklärte Peter lakonisch, lächelte dann und zog seine Frau näher zu sich. »Es kann allerdings nicht jeder so gut schmieden wie wir zwei, gelt, Alte?«
»Alte!« empörte sich Vicky, »ich geb’ dir gleich was!« Aber dann ließ sie sich den Mund von einem Kuß verschließen.
*
Julia hatte Bescheid bekommen, daß die Adoption genehmigt würde und in absehbarer Zeit die entsprechenden Formalitäten vorgenommen werden würden. Sie freute sich sehr, denn ihr Verhältnis zu Robby wurde immer inniger. Er liebte sie mit aller Inbrunst, die lang Entbehrtes in ihm entstehen ließ, und sie selbst konnte sich ein Leben ohne ihn kaum noch vorstellen.
Gelegentlich hatte sie ihn auch ins Rundfunkstudio mitgenommen, wo er sie bei der Arbeit beobachten durfte, und er war ungeheuer stolz auf sie, wenn er später im Radio ihre Stimme wiedererkannte. Bei einer kurzfristigen Theatervorstellung, wo Julia für eine erkrankte Kollegin einsprang, durfte er mit Frau Schütterle im Parkett sitzen, und er war hell begeistert, als er sie in der Maske der Minna von Barnheim erkannte und sie ihm einmal ganz verstohlen ein Zeichen machte.
»Ich werde Schauspieler«, erklärte er nun, und vergessen waren seine früheren Wünsche, die mehr ins Technische gegangen waren.
»Ich fühle mich natürlich äußerst geehrt, daß du in meine Fußstapfen treten willst«, lachte Julia und riet ihm, sich in der Schule besonders
im Deutschunterricht anzustrengen, denn ein Schauspieler müsse natürlich die Sprache beherrschen, sei es in Wort oder Schrift.
Sogar das versprach Robby, obwohl Diktate und Aufsätze ihm ein Greuel waren, und Julia war wieder einmal sehr gerührt.
Leider fühlte sie sich gesundheitlich in der Folgezeit nicht sehr wohl. Sie litt unter Schwindel und Übelkeit und dachte, daß es wohl eine Folge ihres jahrelangen Zigeunerlebens sein mußte. Als es sich nicht besserte, obgleich sie viel ruhte, andererseits auch Sport trieb und eine leichte Diät innehielt, überzeugte Frau Schütterle sie, daß sie einen Arzt aufsuchen müsse.
Sie schilderte dem Internisten ihre Beschwerden. Er untersuchte sie eingehend, bestellte sie dann wieder, um ihr die Auswertung der Laboruntersuchungen und seine Diagnose mitzuteilen. Doch es zeigte sich, daß alle Werte in Ordnung waren, und so sah der achtungsgebietende weißhaarige Mann sie forschend an.
»Könnte es sein, gnädiges Fräulein, daß Sie…«, er zögerte ein wenig, weil seine Frage sie sicher schockierte, »daß Sie schwanger sind?«
Julia fiel aus allen Wolken und sah ihn entsetzt an, schüttelte zunächst einmal heftig den Kopf. »Nein, aber nein doch!« sagte sie überzeugt.
»Nun, dann verzeihen Sie meine Frage. Sie war allerdings nicht ganz abwegig, da Ihre Beschwerden und die negativen Untersuchungsergebnisse stark darauf deuteten. Wir werden Ihren Magen einmal röntgen müssen, um weiterzukommen.«
Julia hörte kaum mehr richtig zu. Fieberhaft arbeiteten ihre Gedanken. Sie mochte den Gedanken kaum zu Ende denken, aber sie wußte nun, daß die Vermutung des Professors nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen war!
Der sah sie groß an, erkannte, daß sie mit ihren Gedanken weit fort war. »Wollten Sie mir vielleicht noch etwas sagen?« fragte er taktvoll.
Beklommen nickte Julia. »Ich… nun ja, ich war vorhin entsetzt über Ihre Vermutung, aber nun ist mir eingefallen, daß…« Sie sprach nicht weiter. Ihre ganze Selbstsicherheit war dahin, und sie errötete wie ein Schulmädchen.
Der Professor blieb ganz sachlich, was ihr über ihre Verlegenheit hinweghalf.
»Wir sollten einen Test vornehmen. Ich kann es ausnahmsweise machen, aber wenn es Ihnen lieber ist, überweise ich Sie natürlich zu einem Gynäkologen.«
»O nein, machen wir es nur gleich«, erwiderte Julia entschlossen.
Danach konnte sie nach Hause fahren und das Ergebnis zwei Stunden später telefonisch erfragen. Wie lang wurden ihr diese einhundertzwanzig Minuten! Sie schob die Möglichkeit, daß der Test positiv ausfallen könnte, weit von sich, doch die Angst, daß es doch der Fall sein würde, saß ihr bereits im Genick.
Nicht auszudenken, wenn sie von Daniel Kamphausen ein Kind erwartete! Seit dem Urlaub hatten sie sich nicht wieder gesehen. Die Stadt war schließlich groß genug, daß sich zwei Menschen, die sich nicht unbedingt treffen wollten, es auch nicht taten. Auch kein Zufall führte sie einander über den Weg, denn den konnte man ja nicht einfach ausschalten. Vergessen hatte sie Daniel zwar nicht, aber sie hatte sich doch redlich bemüht, es zu tun. Und nun das, es war nicht auszudenken!
Und doch war es so, der Test war positiv. Er riet ihr, zur weiteren Betreuung einen Frauenarzt aufzusuchen.
Mit trockenem Mund würgte Julia ein Danke heraus und legte den Hörer auf die Gabel zurück. Sie stand mit hängenden Armen eine ganze Weile wie erstarrt. Schließlich wankte sie zu einem Sessel und ließ sich darin nieder. Der Ausweg, der ihr sogleich in den Kopf kam, zu dem immer wieder Frauen in ihrer Lage griffen, ließ sie schaudern. Wenn sie sich nur ausmalte, was ihr damit bevorstand! Dabei mußte sie sich sagen, daß das, was nun eingetreten war, noch vor einigen Monaten von ihr regelrecht geplant worden war! Nun erwartete sie ein eigenes Kind, das sie sich so sehr gewünscht hatte!
Aber sie hatte Robby, er liebte sie und sie ihn, und nie und nimmer würde sie ihn fortgeben. Diese Möglichkeit kam überhaupt nicht in Frage. Also mußte sie dafür sorgen, daß sie das Kind, das sie unter dem Herzen trug, gar nicht erst bekam. Eine grausame Vorstellung, aber was blieb ihr übrig? Es gefährdete die Adoption von Robby, dessen war sie gewiß. Sicher, vielleicht würde die Adoption perfekt sein, noch ehe man ihr ihren Zustand ansah. Aber sie konnte sich vorstellen, daß man sie noch einmal eingehend befragen würde, bevor es schriftlich wurde, und falsche Angaben konnte sie nicht machen, das war ganz klar.
Julia barg den Kopf in den Händen und stöhnte auf. Welch eine Ironie des Schicksals traf sie da! Was sollte sie tun?
Für den Rest des Tages war sie ganz erledigt. Besorgt erkundigten sich Robby und Frau Schütterle, als sie zum Abend kaum etwas zu sich nahm, ob sie sich wieder schlecht fühlte. Julia nickte nur, damit sie nur ja keine Fragen stellten.
»Leg’ dich nur gleich ins Bett«, erklärte Robby schrecklich besorgt und fragte, ob der Doktor kommen müsse.
Aber Julia zwang sich zu einem Lächeln und verneinte.
»Aber ich lege mich gleich hin, da hast du recht«, fügte sie hinzu.
Sie tat es und lag nun in ihrem Bett, ihren peinigenden Gedanken ausgeliefert. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus, sie mußte mit jemandem sprechen! Und wer anders kam in Frage als Vicky! Vicky war allein zu Hause, hatte sich vor dem Fernseher redlich gelangweilt, wie sie lachend erklärte, und freute sich über den Anruf der Freundin.
»Prima, ich habe gerade Lust zu einem kleinen Plausch«, erklärte sie.
»Ein gemütlicher Plausch wird es leider nicht«, erklärte Julia deprimiert und schilderte ihr dann alles ohne große Umschweife.
Natürlich war auch die gute Vicky vollkommen fassungslos.
»Nein, so was, das ist ja furchtbar«, sagte sie erschrocken, nachdem sie alles vernommen hatte. »Arme Julia, was willst du bloß tun?«
Und Julia sprach davon, daß sie das Kind einfach nicht bekommen könnte. Zwar sah es Vicky einerseits ein, war andererseits aber doch entsetzt.
»Du darfst auf keinen Fall etwas überstürzen«, beschwor sie Julia, »und solltest auch einmal erwägen, ob du dem, den es schließlich ebenso angeht wie dich, es nicht mitteilen willst.«
»Ausgeschlossen!« kam es wie aus der Pistole geschossen durch die Leitung. »Soll ich ihn am Ende noch auf Knien bitten, mich zu heiraten? O nein, Vicky, das verbietet mir mein Stolz!«
»Was heißt Stolz? Das ist doch albern. Ihr hattet beide eine schwache Stunde, also ist doch nicht einzusehen, warum nur einer dafür bezahlen soll. Kamphausen schien doch ernste Absichten zu haben, Julia, und ich nehme an, es kann keine Rede davon sein, daß du ihn auf Knien bitten müßtest, dich zu heiraten. Er wird es als selbstverständlich ansehen.«
»Nein und nochmals nein«, beharrte Julia eigensinnig. »Wir haben uns nie mehr gesehen, vergiß es nicht. Wenn seine Liebe so groß gewesen wäre, hätte er ja schließlich trotz allem einmal anrufen können.«
»Nimm jetzt eine Schlaftablette, damit du zur Ruhe kommst und nicht herumgrübelst«, riet Vicky ihr, und Julia versprach es. Herzlich verabschiedeten sich die Freundinnen und legten auf.
*
Vicky dagegen wälzte sich in ihrem Bett herum und grübelte, wie man Julia aus ihrer Lage heraushelfen könnte. Der Weg, den Julia für gangbar hielt, wollte ihr ganz und gar nicht gefallen.
Als Peter von seinem wöchentlichen Kegelabend heimkam, wunderte er sich, seine Frau noch hellwach vorzufinden.
»Nanu, mein Schatz, was ist denn los? Sonst schläfst du doch immer so fest, daß man dich forttragen könnte?« fragte er und ließ sich auf ihrem Bettrand nieder. »Und so ein ernstes Gesicht machst du auch, ist etwas passiert?«
»Allerdings.« Vicky konnte nicht anders, sie mußte ihm die ganze Geschichte erzählen.
Peters heiteres Gesicht war ernst geworden. »Na so was«, murmelte er, »da kann einem ja die ganze lustige Kegelstimmung zum Teufel gehen. Da steckt die Julia ganz schön in der Zwickmühle.«
»Aber was meinst du denn, was soll sie tun?« jammerte Vicky. »Ich weiß nämlich beim besten Willen nicht, wie ich ihr helfen soll. Nur daß sie nach England gehen will, dagegen habe ich viel.«
»Ich auch«, nickte Peter und überlegte eine Weile. »Ich finde es am richtigsten, wenn sie Kamphausen mitteilte, was los ist«, meinte er schließlich.
»Siehst du, das war ja auch mein erster Gedanke, aber Julia ist nicht dahin zu kriegen, sie verschanzt sich hinter ihrem dummen Stolz.«
»Aber das ist albern. Schließlich hat er sogar ein Recht darauf, es zu wissen.«
»Ja, stimmt, das denke ich auch.«
»Soll ich mal mit ihr reden und versuchen, sie davon zu überzeugen?«
»Aber das hat gar keinen Zweck, Schatz, wirklich, wenn sie nicht auf mich hört, dann noch weniger auf dich.«
»Manchmal sind die Menschen eigensinnig wie Kinder, wissen einfach nicht, was gut für sie ist«, sinnierte Peter tiefsinnig und begann sich auszukleiden.
»Man sollte sie zu ihrem Glück zwingen«, bemerkte Vicky.
»Ich kenne Kamphausen ja, ob ich es ihm einfach sage?« Peter zog seine Pyjamahose an und legte sich auch ins Bett, streckte sich mit wohligem Seufzen aus.
»Ach, liebe Güte, da würde die Julia aber schön bös’ sein«, meinte Vicky und kuschelte sich zu ihm heran.
»Wenn sie wüßte, wie schön es ist, verheiratet zu sein, wäre sie nicht so halsstarrig«, murmelte Peter und streichelte zärtlich ihren Nacken.
»Mit dem richtigen Partner, muß man aber dazusetzen«, sagte Vicky liebevoll.
»Ach, die zwei würden ganz gut zueinander passen«, meinte Peter. »Julia ist ein feiner Mensch und Kamphausen auch, soweit ich’s beurteilen kann. Julias Zorn sollte man eigentlich ruhig auf sich nehmen, mein Mädchen. Du weißt ja, dein Peter hat manchmal ein dickes Fell.«
Vicky lachte leise. »Ja, du Bär, manchmal schon. Aber nun im Ernst, wenn du wirklich meinst, daß wir Schicksal spielen sollten, dann schließe ich mich deiner Meinung an. Aber dann müßtest du es gleich tun und nicht erst ein zufälliges Treffen im Klub abwarten. Ich könnte versuchen, Julia noch bis morgen hinzuhalten, kaum länger, das siehst du doch ein?«
»Ich werde ihn morgen früh anrufen und ihn fragen, wann es ihm paßt.«
Nun erst fand Vicky neben ihrem schon sanft entschlummernden Peter auch eine ungestörte Nachtruhe.
*
Dr. Peter Fabian ließ sich gleich am nächsten Morgen mit dem Werk verbinden, in dem Daniel Kamphausen sein Büro als Rechtsberater dieses Betriebes unterhielt. Peter nannte seinen Namen, aber der vielbeschäftigte Mann wußte nicht gleich, mit wem er sprach.
»Wir kennen uns flüchtig durch den Golfclub, Herr Kamphausen«, setzte Peter erläuternd hinzu, und Daniel seufzte in sich hinein, weil er glaubte, daß es sich um eine höchst läppische Vereinsangelegenheit handeln würde.
Sein: »Ja, bitte?« klang deshalb nicht gerade freundlich.
»Ich muß Sie dringend in einer vertraulichen Privatangelegenheit sprechen«, sagte Peter nun. »Möglichst noch heute. Bitte, sagen Sie mir, wann und wo wir uns treffen können, Herr Kamphausen.«
Daniel traute dem Frieden nicht.
»Es betrifft den Klub, nehme ich an?« fragte er kühl.
»Keineswegs. Ich weiß, Sie fragen sich, was ich, den Sie kaum kennen, wohl von Ihnen wollen könnte, aber ich kann am Telefon nicht einmal eine Andeutung machen. Ich bin aber sicher, daß Sie es verstehen werden, wenn ich es Ihnen persönlich erklärt habe. Ich bin kein Mensch, der Dinge unnötig aufbauscht oder gar Vorwände benutzt, glauben Sie mir.«
Restlos überzeugt war Daniel zwar noch keineswegs, aber er verabredete sich für die Mittagsstunden mit Peter. Sie wollten sich in einem Speiselokal treffen, um dort zu essen. So, dachte Daniel, würde er wenigstens immerhin zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und keine Zeit vertrödeln.
Als er gegen ein Uhr das gemütliche Lokal betrat, wartete Peter Fabian bereits an einem Tisch in einer Ecke, den er nur für sie beide hatte reservieren lassen. Er hob winkend die Hand, da Daniel suchend um sich schaute und im Moment nicht einmal genau wußte, nach wem er Ausschau halten sollte. Dann erkannte er Peter und wunderte sich nun doch. Dieser ruhige Mann war es? Der hatte nie so auf ihn gewirkt, als sei er ein Schwätzer oder Wichtigtuer.
Die beiden Herren begrüßten einander freundlich, vertieften sich dann erst einmal kurz in Speise- und Getränkekarte und bestellten die ausgewählten Gerichte.
»Rauchen wir noch eine, bis das Essen kommt?« fragte Peter und reichte Daniel sein Etui entgegen. Ihm war nun doch etwas ungemütlich zumute. Es war nicht einfach, Schicksal zu spielen, stellte er fest und tat erst einmal ein paar hastige Züge.
»Könnten wir vielleicht gleich zur Sache kommen?« fragte Daniel, und nun mußte es sein, er mußte B sagen, nachdem er A gesagt hatte.
»Meine Frau und ich haben lange überlegt, ob ich mit Ihnen sprechen soll, Herr Kamphausen«, begann er, was wieder zu Daniels Verwunderung beitrug. Was hatte er mit Dr. Fabians Frau zu schaffen, die kannte er bestimmt nicht!
»Aber wir sind übereinstimmend zu dem Entschluß gekommen, daß wir Ihnen eine Mitteilung machen sollten, die Sie sehr betrifft, auch wenn…« Er stockte.
»Auch wenn?«
»Auch wenn es gegen den Willen einer bestimmten Person ist«, vollendete Peter seinen Satz.
Was für eine Geheimniskrämerei! dachte Daniel.
»Sie kennen Julia Correll, nicht wahr?«
Sogleich änderte sich Daniels Gesichtsausdruck. Er setzte sich aufrecht.
»Ja, ich kenne sie. Wir haben uns vor zwei Monaten im Urlaub auf Ibiza kennengelernt, aber wie…«
»Julia ist eine Freundin meiner Frau und damit auch meine, und wir sind in groben Zügen über den Verlauf dieser Bekanntschaft unterrichtet«, sagte Peter schnell.
Daniel schaute betroffen drein, eine leichte Röte stieg in sein Gesicht. Sein: »Ja?« stand etwas unsicher im Raum.
»Gestern telefonierte Julia mit meiner Frau, weil sie sich in einer sehr – sehr heiklen Lage befindet. Mit anderen Worten, Julia bekommt ein Kind, Herr Kamphausen, ein Kind, dessen Vater Sie sind, daran ist kein Zweifel.« So, nun war es heraus!
Daniel saß wie erstarrt, hörte die Worte, verstand sie auch, begriff dennoch nicht gleich ihren Sinn.
»Ich… ich soll… ich bin…«, stotterte er, und der weltgewandte Mann war gänzlich verwirrt.
Peter nickte. »Wir kennen Julia gut genug, um zu wissen, daß sie dergleichen nicht sagen würde, wenn es sich nicht so verhielte. Zudem hätte sie keinen Grund, uns, ihren besten Freunden, etwas vorzumachen. Sie ist ziemlich verzweifelt, denn nach Ihrer kurzlebigen Beziehung ist sie nun in einer Situation, die… nun, sagen wir einmal, höchst unerwünscht ist. Deshalb erwägt sie auch eine… eine Abtreibung, und das ist es, was wir, ihre Freunde, um jeden Preis verhindern wollen. Da sie sich hartnäckig weigert, Sie, den es doch genausoviel angeht, über die Tatsachen ins Bild zu setzen, haben meine Frau und ich beschlossen, über ihren Kopf weg zu handeln. Wir kennen Sie nicht gut genug, um Ihre Reaktion abzusehen, aber als verantwortungsvoller Mensch muß man so etwas schon einmal auf sich nehmen.«
Julia bekam ein Kind! Nun endlich setzte Daniels Denkvermögen wieder ein. Natürlich war er maßlos überrascht, aber als Hiobsbotschaft nahm er diese überwältigende Neuigkeit nicht auf.
»Es war mein Wunsch, sie zu heiraten«, sagte er schließlich aus seinen sich überstürzenden Gedanken heraus. Es klang wie eine Rechtfertigung, und so nahm es Peter auch auf.
»Und sie wollte nicht«, sagte er halb fragend, halb feststellend.
»Ja. Es gab da Meinungsverschiedenheiten wegen ihres Bruders, und irgendwie verabschiedeten wir uns schließlich, ohne ein Wiedersehen zu verabreden. Ich war der Meinung, daß sie es nicht wünschte.«
»Wegen ihres Bruders?« fragte Peter.
»Ja, wegen Robby.« Daniel nickte. »Ein eifersüchtiger und etwas eigenwilliger kleiner Bursche, der seine Schwester meines Erachtens ziemlich zu tyrannisieren versuchte.«
»Robby ist nicht Julias Bruder, Herr Kamphausen.«
»Nein? Ja… aber, was denn dann?« Daniels Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Er ist ihr kleiner Pflegesohn, den sie adoptieren wird«, sagte Peter und erzählte die Geschichte in kurzen Zügen.
»Deshalb die Eifersucht des Jungen auf mich«, sagte Daniel verstehend. »Ich begreife nur nicht, warum eine Frau wie Julia sich ein fremdes Kind ins Haus nimmt, anstatt… der Kleine ist doch fremd, oder?«
»Ja, sie hat ihn aus einem Heim herausgeholt. Julia hatte etliche Enttäuschungen hinter sich, wissen Sie. Es gibt Kerle, die glauben, bei einer Schauspielerin brauche man sich gefühlsmäßig nicht so zu engagieren, weil sie halt Künstlerin ist und deswegen leichtlebig sein müßte. Sie wollte nicht mehr heiraten, und ich denke, auch ihre Angst vor neuer Enttäuschung sprach bei der Trennung von Ihnen mit. Sie wünschte sich ein Kind, und dann war es unglücklicherweise meine Frau, die ihr zu einem Heimkind riet. Allerdings glaubte Vicky, Julia würde es nicht bis zur letzten Konsequenz durchführen, so ein bißchen hielt sie es für eine Laune… oder sagen wir wie eine Stimmung. Julia ist keine launenhafte Person im negativen Sinne.«
»So ist das also«, sagte Daniel nachdenklich. Doch dann wurde ihm wieder bewußt, weshalb Dr. Fabian ihn hatte sprechen wollen. »Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, Dr. Fabian«, sagte er. »Nicht auszudenken, wenn Julia ihren Vorsatz durchführte und ich ganz ahnungslos geblieben wäre. Ich werde noch heute zu ihr gehen!«
»Ich wußte es«, erwiderte Peter zufrieden. »So und nicht anders habe ich Sie eingeschätzt, auch wenn wir uns nur flüchtig kennen. Und…«, er grinste, »ein bißchen männliches Solidaritätsgefühl sprach natürlich auch mit.«
Daniel aß zwar, aber man hätte ihm Stroh vorsetzen können, er hätte es nicht gemerkt. Dann hatten es beide Herren eilig, sich zu verabschieden. Auf Peter warteten seine Praxis und eine gespannte Vicky, und Daniel begab sich nach einem kurzen Anruf im Werk sogleich zu Julia.
*
»Da ist ein Herr, der Sie sprechen möchte, Fräulein Correll«, sagte Frau Schütterle.
Julia, die dumpf vor sich hingebrütet hatte, sah auf. Gerade war Vicky wieder fortgegangen, die wie mit Engelszungen auf sie eingeredet hatte, keinen Entschluß zu überstürzen und ihr alles, was gegen eine Abtreibung sprach, vor Augen geführt hatte. Es hatte Julia nicht unbeeindruckt gelassen, zumal auch ihr eigenes, innerstes Gefühl im Grunde dagegen war.
»Ich möchte niemanden sehen«, sagte sie unfreundlich, wie es gar nicht ihre Art war.
»Das dachte ich mir, und deshalb bitte ich um Verzeihung, wenn ich einfach eindringe«, sagte da eine Männerstimme, die sie zusammenzucken ließ.
Daniel schob Frau Schütterle einfach beiseite und trat ins Zimmer. Verwirrt blieb die gute Dame stehen.
»Ja, aber…«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Schon gut, bitte, lassen Sie uns allein«, sagte Daniel freundlich, aber doch so entschieden, daß sie widerspruchslos ging.
»Daniel«, murmelte Julia verwirrt. »Ich verstehe nicht… wie… wieso kommst du hierher – ausgerechnet jetzt?« Die letzten beiden Worte sprach sie mehr zu sich selbst, aber er hatte sie doch verstanden und trat zu ihr.
»Gerade jetzt, Julia«, sagte er und beugte sich zu ihr hinunter, die wie erstarrt in ihrem Sessel sitzen geblieben war.
»Wie… wieso…« Irritiert schaute sie zu ihm auf.
»Darf ich mich setzen?«
»Bitte.« Sie wies auf den Sessel sich gegenüber, aber er zog den neben ihr vor und rückte diesen nahe heran.
Daniel nahm ihre Hand und hielt sie so fest in der seinen, daß sie sie ihm nicht entziehen konnte.
»Hast du mir nichts zu sagen, Julia?«
Sie hob die Schultern. »Ich wüßte nicht. Willst du mir nicht erklären, was dich so plötzlich zu mir führt?«
»Gut, wenn du nicht sprechen willst, muß ich es wohl. Julia, ich weiß, daß du jetzt Sorgen hast, Sorgen, die auch die meinen sein sollten, und deswegen bin ich gekommen.« Ernst sah er sie an.
Sie zuckte zusammen. »Woher weißt du…«
»Daß du ein Kind erwartest? Unser Kind, Julia?« fragte er schonungslos. »Ist das nicht gleichgültig? Wir müssen über den Tatbestand reden, das ist das wichtigste.«
Julia hatte die Brauen zusammengezogen. »Nur von Vicky kannst du es wissen, denn kein anderer wußte davon.« Sie verzog bitter den Mund. »Nicht einmal seiner besten Freundin kann man trauen! Deshalb versuchte sie mich heute…«
»Nicht deine Freundin, sondern deren Mann hat es mir mitgeteilt, und das solltest du beiden hoch anrechnen, anstatt ihnen böse zu sein. Es ist nicht recht, daß du mich von etwas fernhalten willst, was mich ebenso angeht wie dich, Julia.« Er sagte es vorwurfsvoll.
»Aber es ist – eine Panne, nichts Gewolltes, ich werde schon allein damit fertigwerden!« sagte sie heftig.
»Aber wie, Julia! Was du vorhast, billige ich nicht und werde es unter allen Umständen zu verhindern wissen!« erwiderte er scharf. »Ich werde doch nicht dulden, daß man ein Kind von mir umbringt, und daß du damit noch dein Leben aufs Spiel setzt, ebensowenig…«
»Ach, das ist doch heutzutage kein Problem mehr. Es sind doch Kliniken, in denen man so etwas in England vornimmt, keine obskuren Pfuscher. Und außerdem ist es mein Körper, und ich kann…«
»Wir werden heiraten«, erklärte Daniel und überging ihre letzten Worte einfach.
»Ich denke nicht daran! Durch ein Kind lasse ich mich doch nicht zur Ehe zwingen!« rief Julia und entriß ihm ihre Hand. »Wenn Peter dir alles erzählt hat, dann hat er dir sicher auch gesagt, daß ich ursprünglich sogar vorhatte, von einem Mann ein Kind zu bekommen, ohne ihn zu heiraten, weil ich nämlich die Nase voll hab’ von euch Männern und nicht einsehen kann, daß man unbedingt verheiratet sein muß, um Mutter zu sein. Wenn ich das Kind kriegen sollte, dann ist es jedenfalls kein Grund für mich, dich zu heiraten.«
»Du bist eigensinnig und halsstarrig, Peter Fabian hatte ganz recht«, grollte Daniel. »Außerdem würde ich dir keine Ruhe lassen, bis du deine Meinung änderst. Schon im Urlaub war mir klargeworden, daß ich dich liebte und heiraten wollte, das kann dir doch nicht entgangen sein. Nicht jede Beziehung, die wie ein oberflächlicher Ferienflirt beginnt, muß schließlich auch so enden. Nur dein Verhalten schreckte mich ab und deine übertriebene Beziehung zu deinem angeblichen Bruder störte mich.«
»Das weißt du also auch«, warf Julia bitter ein.
»Man konnte mir schwerlich das eine ohne das andere mitteilen, es ergab sich zwangsläufig. Dieses fremden Jungen wegen willst du doch vor allem dein und mein Kind… morden, das ist es doch!«
Bei seinen brutalen Worten zuckte Julia zusammen.
»Rede nicht so!« sagte sie heftig.
»Soll man die Dinge nicht beim Namen nennen?« entgegnete er zornig. »Aber ich werde es tun, Julia, damit dir bewußt wird, was du da vorhast. Jetzt geht dein Kind vor, nicht ein eigensinniger fremder Junge, will denn das nicht in deinen Kopf? Wir kennen uns zwar erst kurz, aber ich denke, du bist keine Frau, die daraufhin ein ruhiges Gewissen hätte. Ein Leben lang würdest du unter deinem Fehlentschluß leiden, glaube mir. Ich lasse es nicht zu! Du – du hast mich doch auch gern gehabt, sonst wäre schließlich nicht passiert, was passiert ist. Warum sollen wir nicht heiraten und eine glückliche Familie sein? Anuschka hatte dich so ins Herz geschlossen, du mochtest das Kind auch, das auch so dringend wieder eine Mutter braucht. Da hast du Aufgaben genug!«
»Und Robby?« fragte Julia abweisend. »Ihn soll ich wieder ins Heim schicken, nicht wahr?«
»Es müßte nicht sein, wenn er anders wäre. Wo zwei Kinder sind, könnten auch drei sein, wir sind ja keine armen Leute. Nur fürchte ich, daß er mit seiner Eifersucht Spannungen in die Familie bringen würde, und das gefällt mir natürlich nicht.«
»Wie egoistisch du bist«, sagte Julia verächtlich. »Keinen Deut schert dich das Schicksal dieses armen Jungen, der in seinem Leben kaum Liebe gehabt hat. Nun liebt er mich, und seine Eifersucht ist doch verständlich.«
»Sicher ist sie das. Aber überlege doch einmal, seinetwegen machst du etwas kaputt, was nicht nur einen Menschen angeht. Wir könnten glücklich sein, das weiß ich, mein Kind wäre es, und unser Kind dürfte leben. Das alles willst du wegen dieses einen Jungen opfern?«
Julia war am Ende ihrer Nervenkraft, weil sie natürlich auch die Richtigkeit seiner Argumente sah. Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.
So hörte sie nicht, daß eine Tür klappte, ahnte nicht, daß der, um den es auch ging, alles mit angehört hatte. Robby, der bei einem Freund gewesen war, kam früher nach Hause, und da Frau Schütterle natürlich nichts von der Bedeutung dieses Besuches ahnte, hatte sie ihm erlaubt, ins Wohnzimmer zu gehen. Manchmal vergaß Robby das Anklopfen noch, und so öffnete er die Tür. Doch die beiden erregten Stimmen, die er dann vernahm, ließen ihn unwillkürlich stocken. Er blieb stehen, schaute durch den Türspalt und lauschte wie erstarrt, zumal er nun auch seinen Namen hörte.
Er begriff, daß er überflüssig war, daß diese beiden Menschen seinetwegen nicht zusammengekommen waren. Und da war von einem Kind die Rede, das sie erwartete! Mit zehn Jahren verstand man mehr, als Erwachsene oft glaubten. Darum war es Julia also immer nicht gutgegangen, fiel ihm blitzartig ein. Und als sie nun in Tränen ausbrach, hielt es ihn nicht länger auf seinem Lauscherposten. Er zog die Tür leise zu und rannte hinaus in sein Zimmer. Dort warf er sich auf sein Bett und kämpfte mit den Tränen. Er fühlte sich als das überflüssigste Geschöpf auf Gottes Erdboden. Sein kleines Herz war todtraurig!
Und dann dachte er, daß er fortgehen müsse. Er wollte nicht Julias Glück im Weg stehen. Er würde in die weite Welt gehen und… und Schiffsjunge werden oder – oder…
Robby sprang auf. Aus seinem Schrank zog er einen Anorak, und dann leerte er seinen Schulranzen auf dem Bett aus, packte ein paar Sachen hinein, von denen er glaubte, daß er sie nicht entbehren könnte. Das waren ein dicker Pulli und Strümpfe und sogar seine Zahnbürste wanderte hinein, eine kleine Wasserpistole, ein Matchboxauto, ein Comicheft. Er schlich in die Küche, die zum Glück leer war. Frau Schütterle war im Garten beschäftigt, wie er mit einem Blick aus dem Küchenfenster feststellte. So konnte er sich ein wenig Wegzehrung aus den Vorräten einstecken. Ein Stück Brot, ein Stück Wurst, zwei Äpfel und eine Banane.
Als er mit seiner Beute am Wohnzimmer vorbeiging, war es still darinnen. Rasch huschte er hinauf, stopfte alles noch in den Ranzen, zog den Anorak an und verließ umgehend das Haus.
Eine Nachbarin wunderte sich ein wenig, den Kleinen um diese Nachmittagsstunde mit dem Schulranzen auf dem Rücken aus dem Haus gehen zu sehen, aber sie dachte nichts Böses.
Langsam trabte die kleine schmale Gestalt die Straße entlang, sich gelegentlich nach dem schweren Wagen umsehend, der immer noch vor dem Haus stand…
*
Daniel hatte den Arm um Julia gelegt und sprach tröstend und voller Zärtlichkeit auf sie ein.
»Ich liebe dich, Julia, bitte, sei vernünftig und laß uns heiraten. Wir werden die Probleme lösen, auch den Jungen betreffend. Ich will nicht, daß du unglücklich wirst, so oder so nicht. Und wenn dein Herz so an dem Kind hängt, dann werden wir uns eben beide um ihn bemühen, auch ich. Du hast ja recht, wenn du sagst, daß unsere Beziehung nicht auf seine Kosten gehen darf. Es wäre ja gelacht, wenn wir nicht gemeinsam so einem kleinen Buben das geben könnten, was er braucht. Seine Eifersucht wird er schon überwinden. Wir holen uns den Rat eines Psychologen ein, wie man ihn anfassen muß. Ist das nicht eine gute Idee?«
Julia ließ die Hände sinken. Seine Worte hatten sich wie Öl auf ihr verzweifeltes Herz ergossen. Ja, so sprach ein Mann, der sie wirklich liebte, so hätte sie es sich schon damals gewünscht. Und alle Gefühle, die sie für ihn zu verdrängen gesucht hatte, brachen in diesem Augenblick wieder auf.
»Ach, Daniel«, sagte sie froh, »wenn du wirklich meinst, was du sagst, so – so…«
»So kannst du mir endlich sagen, daß du mich auch keineswegs vergessen hattest und lieb hast?« fragte er hoffnungsvoll.
Sie legte die Arme um seinen Hals.
»Ja, Daniel, ja und nochmals ja! Ich wollte mich nie mehr verlieben, aber nun ist es doch passiert. Ich habe mich so dagegen gewehrt, und dann ging es ja auch um Robby. Meinst du, wenn wir heiraten, würde man uns beiden die Adoption genehmigen?«
»Du willst mich also heiraten?« Er lachte glücklich und nahm sie fest in seine Arme, um sie erst einmal ausgiebig zu küssen.
»Ja, ich will«, flüsterte sie in sein Ohr. »Ich liebe dich nämlich auch, selbst wenn ich es mir bis heute nie eingestehen wollte!«
»Dann ist alles gut«, seufzte er und streichelte ihr Gesicht. »Ach, ich bin so froh, Liebste. Ich hatte das Alleinsein so satt, diese flüchtigen Abenteuer, die einem hinterher immer nur ein schales Gefühl einbrachten! Auch Anuschkas wegen bin ich froh, das Kind wird glücklich sein, das weiß ich. Sie spricht immer noch von dir.«
*
Jäh wurde die Tür aufgerissen, und die Liebenden schraken zusammen. Es war Frau Schütterle, sie keuchte, als sei sie schnell gelaufen, und sie schaute ganz verstört drein.
»Fräulein Correll, der Robby… ich finde ihn nicht, und er ist nicht in seinem Zimmer«, stieß sie hervor.
»Aber, Frau Schütterle«, erwiderte Julia nach dem ersten Schreck sorglos. »Haben Sie denn vergessen, daß er zu Andreas Steeger gegangen ist?« Sie schaute auf ihre Uhr. »Na ja, er ist zwar spät dran, eigentlich solle er um sechs Uhr wieder…«
»Nein, nein«, unterbrach sie Frau Schütterle, »er war ja schon vor einer Stunde zurückgekommen, war er denn nicht bei Ihnen?«
»Nein, hier war niemand«, antwortete Julia betroffen.
»Er wollte sagen, daß er wieder da ist. Ich war jedoch dann im Garten und habe nicht weiter nach ihm gesehen. Nun wollte ich ihm Abendbrot machen und fand ihn nicht in seinem Zimmer. Ich stellte fest, daß er in seinem Kleiderschrank herumgewühlt hat, seine Schulmappe ist ausgeleert, als habe er sie mit anderen Sachen vollgestopft und ist…« Frau Schütterle mochte den schrecklichen Gedanken gar nicht aussprechen, der ihr instinktiv gleich gekommen war, als sie das unordentliche Zimmer gesehen hatte, das so verdächtig nach Aufbruch ausgesehen hatte.
Julia war aufgesprungen und Daniel mit ihr. Sie war blaß geworden.
»Sie meinen… er ist… fortgelaufen?« fragte sie tonlos.
»Es ist so komisch«, jammerte die gute Schütterle. »Sonst kommt er doch auch zwischendurch öfter zu mir, besonders im Garten hilft er mir doch gern. Aber ich glaubte, er wäre eine Weile bei Ihnen gewesen und vermißte ihn erst jetzt.«
»Gehen wir hinauf und sehen wir nach!« sagte Daniel, die Initiative ergreifend, und so begaben sie sich zu dritt hinauf zu Robbys Zimmer.
Julia erschrak, denn sie hatte den gleichen Eindruck wie Frau Schütterle zuvor, und als sie dann auch noch feststellten, daß Robbys wärmster Pullover fehlte und andere Kleinigkeiten, da war es ihnen fast Gewißheit, daß er durchgebrannt war.
»Aber weshalb bloß?« fragte Julia verzweifelt. »Ich verstehe es einfach nicht. Noch heute morgen war er so froh und vergnügt, und nichts war ihm anzumerken. Nur, daß ich mich nicht fühlte, machte ihn besorgt. Aber das zeigt doch eher das Gegenteil an.«
Daniel sah sie groß an. »Er wollte zu dir ins Wohnzimmer kommen, wie deine Hausdame eben sagte, Julia. Und wenn es nun so war und wir hätten sein Eintreten überhört? Wie du weißt, waren wir…« Er warf Frau Schütterle einen kurzen Blick zu, »sehr vertieft in unsere Unterhaltung.«
»Du willst doch nicht etwa sagen, daß… daß Robby etwas Entscheidendes davon gehört haben könnte?« fragte Julia erschrocken, und doch hielt sie es, schon während sie die Frage aussprach, für den einzigen Grund, aus dem heraus Robby so etwas hätte tun können.
Nun nickte auch Daniel.
»Es muß so sein. Aber nun beunruhige dich nicht, Liebste, ich werde sofort die umliegenden Straßen abfahren, auch zum Bahnhof und die nächste Autobahnausfahrtstraße entlang. Es kann ja noch nicht weit sein.«
»Armer Robby, er muß schrecklich verstört gewesen sein«, murmelte Julia mit Tränen in den Augen.
Etwas verwirrt hatte Frau Schütterle von einem zum anderen gesehen. Schon als Daniel die Initiative ergriffen hatte, hatte sie sich gewundert. Nun nannte er Fräulein Correll auch noch Liebste!
Daniel legte den Arm um Julia.
»Bleibe du hier, Julia. Falls er zurückkommt, ist es besser. Manchmal dauern ja solche kindlichen Ausflüge aus Trotz nicht lange. Oder rufe bei seinen Freunden an, vielleicht ist er zu einem von ihnen gegangen.«
»Die Polizei sollte man nicht benachrichtigen?«
»Er ist zwei Stunden fort, da würde man uns nur auslachen. Zudem ist es noch hell, so daß man doch erst selbst schauen sollte. Gibt es noch einen besonderen Platz hier in der Nähe, an dem man ihn vielleicht finden könnte?«
Julia und Frau Schütterle sahen sich an.
»Höchstens auf dem Spielplatz am Ende der Straße«, meinte Letztere schließlich, und Julia nickte. »Da geht er manchmal hin, aber ich glaube nicht, daß er jetzt dort ist.« Sie schaute sehr verzweifelt aus.
»Keine Angst haben, es wird schon alles gut werden«, flüsterte Daniel ihr noch zu, dann eilte er hinaus.
Dann ging Julia zum Telefon, um bei Robbys Freunden nach ihm zu fragen. Doch das erwies sich als ergebnislos.
*
Leider war auch Daniels Suche umsonst, unverrichteterdinge kam er nach mehr als einer Stunde zurück.
»Nichts«, sagte er bedrückt und hob bedauernd die Schultern. »Und hier?«
»Robby ist nirgends«, sagte Julia unglücklich. »Überall habe ich schon angerufen, auch bei Vicky. Sollten wir nicht doch lieber die Polizei benachrichtigen?«
»Es läßt sich wohl nicht länger vermeiden, es dunkelt ja schon.« Daniel nickte.
*
Robby war die Straße entlanggegangen, ohne zu wissen, wohin. Zunächst fühlte er sich trotz seines Kummers wie ein wenig auf Entdeckungsreise. Die Geschäfte waren noch geöffnet, er ließ sich immer weiter ins Stadtzentrum treiben inmitten der Menschen, die nach Feierabend noch ihre Einkäufe tätigten.
In einem großen Kaufhaus war es herrlich. Besonders in der Spielzeugabteilung gab es ja so schöne Dinge zu sehen und in die Hand zu nehmen!
Doch nachdem ihn eine Verkäuferin eine ganze Weile beobachtet hatte, trat sie schließlich zu ihm.
»Möchtest du etwas kaufen?«
»Nein – nein, nichts«, stotterte Robby erschrocken und hätte das Segelboot, das er zur näheren Betrachtung in die Hand genommen hatte, beinahe fallen lassen.
Etwas mißtrauisch schaute die Verkäuferin seinen Ranzen an, den er auf dem Buckel trug.
»Sag bloß, du bist seit Schulschluß noch nicht zu Hause gewesen und trödelst hier herum«, sagte sie tadelnd. »Geh nur heim, was meinst du, was deine Mutter sich für Sorgen macht!«
»Hab’ keine Mutter«, brummte Robby, aber dann fand er, daß er es besser nicht gesagt hätte, denn nun wurde sie erst recht argwöhnisch.
»Ja, höre mal, wo gehörst du denn hin? Bist du etwa ausgebüxt?«
»Ach wo, ich gehe jetzt zu meiner… Oma«, sagte Robby schnell. Zum Glück war ihm das noch eingefallen, und dann drehte er sich auf dem Absatz herum und schlängelte sich schleunigst davon. Kopfschüttelnd sah ihm die Verkäuferin nach.
Langsam kam die Dämmerung, und nun fragte sich Robby, wo er wohl die Nacht verbringen sollte. Am nächsten Tag wollte er als Schwarzfahrer mit der Bahn nach Hamburg fahren, um Schiffsjunge zu werden, aber um diese Zeit konnte er das nicht wagen. Robby schaute sich um. Dort in dem dichten Gebüsch würde man ihn sicher nicht finden, aber er hatte nicht einmal eine Decke und würde sicher scheußlich frieren. Und wer friert schon gern? So ein kleiner Junge, der an ein warmes Bett gewöhnt ist, sicher nicht.
Robby verließ den Park wieder.
Aber bald schmerzten ihn seine Füße, er war ja so langes Gehen nicht gewohnt. Die Straßen wurden allmählich wieder zu Wohnstraßen. Er war in ein Neubauviertel geraten mit langen Straßenzügen, Hochhauskomplexen dazwischen und Reihenhäusern.
Da waren auch noch viele im Bau befindliche Häuser, und Robby fiel ein, daß er im Fernsehen schon gesehen hatte, daß in solchen Neubauten oft Heimatlose zu übernachten pflegten. So schlich er sich in das nächststehende Haus und wollte gerade die Treppe hinaufgehen, die noch kein Geländer besaß, als ein Mann aus den unteren Räumen kam. Der künftige Hausherr offenbar.
»Verflixt noch mal, Lausejunge, was treibst du hier?« rief er ärgerlich. »Kannst du nicht lesen? Da steht groß und breit ein Schild, daß das Betreten der Baustelle verboten ist. Mach bloß, daß du fortkommst, sonst kannst du was erleben!«
Und der erschrockene Junge nahm die Beine in die Hand und rannte so lange, bis er gänzlich aus der Puste war.
*
Julia und Daniel hatten kein Auge zugetan und sich immer in der Nähe des Telefons aufgehalten, in der Hoffnung, der erlösende Anruf würde ihnen Gewißheit über Robbys Verbleiben bringen. Doch er blieb aus, und ihre Stimmung sank. Besonders Julia war voller Verzweiflung, und Daniel hatte große Mühe, sie immer wieder ein wenig zu beruhigen und die Hoffnung in ihr wach zu halten.
Als morgens um sieben Uhr dann wirklich das Telefon schellte, glaubten beide nicht mehr, daß man Robby gefunden haben könnte, aber dennoch sprang Julia auf, und ihre Stimme zitterte, als sie ihren Namen nannte.
»Der Ausreißer ist gefunden, Fräulein Correll«, hörte sie eine Stimme sagen, und sie stand einen Augenblick wie erstarrt, konnte nicht begreifen, daß die Qual des Wartens nun ein Ende hatte.
»Hallo, hören Sie?« fragte der Polizeibeamte am anderen Ende der Leitung.
»Ja – o ja – ach, mein Gott, bin ich froh«, stammelte Julia nun endlich. »Es geht dem Jungen doch gut? Wo war er denn bloß?«
»Man fand ihn heute morgen in einem Neubau schlafend, die Handwerker entdeckten ihn, als sie kamen. Er hat sicher einen tüchtigen Schnupfen bekommen, aber sonst ist er putzmunter.«
»Wo ist er denn?« fragte Julia atemlos.
»Hier bei uns auf dem Revier, wo wir ihn erst einmal mit heißer Milch und unseren Frühstücksbroten gefüttert haben«, lachte der Beamte. »Kommen Sie in die Kreuzstraße zum fünften Revier.«
»Vielen, vielen Dank auch«, sagte Julia und legte auf.
Daniel war natürlich längst aufgestanden und zu ihr getreten, und sie fiel ihm vor grenzenloser Erleichterung um den Hals.
»Ach, Daniel!« Sie schluchzte plötzlich.
»Aber, aber, mein Kleines«, sagte er zärtlich, selbst sehr froh, daß diese schreckliche Sorge von ihrem jungen Glück genommen war, »es ist doch alles gut. Komm, wir fahren gleich hin!«
Sie berichteten der verschlafenen Frau Schütterle noch die gute Neuigkeit und fuhren dann zum Polizeirevier.
Dort sprachen sie zunächst einmal mit dem diensthabenden Inspektor, der ihnen die näheren Umstände, wie man Robby gefunden hatte, schilderte.
»Und dann haben wir ihn hier befragt, weshalb er fortgelaufen ist«, sagte er und schaute die Frau und den Mann vor sich an. »Kinder laufen ja niemals ohne Grund davon, das erfahren wir immer wieder.«
»Wir wissen es oder zumindest vermuten wir es«, kam ihm Julia zuvor und sprach von ihren Adoptionsabsichten und daß sie nun heiraten wollte und daß der kleine Junge wohl ein Gespräch belauscht haben müsse, das sie mit ihrem zukünftigen Mann – sie wies auf Daniel – geführt hatte.
»Stimmt«, nickte der Beamte. »Und er versicherte uns, daß man ihn nicht haben und wieder ins Heim stecken wolle und daß er deshalb fortgelaufen sei.«
»Ganz so ist es nicht«, warf Daniel jetzt ein, wenn auch sein Gesicht Schuldbewußtsein verriet. »Ich gebe zu, ich war nicht sonderlich begeistert, daß wir den Jungen in unserer Familie aufnehmen sollten. Er war eifersüchtig, und ich befürchtete Komplikationen, da ich auch ein Kind in die Ehe mitbringe. Aber noch während unseres Gespräches änderte sich meine Meinung, da meine Verlobte mich davon überzeugt hatte, daß es nicht richtig sei, das bedauernswerte Kind wieder seinem Schicksal zu überlassen, nachdem es gerade die Liebe und Zuwendung gefunden hatte, die es brauchte. Nur hat der Kleine diesen Teil unseres Gespräches offenbar schon nicht mehr gehört.«
»Stimmt, davon sagte er nichts«, erwiderte der Beamte nun sehr viel freundlicher. »Dann hoffe ich, ich kann Ihnen das Kind bedenkenlos wieder mitgeben?«
»Bestimmt!« Julia und Daniel sagten es wie aus einem Mund.
Nun holte man den Jungen herein. Wie das verkörperte schlechte Gewissen schlich er hinter dem jungen Beamten her, der ihn herübergebracht hatte. Nicht einmal aufzusehen wagte er.
Julia stürzte zu ihm und zog ihn stürmisch in ihre Arme.
»Robby, Robbylein, du dummer Kerl, was hast du da bloß gemacht«, flüsterte sie und streichelte sein Gesicht. »Wie konntest du denken, daß ich dich jemals wieder hergebe! Und dann gleich auszureißen! Ich bin fast gestorben vor Angst um dich!«
Robby schmiegte sich in ihre Arme. Wie wunderbar war es, wieder bei seiner geliebten Julia zu sein! Doch dann versteifte sich sein kleiner Körper, als er Daniel entdeckte.
»Der da will mich aber nicht«, murmelte er trotzig und wies mit dem Finger auf den Mann.
»Doch, er will«, erwiderte Julia. »Wir erklären dir aber zu Hause alles, einverstanden?«
Robby antwortete nicht. Er schwankte zwischen dem Wunsch, wieder heimzukommen, und seiner Abneigung gegen Daniel.
Da half Julia nach, in dem sie den Arm um seine Schultern legte und ihn einfach mit sich zog. Sie verabschiedeten sich noch von den Polizeibeamten und gingen dann zu Daniels Wagen. Julia setzte sich mit Robby auf die Rücksitze. Sie sprachen kein Wort, nur seine feste Bubenhand hielt Julia in der ihren.
Als sie vor der Villa in der Uhlandstraße hielten, stürzte Frau Schütterle heraus.
»Ach, Jungchen, da bist du ja endlich wieder!« rief sie und nahm ihn in die Arme. »Eigentlich sollte man dich übers Knie legen!« brummte sie dann, um ihre Rührung zu verbergen.
Julia steckte ihren Pflegesohn zuerst einmal in die Badewanne. Für Daniel war es höchste Zeit, in sein Büro zu fahren, und er verabschiedete sich zunächst.
»Es wird ohnehin besser sein, wenn du allein mit Robby sprichst.«
Julia nickte. »Ja, ich erkläre ihm alles und bin sicher, daß er es dann auch verstehen wird. Man hat ihm doch angemerkt, wie gern er wieder nach Hause kam. Er war einfach in Panik, das ist es.«
Wohlig streckte sich Robby in dem warmen duftenden Wasser. Eine schlimme Nacht lag hinter ihm. Er hatte sich gefürchtet, war sehr traurig gewesen und gefroren hatte er. Sein Trotz war verflogen und die Lust am Abenteuer mit ihm.
Willig ließ er sich von Julia abfrottieren und ins Bett stecken.
»Du mußt noch schlafen und dich ausruhen, bleibst heute daheim und gehst nicht in die Schule. Ich entschuldige dich dort«, erklärte Julia entschieden, und Robby widersprach natürlich nicht. Für einen Augenblick setzte sie sich noch an sein Bett und nahm seine Hand.
»Ich möchte dir alles erklären, Robby, du wirst dann besser schlafen, und ich brauche hoffentlich keine Angst mehr zu haben, daß du noch einmal fortläufst.« Sie berichtete ihm, wie die Unterredung mit Daniel weitergegangen war, nachdem er – Robby – davongelaufen war. »Du mußt Daniel verstehen, denn sehr nett hast du dich ihm gegenüber im Urlaub nicht benommen, du weißt es ja selbst. Er war halt voreingenommen, das ist doch verständlich.«
Robby nickte zögernd. »Aber, ich dachte… du magst ihn nicht. Du hast ihn ja auch nicht wieder getroffen, und nun wollt ihr auf einmal heiraten, das verstehe ich nicht.«
»Doch, ich möchte ihn. Aber du weißt, wie es kam, daß wir uns nicht gerade freundlich trennten. Und außerdem weiß ich nun, daß…« Julia stockte. Es war schwer, aufrichtig zu sein, aber sie war es dem Kind schuldig. »Inzwischen stellte ich fest, daß ich… ein Baby bekommen werde«, sagte sie nun fest.
»Ja, ich weiß, ich habe das gehört«, gestand Robby kleinlaut. »Und deswegen dachte ich auch, daß ihr mich nun noch viel weniger haben wolltet.«
»Was für ein Unsinn! Das Baby wird ein neuer kleiner Mensch sein, das wir sehr lieben werden, aber du bist bereits da und dich liebe ich auch und will dich nie mehr hergeben, hörst du?«
Wieder nickte Robby.
»Ja, jetzt glaube ich es. Aber gestern… da war alles so schrecklich und…«
»Schon gut, das verstehe ich doch«, sagte Julia beruhigend.
»Und nun heiratet ihr?« fragte Robby dann. »Weil… ihr müßt ja, nicht?«
»O nein, auch eines Kindes wegen muß man nicht immer heiraten, aber wir haben uns lieb, und das ist doch ein Grund, nicht?«
»Warum meine Mutter wohl meinen Vater nicht geheiratet hat«, sagte Robby statt einer Antwort. Sein eigenes Schicksal wurde ihm dadurch sehr bewußt.
»Sie war noch sehr jung, und ich glaube, ihre Eltern wollten es nicht.«
»Und da hat sie mich einfach fortgegeben! Sie ist eine böse Mutter!« sagte Robby heftig.
Julia erschrak. Hatte sie Robby zuviel gesagt? Inwieweit war er früher über seine Herkunft aufgeklärt worden? Sie wußte es leider nicht.
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte sie ruhig. »Schau, so ein sehr junges Mädchen, das plötzlich ein Baby erwartet, ist doch in keiner glücklichen Lage und weitgehend auf die Hilfe und Unterstützung seiner Eltern angewiesen. Diese Eltern – deine Großeltern – waren jedoch noch sehr altmodisch im Denken. Für sie war ein uneheliches Kind halt eine Schande, und so bestanden sie darauf, daß deine Mutter dich in ein Heim gab. Sie wußten es nicht besser.«
»Wo ist meine Mutter denn?« fragte Robby.
»Ich weiß es nicht. Aber würdest du sie denn sehen wollen?« fragte Julia, und ihr Herz schlug bang.
»Nein«, sagte Robby nach einer Weile des Nachdenkens. »Ich würde vielleicht einmal sehen wollen, wie sie aussieht, aber sonst will ich lieber bei dir bleiben.«
Julia atmete auf. »Das wirst du, mein Liebling, das verspreche ich dir! Wir werden dann allerdings die Adoption noch einmal neu und für uns beide – für Daniel und mich – beantragen müssen. Weißt du, das ist nun mal so, bei Ehepaaren kann nicht einer alleine die Adoption vornehmen, das müssen beide tun.«
»Wenn Herr Kamphausen mich wirklich will?« meinte Robby noch ein wenig zweifelnd. »Wo ihr doch dann euer Kind bekommt, und die Anuschka ist auch noch da.«
»Na und?« lachte Julia. »Ich habe mir früher immer viele Geschwister gewünscht, weil ich leider keine hatte. Nun habe ich gleich drei Kinder. Und du wirst Eltern und Geschwister haben, wie die meisten deiner Freunde, ist das nicht herrlich?«
Sicher, das war nicht schlecht, dachte Robby, und plötzlich war die Welt für ihn wieder in Ordnung. Er nickte.
»Ja, das wäre toll!«
»Na, siehst du. Und nun solltest du schlafen können, was meinst du?«
»Ja.« Robby legte die Arme um ihren Hals und küßte Julia auf die Wange, daß es nur so schallte.
Auch Julia legte sich ein wenig nieder, um sich von den Aufregungen und Strapazen dieser Nacht zu erholen. In dem beruhigenden Bewußtsein, daß nun alles gut werden würde, schlief sie ein.
*
Drei Wochen später waren Julia und Daniel ein Ehepaar! Sie wohnten nun alle zusammen in Daniels modernem Bungalow, der reichlich Platz bot, und hatten die alte Villa in der Uhlandstraße vermietet. Frau Schütterle war mitgezogen, denn Daniels Haushälterin hatte sogleich gekündigt, als sie hörte, daß wieder eine Frau ins Haus kommen würde, und niemand war böse darüber gewesen.
Nun bemühte sich das junge Ehepaar gemeinsam, die aufgeschobene Adoption wieder neu zu beantragen, und natürlich wurden sie beide auch auf das Jugendamt bestellt, man wollte ja auch Daniel kennenlernen.
Nachdem sie das Amt verlassen hatten, war Daniel so schweigsam, daß es Julia auffiel. Sie hängte sich bei ihm ein.
»Du bist ja immer noch ganz beeindruckt, Lieber«, sagte sie und drückte seinen Arm.
Er blieb jäh stehen und sah zu ihr herunter, und ihr wurde bewußt, daß es mehr als das sein mußte.
»Was ist denn?« fragte sie betroffen.
»Julia…«, stieß er rauh hervor. »Ich kenne die Mutter von Robby. Ich kenne Christine Hansen!«
Julias Augen weiteten sich. »Du willst sagen, daß du… aber das wäre ja ein enormer Zufall! Vielleicht ist es nur eine Namensgleichheit?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht. Aber komm, laß uns zu Hause darüber sprechen, nicht hier auf der Straße.«
Sie waren am Parkplatz angelangt und stiegen in ihren Wagen, fuhren eilig nach Hause, wo sie sich gleich in Daniels Arbeitszimmer zurückzogen.
»Nun sprich«, bat Julia voller Spannung, als sie sich nebeneinander auf die Ledercouch gesetzt hatten.
Daniel umfaßte Julias Schultern. In seinem Gesicht zuckte es erregt.
»Ich kannte Christine Hansen sehr gut. Sie war meine letzte Freundin, bevor ich Anuschkas Mutter heiratete. Ich studierte damals in Freiburg und lernte sie dort kennen. Deshalb bin ich ja auch so sicher, daß es sich um keine Verwechslung handeln kann. Sie war hübsch, und sehr verliebt waren wir ineinander, doch eines Tages schrieb mir ihr Vater, ein hoher Regierungsbeamter, daß er die Freundschaft seiner Tochter mit mir nicht billigte und verbot mir, sie wiederzusehen. Ich gebe zu, in meiner Studentenzeit war ich ein ziemlicher Hallodri und hatte etliche Liebschaften. Ich nahm an, das war diesem Herrn zu Ohren gekommen, und daraufhin wollte er seine Tochter vor mir bewahren: denn Christine war sehr jung und sehr unschuldig… bis sie mich kennenlernte.« Daniel biß sich auf die Lippen.
»Wolltest du sie heiraten?« fragte Julia.
»Um ehrlich zu sein, bis dahin hatte ich nicht daran gedacht. Wir waren verliebt, weiter dachten wir wohl beide noch nicht. Na, und als dann der Brief ihres Vaters kam, zog ich die Konsequenzen.«
»Du machtest Schluß?«
»Ja. Ich sah Christine nie mehr wieder. Ich schrieb ihr noch einen Brief, in dem ich das Verhalten ihres Vaters bedauerte, und ich hoffte, sie würde mir antworten, aber nichts geschah. Das kränkte meine Eitelkeit ziemlich, ich gestehe es. Wenn sie sich den elterlichen Wünschen derart bedingungslos unterordnete, dann konnte es mit ihrer Liebe zu mir kaum sehr weit her sein, sagte ich mir.«
»Ein eigenartiger Zufall«, sagte Julia nachdenklich. Plötzlich ließ ein Gedanke sie auffahren. »Wann war das genau, Daniel?« fragte sie ahnungsvoll.
Er sah sie an. »Ich weiß, worauf du hinauswillst, Julia«, erwiderte er ernst. »Die Möglichkeit, daß ich Robbys Vater bin, besteht.«
Julia umklammerte ihn. »Daniel!«
»Ich weiß genau, daß ich den Brief von Christines Vater im Mai bekam, und zwei Monate zuvor war unsere Freundschaft sehr eng geworden. Wenn ich Robbys Geburtsdatum zugrunde lege, so kann eigentlich nur ich als Vater in Frage kommen, denn Christine war unschuldig gewesen und zudem kein Mädchen, das mehrere Liebhaber zugleich gehabt haben würde. Aber ich schwöre dir, Liebste, ich wußte nicht, daß sie schwanger war! Ich sah sie ja niemals wieder, und ein Semester später verließ ich Freiburg.«
»Aber ich glaube dir doch«, erwiderte Julia, die sich wieder faßte. »Nur kann ich es nicht fassen. Es hört sich an wie eine Geschichte aus einem schlechten Roman: Ausgerechnet du… es wäre nicht zu fassen. Aber…«
»Aber was?«
»Es wäre ein glücklicher Zufall, Daniel, so sehe ich es«, sagte sie ernst.
»Gottlob, daß du es so siehst«, erwiderte er erleichtert und schloß sie fest in seine Arme. »Ich dachte schon, du würdest mir meine Vergangenheit vorwerfen.«
»Lieber Himmel, ich weiß doch, daß ich keinen Unschuldsengel habe«, lächelte Julia. »Ein junger Mann hat seine Amouren, das ist doch klar. Ich verstehe zwar nicht, warum dieser Vater von Christine Hansen eine Heirat nicht wünschte, aber…«
»Mein Vater war nur ein kleiner Angestellter, ich mag ihm nicht fein genug gewesen sein. Christines Eltern verkehrten in besten Kreisen, vielleicht hatten sie bereits andere Pläne mit ihr. Aber wenn ich gewußt hätte, daß sie ein Kind erwartet, so hätte ich trotz des Briefes versucht, sie wiederzusehen, das mußt du mir glauben!«
»Ich glaube es dir«, erwiderte sie schlicht. »Aber was machen wir nun? Wollen wir diese Tatsache dem Amt verschweigen? In den Unterlagen steht ›Vater unbekannt‹. Was wäre da zu tun, um deine Vaterschaft zu klären?«
»Ich müßte versuchen, Christine zu finden, damit sie sie bestätigen kann. Nur sie kann es oder ihre Eltern. Aber ich weiß nicht, ob es dir recht wäre, so in der Vergangenheit herumzustochern.«
»Aber es geht doch auch um Robby«, sagte Julia. »Stell dir vor, wenn er erführe, daß du sein leiblicher Vater wärest! Sein Verhältnis zu dir würde doch viel inniger sein!«
»Also, wenn es dir wirklich nichts ausmacht?«
»Bestimmt nicht«, versicherte Julia nachdrücklich, und dann lächelte sie. »Du wirst lachen, immer wenn ich Robby und dich nahe beieinander gesehen habe in der letzten Zeit, dann dachte ich, daß ihr euch eigentlich so ähnlich seht, als wärest du sein wirklicher Vater. Ich fand mich verrückt, weil ich mir das einzureden suchte, aber nun zeigt sich, daß ich recht hatte!«
»Mein ahnungsvoller Engel«, murmelte Daniel zärtlich. Und dann besprachen sie, was sie unternehmen wollten, um das Rätsel um Robbys Vater endgültig zu klären.
Sie kamen zu dem Schluß, daß Julia anrufen sollte, um bei den Eltern nach Christine zu fragen. Sie wollte sich einfach als frühere Freundin ausgeben.
Über die Telefonauskunft erhielten sie die Nummer von Dr. Georg Hansen, der wirklich noch in Freiburg lebte, und Julia zögerte nicht, die angegebene Nummer gleich zu wählen. Gespannt preßte sie den Hörer ans Ohr.
»Hier bei Hansen«, meldete sich eine weibliche Stimme, die Julia als die einer Hausangestellten vermutete.
»Kann ich bitte Herrn oder Frau Hansen sprechen?« fragte Julia herzklopfend.
»Frau Hansen ist da, Herr Hansen ist ja im letzten Jahr gestorben«, lautete die Antwort ein wenig verwundert, daß die Anruferin das noch nicht zu wissen schien.
»Oh, Verzeihung, dann möchte ich bitte mit Frau Hansen sprechen.«
»Einen Augenblick, bitte.«
»Hansen«, meldete sich wenig später eine Frauenstimme, der man anhörte, daß sie einer älteren Dame gehörte.
»Hier ist Julia Correll, Frau Hansen«, stellte diese sich vor. »Ich bin eine frühere Bekannte Ihrer Tochter Christine und würde sie gern einmal wiedersehen. Leider weiß ich ihre Anschrift nicht, könnten Sie mir da helfen?«
»Meine… Tochter?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung zitterte hörbar. »Ja, wissen Sie denn nicht, daß Christine… schon… vor fünf Jahren… gestorben ist?«
»O nein, das ist mir nicht bekannt«, erwiderte Julia so bestürzt, daß Daniel, der neben ihr stand, sie erschrocken fragend ansah. »Es tut mir leid, Frau Hansen«, fügte sie hinzu.
»Aber nein, wenn Sie es doch nicht wußten. Sie sind eine frühere Studienkollegin von meiner Tochter?«
»Ja«, log Julia, weil sie nichts anderes zu sagen wußte.
Die alte Frau in Freiburg war nun offenbar froh, mit jemandem über ihre verstorbene Tochter reden zu können. Sie berichtete, daß Christine bei der Geburt ihres Kindes gestorben sei.
»Und das Kleine mit ihr«, fügte die alte Dame klagend hinzu. »So habe ich nun niemanden mehr, nicht einmal ein Enkelchen, und mein Mann hat mich im vorigen Jahr auch noch verlassen. Ich bin ganz einsam geworden. Wenn Sie mich einmal besuchen würden, so würde mich das sehr freuen, dann könnte ich mal wieder mit jemanden über meine Tina sprechen.«
Es war erschütternd, und Julia fühlte sich schuldig, weil sie sich mit einer Lüge eingeführt hatte. Und blitzschnell ging ihr noch durch den Kopf, daß die einsame alte Frau ja doch ein Enkelkind besaß, wenn Robby wirklich Christines Sohn war. Sie beschloß aufs Ganze zu gehen.
»Frau Hansen, es tut mir leid, daß Sie so allein sind«, sagte sie vorsichtig, »aber ich dachte immer, da sei noch ein Enkelkind.«
Sekundenlang blieb es ganz still, so daß Julia sich schon Gedanken machte.
»Sie… Sie wußten, daß Christine… vor ihrer Ehe mit Bernhard…«
Die alte Dame sprach die Frage nicht ganz aus, ihre Stimme schwankte. »Woher wissen Sie das?«
»Von… Christine selbst«, schwindelte Julia und fühlte sich nicht sehr wohl dabei.
»Ja, sie hatte einen kleinen Sohn aus… aus diesem Verhältnis«, sagte die alte Dame schließlich. »Wir – mein Mann und ich – veranlaßten, daß der kleine Robert zur Adoption freigegeben wurde. Damals wollten wir alles lossein, verstehen Sie? Heute… ach, was würde ich drum geben, wenn ich das Kind einmal sehen könnte. Aber wer weiß, wo es gelandet ist.« Nun weinte die alte Frau.
»Frau Hansen, wenn es Ihnen recht ist, rufe ich Sie demnächst wieder an, um auf Ihre Einladung zurückzukommen«, sagte Julia schnell.
»Ach ja, wie nett, ich würde mich wirklich freuen, Fräulein… wie war doch gleich Ihr Name? Wissen Sie, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut, sonst könnte ich mich sicher an Sie erinnern.«
»Kamphausen«, sagte Julia gespannt und wartete auf ein Echo. Aber die alte Frau erkannte Daniels Namen nicht.
Sie verabschiedete sich von der alten Dame und legte auf. Ein wenig hatte Daniel nun schon mitbekommen, aber nun berichtete sie ihm, was sie erfahren hatte.
»So ist Christine tot«, sagte er erschüttert, wie es einem immer nahegeht, wenn ein so junger Mensch sterben mußte. Aber er war nun sicher, daß sich alles so verhielt, wie sie vermuteten und nur er als Robbys Vater in Frage kam.
Sie beschlossen, daß sie zu der alten Frau fahren sollten, um letzte Gewißheit zu erlangen.
Für einen der folgenden Tage meldeten sie sich bei Frau Hansen an, die sich ahnungslos, aber sehr erfreut zeigte. Robby ließen sie jedoch nichts merken, das wäre noch verfrüht, fanden sie. Aber Daniel schaute den Jungen immer wieder an und entdeckte nun Ähnlichkeiten mit sich selbst und auch mit seiner Jugendgeliebten, die er früher natürlich nicht beachtet hatte.
Julia und Daniel bemühten sich, die alte Dame sehr vorsichtig zu informieren, damit sie sich nicht zu sehr aufregte. In ihrem Alter war das schließlich nicht ungefährlich. Dennoch wurde ihr feines, welkes Altfrauengesicht einen Schein blasser, als sie der Wahrheit schließlich selbst nahekam.
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Ihr Mann…«, sie schaute nun Daniel an, »der Vater von Christines Buben ist?«
»Doch. Wir sind jetzt ganz sicher«, nickte Julia und berichtete die ganze Geschichte von vorn und sehr ausführlich.
Gespannt lauschte die alte Dame, die knotigen Hände ineinander verkrampft. Schließlich nickte sie.
»Ja, mein Mann war gegen diese ganze Liebelei, weil er gehört hatte, daß Sie… nun ja, Sie waren jung und haben wohl Ihr Leben genossen… Jedenfalls war mein Mann sehr streng in seinen Auffassungen und lehnte Sie als Mann für meine Tochter ab. Ein uneheliches Kind kam auch nicht in Frage, also mußte der Kleine fortgegeben werden. Es wurde Christine unendlich schwer, und überwunden hat sie es wohl niemals ganz. Sie war ja so zart und empfindsam und zu schwach, um sich gegen ihren Vater zu wehren. Genau wie… ich auch. Was er bestimmte, wurde getan. Wie es im Herzen aussah, danach fragte er ja nie. Christine war deshalb so froh, als sie merkte, daß sie ein Kind erwartete, weil sie hoffte, dadurch leichter zu vergessen. Und dann…« Die alte Dame zog ihr blütenweißes Taschentuch hervor und tupfte sich die Augen. Doch plötzlich wurde ihr erst Robbys Existenz bewußt. »Und Sie sagen, daß Sie Christines Kind gefunden haben? Und Sie meinen, ein Irrtum ist ganz ausgeschlossen?«
»Ich nehme nicht an, daß Christine zu der Zeit, als wir zusammen waren, noch andere Freunde hatte«, sagte Daniel.
»Aber nein!« wehrte Frau Hansen empört ab. »So war meine Tochter nicht, und Sie sollten es wissen! Aber… ich muß noch Briefe haben. Christine hatte Ihnen nämlich noch einige Male geschrieben. Nur… mein Mann hat diese Briefe abgefangen«, gestand sie, und ihr welkes Gesicht überzog sich mit leichter Röte.
»Das wären die Beweise!« sagte Daniel hoffnungsvoll, während sie hinausgegangen war, um sie zu holen.
Julia nickte. »Ja, hoffentlich existieren sie noch.«
Tatsächlich kam Frau Hansen mit einem Päckchen vergilbter Briefe zurück, die eindeutig Daniels damalige Anschrift zeigten. Erschüttert lasen sie den Inhalt, aus dem eindeutig hervorging, daß Robby Daniels Sohn war.
»Sie zwingen mich, unseren süßen kleinen Sohn fortzugeben«, sagte die Tote in einem. »Und du hilfst mir nicht, Daniel, warum?«
Es gab keinerlei Zweifel mehr!
Nun legte Julia der alten Dame ein paar Fotos von Robby vor, und diese vergoß bittere Tränen.
»Ich weiß, wir haben es falsch gemacht, Herr Kamphausen«, sagte sie schließlich zu Daniel. »Aber angesichts meines Alters und meiner Einsamkeit bitte ich Sie um Milde. Wäre es möglich, daß ich den Jungen einmal sehen dürfte?«
Julia und Daniel schauten sich an und verstanden einander ohne Worte. Julia nickte dann.
»Natürlich sollen Sie Robby sehen und nicht nur einmal, Frau Hansen.«
Und wieder weinte die alte Frau, und diesmal vor lauter Freude. Sie verließen sie mit dem festen Versprechen, ihr Robby bald einmal zu bringen.
»Und wie sagen wir es unserem Kinde?« fragte Julia lächelnd, als sie wieder auf der Heimfahrt waren.
»Ich denke, wir klären es erst mit den Behörden«, meinte Daniel. Und auch Julia billigte das sehr.
Es war nicht schwer, denn die Beweise sprachen für sich. Die Behörden anerkannten nachträglich Daniels Vaterschaft, und damit entfiel eine Adoption zwar nicht, machte sie aber viel leichter. Es war nunmehr eigentlich nur noch eine Formsache, damit Daniel seinem Sohn auch seinen Namen geben konnte.
Und dann kam der große Augenblick, da sie dem kleinen Jungen alles erzählen konnten.
Julia übernahm es, und sie begann bei der Geschichte der Liebe zwischen seiner Mutter und Daniel.
»Und dieser Daniel, den deine Mutter liebhatte, war dieser hier«, sagte sie und zeigte auf Daniel.
»Du warst der Mann, den meine Mama nicht heiraten durfte, weil meine Großeltern es nicht wollten?« fragte Robby verblüfft.
»Ja, Robby«, nickte Daniel. »Und nun überlege einmal, was das für dich bedeutet.«
Robby zog die Brauen zusammen. »Bist du etwa… mein… mein richtiger Vater?« stieß er schließlich heraus.
»Ja… aber… warum hast du denn nicht einfach… ich meine, warum hast du denn nicht?«
Daniel wußte genau, was Robby meinte.
»Weil ich es nicht wußte, daß deine Mutter ein Kind von mir erwartete«, sagte er schnell. »Deine Mutter hatte es mir zwar geschrieben, aber diese Briefe habe ich niemals bekommen, weil…« Er stockte. Es war wohl besser, Robby erfuhr nicht, wer diese unterschlagen hatte.
Aber der kleine Kerl kombinierte schon. »Das waren meine Großeltern, nicht wahr?« fragte er finster.
»Dein Großvater war es«, mußte Daniel nun doch zugestehen. »So berichtete uns jedenfalls deine Großmutter.«
»Meine Großmutter? Habt ihr sie gesehen?«
»Ja, Liebling, wir mußten sie aufsuchen, damit auch ganz sicher war, daß du der… nun, daß du der Sohn deines Vaters bist«, lächelte Julia. »Und sie hat es uns bestätigt. Und sie sagte uns ferner, daß deine Mutter vor fünf Jahren gestorben ist und auch dein Großvater nicht mehr lebt. Sie – deine Großmama – ist sehr einsam und wäre glücklich, dich später auch einmal sehen zu dürfen.«
Es war fast zuviel, um es auf einmal verdauen zu können! Robby saß eine Weile ganz still, und Julia und Daniel überließen ihn seinen Gedanken.
»Ich habe einen richtigen Papa und eine richtige Oma«, stellte Robby schließlich fest, und die beiden Erwachsenen sahen sich froh an. Auf diese Reaktion hatten sie gehofft.
»Ja, mein Kleiner, und ich habe einen Sohn«, sagte Daniel, und sein Vaterstolz war unüberhörbar.
»Aber beinah hättest du mich nicht gewollt«, wandte Robby ein, doch er zwinkerte verschmitzt.
»Ich war halt ein Esel«, sagte Daniel und alle lachten, die Spannung löste sich.
Zum ersten Mal nahm der Vater seinen Sohn in die Arme, und Robby ließ es ohne Protest mit sichtlichem Wohlgefallen geschehen, obwohl er in letzter Zeit gelegentlich meinte, Zärtlichkeiten seien »unmännlich«.
Danach umhalste er Julia. »Aber du bist meine wirkliche Mutter, Julia, und überhaupt, ich sage jetzt nicht mehr Julia, sondern – sondern Mutti, wie die anderen Kinder zu ihren Müttern.«
»Mein Sohn«, flüsterte Julia gerührt.
Anuschka nahm die Neuigkeit auf, als sei sie das Natürlichste von der Welt.
»Au fein!« rief sie und hüpfte herum. »Ein richtiger Bruder ist ja noch viel besser als bloß ein Pflegebruder.«
Daniel legte seinen Arm um Julias Schultern. »Somit ist festzustellen, daß wir eine sehr glückliche Familie sind.«
Julia schmiegte sich an ihren Mann. »Ja, es ist wunderbar. Manchmal denke ich, ich träume nur.«
Aber der Blick in drei strahlende Augenpaare sagte ihr, daß alles Wirklichkeit war.