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Das Nebelvolk

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Elisa sog mit geschlossenen Augen begierig die Luft ein. Der Duft erfüllte sie ganz und gar. Es war ein alter Duft. Ein Duft von altem Papier, gebunden. Es war der Duft alter Bücher. Sie öffnete die Augen und blickte sich um. Dann schlenderte sie, mit der Hand immer die Buchrücken streichelnd, zwischen den langen großen Regalen der Bibliothek entlang. Ab und zu blieb sie stehen und las die Titel auf den Buchrücken. Sie mochte die Bibliothek. In ihr waren so viele Geschichten verborgen. Sie enthielten so viele Schicksale, so viele Leben, und immer, wenn man eines von ihnen nahm und darin las, erlebte man es wie sein eigenes Leben. Man tauchte hinein und erlebte ein Geschehen, wahrhaftig und wirklich, wenn man sich vorstellte, wie man selber solche Gefahren und Geschichten erleben konnte. Elisa ging um die Ecke in die nächste Reihe. Es waren Holzregale von einem dunklen polierten Braun, in welchen die Bücher aufbewahrt wurden.

„Elisa! Wir müssen gleich zumachen! Bitte beeile dich! Ich habe keine Lust, deinetwegen Überstunden zu machen!“, rief Flora ihr von der Theke aus zu. Sie wusste, wie gerne Elisa in der Bibliothek stöberte.

In der Bibliothek waren nicht nur alte Bücher, sondern auch neue zu finden. Aktuelle Krimis, Thriller, Fantasy und Abenteuerromane. Natürlich auch vieles mehr. Auch sie hatten ihren ganz besonderen Duft. Ein neues Buch zu bestellen und darin zu blättern, war ebenfalls etwas ganz Besonderes. Es war der Geruch von neu Gedrucktem. Jedes Buch hatte sein eigenes Aroma. Elisa hätte sich stundenlang hinsetzen und in einem Buch herumschnüffeln können, bevor sie es las, aber auch währenddessen.

„Ich komme gleich!“, rief sie Flora zu. Diese grummelte etwas, sagte aber nichts weiter.

Wieder sog Elisa den Duft der Bücher ein, als ihr ein ganz besonderer Duft in die Nase stieg. Er war wie frisch gemähtes Gras und Blumen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was für ein Buch solch einen Duft aussenden konnte. Sofort blieb sie stehen und sah sich um. Sie stand zwischen zwei Regalen, in denen dicke alte Lederwälzer standen. Es waren richtig große, schwere Bücher. Elisas Blick fiel auf eine Spalte, die zwischen zwei großen Büchern aufklaffte. Dazwischen stand ein Buch, welches nur halb so groß war wie die anderen. Sie legte ihren Kopf schief: „Das Nebelvolk“, las sie auf seinem Buchrücken. Sofort griff sie danach.

„Elisa! Bitte!“, rief es von vorne. „Ja, ja, ich komme schon!“ Elisa behielt das Buch in der Hand und eilte nach vorn zur Theke. „Entschuldige, ich habe noch etwas gefunden, was ich ausleihen möchte.“ Flora nahm den Scanner und schlug das Buch auf. „Komisch.“ Sie war verwundert. „Was ist denn?“, fragte Elisa neugierig. „Das Buch hat keine Bibliotheksmarkierung. Ob wir vergessen haben, es aufzunehmen?“, antwortete Flora ihr. Elisa nahm das Buch und blätterte darin. Es hatte weder Bibliotheksstempel noch sonst irgendwelche Anzeichen darauf, dass es hierher gehörte. „Vielleicht hat es jemand vergessen?“, spekulierte Elisa. Flora zuckte mit den Schultern. „Nimm es erst mal mit. Ich mag den PC jetzt nicht einschalten. Bring es einfach wieder her, wenn du es gelesen hast, und dann schauen wir mal.“ Elisa lächelt. „Danke!“ Sie freute sich darüber, denn normalerweise war Flora selbst bei so etwas als Bibliothekarin recht engstirnig. Sie winkte Flora zum Abschied zu und verließ die Bibliothek freudestrahlend.

Draußen wurde es bereits dunkel. Elisa ging direkt über die Straße, wo das Haus lag, in dem sie wohnte. Sie ging die kleine Treppe zur Haustür hinauf. Dann zog sie den Schlüssel aus der Tasche und schloss auf.

Heute war niemand zu Hause. Ihre Eltern waren bei Verwandten zu Besuch. Elisa musste wegen Prüfungen zu Hause bleiben. Sie öffnete die Tür und trat in das stille Haus ein. Es war recht dunkel. In der Mitte des Flurs ging eine helle Wendeltreppe hinauf in den 1. Stock des Hauses, in welchem ihr Zimmer lag. Sie tastete sich im Dunkeln halbwegs vorwärts, da sie nicht extra Licht anmachen wollte, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Dann kam sie an das Geländer der Treppe und stieg hinauf. Oben schaltete sie das Licht ein.

Sie hatte einen großen lichtdurchfluteten Raum für sich allein. Dort standen viele Bücherregale, die meist völlig überfüllt aussahen. Teilweise standen Bücher in doppelten Reihen, während auf diesen waagerecht noch andere Bücher lagen. Ganz oben standen die großen schweren Bücher, da das oberste Fach erst die Zimmerdecke als Begrenzung hatte. Es standen viele Hardcoverausgaben, aber auch viele Taschenbücher im Regal. In Elisas Bibliothek war von moderner Literatur bis zu jeglicher Weltliteratur alles zu finden. Sie mochte besonders schöne Ausgaben mit Illustrationen oder schöner glitzernder Schrift. Von Harry Potter über Herr der Ringe und bis zur Biss-Reihe hatte sie so ziemlich alles gelesen. Teilweise war so wenig Platz in ihren Regalen, dass nicht ganz so wertvolle Ausgaben in Stapeln auf dem Boden standen. Elisa ging zum Fenster und drehte die Heizung hoch. Sie fröstelte ein wenig. In ihrem Zimmer standen noch eine Couch, ihr Bett, ein Schreibtisch sowie ein normaler Tisch und ein etwas größerer Kleiderschrank.

Elisa zog die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Dann schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und ließ sich aufs Bett fallen. In der Hand hielt sie das Buch aus der Bibliothek. Es roch sehr gut, auch ein wenig nach Rosen und Parfum. „Wer das Buch wohl vorher hatte?“, fragte sie sich.

Einen Moment hielt sie es unaufgeschlagen in der Hand, hatte die Augen geschlossen und ruhte aus.

Nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder und beschaute das Buch. Es hatte einen Ledereinband, verziert mit einem roten halbrunden Stein. Sie überlegte, ob das Buch wertvoll sei. „Bestimmt, wenn es so einen schönen Einband hat.“ Obendrüber stand: „Das Nebelvolk“.

Elisa schlug es auf. Im selben Moment schien ein Windhauch durch das Zimmer zu wehen. Sie setzte sich kurz auf, aber das Fenster war geschlossen, also ließ sie sich wieder nach hinten fallen. Sie blätterte weiter. Das Buch schien kein Inhaltsverzeichnis zu haben. Es begann gleich mit dem ersten Kapitel.

So der du in der Hand hältst dieses Buch, sei gewarnt.

Blätterst du weiter, wird die Welt dir gewahr,

wie sie ist und wie sie war,

wie sie will sein und wie sie wird,

wenn der Fluch erstirbt.

Nur wenige können es jemals sehen,

das Buch öffnen und es verstehen,

nur wenige können den Fluch verstehen

und gegen ihn wahren Wissens vorgehen,

wenn du dies liest, bist du des Königs Blut

und bist ein Produkt des Fluches Wut

in einer Welt, die nicht existiert,

weil sie völlig den Sinn verliert.

Wenn du auf dem Altar wirst sein,

wird die Welt dein…

Elisa erschauderte. Dieses Gedicht - oder war es eine Weissagung? - war ihr unheimlich. Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte sie überhaupt in Betracht ziehen, dass das eine Weissagung war? Es war vollkommener Unsinn. Sie hatte zwar in vielen Geschichten von anderen Welten gelesen, aber gerade deswegen sollte sie es nicht ernst nehmen.

Sie blätterte weiter:

Es war einmal ein Königreich… so sollte auch die Geschichte des Nebelvolks beginnen, aber es stimmt so nicht ganz. Es war einmal ein Volk, das in Eintracht lebte. Es gab keine Königreiche und Länder, sondern nur das Volk und die Welt. In dieser lasen die Wissbegierigen, die Abenteuerlustigen abenteuerten und die Unternehmungslustigen unternahmen. Das Volk hatte viele Bücher und Bibliotheken. Es schien die perfekte Kultur zu sein. Aber immer wieder gibt es jemanden, der wider alle Logik - denn jeder hatte sie auf seine Weise - nach Macht strebt. So geschah es auch mit dem Magier Ulus. Dieser konnte es einfach nicht verstehen und er wollte es auch nicht. Also schmiedete er Pläne, um die Macht in dieser friedvollen Welt an sich zu reißen. Doch die Wahrer des Friedens erkannten diese, bevor er sie ausführen konnte. Ulus war frustriert. Er sollte verbannt werden, in eine andere Dimension geschickt, denn man kannte und hatte keine Gefängnisse, in die man ihn hätte stecken können. Bevor er seine Welt verließ, sprach er einen Fluch über das Volk aus, welcher es in tiefstes Verderben stürzte: „Ihr, sollt in einer Welt des Egoismus und des Chaos versinken! Ihr sollt euer perfektes Leben verlieren! Wenn ich diese Welt verlasse, wird eure verschwinden, bis jene königlichen Blutes wieder gefunden werden, um euch zu erlösen! Ihr werdet ein Leben im Schatten eures Daseins verbringen, als Schemen in einer Welt, in der ihr nur zuschauen könnt, wie sie zerstört wird!“ Das Volk sah sich ratlos an, doch als Ulus die Welt verließ, wurde der Fluch aktiv. Das Volks wurde zum Schatten, denn niemand wusste mehr, wer das königliche Blut der alten Könige in sich trug, und eine andere, schwierigere Welt legte sich darüber.

In eben diesem Moment wurde draußen alles rabenschwarz. Elisa stand auf, ließ das Buch erschrocken aufs Bett fallen und rannte zum Fenster. Verängstigt blickte sie nach draußen. Auf den Dächern der Häuser erschienen Gestalten, in weiße lange Mäntel gehüllt. Sie hatten Stäbe, die bis auf den Boden reichten. Man konnte ihre Gesichter nicht sehen. Sie rührten sich nicht. Die Menschen zogen sich verängstigt in ihre Häuser zurück.

Ein Blitz zuckte über den Himmel. Im selben Augenblick hoben die Gestalten ihre Stäbe und ließen sie auf die Dächer der Häuser niedersausen.

Elisa wich ein Stück zurück. Aber sie konnte nicht weiter. Hinter ihr war das Fenster. Irgendetwas Unheimliches ging hier vor. Sie blickte zu dem Buch hinüber, aus dem ein weißes Licht drang. Heraus kam ein junger Mann, völlig in Schwarz gehüllt. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen und schrie. Auch er hielt einen langen Stab in der Hand. Dieser war völlig schwarz und ein roter runder Rubin ruhte auf seiner Spitze. Er schritt auf sie zu. Elisa war nicht in der Lage sich zu rühren. Er trat nah an sie heran und berührte ihre Schulter. Dann hob er den Stab. Das Fenster flog auf. Die Gestalten auf den Dächern der andern Häuser rührten sich nicht mehr. Von ihren Stäben schienen Blitze die Häuser einzuhüllen. Elisa hörte die Schreie der Bewohner. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Leute, wie sie sich krümmten vor Schmerz und wie sie schrien.

Die Häuser veränderten sich. Aus dem matten Grau einfacher Wohnhäuser wurde gleißendes marmornes Weiß. Auch die Form der Häuser veränderte sich. Manche wurden kleiner, andere größer. Alles schien zu knistern und sich zu verändern. Elisa blickte ängstlich zu dem Mann auf. Seine Augen schienen rot zu glühen. Sie schrie auf. Kurz danach wurde alles schwarz. Danach folgten nur noch verschwommene Erinnerungen, von der schwarzen Gestalt, die mit ihr in den Himmel schwebte, von einem gläsernen Schloss, das er ihr zeigte und einem Tempel mit einem Altar. Dann erinnerte sie sich an lauter Gestalten, in weiße Mäntel eingehüllt, nur der eine war in einen schwarzen Mantel gehüllt. Alle hatten sie um sie herum, um den Altar gestanden und eigenartige Formeln gemurmelt. Es war ein stetiges unaufhörliches Murmeln, bevor ein Blitz niederschoss und die Tücher zu Boden fielen.

Und das Nebelvolk erwachte nach langer Zeit des Fluches

Klara erwachte auf kaltem Stein. Sie wusste, dass sie auf dem Altar lag, denn das war das Letzte, woran sie sich erinnerte. Ihr blondes Haar war sehr lang gewachsen und sie trug ein schneeweiß schimmerndes weites Kleid. Sie stand auf und verließ den Tempel. Alles draußen war weiß. Die Stadt bestand aus weißen kleinen Häusern. Oder erweckten sie nur den Anschein klein zu sein, vor dem riesigen gläsernen Schloss, welches dahinter stand? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was geschehen war. Niemand war zu sehen. Kein Mensch lief auf den Straßen umher. Klara ging zu dem Brunnen, der neben dem Tempel stand, und tauchte ihre weißen Hände in das erfrischend kalte Wasser, so als wäre es etwas Neues. Sie wusste, dass sie zum Schloss musste. Also machte sie sich auf den Weg, die Stadt zu durchqueren. Die Häuser hatten vom Tempel aus klein ausgesehen, doch teilweise waren sogar Hochhäuser darunter, durch deren Gassen sie hindurchwandelte. Kein Müll lag auf den Straßen, kein Dreck verunreinigte sie, nur ein feiner Staub wirbelte im Wind umher. Sie bog in eine große Hauptstraße ein, die genau auf das Schloss zulief. Sie spürte wie die Schatten jener, die hier einst lebten, einhergingen und ihre Blicke auf sie warfen. Sie waren wie Nebelgestalten, die hier und dort umherwandelten. Verlorene Seelen, die einst hier gelebt hatten. Sie hatten jegliche Größe und Staturen. Einige waren klein wie Kinder, andere groß wie Erwachsene.

Nach einiger Zeit erreichte sie das gläserne Schloss. Es standen keine Wachen davor. Die Tür war vollständig weiß. Einen Moment lang stockte Klara, bevor sie es wagte, einen Schritt durch das Tor zu machen. Alles Glas zersplitterte. Anstelle des durchsichtigen Glases erschien weißer, fast leuchtender Marmor. Das Glas schien um sie herum zu gleiten wie ein Kranz oder ein Schutzschild, der sie umgab. Keine Scherbe fügte ihr Schnittwunden zu, sondern umspielte sie, während sie in das Schloss ging. Sie durchschritt marmorne Gänge und Säle, in denen niemand zu sehen war. Völlige Leere herrschte, denn nur die Nebelwesen schienen diese Orte zu bewohnen.

Dann kam sie in den Thronsaal. Weiß blendend bildete er den Schatz des Schlosses. Ein großer weißer Thron stand dort, auf dem jemand zu sitzen schien. Sie konnte ihn nicht genau erkennen. Klara ging näher an ihn heran. In weißem Anzug mit Stehkragen saß ein Jüngling dort, mit einer perlweißen Krone auf dem Haupt, die Augen geschlossen, schlafend. Klara sah ihn an und berührte seine fast durchsichtige Haut, bevor sie ihm zuflüsterte: „Wach auf mein König.“

In eben diesem Moment schlug er die Augen auf. Himmelblau blickten sie ihr ins Gesicht. Er hob die Hand und berührte Klaras Wange. „Bist du endlich erwacht, meine Königin.“ Er lächelte und fasste ihre Hand. Er stand auf und verließ mit ihr Hand in Hand das Schloss. Da lief ihnen ein Nebelwesen über den Weg. Die Königin hielt es an und berührte es: „Möge der Fluch von dir genommen sein.“, flüsterte sie und das Volk erwachte zum Leben und belebte die Straßen. König und Königin gingen zurück in ihren Palast. Sie herrschten und wachten über das Volk der Nebel und der Menschen, die in der Zeit flüchtig wie die Nebel entlang gleiten.

Die Chronik der Verdammten

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