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1941 Mit Anlauf ins Leben

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Es dauerte lange, bis Kalle an diesem grauen Morgen im Februar 41 wach wurde. Es war ein Samstag und noch stockdunkel. Was war heute los?, überlegte er. Heute war doch schulfrei, erinnerte er sich verschlafen und rieb sich erst einmal gründlich die Augen. Viele seiner Lehrer waren an die Front geschickt worden.

»Schade, heute findet kein Unterricht statt«, murmelte er müde in sich hinein und freute sich dabei diebisch. So ein Krieg hat auch Vorteile. Er grinste breit. Das war die nicht ernst gemeinte Sichtweise eines Schuljungen Anfang der Vierziger. Kalle wollte sich gerade noch einmal genüsslich umdrehen, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass ihn heute noch etwas anderes erwarten würde. Klar dachte er und freute sich. Er hatte ja heute Geburtstag! Hurra, endlich vierzehn! Vielleicht bekam er das Flugzeugmodell geschenkt, dass er sich schon so lange wünschte. Wäre klasse! Ihm fielen die vielen Überraschungen ein, die seine Eltern ihm in den letzten Jahren trotz des Krieges machen konnten. Seine Laune stieg augenblicklich auf Glücks-Niveau, während er zügig aus dem Bett sprang und sich anzog.

Kalle hatte vor, mit seinen besten Freunden ein bisschen Geburtstag zu feiern. Mit Kakao und Kuchen selbstverständlich. Viel Kuchen und reichlich Kakao. Wäre großartig, wenn das klappen würde. Ob Mutti vielleicht für ihn einen Schokoladenkuchen gebacken hatte? Lecker! Bei dem Gedanken daran musste er reflexartig trocken schlucken. Oh ja, bitte! Kuchen mit Schokolade oder Rosinen. Seine Vorfreude war kaum noch zu steigern.

Lotte war schon längst auf dem Weg zur Arbeit. Nachdem es mit Alschweig & Co. zu Ende gegangen war, hatte sie richtiges Glück gehabt und konnte ihre Lehre in der Buchhaltungsabteilung des »Kaufhauses des Westens« beenden. Der Luxus im KaDeWe beeindruckte Lotte etwas zu sehr und kam ihren Interessen entgegen, verführte sie allerdings aber auch zu unüberlegten Käufen. Das verschlang einen guten Teil ihres Lehrlingsgehaltes.

»Lotte-Kind, gib nicht das ganze schöne Geld für Klamotten, Schuhe und unnützen „Schnickschnack“ aus«, mahnte Mutter Lenchen häufig. »Denk auch an deine Aussteuer!«

»Wenn ich mal heirate, dann sowieso nur einen reichen Mann. Da brauch ich keine Aussteuer«, war die übliche Erwiderung ihrer Tochter.

Kalles Vater Willi war bereits seit mehr als einer Woche auffallend häufig zu Hause, rückte aber erst nach einer Woche mit der Sprache heraus. Er hatte seine Arbeit bei der »Rollberg Brauerei« verloren, war nach über zwanzig Jahren entlassen worden. Das Los der Arbeitslosigkeit teilte er nun mit vielen ehemaligen Kollegen. Der Grund dafür war nachvollziehbar. Aktuell waren acht Millionen deutsche Männer in Kriegseinsätzen.

Das bedeutete, acht Millionen Biertrinker befanden sich außerhalb von Deutschland, tranken, wenn überhaupt, ausländisches Bier, Pilsener oder anderes und deshalb wurde weniger Bier verkauft. Die Produktion war verringert worden und damit auch der Personalbedarf reduziert. Eine konsequente kaufmännische Entscheidung, hieß es in einem Rundschreiben, indem der Vorstand die Belegschaft mit Bedauern über die kritische Lage informiert hatte. Davon, dass viele Kriegsgefangene als billige Zwangsarbeiter eingesetzt und so die teureren langjährigen Arbeitskräfte ersetzt hatten, stand natürlich nichts in dem Brief. Willi wurde auf diese Weise aus der »Rollberg Brauerei« verdrängt, verlor seine geliebte Arbeitsstelle und, was noch schlimmer war, seine wöchentliche Mitarbeiterration von einem Kasten Bier. Er war jetzt schon einige Zeit auf Arbeitssuche und machte sich ständig Sorgen, wie er seine Familie ernähren, die Miete bezahlen und die Kohlen für den Winter finanzieren sollte. Es waren harte Zeiten für die meisten Familien an der sogenannten deutschen Heimatfront. Gerade in den Großstädten war das Leben und Überleben schwer.

Als Kalle an diesem Morgen immer noch verschlafen aus seinem Zimmer schlich und neugierig in die Küche schaute, machte ihn das, was er sah, spontan traurig. Keine Blumen, kein Kuchen, keine Geschenke. Enttäuschung machte sich in dem nun Vierzehnjährigen breit. Sein Gesicht verlor alle Fröhlichkeit. Kalt war es auch noch, bemerkte er und stellte fest, dass wieder einmal niemand Kohlen aus dem Keller geholt hatte.

»Kalte Küche, keine Geschenke, kein Kuchen. Das dürfte wohl ein saumäßig trauriger Geburtstag werden«, grummelte er vor sich hin.

Am Küchentisch saßen seine Eltern und unterhielten sich mit ernsten Gesichtern so leise, dass er nicht verstehen konnte, worum es ging. Als sie ihn bemerkten, unterbrachen sie ihr Gespräch und standen sofort auf. Jetzt kamen sie ihm verlegen lächelnd entgegen. Zuerst nahm seine Mutter ihn in den Arm, drückte ihn an sich und ließ ihn lange Zeit nicht los, dann, nach einem innigen Moment, gratulierte sie ihm leise flüsternd mit den Worten:

»Allet Jute zum Jeburtstach, mein kleener Bubi.«

Kleener Bubi? Icke bin nen janzen Kopp größer als du, dachte Kalle. Nur seine Mutter durfte ihn ungestraft Bubi nennen. Diesen ungeliebten Spitznamen würde er wohl nie loswerden. Nicht einmal als Großvater, oder? Sein Vater war etwas weniger emotional, streckte ihm die rechte Hand entgegen, drückte kraftvoll zu und sagte nur kurz und zackig:

»Glückwunsch mein Sohn. Man wird nur einmal vierzehn. Genieße den Tag.«

Na, vielen Dank für jarnüscht, verkniff sich Kalle zu sagen. Seine Enttäuschung saß sehr tief. Nein, eigentlich war er nicht einfach nur enttäuscht, er war richtig sauer. Nach diesem kurzen Moment der Freundlichkeit wurden seine Eltern wieder spürbar ernster.

»Klar«, meinte seine Mutter betrübt. »Wir hätten dir gerne etwas Schönes geschenkt, deinen Geburtstagstisch wie all die Jahre eingedeckt und dir deinen Lieblingskuchen gebacken, aber Geld für Geschenke haben wir in diesen Zeiten nicht übrig und Lebensmittel sind immer schwieriger zu bekommen. Kein Mehl, keine Schokolade, kein Backpulver, also konnte ich keinen Kuchen backen. »Scheiß Krieg! Mistiger!«, fügte sie lauter und unbeherrschter als es ihre Art war, noch hinzu.

»Schon gut«, antwortete Kalle verständnisvoll. »Ich bin ja kein kleines Kind mehr.« Seine Traurigkeit versuchte er tapfer zu verbergen.

Das Frühstück war an Kalles Ehrentag auch nicht so besonders. Es bestand nur aus drei Tage altem Brot, dünn mit Margarine bestrichen und dem Rest einer selbst gemachten Erdbeermarmelade aus besseren Zeiten. Die hatte Lenchen vor vier Jahren eingekocht und für besondere Gelegenheiten aufbewahrt. Der Geburtstag ihres Sohnes war solch ein Anlass. Dieses dürftige Morgenmahl konnte allerdings einen Vierzehnjährigen nicht wirklich satt machen. Keine Wurst, kein Schinken, kein Rührei, kein Käse. Alles doof in Deutschland, besonders bei uns zu Hause. Hoffentlich wird das bald wieder besser!, dachte Kalle resignierend.

Als sie mit dem kargen Essen fertig waren, räumte Lenchen wie immer den Tisch ab und begann mit dem Abwaschen des Geschirrs. Anders als sonst blieb Kalles Vater Willi grübelnd am Küchentisch sitzen. Etwas bedrückte ihn. Mit ernster Miene sah er Kalle lange an und begann erst nach einer ganzen Weile zu reden:

»Ich habe dir doch schon öfters von meinem alten Schulfreund Theo erzählt, meinem besten Freund von damals aus Blankenfelde. Theodor Tischler. Genannt TT. Theo hat sich sehr früh der neuen Bewegung der Nationalsozialisten angeschlossen. Er wusste schon immer, wo er seinen Vorteil finden konnte. TT lebt jetzt in Brandenburg an der Havel und ist dort ein sehr hohes Tier bei den Nazis geworden. Ortsgruppenleiter oder Ortsgruppenführer oder so etwas. Ich habe ihn vor Kurzem zufällig wieder getroffen und wir haben ein Bierchen zusammen getrunken. Es könnten auch zwei gewesen sein. Die hat alle TT bezahlt, da konnte ich doch nicht »Nein« sagen. Er wollte wissen, wie es mir geht und was ich so mache. Da habe ich ihm von uns erzählt, viel von dir, deinen tollen Leistungen in der Schule und deinem Traum, einmal Flieger zu werden. Natürlich erwähnte ich auch meine missliche Situation bei der »Rollberg Brauerei«, meine aktuellen Probleme bei der Arbeitsplatzsuche und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Beim zweiten, nein, wohl doch beim dritten Bier lächelte Theo mich plötzlich an und erzählte mir von seiner spontanen Idee. Ich war sehr gespannt, was er ausgebrütet hatte. Er fing im freundlichen Ton an, zu plaudern und meinte fast nebenbei, er könne in Brandenburg verlässliche Männer gebrauchen. Selbstverständlich hob er einschränkend hervor, müssten das aus seiner Sicht Parteigenossen sein. Das war mir sofort klar: Ohne die Parteizugehörigkeit, zur richtigen Partei versteht sich, geht heute im neuen Deutschland nichts mehr. Er könne sich gut vorstellen, dass ich, Wilhelm Bergmann, den er schon fast sein Leben lang kennt, einer dieser Vertrauten sein könnte. Er machte mir beim vierten Bier schließlich ein Angebot, über das ich schon seit mehreren Tagen nachdenke. Es fällt mir ziemlich schwer, mich dafür oder dagegen zu entscheiden. Ich soll ihn bis zur nächsten Woche informieren, meinte er schon im Gehen, bestellte noch zwei Schnäpse und bezahlte anschließend. Mal sehen, was du dazu sagst«, Willi machte eine kurze Denkpause, trank seinen letzten Schluck Kaffee aus und fuhr fort.

»Er bietet mir eine feste Stelle als Gefangenenbetreuer in der Strafanstalt Brandenburg-Görden an, zum doppelten Gehalt wie bei der »Rollberg Brauerei«, 58 Reichsmark immerhin. Das ist für einen Ungelernten wie mich eine anständige Bezahlung. Dazu würden wir eine neue, helle Dienstwohnung zur Verfügung gestellt bekommen, die nicht mehr kostet als unsere alte Bude hier in Neukölln. Theo erwähnte, dass in den nächsten Jahren sogar eine Beförderung möglich wäre, ziemlich sicher sogar. Das Beste hatte sich der olle Tischler bis zum Schluss aufgehoben. Jetzt musste dich festhalten, Kalle ...«

Willi holte tief Luft und schoss seine frohe Botschaft heraus.

»TT erzählte, dass er hervorragende Beziehungen zu den »Arado Flugzeugwerken« in Brandenburg hätte. Der Oberste dort ist wohl ein Parteifreund von ihm. Was ich dir jetzt erzähle, wirst du mir bestimmt nicht glauben!« Zur Steigerung der Spannung legte er erneut eine Kunstpause ein.

»Wenn du möchtest, kannst du dich kurzfristig bei der Arado vorstellen, eine Aufnahmeprüfung machen und vielleicht bereits im April eine Lehre zum Flugzeugbauer beginnen«, Willi sah seinen Sohn an und erwartete eine Reaktion, die aber erst einmal ausblieb.

»Was sagst du nun? Wäre das nicht klasse? Was meinst du? Kann ich dieses Angebot von Tischler mit gutem Gewissen dir gegenüber ablehnen?«

Willi schaute seinen Sohn mit einem fragenden Lächeln an. Durfte er seinem Sohn die Möglichkeit nehmen, seinen Traum vom Fliegen ein Stückchen näherzukommen? Das wollte er natürlich nicht.

Aber ein Nazi-Vasall zu werden, konnte er sich als ehemaliges SPD-Mitglied auch nicht wirklich vorstellen. Das war eine sehr schwierige Situation und er hatte nur noch wenig Bedenkzeit.

Kalle war sekundenlang, nein, gefühlte Minuten lang komplett sprachlos. Was hatte er da eben gehört? Konnte das denn wahr sein? Er musste erst einmal verarbeiten, was sein Vater ihm da gerade erzählt hatte. Seine Gedanken schwirrten nur so durch seinen Kopf. Er konnte Flugzeugbauer werden, vielleicht auch mal mitfliegen, einen Flugschein machen, Flieger werden. Wahnsinn! Dann platzte es endlich aus ihm heraus.

»Juuchuuu«, brüllte er, sodass seine Mutter vor Schreck fast einen Teller fallen ließ. Das war das Allerbeste, was ihm je hätte passieren können, ein riesengroßer Schritt in Richtung seines Traums, Flieger zu werden. Lehrling bei der Arado. Das wäre Superklasse!!!

Ihm fiel beim Stichwort Arado sofort ein, dass er erst vor zwei Wochen bei einer Werbewoche der deutschen Luftfahrt im Berliner Sportpalast gewesen war. Dort hatte er sich zahlreiche interessante Film-Vorführungen und Informationsveranstaltungen angesehen, die vor allem Kinder und Jugendliche für die Fliegerei und damit für die Luftwaffe begeistern sollten. Kalle war schon vorher mit dem Fliegervirus infiziert und nach dieser Werbeveranstaltung der Nazis komplett verseucht gewesen. An dem Informationsstand der »Arado Werke« hatte er all seinen Mut zusammengenommen und einen der dort anwesenden älteren Lehrlinge angesprochen. Der hatte ihn freundlich begrüßt und geduldig alle seine Fragen über die Ausbildung zum Metallflugzeugbauer beantwortet. Kalle hatte sich die wichtigsten Details sogar notiert:

Die Arado bietet jedes Jahr 30 Ausbildungsplätze. Die Lehrzeit dauert 4 Jahre und kann um ein Jahr verkürzt werden. Das Lehrlingsgehalt beträgt im ersten Lehrjahr 10 Pfennig je Stunde und steigert sich jährlich bis auf 16 Pfennig im vierten Lehrjahr. Alle Lehrlinge werden automatisch in die Flieger-HJ aufgenommen und somit gleichzeitig Teil des NS Fliegerkorps. Die Segelfliegerausbildung ist obligatorisch und erfolgt nach Feierabend. So soll sich der zukünftige Pilotennachwuchs auf seinen Einsatz in der Luftwaffe vorbereiten.

Wahnsinn, dachte Kalle und war komplett begeistert. So was von begeistert, mehr ging gar nicht.

Er konnte es schaffen, erst Flugzeugbauer und dann Flieger zu werden, jubelte er innerlich. Den Weg, um seinem Ziel näherzukommen, seinen größten Traum Wirklichkeit werden zu lassen, kannte er nun.

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