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Tod im Stadtwald

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Griesgrämig, wie jeden Montag, wenn die Schwarz-Weißen, der Fußball-Verein, für den sein Herz schlug, verloren hatten, machte sich Hauptkommissar Leo Cernik auf den Weg zu seiner Dienststelle. Er war ein Fünfziger, kahlköpfig wie ein amerikanischer Krimiheld, mit bernsteinfarbenen Augen, die an die Augen eines Löwen, seines Namenpatrons, erinnerten. Selbst, wenn sie den Eindruck zu schlummern erweckten, entging ihnen nur selten etwas. Immer lagen sie auf der Lauer und konnten einen Delinquenten bis auf den Grund seiner Seele durchbohren. Sein Gedächtnis galt im Präsidium als Archiv, wie das eines Elefanten. Nie vergaß er ein Gesicht, das ihm bei seiner Arbeit je begegnet war, und den dazu gehörigen Namen.

Der erste Montagmorgen im September 1975 war ein solcher Tag. Seine Laune verschlechterte sich bei seiner Ankunft auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums weiterhin, als er feststellen musste, dass ein übermütiger Irgendwer seinen Stellplatz hinter dem Gebäude mit Beschlag belegt hatte, was er als unverzeihliches Sakrileg empfand. Dieser Platz war zwar nicht ausdrücklich für ihn reserviert, aber alle Kolleginnen und Kollegen akzeptierten seinen in keiner Dienstanweisung formulierten Anspruch, den er mit jeder nur möglichen List verteidigte wie ein Platzhirsch sein Revier. Zähneknirschend vor sich hin fluchend, parkte er seinen Wagen dermaßen hinderlich, dass der Verursacher seines Unmuts nicht wegfahren konnte.

„Strafe muss sein, wer immer du auch bist!“, wies Cernik den Unbekannten zurecht, obwohl der Gerügte den Rüffel nicht hören konnte. Verärgert stapfte er die Stufen zu seinem Büro hinauf, mürrisch die Morgengrüße der Entgegenkommenden erwidernd. Die Frotzeleien „Wie war denn das Spiel gestern? ignorierte er, denn die gestrige Leistung der Schwarz-Weißen stieß ihm noch immer auf, schlimmer als ein Sodbrennen nach einer unbekömmlichen Mahlzeit. Im Inneren räumte er ein, dass ihn solche Fragen wurmten, was er jedoch niemals offen zugegeben hätte. Es gehörte zu den Ritualen in der Behörde, dass die gesamte Belegschaft jeden Montag ihren Spaß daran fand, über die Fußballergebnisse zu flachsen und einander aufzuziehen, da sich unter ihnen Fans verschiedener Vereine des Reviers befanden.

Als er gerade im Begriff war, die Klinke seiner Bürotür runterzudrücken, an der ein Schild SOKO, Eintritt nur nach Anmeldung sowie ein weiteres Rauchfreie Zone angebracht waren, sprang die Tür ungestüm auf. Sein Kollege Willy Klein stürzte aus dem Büro und prallte mit ihm zusammen.

„Gut, dass du endlich da bist. Wir warten schon auf dich“, polterte Klein los.

„Kannst du nicht aufpassen, du Trottel oder mal ein wenig Rücksicht auf alte Männer nehmen? Was ist denn los?“

Cernik rieb seinen schmerzenden Ellbogen, den die Tür getroffen hatte.

„Wir haben einen neuen Fall – einen prominenten offensichtlich, denn der Oberstaatsanwalt telefoniert schon seit einer geraumen Zeit hinter dir her. Du sollst dich sofort bei ihm melden.“

Cernik betrat das nur spärlich ausgestattete Büro. Die alten Holzschreibtische sollten schon längst gegen neue ausgetauscht worden sein. Er nahm auch den Schmutz in den Ecken und Winkeln des Raumes nicht mehr wahr, der von der Putzkolonne beim Staubwischen täglich aufs Neue übersehen oder sogar neu verteilt wurde. Das Büro teilte er mit Kommissar Klein und ihrer gemeinsamen Assistentin, der Kommissaranwärterin Inga Büllesbach.

Wie jeden Morgen begrüßte sie ihn mit einem fröhlichen „Guten Morgen, Chef.“

Den Gruß erwiderte er knurrend und warf seine Jacke über den Garderobenständer. Ächzend schwang er sich auf seinen Schreibtischstuhl, nahm den Hörer des Telefons zur Hand und wählte die Nummer des Oberstaatsanwaltes. Besetzt! Er hätte es sich denken können.

„Soll ich …?“, fragte Inga, die wusste, wie verhasst ihm das vergebliche Wählen von Telefonnummern war.

Er nickte und ließ seine Gedanken schweifen. Sein Privatleben beeinträchtigte gegenwärtig seine Daseinsfreude und schlug auf sein Gemüt, mehr als ihm lieb war. Er litt merklich unter seinen Missstimmungen, an denen er hin und wieder auch seine Mitarbeiter und Kollegen teilhaben ließ, obwohl sie keine Schuld daran trugen. Sie hatten notgedrungen in vielen Jahren der Zusammenarbeit mit ihm gelernt, sich mit seinen Launen abzufinden.

Anna, seine Frau, zehn Jahre jünger als er, hatte ihn verlassen, des Zusammenlebens mit ihm überdrüssig, mit einem Mann, dem der Beruf und oft sogar der Fußball wichtiger erschienen als die Vorzüge einer einträchtigen Ehe. Die durch seine Müdigkeit entstandene Vernachlässigung ihrer sexuellen Bedürfnisse hatte die Glut in ihrem Schoß eher gesteigert als ausgelöscht und damit ein Problem heraufbeschworen, das wie ein Damoklesschwert über ihrem Ehebund hing. Anna, deren Held der Jugendzeit er einstmals gewesen war, als er noch für die Schwarz-Weißen die Fußballstiefel schnürte, hatte ihre Konsequenzen aus dem unbefriedigenden Zustand gezogen und war ohne eine ausgesprochene Vorwarnung, jedenfalls keine, die er registriert hatte, mitsamt dem notwendigsten Teil ihrer Garderobe und ein paar Utensilien, die ihr besonders am Herzen lagen, vor drei Wochen ausgezogen. Für ihn hatte sie nur einen Zettel mit einer kurzen Nachricht in ihrer schnörkellosen Handschrift hinterlassen, die da lautete:

Falls Du zufällig mal nach Hause kommst und mich noch zufälliger vermissen solltest: Ich bin nicht mehr da! Einen Mann wie Dich braucht keine Frau – ich schon gar nicht. Ich will nicht nur warten, ich will auch leben! Lass uns in Frieden unserer Wege gehen. Du wirst von mir hören. Ich wünsche Dir alles Gute und danke Dir für die schönen Zeiten, die wir miteinander verbracht haben.

Deine Anna.

Cernik, völlig überrumpelt von ihrem Auszug, empfand ihren Entschluss als persönliche Schmach, die es erst einmal zu verdauen galt. Niederlagen nagten schon seit jeher erheblich an seinem Wohlbefinden und nagten schmerzhaft an seiner Seele. Zu allem Überfluss hatte gestern Schwarz-Weiß nach einer völlig undiskutablen Leistung den Anschluss an die Tabellenspitze verspielt, was den Pegel seiner Lebensfreude am vergangenen Wochenende unter den Gefrierpunkt hatte sinken lassen. Einmal mehr fragte er sich, warum nur rege ich mich über diese Anfänger immer wieder auf? Dennoch ließ er sich keinen Sonntag davon abhalten, dem Spiel beizuwohnen. Er lebte den Masochismus eines Mannes aus, den zu dulden und zu respektieren mancher Ehefrau nicht eben leichtfällt.

Cernik verwarf seine trübsinnigen Gedanken und erkundigte sich bei Inga, ob sie eine Ahnung habe, worum es sich bei dem neuen Fall handele?

Inga besaß trotz ihrer Jugend die außergewöhnliche Gabe, alle Vorfälle sofort zu erfassen, die Informationen einzuordnen und auch zu analysieren. Sie war die Tochter des besten Freundes von Polizeidirektor Schütz, auch dessen Patenkind, und hatte von Kindesbeinen an nichts anderes als Polizistin werden wollen. Der Direktor hatte sie Cernik mit Bedacht zugeteilt, für den er ein unausgesprochenes Faible besaß. Im Geheimen mochte er unbürokratische Einzelgänger wie ihn, zumal, wenn sie immer wieder beachtliche Erfolge vorweisen konnten, wenn er auch in seinen Vorträgen vor Mitarbeitern die Notwendigkeit der Teamarbeit stets über alles stellte. Cernik, den einsamen Jäger, hatte er zum Leiter einer SOKO ernannt, die ihre Aufgaben nur von ihm oder dem leitenden Oberstaatsanwalt erhielt. Niemand im Hause sonst erfuhr gewöhnlich, mit welchen Fällen diese SOKO gerade befasst war, wenn nicht Amtshilfe von anderen Abteilungen benötigt wurde.

Inga hatte sich aus innerer Berufung die Aufgabe auferlegt, für eine zuträgliche Stimmung in der Abteilung zu sorgen. Ihr Naturell versprühte den ganzen Tag über gute Laune. Sie besaß einen ausgesprochen analytischen Verstand, den ihre Ausbilder zu schätzen wussten. Jedermann fiel auf den ersten Blick ihr freundliches Gesicht auf, das umrahmt war von schulterlangen rotbraunen Haaren, die fast immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, sowie ein paar lustige Sommersprossen auf ihrer Nase und ihr aufgewecktes Augenpaar. Ihrer sportlichen Figur mangelte es keineswegs an weiblichen Reizen. Die jüngeren Kollegen ließen kaum eine Gelegenheit vergehen, sich bei ihr ins rechte Licht zu rücken, ohne dass bisher ein Bewerber ihre Gunst errungen hatte. Sie trennte streng Privatleben, das ihr aus guten Gründen heilig war, und Beruf.

„Im Stadtwald hat sich jemand erhängt, jedenfalls ist dort ein erhängter Mann aufgefunden worden. Mehr weiß ich auch noch nicht“, ließ sie ihren Chef wissen.

Inga drückte auf die Wahlwiederholung ihres Telefons, doch der Apparat des Staatsanwalts meldete weiterhin „besetzt“.

Derweil blätterte der Kommissar lustlos in den Akten eines unerledigten Falls auf dem Schreibtisch, der ansonsten – im Gegensatz zu denen seiner Mitarbeiter – ausgesprochen aufgeräumt wirkte. Seine Augen wanderten sinnierend auf das Mannschaftsfoto seiner Schwarz-Weißen, das an der Wand hing, ein Relikt aus jener Zeit, als er noch zu den Aktiven der Reservemannschaft gezählt hatte. Erneut begann sich sein Unmut über das gestrige Spiel zu regen. Er konnte und wollte kein Verständnis für die Profis von heute aufbringen, fast ausschließlich Söldner von irgendwo, die nur für Geld und nicht mehr für das Trikot spielten, das sie trugen, wie es für ihn und seine Kameraden noch selbstverständlich gewesen war. Während Cernik noch über die sich drastisch ändernden Zeiten nachsann, läutete sein Telefon. Er meldete sich und hörte am anderen Ende die schneidende Stimme des Oberstaatsanwalts bullern: „Schneider hier. Auch schon da? Da kann ich wohl mal wieder ‚Mahlzeit‛ sagen. Ich hatte um Ihren sofortigen Rückruf gebeten. Können Sie sich nicht auch einmal an die selbstverständlichen Spielregeln einer funktionierenden Zusammenarbeit halten?“

„Entschuldigen Sie“, unterbrach Cernik gereizt den Redeschwall seines Vorgesetzten, „bei Ihnen ist immerzu besetzt. Wie soll ich Sie dann erreichen?“

„Unsinn! Lassen Sie sich endlich mal eine gescheitere Ausrede einfallen, sonst sind Sie ja auch nicht auf den Mund gefallen. Kommen wir zur Sache: Ich erhielt soeben einen Anruf, dass im Stadtwald ein Mann erhängt aufgefunden worden ist.“

„Was ist so Besonderes an dem Tatbestand, dass Sie sich persönlich engagieren, wenn ich fragen darf?“

„Weil sich der Fundort, die sogenannte Hexeneiche, sicher schon mal von gehört, unweit von der Villa Saersbeck – genauer gesagt oberhalb der Villa – auf dem Gipfel des Hügels befindet.“

„Ja, und …?“

„Nun ja, die Saersbecks sind mir nicht ganz unbekannt, und ich hoffe, dass nicht ein Mitglied dieser Familie …“

„Höre ich eine bestimmte Vermutung aus Ihren Worten? Geht’s auch konkreter?

„Übernehmen Sie diesen Fall und sehen Sie erst einmal nach dem Rechten! Belästigen Sie bei Ihren Ermittlungen, bitte, die Saersbecks nicht mehr als unvermeidlich. Falls der Tote etwas mit dem Hause Saersbeck zu tun haben sollte, so bitte ich um strengste Diskretion. Alle Berichte sind ausschließlich an mich zu richten, und zwar an mich persönlich! Und keine Kontakte zur Presse, wenn ich bitten darf, vorläufig zumindest! Von allen übrigen Fällen sind Sie und Ihre Abteilung während der Untersuchungen befreit.“

„Das hört sich sehr nach – wie soll ich sagen …?“

„Sagen Sie nichts! Ermitteln Sie! Ich habe bereits das gesamte Gelände absperren lassen, Spurensicherung und Gerichtsmedizin verständigt und jedermann zum Schweigen verpflichtet. Noch Fragen?“

„Meinen Sie, Saersbeck oder ein Familienmitglied könnte der Tote sein? Die haben doch selbst genug Bäume auf ihrem Gelände, falls ich das richtig im Kopf habe.“

„Lassen Sie gefälligst Ihre Witze! Fahren Sie erst einmal hin und nehmen Sie eine Identifizierung des Toten vor! Dann sehen wir weiter.“

„Herr Oberstaatsanwalt, warum habe ich nur das ungute Gefühl, dass Sie über mehr Informationen verfügen, als Sie mir gerade zukommen lassen? Es würde meine Arbeit erheblich erleichtern, wenn Sie mir jetzt schon reinen Wein einschenkten. Sie scheinen mir zu sehr überzeugt, dass der Tote mit den Saersbecks zu tun hat, und ich frage mich, warum?“

„Unsinn! Ich will keine Pferde scheu machen. Tun Sie bitte, was ich Ihnen aufgetragen habe, und melden Sie sich danach umgehend bei mir! Sie können mich auch in meiner Wohnung anrufen, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

„Also doch … Na gut, dann werde ich mich mal auf den Weg machen. Bis später.“

Mit diesen Worten knallte Cernik den Hörer auf die Gabel und nahm Blickkontakt mit seiner Assistentin auf, die dem Gespräch aufmerksam gefolgt war und fragend ihre Stirn runzelte.

„Wo ist Klein hin?“, fragte Cernik.

„Eigentlich wollte er nur nachsehen, ob Sie schon im Hause sind, Chef. Soll ich ihn suchen gehen?“

„Nicht nötig. Weißt du, welche Kollegen zum Tatort geschickt worden sind?“

„Außer der Spurensicherung Kowalskis Männer von der Schutzpolizei und zwei Beamte mit Suchhunden, soviel ich weiß.“

„Hoffentlich machen die nicht die ganze Umgebung aufmerksam und halten uns die Presse vom Hals. Schneider legt großen Wert darauf, wie du sicherlich soeben bei dem Telefonat mitbekommen hast, dass nichts an die Öffentlichkeit gelangt. Er hat immer gut reden.“

Cernik war sauer auf den Staatsanwalt. Schneider mauerte, dessen war er sich sicher. So schnell ließ er sich nichts vormachen. Verdrießlich erhob er sich, nahm sein Jackett von der Garderobe und blieb grübelnd am Schreibtisch stehen, als ob er auf eine Erleuchtung wartete.

Ungestüm, wie es seine Art war, platzte Kommissar Klein zurück ins Büro und schimpfte los: „Der Kaffeeautomat funktioniert wieder mal nicht. Wie soll ich nur einen klaren Kopf zum Denken bekommen?“

„Der ist dir weder mit noch ohne Kaffee eigen, Willy. Hast Pech mit deinen Genen“, flachste Cernik grinsend und ließ seinen hintergründigen Humor für einen Moment aufblitzen. „Komm, wir haben zu tun! Ich erzähl dir unterwegs, was anliegt. Wir nehmen meinen Wagen.“

Im Hinausgehen wandte er sich an Inga mit der Frage: „Hast du sonst noch irgendetwas für mich?“

Sie verneinte mit einem Kopfschütteln.

„Sie für mich, Chef?“

„Hm, eigentlich nicht. Doch. Stell mir bitte mal alles zusammen, was du über die Familie Saersbeck und deren Unternehmungen herausfinden kannst.“

„Wird gemacht, Chef.“

Die beiden Kommissare verließen ihr Büro. Ohne Eile stiegen sie die Treppen aus der dritten Etage hinab und begaben sich zu Cerniks BMW, wo sie bereits von dem wutschnaubenden Wagenbesitzer erwartet wurden, den Cernik zugestellt und am Wegfahren gehindert hatte.

„Machen Sie das immer so? Unverschämtheit!“, schimpfte er los, als er die Kommissare kommen sah. „Ich werde mich über Sie beschweren. Sie wissen wohl nicht, wen Sie vor sich haben?“

Cernik grinste ihn wortlos an, ignorierte die Beschimpfungen und sagte beiläufig: „Solange Sie sich nicht vorgestellt haben, natürlich nicht. Ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht.“

Klein flüsterte dem Aufgebrachten zu: „Seien Sie lieber vorsichtig! Der Kollege ist berüchtigt dafür, schon ganz andere für nichts in eine Zelle gesteckt zu haben. Mit ihm würde ich mich an Ihrer Stelle nicht anlegen.“

Schmunzelnd stiegen die Kommissare in den Wagen. Nachdem sie auf der Fahrt zum Stadtwald eine Zeit lang geschwiegen hatten, konnte Klein seine Neugier nicht mehr verbergen.

„Jetzt erzähl schon! Was ist passiert?“

„Wenn ich das mal selbst wüsste. Im Stadtwald ist ein Mann erhängt aufgefunden worden. Schneider vermutet oder weiß sogar, dass es sich um jemanden handelt, den er – vorsichtig ausgedrückt – kennt oder zu seinem oder dessen Bekanntenkreis gehört. Mehr konnte ich aus ihm nicht herauslocken, doch waren seine Gedanken durchs Telefon nicht zu überhören. Irgendetwas gefällt mir an dieser Sache nicht, denn ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sehr viel mehr weiß, und ich hasse es, wenn mir jemand, besonders ein Vorgesetzter, Informationen vorenthält.“

„Dein berühmter Löweninstinkt, Leo?“, feixte Klein.

„Du sagst es, du sagst es, mein Freund und unverzichtbarer Partner.“

„Wenn du weiter so schmeichelst, werde ich gleich so breit, mein Bester, dass für dich kein Platz mehr im Wagen ist! Womit habe ich das verdient? Du bist doch sonst nicht so großzügig mit Komplimenten“, fragte Klein erstaunt.

Cernik überhörte die Frage. Schweigend setzten sie ihre Fahrt in Richtung Stadtwald fort. Dort befand sich die Villa, in der die Familie von Saersbeck residierte und wo ansonsten kein Normalsterblicher eine Baugenehmigung erhalten würde, wie Cernik wusste. Um die Jahrhundertwende war das Gebäude errichtet worden, inzwischen umzäunt und mit modernsten Sicherheitsvorkehrungen versehen. Die Saersbecks waren bekannte Stahlhändler mit einer weitläufig verzweigten Unternehmensstruktur und weltweiten Verbindungen. Die Familie vermied jedoch so weit wie möglich, öffentlich in Erscheinung zu treten.

Cernik fuhr einen Waldparkplatz an, der sich in der Nähe der Hexeneiche befand und gerne von Spaziergängern, meistens solchen, die ihre Hunde ausführten, benutzt wurde. Bei seinem Eintreffen stellte er mit Genugtuung fest, dass bereits das gesamte Areal weiträumig abgesperrt worden war und sich auch keine Schaulustigen eingefunden hatten. Er wurde bereits von einem Wachtmeister erwartet, der seine Hand zum Gruß an die Mütze legte. Über ein Funkgerät informierte der Wachtmeister Einsatzleiter Kowalski über die Ankunft der Kommissare, wies mit seinem Arm auf einen Fußpfad und sagte: „Dort den Hügel müsst ihr rauf, dann seht ihr schon.“

Die Kommissare stiegen den Pfad hinauf und beobachteten aufmerksam die Umgebung, damit ihnen auf dem Weg zum Tatort nichts entging. Oben angekommen, erwartete sie bereits ungeduldig Polizeimeister Kowalski.

„Morgen, Kollegen, wird aber auch Zeit, sonst fällt uns der noch runter.“

„Soll das heißen, er hängt noch?“, fragte Cernik.

„Ja, der merkt doch nichts mehr davon, und den Anblick wollten wir dir auch gönnen, Cernik. Außerdem hat der Staatsanwalt gesagt, du sollst dir den Kerl genau angucken. Die Spurensicherung ist noch nicht fertig mit ihrer Arbeit. Der Doktor ist auch noch nicht aufgetaucht.“

Kowalski zeigte auf die mehrere hundert Jahre alte Eiche, die im Volksmund den Namen Hexeneiche trug, die wehrhaft den Gipfel des Hügels beherrschte und deren Stamm sich majestätisch in den Himmel reckte. Bereits in längst vergangenen Zeiten, so wollen Legenden wissen, soll ihr knorrig ausladendes Astwerk mehr als einem Individuum als Galgen zu einem neuen Lebensabschnitt verholfen haben – der Glaube an ein Leben nach dem Tod vorausgesetzt. Bis in die Gegenwart hielten sich hartnäckige Gerüchte, dass die Geister der zu Tode Gekommenen – besonders in Vollmondnächten – dort ihr Unwesen trieben und jedermann erschreckten, der um diese Tageszeit noch im Wald unterwegs war.

An einem der gewaltigen Äste des Baumes hing ein Mann mit einem Strick um den Hals. Trotz des schummrigen Lichts, das durch die dichte Belaubung fiel und dem Ort jene gespenstische Ausstrahlung verlieh, um die sich seit Menschengedenken die unzähligen geheimnisumwitterten Geschichten rankten, war unschwer zu erkennen, dass um seinen Hals eine Schlaufe mit einem fachmännischen Henkersknoten verzurrt war.

Der Mann, so schätzte der Kommissar, war fünfzig bis sechzig Jahre alt, wies eine schlanke Figur auf und trug seine blonden Haare mit Seitenscheitel kurz geschnitten. Aus seinem Gesicht quollen die Augen ungläubig hervor, als hätte er nicht nachvollziehen können, was mit ihm geschah. Bekleidet war er mit einem dunkel gestreiften Maßanzug, dessen Hose sich durch einen biologischen Vorgang verfärbt hatte, der sich beim Erhängen nicht vermeiden lässt, sowie einem offen getragenen weißen Oberhemd und teuren englischen Schuhen.

Hauptkommissar Cernik betrachtete die Szene eine Weile.

„Der gehört zweifellos nicht der Gesellschaft armer Leute an“, stellte er nüchtern fest. Darauf richtete er an Kowalski die Frage: „Wer hat ihn gefunden?“

„Ein Spaziergänger, der seinen Hund Gassi führte, obwohl es hier keine Gassen gibt. Der bringt aber gerade mal den Köter weg, weil der zu unruhig war, meine Männer andauernd ankläffte und ansprang. Er kommt gleich hierher zurück, hat er versprochen, denn er wohnt nicht weit.“

„Willy soll mit ihm sprechen, wenn er zurück ist“, ordnete Cernik an und rief seinen Kollegen Klein, der wie ein Hund um die Eiche herumschnüffelte, herbei.

„Fällt dir hier was auf?“

Die Blässe in Kleins Gesicht war trotz der schummrigen Umgebung nicht zu übersehen. Er hatte gelegentlich Probleme, mit einem Toten konfrontiert zu werden, und starrte gebannt auf den Hängenden. Als sein Chef ihn ansprach, fuhr er zusammen, als wäre er auf frischer Tat bei etwas Verbotenem erwischt worden.

„Na, was meinst du? Kannst du dir vorstellen, wie dieser Mann den Baum hochgeklettert ist, sich an die Stelle gehangelt hat, wo er jetzt baumelt, sich fachmännisch die Schlinge umgelegt und sich schließlich fallen gelassen hat, damit ihn Gevatter Tod freundlicherweise ins Jenseits beförderte?“

Cernik grinste ihn bei seiner Frage unverschämt an.

„Wenn du mich so fragst …“

„Willy, ich frage dich! Reiß dich mal zusammen! Wo bist du mit deinen Gedanken? Was hier passiert sein muss, das sieht doch sogar ein Blinder!“

Cernik hatte hin und wieder ein gespaltenes Verhältnis zu seinem engsten Mitarbeiter, den er aber dennoch sehr schätzte. Klein zeichnete sich als hervorragender Schnüffler aus. Wenn er auf jemanden angesetzt wurde, so verfolgte er mit Zähigkeit und Ausdauer sein Ziel. Nur seine Sicht- und Denkweise war häufig zu sehr eingeschränkt, um die Ergebnisse seiner Ermittlungen, die auf der Hand lagen, zu erkennen und, wie bei einem Puzzle, zusammenzufügen. Bei Verhören mimte er gewöhnlich erfolgreich den Bösen, und manchem Befragten fiel unerwartet schnell etwas ein, wenn er mit Klein ein paar Minuten allein gelassen wurde. Cernik wusste jedenfalls die besonderen Fähigkeiten seines Partners stets geschickt einzusetzen und deckte dessen Schwächen. Er sah sich in der Runde um.

„Ist der Arzt immer noch nicht da?“

Ein Beamter rief ihm zu: „Er ist auf dem Weg zu uns hoch.“

„Dann gönnen wir dem Guten dort oben noch einen Moment frische Luft, obwohl ihm das Atmen schwerfallen dürfe. Und bitte unter dem Baum da weg, oder hat die Spurensicherung schon alle Fußabtritte abgenommen?“

Kommissar Brüggemann von der Spurensicherung, der auf einer Leiter stand, um das Astwerk zu untersuchen, fühlte sich angesprochen und winkte ihm zu.

„Du sprühst aber heute Morgen schon vor Galgenhumor, Kollege – im wahrsten Sinne des Wortes. Im Ernst: Es gibt so gut wie keine Spuren. Alle, so scheint mir, sind sorgfältig verwischt worden. Das kann der da oben kaum noch selbst bewerkstelligt haben. Aber merkwürdig ist’s schon, dass rein gar nichts zu entdecken ist. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Profis am Werk waren.“

Cernik näherte sich behutsam der Eiche und nahm jeden Grashalm, jedes Mooskissen, jedes vermoderte Blatt auf dem Boden mit der ihm eigenen Akribie in Augenschein.

„Schaut mal her, Leute!“, forderte er seine Kollegen auf, und nachdem Klein und Brüggemann nähergekommen waren, fuhr er fort: „Seht ihr den Eindruck hier? Hier muss doch was gestanden haben. Ein Stuhl vielleicht, eine Leiter oder was weiß ich? Der Tote kann sie kaum noch weggeräumt haben, jedenfalls ist mir ein solcher Fall bisher nicht bekannt geworden. Oder stammen die Eindrücke von der Spurensicherung?“

Er blickte Brüggemann scharf und fragend an. „Habt ihr sonst was Auffälliges bemerkt? Zigarettenkippen, Abfälle? Was glaubt ihr übrigens, wie der Tote an den Ast gelangt ist, an dem er hängt?“

Ein Beamter in Uniform kam auf die beiden Kommissare zu und reichte Cernik eine Klarsichthülle mit einem Bogen Papier darin.

„Hier, das haben wir gefunden, das war an den Baum geheftet.“

Cernik riss ihm den Fund aus der Hand, verärgert, dass ihm dieses Beweisstück jetzt erst gezeigt wurde, und las, was auf dem Papier geschrieben stand:

Urteil:

Tod durch Erhängen wegen Mordes an Kindern.

Unterzeichnet war das Papier mit:

Die Musketiere

Cernik fand bestätigt, dass sein erster Eindruck offensichtlich der richtige war, und gab die Folie zwecks weiterer Untersuchungen zurück.

„Mahlzeit.“

Der Rechtsmediziner Dr. Wolfgang Mathes, von Freunden auch Wolf und denen, die des Lateinischen mächtig sind, Lupus genannt, war endlich angekommen. Wie immer ein wenig laut, als wolle er den Toten wieder zum Leben erwecken, um ihm nahezulegen, noch ein wenig weiterzuleben und sich damit die Arbeit einer Obduktion zu ersparen.

„Konntest dich wohl nicht von deinen toten Patienten trennen? Habt ihr Skat gespielt oder warum erscheinst du jetzt erst?“, grantelte Cernik.

Der Arzt ignorierte die Bemerkung.

„Sieht schlecht aus für den da oben. Holt ihn runter, der ist nicht mehr zu retten!“, ordnete er an.

Cernik nickte. Zwei Polizisten stellten eine Leiter an, kletterten hoch, lösten das Seil und ließen den Toten vorsichtig herunter, wo er von dem Arzt in Empfang genommen und unter dem Baum auf einer Trage abgelegt wurde. Er befühlte die Haut an einigen Stellen, untersuchte die Spuren des Strickes am Hals und schloss dem Toten schließlich die Augenlider. Mathes, seit der Kindheit mit Leo Cernik befreundet, schüttelte seinen Kopf, der im Gegensatz zu dem seines Freundes noch über die Haarpracht seiner Jugend, wenn auch leicht ergraut, verfügte, und flüsterte Cernik zu: „Wenn du mich fragst, und dafür bin ich ja wohl hier: Ich denke, wir können einen Suizid vollkommen ausschließen. Es gab mit Sicherheit Beteiligte. Ich nehme die Leiche jetzt mit, damit du baldmöglichst meine Untersuchungsergebnisse vorliegen hast.“

„Kannst du mir schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen, Lupus?“

„Du weißt doch … Na, ich denke, gegen Mitternacht, plus minus zwei Stunden. Wissen wir schon, wer der Tote ist?“

„Nein, er trug nichts bei sich, jedenfalls nichts, was der Identifizierung dienen könnte. Aber ich argwöhne, dass es jemand aus der Familie Saersbeck ist, deren Mitglieder mir allerdings persönlich nicht bekannt sind. Ich gehe davon aus, dass der Tote heute Morgen bei Schneider als vermisst gemeldet worden ist, obwohl er davon nichts wissen wollte. Schneider soll mit der Familie befreundet sein.“

„Du meinst den von Saersbeck? Den Stahlhändler?“

„Ich kenne mich in der Familie nicht aus. Aber einer von dieser Sippe wahrscheinlich. Schau dir seine Kleidung an! Nicht armer Leute Klamotten. Und deshalb wird die Angelegenheit auch als geheime Kommandosache behandelt, wie du sicher gehört hast. Es darf vorläufig nichts davon nach draußen dringen.“

„Von mir dringt nie was nach draußen, mein Lieber, und meine Klientel ist von Natur aus ziemlich sprachlos, wie du weißt. Sollten wir nicht jemanden aus der Villa kommen lassen, um uns Gewissheit zu verschaffen? Vielleicht können wir ihn dann bereits identifizieren und uns unnütze Sucharbeit ersparen.“

„Hast recht, das machen wir schnell noch, bevor wir die Leiche abtransportieren.“

Cernik erteilte die Anweisung, jemanden aus der Villa kommen zu lassen, ohne zu sagen, worum es geht. Ein Uniformierter öffnete mit einem Dietrich ein kleines Tor, das sich unweit der Hexeneiche in der Umzäunung zum Saersbeck-Grundstück befand, und machte sich auf den Weg. Bereits kurze Zeit später kam er mit einem livrierten Bediensteten zurück, der sich als Fahrer des Herrn von Saersbeck vorstellte. Cernik hatte die Wartezeit genutzt, um noch einmal jeden Grashalm und das Moos unter dem Baum zu inspizieren, und die beiden Hundeführer angewiesen, das gesamte Gelände in der Umgebung abzusuchen und alles einzusammeln, was sie finden konnten. Inzwischen hatte er eine Ahnung, was sich hier abgespielt haben könnte, doch ohne weitere Hinweise behielt er seinen Verdacht erst einmal für sich.

Der Fahrer warf einen Blick auf den Toten, seine Augen weiteten sich entsetzt und sein Gesicht verfärbte sich kreidebleich. Mit offenem Mund stand er vor der Leiche und stammelte: „Mein Gott … der Herr von Saersbeck … die arme gnädige Frau ...“

„Okay“, sagte Cernik, „Sie können wieder gehen, sagen Sie aber bitte Frau von Saersbeck und auch sonst niemandem etwas! Das erledige ich gleich selbst.“

Kopfschüttelnd betrachtete Klein das Gesicht seines Vorgesetzten. „Du willst wirklich …?“

„Von Wollen kann beim besten Willen keine Rede sein. Aber wahrscheinlich bleibt mir nichts anderes übrig. Allerdings muss ich sowieso mit ihr sprechen, wie du dir denken kannst. Ich werde aber erst mal Schneider anrufen und ihn fragen, ob er mir die Überbringung der todtraurigen Nachricht in diesem Fall nicht abnehmen möchte. Schließlich sind’s seine Freunde. Aber wie ich ihn einschätze …“

Cernik verzichtete darauf, den Satz zu Ende zu sprechen, sah sich noch einmal um und entschied: „Alles abgesperrt und so lange eine Wache hier lassen, bis ich persönlich den Abzug anordne. Wahrscheinlich muss die Umgebung noch weitläufiger abgesucht werden, weil wir hier nichts Verwertbares gefunden haben. Ob eine weitere Suche wegen der vielen Spaziergänger hier im Stadtwald allerdings hilfreich sein wird, sei mal dahingestellt.“

„Einpacken und in die Rechtsmedizin mit ihm!“, wies Mathes zwei Uniformierte an und verabschiedete sich.

Die beiden Kommissare begaben sich zurück zum Wagen, da am Tatort nichts mehr zu tun war. Cernik wählte mit seinem Autotelefon die Nummer des Oberstaatsanwalts.

„Schneider.“

„Cernik.“

„Und?“

„Es ist von Saersbeck!“

„Mein Gott, wie furchtbar. Die arme Leni, ich meine Frau von Saersbeck.“

„Sie wollen ihr doch sicherlich persönlich die unangenehme Nachricht überbringen?“

„Eigentlich sollte ich die Aufgabe in der Tat übernehmen, aber ich habe leider keine Zeit. Termine … Sie verstehen. Ich werde später kondolieren. Machen Sie das bitte, Cernik! Und kommen Sie noch in meinem Büro vorbei!“

Schneider legte auf und ließ den Kommissar ohne seine Unterstützung mit der unangenehmen Pflicht allein. Cernik wandte sich an Klein: „Fahr schon mal mit den Kollegen zurück. Ich habe noch ein Gespräch zu führen, und das möchte ich lieber ohne Begleitung tun, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Ich will nicht den Eindruck erwecken, Druck auszuüben. Noch nicht. Erst einmal muss ich mir ein Bild über die Familie machen, um mich in ihren Verhältnissen zurechtzufinden. Immerhin handelt es sich um die Saersbecks.“

Während Klein zurück zu anderen ging, um sich nach einer Mitfahrgelegenheit umzusehen, benutzte Cernik ebenfalls das Tor, um auf das Anwesen zu gelangen. Dort ließ er seine Augen umherschweifen und prägte sich die Umgebung mit seinem fotografischen Gedächtnis genau ein. Von dem Tor führte ein offensichtlich selten benutzter Trampelpfad hügelabwärts, anfangs noch umgeben von Eichen, Buchen und dichtem Strauchwerk, und ging schließlich in eine grasbewachsene Freifläche über, in deren Mitte die Villa errichtet war – dreistöckig, im Jugendstil erbaut, mit einigen Balkonen, Dachgauben und Türmchen, die die Strenge des Gebäudes auflockerten. Der Gitterzaun, der das gesamte Gelände eingrenzte und mit dem sich die Eigentümer von der Welt der Normalsterblichen abschotteten, war weitgehend bis zu etwa drei Metern hoch, mit einem Kranz aus Stacheldraht obenauf, und ließ ein unbefugtes Übersteigen nicht geraten erscheinen. Die wollen offensichtlich unter sich bleiben, die Bessergestellten, ging es Cernik durch den Kopf. Oder haben sie vielleicht Angst? Die Beantwortung dieser Frage interessierte ihn sehr, auch, vor wem oder was sie sich möglicherweise fürchteten. Mag sein, dass ich bei meinen Ermittlungen etwas darüber erfahre, sagte er sich.

Über die Freifläche erreichte er die bekieste Zufahrt, von der eine fünfzehnstufige Steintreppe hinauf zum Portal der Villa führte, bewacht von zwei aus Stein gehauenen Löwenskulpturen, die sich faul auf dem Geländer ausstreckten. Ein Säulenvorbau, der über die Treppe ragte, schützte sie und die Benutzer des Aufstiegs vor allzu feindseliger Witterung. Cernik stieg die Treppen hoch und läutete, wobei ihm der skurrile Gedanke durch den Kopf schoss, dass offenbar nur fünfzehn Stufen zu erklimmen sind, um mit den besseren Kreisen auf eine gleiche Stufe zu gelangen. Ein Butler, in einem Alter, als wäre er ein Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert, bekleidet mit einer Livree wie aus einem Museum entliehen, leicht gebeugt, mit schlohweißem Haar, zahlreichen Falten im Gesicht und alterstrüben Augen, von denen der Kommissar das Gefühl gewann, dass sie durch ihn hindurch ins Nirgendwo blickten, öffnete ihm.

„Sie wünschen, mein Herr?“

„Hauptkommissar Cernik von der Kriminalpolizei. Bitte melden Sie mich Frau von Saersbeck.“

„Dürfte ich erfahren, was der Grund Ihres Besuches ist, werter Herr?“

„Sie dürfen nicht! Wenn ich mich mit Ihnen unterhalten möchte, sage ich Ihnen Bescheid.“

Der Butler zog missbilligend seine Augenbrauen hoch, bat den Besucher einzutreten und hieß ihn in dem Vorraum zu warten.

Durch eine Tür, die er offenstehen ließ und die Einblick in ein geräumiges Foyer gewährte, schlurfte er davon und stieg mühsam eine breite Holztreppe hinauf, vorbei an zahlreichen Gemälden an der holzgetäfelten Wand, in den ersten Stock, wo eine Galerie in verschiedene Räumlichkeiten führte. Cernik ließ seine Augen umherschweifen und registrierte die gediegene Eleganz und den Luxus, die aus jedem sichtbaren Winkel des Gebäudes zu ihm sprachen. Nach ein paar Minuten kam der Butler zurück und ließ Cernik wissen, dass die gnädige Frau bereit sei, ihn zu empfangen.

„Folgen Sie mir, bitte, in die Bibliothek, mein Herr!“, forderte er den Kommissar auf.

Dort, in einem Raum mit schweren Holzregalen vor den Wänden, dicken Perserteppichen auf dem Boden und einem Hauch von Pfeifen- oder Zigarrentabak in der Luft, wies er auf einen Ohrensessel aus Leder, bat Platz zu nehmen und erkundigte sich, ob er etwas zu trinken anbieten dürfe. Der Kommissar bat um ein Glas Wasser und die Erlaubnis, einen Blick auf die Bücher werfen zu dürfen, was der Butler gnädigst gestattete, bevor er sich diskret und lautlos zurückzog.

Cernik ließ seine Augen über die prachtvollen Folianten schweifen und fragte sich, ob wohl schon je jemand in einem dieser Bücher geschmökert, geschweige denn gelesen habe, als er hinter sich ein Geräusch wahrnahm, eher fühlte. Er wandte sich um, und sein Blick fiel auf eine schlanke Frau, Mitte fünfzig, die abwartend an einem weiteren Ledersessel gelehnt stand. Die Dame des Hauses, Helene von Saersbeck augenscheinlich. Ihre elegante Kleidung, ein dunkelgrau gestreifter Hosenanzug mit einem schwarzen Kaschmir-Pullover unter der geöffneten Jacke, ließ Geschmack, aber kaum ihren Reichtum erahnen, zumal sie keinen Schmuck angelegt hatte. Große dunkelbraune Augen beherrschten ihr klassisches, dezent geschminktes Gesicht, das von kurz geschnittenen, wahrscheinlich eingefärbten braunen Haaren eingerahmt war. Sie musterte ihr Gegenüber mit jener Selbstsicherheit und Distanz, die ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprachen, bevor sie ihn ansprach.

„Herr Kommissar, Sie wünschen mich zu sprechen?“

„Ich darf mich vorstellen, gnädige Frau: Hauptkommissar Leo Cernik. Ich habe den Auftrag, den rätselhaften Fund einer Leiche oberhalb Ihres Anwesens im Stadtwald aufzuklären, der Ihnen vielleicht bereits zu Ohren gekommen ist.“

„Müsste das der Fall sein? Mich interessiert das Gerede der Leute nicht“, unterbrach sie.

„Pardon, gnädige Frau, so war das nicht gemeint“, entschuldigte sich Cernik. „Aber …“

„Ja, Herr Kommissar?“

„Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der aufgefundene Tote zu Ihrer Familie gehört. Es handelt sich um … Ihren Mann.“

„Mein Mann?“, wiederholte sie, ohne eine Regung zu zeigen. „Wie kommen Sie darauf, wer behauptet das?“

„Wir haben seinen Fahrer befragt. Er hat ihn identifiziert. Es scheint demnach kein Zweifel zu bestehen.“

Frau von Saersbeck nahm in dem Sessel Platz, verhielt ein paar Augenblicke und wies einladend und gefasst auf den Sessel ihr gegenüber. Cernik setzte sich ebenfalls. Sie schlug die Beine übereinander und sah Cernik schweigend an. Keineswegs erweckte sie den Eindruck, überrascht zu sein.

„Gnädige Frau, wenn ich das anmerken darf, ich finde Ihre Selbstbeherrschung bemerkenswert, fast schon verdächtig. Wussten Sie schon Bescheid oder haben Sie Grund gehabt, mit dem Tode Ihres Mannes zu rechnen? Litt er unter Depressionen? Oder ist er bedroht worden? Hat es vielleicht anonyme Anrufe gegeben? Wenn ich mich nicht völlig in meiner Einschätzung täusche, kann ich nicht ausschließen, dass er Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Jedenfalls scheint es mir unwahrscheinlich, dass Ihr Mann bei seinem Tod ohne Begleitung war, womit ein Suizid in meinen Augen ausscheidet. Aber ich bin erst am Beginn meiner Ermittlungen. Ich möchte ohne Vorurteile vorgehen und alle denkbaren Optionen in Erwägung ziehen.“

Es dauerte eine Weile, bevor sie antwortete: „Wissen Sie, Herr Hauptkommissar, in unseren Kreisen zeigt man nach außen keine Gefühle, wenn Fremde anwesend sind. Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft: Mir ist im Laufe meines Lebens klar geworden, dass ich meinen Mann nicht wirklich gekannt habe. Ich weiß nicht viel über seine Aktivitäten, hatte aber in den letzten Wochen ein ungutes Gefühl, dass ihn irgendetwas stark beschäftigte – bedrückte würde seine Stimmung wohl präziser zum Ausdruck bringen.“

„Haben Sie ihn darauf angesprochen?“

„Nein, er hätte mir eine Antwort eh verweigert.“

„Hatte Ihr Mann unter den Bediensteten oder Mitarbeitern einen Vertrauten, der ihm vielleicht bei einer Selbsttötung, was immer der Grund dafür hätte sein mögen – vielleicht eine unheilbare Krankheit –, die Gefälligkeit einer Begleitung erwiesen hätte?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Er war von Natur aus ausgesprochen misstrauisch und nur wenig zugänglich. Ich denke, dass er mir gegenüber eine Erkrankung zumindest erwähnt hätte.“

„Können Sie seine Bedrückung, wie Sie es nannten, an einem Zeitpunkt oder einem bestimmten Ereignis festmachen?“

„Darüber müsste ich nachdenken …“

Sie brach ab, versank in Gedanken.

„Nun, es gibt da ein Datum. Das kann aber ebenso reiner Zufall sein.“

„Ja?“

„Mir scheint auf dem Schulfest des Schiller-Gymnasiums möglicherweise etwas vorgefallen zu sein.“

„Ein Schulfest? Was haben Sie damit zu tun? Sind Sie oder Ihr Mann dort zur Schule gegangen – oder Ihre Kinder?“

„Nein, ich bin in Argentinien aufgewachsen, und Kinder hat mir das Schicksal leider keine geschenkt. Was wir dort zu tun hatten? Das ehemalige Jungengymnasium hatte endlich, der Zeit gemäß, die Co-Edukation eingeführt und arbeitet seit einem halben Jahr außerdem eng mit der Kunsthochschule zusammen, wo ich als Kuratoriumsmitglied des Fördervereins ein paar Aufgaben innehabe. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hatte mein Mann sich – sehr zu meiner Überraschung – bereit erklärt, ein Referat über das Mäzenatentum in der Kunstszene zu halten, das im Übrigen auf große Beachtung stieß. Während der Veranstaltung habe ich ihn wegen meiner Pflichten die meiste Zeit aus den Augen verloren. Auf der Rückfahrt war er ungewöhnlich einsilbig, noch einsilbiger als sonst, wobei ich mir jedoch nicht viel gedacht habe. Seine Schweigsamkeit musste ja nicht zwangsläufig mit dem Schulfest zu tun haben, war dennoch aber auffällig, zumal er sich auf der Hinfahrt völlig anders, ungewöhnlich locker gegeben hatte. Wenn er sich über etwas Gedanken machte, zog er sich meistens völlig in sich zurück, wie eine Schnecke in ihr Haus. Ich habe ihn dann immer in Ruhe gelassen, da ich wusste, dass er sich mir nicht anvertrauen würde.“

„Welche Verbindung haben Sie denn zu der Kunsthochschule, wenn ich fragen darf? Reines Mäzenatentum?“

„Nein, nicht nur, aber das auch. Nach meinem Abitur habe ich Musik und später Kunstgeschichte studiert, habe sogar einige Jahre im Sinfonieorchester von Buenos Aires Cello gespielt, mich allerdings nach meiner Heirat aus dem Musikgeschäft zurückgezogen. Die Kunst liegt mir aber nach wie vor am Herzen.“

„Die Frage, ob Ihre Ehe glücklich war, erübrigt sich wohl?“

„Eigentlich geht Sie das nichts an und hat auch sicher nichts mit dem Tod meines Mannes zu tun. Unter diesen Umständen will ich aber darauf antworten, damit Sie keine Veranlassung sehen, überall herumzustochern und Gesellschaftsklatsch anzufachen …“

Frau von Saersbeck ließ eine Pause entstehen, in der offenbar einige Szenen ihrer Ehe vor ihrem inneren Auge abliefen. Cernik wartete geduldig, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden. Sein Jagdinstinkt war erwacht, er versuchte in den Reaktionen seiner Gesprächspartnerin zu erkennen, was ihre Antworten ihm unterschlugen, falls sie einen Versuch dazu unternahm.

Unvermittelt nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf: „Wie alle Menschen, die länger zusammenleben, haben wir uns ein wenig entfremdet. Leider existiert nicht das starke Bindeglied, das gewöhnlich Kinder bilden. Zudem haben uns allerlei unterschiedliche Verpflichtungen in den letzten Jahren immer häufiger genötigt, getrennte Wege zu gehen, abgesehen von seinen zahlreichen Geschäftsreisen. Nach dem Schulfest zum Beispiel habe ich ihn kaum länger als eine Viertelstunde pro Tag zu Gesicht bekommen.“

„Wann haben Sie geheiratet?“

„1950.“

„Wo und wie haben Sie sich kennengelernt?“

„1946 in Argentinien. Meine Familie hatte sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs dorthin auf das Gut des jüngeren Bruders meines Vaters zurückgezogen. Frieder, mein Mann, tauchte eines Tages dort auf. Vor allem mein Vater schien sofort einen Narren an ihm gefressen zu haben. Er besorgte ihm einen Job in unseren Unternehmungen und nahm ihn mehr oder weniger in die Familie auf und unter seine Fittiche.“

„Moment bitte … Sie sind eine von Saersbeck?“

„Oh, das wussten Sie nicht? Ja, ich bin eine Saersbeck. Frieder, eigentlich heißt er Friedrich, nahm vor der Hochzeit auf Wunsch meines Vaters den Namen unserer Familie an. Das Unternehmen, wissen Sie. Mir wurde er mit dem Familiennamen Brockhuis vorgestellt.“

„Brockhuis?“

„Ja, so nannte er sich. Allerdings sind Namen Schall und Rauch, das weiß ich, auch dass in jener Zeit in Argentinien mancherlei im Dunst der Pampa verweht wurde.“

„Wie kam er nach Argentinien?“

„Er hatte im Krieg seine Familie verloren, so erzählte er zumindest, und fand Arbeit auf einem Frachter. Irgendwie ist er in Buenos Aires hängen geblieben und zufällig meinem Vater über den Weg gelaufen.“

„Sind Sie sicher, dass die Begegnung auf purem Zufall beruhte?“

„Heute nicht mehr, wenn Sie mich so direkt darauf ansprechen.“

„Wissen Sie, was er im Krieg gemacht hat?“

„Darüber weiß ich nichts, und das hat mich, ehrlich gesagt, auch nie interessiert. Der Krieg und auch Deutschland kamen mir zu jener Zeit zu weit entfernt vor, wie am anderen Ende der Welt. Mein Vater wird sich wohl ausgiebig über Frieders Vergangenheit erkundigt haben, bevor er unsere Hochzeit gutgeheißen und seinen Schwiegersohn in die Unternehmensleitung eingeführt hat. Jedenfalls bin ich davon immer ausgegangen. Er pflegte niemals etwas dem Zufall überlassen. Abgesehen davon konnte Frieder ausgesprochen charmant sein, wenn er wollte. Somit ist es ihm seinerzeit gelungen, mich sehr von sich einzunehmen.“

Cernik spürte ein Signal, wie immer, wenn sein Instinkt ihn auf eine Spur aufmerksam machen wollte. Sollte etwa das Motiv der Tat in die Vergangenheit reichen? Er nahm sich vor, auch in dieser Richtung zu recherchieren, eine Aufgabe, in die sich seine Assistentin mit Begeisterung hineinstürzen würde.

„Eine letzte Frage fürs Erste, gnädige Frau. Hatte Ihr Mann Feinde?“

„Ach, wissen Sie, Herr Hauptkommissar, in einer Position, wie er sie bekleidete, hat niemand nur Freunde. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es jemanden gab, der ihm nach dem Leben trachtete, denn dazu gehört doch wohl mehr als Missgunst. Frieder regelte gewöhnlich alles mit Geld und machte seine Feinde von sich abhängig. Für ihn zählten nur materielle Werte.“

„Welcherlei Geschäfte betreibt die INTERSTAHL, so heißt doch wohl Ihre Holding, eigentlich?“

„Ich bin ins Geschäftliche nicht im Detail involviert. Wenn das für Sie von Belang ist, sollten Sie mit meinem Bruder sprechen.“

„Das werde ich sowieso noch tun.“

Cernik erhob sich.

„Sie werden verstehen, dass wir die Leiche Ihres Mannes zu rechtsmedizinischen Untersuchungen mitnehmen mussten. Ich werde dafür sorgen, dass unsere Mediziner den Leichnam baldmöglichst freigeben.“

„Danke, Herr Hauptkommissar, damit würden Sie mir einen großen Gefallen erweisen.“

„Ferner bitte ich Sie, möglichst heute noch Ihren Mann der Ordnung halber zu identifizieren.“

„Wenn sich das nicht verhindern lässt …“

„Ach, ja, ich werde mir noch die Arbeitsplätze ihres Mannes im Unternehmen und auch zu Hause ansehen müssen, um möglicherweise Anhaltspunkte für ein Verbrechen aufzuspüren.“

„Ich werde Ihrer Arbeit keinen Stein in den Weg legen, denn ich werde nicht eher Ruhe finden, bis ich weiß, wie und vor allem warum mein Mann zu Tode gekommen ist. Ich muss auch an meine Familie und das Unternehmen denken.“

„Wer wird das Unternehmen jetzt leiten, wenn ich fragen darf?“

Frau von Saersbeck stand ebenfalls auf, eine bemerkenswerte Frau, jedoch von einer selbst erbauten Mauer umgeben, die – trotz ihrer unverbindlichen Freundlichkeit – schwerer zu durchdringen schien als Brunhildes Feuerwall in der Nibelungensage.

„Mein jüngerer Bruder Hagen. Er war bisher zusammen mit Frieder geschäftsführender Gesellschafter unserer Unternehmungen. Vorläufig wird er wohl alleine das Unternehmen leiten müssen.“

„Fast hätte ich’s vergessen, und nehmen Sie die Frage bitte ernst, auch wenn Sie Ihnen merkwürdig vorkommen mag. Sagen Ihnen die Musketiere etwas?“

Selbst bei dieser Frage behielt Frau von Saersbeck ihre Haltung und ließ sich keinerlei Verwunderung anmerken, obwohl ihr die Frage recht eigenartig vorkam. Sie schien ein wenig nachzugrübeln, so als wollte sie hinter dieser Frage den Sinn entdecken. Schließlich erwiderte sie ernsthaft, ohne jeden weiteren Kommentar: „Ich kenne welche aus dem Buch von Dumas und aus Filmen, wie wahrscheinlich jeder andere Mensch auch.“

„Nochmals vielen Dank, gnädige Frau, Sie werden von mir hören.“

Der Kommissar dachte angestrengt nach, spürte, etwas vergessen zu haben.

„Oh, noch eine Frage, bitte. Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt lebend gesehen?“

„Gestern Morgen beim Frühstück. Abends kam er spät heim. Ich hatte mich bereits zurückgezogen. Wir benutzten getrennte Schlafräume.“

„Ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie mir – trotz der Umstände – gewidmet haben. Bemühen Sie sich nicht, ich finde schon alleine hinaus.“

Frau von Saersbeck hatte jedoch bereits eine kleine Glocke in der Hand und läutete nach dem Butler.

„Der Herr Hauptkommissar möchte gehen, Albert.“

Sie nickte Cernik grüßend zu und entfernte sich lautlos, wie sie gekommen war, durch eine Tür in der Regalwand.

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen, mein Herr“, forderte der Butler ihn auf.

„Sagen Sie, wann haben Sie Herrn von Saersbeck zuletzt gesehen?“, fragte Cernik auf der Schwelle des Portals.

„Er kam gegen 23 Uhr nach Hause und bat mich, ihm einen Drink zu servieren. Mir schien er ein wenig nervös. Er stürzte den Whisky ziemlich hastig hinunter und sagte: ‚Ich gehe noch eine halbe Stunde spazieren, frische Luft schnappen, mein Tag war sehr anstrengend. Sie können für heute Schluss machen, Albert‘.“

„Und Sie haben Schluss gemacht?“

„Ich habe noch ein wenig gelesen, bin dann aber eingedöst. Als ich – es muss gegen 3 Uhr in der Frühe gewesen sein – wach geworden bin, beschlich mich ein ungutes Gefühl, und ich habe nachgeschaut, ob der Herr zurück war. Als um 7 Uhr von ihm immer noch nichts von ihm zu sehen war, habe ich die gnädige Frau geweckt und sie informiert.“

„Ist Herr von Saersbeck öfter abends im Park spazieren gegangen?“

„Das kann ich nicht bestätigen.“

„Haben Sie irgendeine Vermutung, was vorgefallen sein könnte, oder ist Ihnen etwas Außergewöhnliches gestern Nacht oder in den letzten Tagen aufgefallen?“

„Mir steht nicht zu, etwas zu vermuten. Ich sehe nur die Arbeit, die zu verrichten mir aufgetragen wird, mein Herr.“

„Wie lange sind Sie schon bei den Saersbecks beschäftigt?“

Von Saersbeck, bitte! Seit Ewigkeiten, mein Herr.“

„Geht’s auch genauer?“

„Ich habe nie versucht, die unzählbaren Stunden der Ewigkeit zu zählen, mein Herr.“

Bei dieser Antwort schien es dem Kommissar, als würden ein paar Falten in der ansonsten undurchsichtigen Miene des Butlers den Versuch eines Schmunzelns wagen. Der Butler konnte ihm offensichtlich nicht weiterhelfen. Daher beendete er das Gespräch mit der Aufforderung: „Bitte informieren Sie mich, falls Ihnen noch etwas ein- oder auch auffallen sollte.“

Mit diesen Worten überreichte Cernik dem Butler seine Visitenkarte. Albert hielt ihm die Tür auf, verabschiedete ihn mit einem distanzierten Kopfnicken, und der Kommissar stieg, in Gedanken versunken, die Treppe hinab.

An seinem Wagen angekommen, holte er erst einmal tief Luft. Er war an diesem Morgen unvermittelt in eine Welt geraten, die nicht die Seine war und die er aus zutiefst verwurzelter Gesinnung verabscheute. Er kannte zwar keine Berührungsängste im Umgang mit den sogenannten hohen Tieren. Sein Beruf hatte ihn mit aller Deutlichkeit gelehrt, dass auch diese Spezies zur menschlichen Rasse zählt – mit all den Schwächen wie auch die der Normalsterblichen. Sein Besuch in der Villa Saersbeck, insbesondere das Auftreten der Dame des Hauses, hatte Spuren in seiner Vorstellungswelt hinterlassen.

Cernik startete seinen Wagen und fuhr los. Seine Gedanken wirbelten wild und ungeordnet durch seinen Kopf, darunter Gedanken, die er vorläufig noch für sich behalten wollte, sogar musste. Er hielt es für angezeigt, erst einmal Ordnung in die bisher gewonnen Erkenntnisse zu bringen. Um seine Gedanken sacken zu lassen, suchte er nach einer Parkgelegenheit, schaltete den Motor seines Wagens ab, kurbelte das Fenster hinunter, um frische Luft in das Innere des Wagen gelangen zu lassen, drehte die Rücklehne des Fahrersitzes in eine bequeme Liegestellung und überließ sich voll und ganz seinen Eindrücken. Er wollte sich nicht von Fiktionen leiten lassen, die sich bei ihm einzuschleichen begannen, kam aber nicht umhin, sich zuzugestehen, dass der offenkundige Reichtum der Saersbecks ihn mehr beeindruckt hatte, als ihm lieb war. Allerdings hatte dieses Vermögen Saersbeck nicht vor seinem bitteren Ende schützen können, vielleicht lag gar ein Tatmotiv vor.

Wann immer Cernik auf diese unnahbaren Kreise stieß, brodelten Kindheits- und Jugenderinnerungen hoch, die ansonsten verblasst oder verdrängt waren, und mahnten ihn, sich stets seiner Wurzeln eingedenk zu bleiben.

Er war als einziges Kind einer Arbeiterfamilie groß geworden. Seine Eltern hatten sich für ihn aufgeopfert, hatten ihm eine ordentliche Schulbildung ermöglicht, um ihm die Chance zu eröffnen, dem Dunstkreis der kleinen Leute zu entkommen.

Sein Vater, ein Fabrikarbeiter, wenn er denn überhaupt Arbeit hatte, war ein überzeugter Sozialdemokrat, der sich für die Interessen der Arbeiterschaft engagiert und auch als Aktivist in der Gewerkschaft hervorgetan hatte. Sein Standesbewusstsein, Genosse der Arbeiterklasse zu sein, hatte ihn geformt, und er war immer stolz darauf gewesen, ihr anzugehören. Die Vorstellung, mehr zu sein als ein Malocher, hatte nie seiner kleinen Welt entsprochen. Dennoch erhoffte er für seinen einzigen Sohn ein besseres Leben, als ihm selbst beschieden war.

Sein allzu schlichtes Gemüt hatte ihn, und damit begannen seine Probleme, die Zeichen der Zeit nicht erkennen lassen, denn er weigerte sich zu realisieren, dass Sozialdemokraten und Nationalsozialisten nicht dieselbe Sprache sprachen. Lange Zeit hatte auch er an ein neues klassenloses Deutschland unter der Führung eines Mannes aus seiner Gesellschaftsschicht geglaubt, bis ihm klar wurde, dass die neue Führungselite Deutschland in eine Lage hineinsteuerte, die er als überzeugter Pazifist nicht gutheißen konnte. Bei einer Arbeiter-Versammlung wurde er eines Tages in einer Kneipe von einer SA-Schlägergruppe derartig zusammengeprügelt, dass er danach lange Zeit arbeitsunfähig, anschließend nur noch bedingt belastbar war und letztlich sein Leben sogar im Rollstuhl beenden musste.

Cerniks Mutter entstammte einer armen halbjüdischen Familie, die sich so unauffällig wie möglich durchs Leben schlug. Sie war zwar im Rahmen des rassistischen Ausleseprozesses von den Nazibehörden aufs Korn genommen worden, zumal sie als Ehefrau eines fragwürdigen Sozialdemokraten ebenfalls als bedenklich einzustufen war, doch wollte ein gütiger Zufall, dass ihre Akte verlegt wurde. Erst 1944 gelangten ihre Unterlagen durch die Denunziation einer immer noch verblendeten Nachbarin wieder ans Tageslicht. Daraufhin wurde sie noch Ende 1944 in das Konzentrationslager nach Dachau verbracht, wo sie ein halbes Jahr später befreit wurde, von wo sie aber völlig gebrochen heimkehrte und bald darauf verstarb.

Cernik sah immer wieder, so auch jetzt, die großen sprechenden Augen seiner Mutter vor sich, als wollten sie ihn auf etwas Wichtiges hinweisen, wie so oft, wenn er einen Rat benötigte. Er nahm ihre Botschaft brav zur Kenntnis und fühlte sich in seinen Vermutungen bestätigt. Besonders, wenn Dinge die Vergangenheit berührten, erschien sie ihm, als wenn sie noch lebte, und er fühlte, wie ihre von harter Arbeit rauen Hände liebevoll über seinen Kopf streichelten.

Nie hatte er vergessen können, was ihm in seiner Kindheit widerfahren war. Er hielt seine Erinnerungen in Ehren. Trotz der bescheidenen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war, und der Unbilden, die der Krieg mit sich gebracht hatte, war es ihm als ausgesprochen fleißiger und strebsamer Schüler gelungen, die Schule mit dem Abitur abzuschließen. Danach war er zwar noch im letzten Kriegsjahr zur Wehrmacht eingezogen worden, doch schon nach wenigen Tagen in französische Gefangenschaft geraten und nach dem Krieg sofort freigekommen. Sein Leben lang war er seinen Eltern dankbar für ihre Opferbereitschaft, die ihm die Basis für eine Berufslaufbahn nach seinen Wünschen errichtet hatte.

In jungen Jahren schon hatte er sein eigenes Bild von Gerechtigkeit entwickelt und die Berufung verspürt, an der Errichtung einer Welt mitzuarbeiten, in der alle Menschen gleich behandelt werden, ohne Ansehen ihres Standes und Bankkontos, in der Verhältnisse wie in der Nazidiktatur keinen Platz hatten. Als Polizeibeamter glaubte er, am besten der Gerechtigkeit dienen zu können, und hatte demzufolge diesen Berufsweg zielstrebig verfolgt.

Bereits während seiner Ausbildungs- und ersten Berufsjahre war er seinen Vorgesetzten aufgefallen, die seine untrügliche Spürnase, seinen Scharfsinn und seine Arbeitsweise hoch einschätzten. Allerdings erkannten sie auch, dass er wohl zu der ungeliebten Gruppe der einsamen Jäger gezählt werden müsse, deren Erfolge zwar für sich sprechen, die sich jedoch in der Zusammenarbeit nicht immer als bequem erweisen. Sie sollten mit ihrer Einschätzung recht behalten, denn Cernik löste in den vergangenen Jahren erfolgreich eine Reihe durchaus kniffliger Fälle, meistens Gewaltverbrechen, besonders auch solche, die mit der Nazivergangenheit zu tun hatten. So entstand ein unanfechtbarer Nimbus um seine Person, der ihm eine gewisse Narrenfreiheit unter den Ermittlern sicherte.

Bereits mehrmals hatte Cernik Angebote erhalten, ins LKA oder gar BKA überzuwechseln. Zum Teil hatte er auch in Sonderkommissionen mitgearbeitet, doch fühlte er sich viel zu sehr in seiner Heimatstadt verwurzelt, um gänzlich zu einer Landes- oder Bundesbehörde zu wechseln. Er war nämlich – warum wusste er auch nicht – davon überzeugt, dass in seiner Heimatstadt eine Aufgabe seiner wartete, die es für ihn zu erfüllen galt. Daher hatte er einen Wechsel nie wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen. Je länger er über seinen neuen Fall nachdachte, umso mehr gewann das Gefühl Oberhand, nun vor dieser Aufgabe zu stehen.

Cernik liebte seine Arbeit und konnte durchaus nachempfinden, dass Anna von seinem Eifer nicht immer begeistert gewesen war, denn er ging stets völlig in seinen Fällen auf. Er lebte ziemlich zurückgezogen in einem Dreifamilienhaus, das zu einem Gehöft gehörte in einem Vorort nahe der südlichen Stadtgrenze. Er war freundlich zu seinen Nachbarn, ohne mit ihnen zu verkehren, wie er auch stets vermied, mit seinen Kollegen privat zusammenzukommen. Meist zeigte er sich unnahbar. So blieb es nicht aus, dass vor seinem 50. Geburtstag seine Kollegen vor einem Rätsel standen, als es darum ging, ihm ein Geschenk zu kaufen. Keiner hatte auch nur die blasseste Ahnung, welchen Hobbys Cernik außer seiner Arbeit und dem Fußball nachging, womit man ihm eine Freude bereiten konnte. Als der Polizeidirektor bei Anna anrief und hörte, dass er bei italienischen Opern oder klassischen Sinfonien seine Entspannung finde, war dessen Überraschung mehr als groß gewesen.

Cernik ging in Gedanken die bisher gewonnenen Erkenntnisse noch einmal mit der ihm eigenen penetranten Gründlichkeit durch. Er hatte einen Toten, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet worden war. Ein klares Motiv ließ sich noch nicht erkennen. Es konnte in der Familie liegen, was jedoch eher unwahrscheinlich war, in den Aktivitäten des Unternehmens, was schon eher möglich war, waren doch Stahl- und Waffenhandel nicht immer zu trennen, wie er wusste. Es konnte aber auch in seinem Privatleben, das noch zu durchforschen war, oder aber auch in der Vergangenheit, die einige Fragen offenließ, seine Ursache haben. Schließlich gab es immer wieder Gerüchte, die einen Bogen spannten aus der Nazizeit nach Südamerika, und er hielt es nicht für völlig ausgeschlossen, dass auch in diesem Fall die Vergangenheit eine gewisse Rolle spielen könnte.

Erst aber musste herausgefunden werden, wer Friedrich von Saersbeck wirklich gewesen war. Cernik schrieb einen Dringlichkeitsvermerk in sein virtuelles Notizbuch. Es war eine Marotte oder auch Fähigkeit von ihm, alle seine Notizen im Kopf zu behalten und abzurufen, wenn er sie benötigte, etwa wie ein Pianist die zu interpretierenden Noten. Er war mit einem ausgeprägten visuellen Gedächtnis ausgestattet, und er konnte auf diese Weise vermeiden, dass andere in seinen Gedanken und seinen Notizen herumschmökerten.

„Auf Cernik!“, ermahnte er sich, an die Arbeit zu gehen, richtete seinen Sitz wieder hoch und startete den Wagen. Ein Plan, den es Schritt für Schritt abzuarbeiten galt, war zurechtgelegt. Mit allen Sinnen fühlte er, dass dieser Fall sein bisher wichtigster werden könne, und seine rote Seele, die er von seinen Eltern geerbt hatte, forderte ihn nachdrücklich auf, mehr noch als sonst zu leisten, um Licht in das Dunkel der Saersbecks zu bringen. Cernik fühlte die Verpflichtung, dass er allen Werktätigen eine Lösung des Falles schuldig sei, denn zu selten bestand die Möglichkeit, hinter die Kulissen der gewöhnlich Unantastbaren, jener Minderheit der Gesellschaft zu blicken, die in Wirklichkeit in einer Demokratie die Macht ausübt und die hehre Idee einer Volksherrschaft ad absurdum führt. In Cerniks Adern kribbelte das Blut. Er schwor sich, den Nachweis anzutreten, dass in der heutigen Zeit der ihm verhasste Geldadel nicht ohne die Kontrolle des Volkes und seiner Instanzen seine Spielchen treiben kann. Nach diesem Vorsatz rief er sich jedoch zur Ordnung. „Reiß dich zusammen, Leo Cernik! Verwässere die gebotene Objektivität nicht durch dein Wunschdenken!“, ermahnte er sich.

Obwohl Cernik zu den aufmerksamen Autofahrern zählte, wäre er unterwegs fast mit einem anderen Wagen zusammengestoßen, so sehr waren seine Gedanken mit dem Fall beschäftigt. Er musste ausfindig machen, wer sich hinter den Musketieren verbarg und was sie mit Saersbeck zu schaffen hatten, falls dieses Papier nicht ein Scherz oder als falsche Fährte ausgelegt war. Mit Dumas’ Musketieren waren sie wohl kaum identisch, nutzten den Namen vielleicht aber als Sinnbild für Rache oder Vergeltung. Also galt es herauszufinden, wie und wo ihre Spur aufzunehmen war. Plötzlich fiel ihm ein, was Frau von Saersbeck über das Schulfest des Gymnasiums gesagt hatte. Der Begriff Musketiere könnte möglicherweise auf eine Jugendbande hinweisen, kam ihm in den Sinn. Ein Gespräch mit dem Direktor der Schule konnte nicht schaden. Er selbst war auf ein anderes Gymnasium in der Stadt gegangen, ein humanistisches, das von seiner Wohnung aus schneller und günstiger zu erreichen gewesen war, doch kannte er das erwähnte Gymnasium, das direkt am Flussufer lag, nur durch einen Leinpfad getrennt, und das damals wie heute wieder einen guten Ruf besaß. Er nahm sich vor, der Schule am nächsten Tag einen Besuch abzustatten.

Im Kommissariat angekommen – dieses Mal war sein Parkplatz hinter dem Haus nicht belegt –, fragte er bereits auf der Türschwelle: „Gibt es was Neues?“

Fast gleichzeitig öffneten Willy Klein und Inga Büllesbach ihren Mund, um ihn über Neuigkeiten zu informieren.

„Langsam!“, stoppte er ihren Redenfluss, „bitte nacheinander. Willy?“

„Der Mann, der Saersbeck gefunden hat, war hier. Er hat nichts gesehen außer dem Körper, der am Baum baumelte. Er hat daraufhin sofort die Polizei verständigt. Ansonsten ist ihm nichts aufgefallen. Er stand sichtlich immer noch unter Schock.“

„Hat die Spurensicherung noch etwas ergeben?“

„Ja und nein …“

„Das ist immerhin mehr, als ich gedacht habe. Vielleicht das Ja zuerst, wenn ich bitten darf, das Nein interessiert mich eher weniger.“

Inga grinste. Sie konnte ihre Befriedigung nie verbergen, wenn ihr Chef Klein auf den Arm nahm, denn sie hatte für Klein nicht besonders viel übrig. Er, verheiratet und Vater von zwei Kindern, hatte in den ersten Tagen, nachdem sie dem Kommissariat zugeteilt worden war, versucht, ihr an die Wäsche zu gehen, sich dabei aber eine derbe Abfuhr geholt. Sie war nämlich eine der besten Kampfsportler im Polizeisportverein, was Klein jedoch damals nicht wusste, bei diesem Anlass jedoch schmerzhaft erfuhr. Nach seiner plumpen Annäherung und einer von ihr perfekt und blitzschnell ausgeführten Judotechnik hatte er nämlich fliegen gelernt und war mit dem Kopf gegen eine Schreibtischkante geknallt. Eine Beule erinnerte ihn noch tagelang später an seinen Flugversuch. Eine kleine Narbe war als warnendes Andenken zurückgeblieben. Cernik hatte sich gedacht, was vorgefallen war. Da Inga die Angelegenheit jedoch nicht zur Sprache gebracht hatte, ließ auch er sie auf sich beruhen. Ein paar Tage später erwähnte er Klein gegenüber jedoch so nebenbei wie möglich, dass für Männer, die es dringend nötig hätten, in der Stahlstraße gewisse Etablissements vorhanden seien, wo selbst hoch angesehene Bürger der Stadt unter ihresgleichen auf gastfreundliche Damen träfen, welche dortselbst über die trefflichsten Befähigungen verfügten, selbst die ungewöhnlichsten Wünsche ihrer Klientel zu erfüllen. Klein reagierte mit scheinbarem Unverständnis auf diesen höchst literarisch formulierten, mehr als deutlichen Hinweis. Er hatte jedoch verstanden und Inga danach ihre Ruhe – zumindest vor ihm.

„Ich höre …“, forderte Cernik auf zu berichten.

„Die Spurensicherung hat ein paar Abdrücke von Schuhen unter der Eiche genommen, allerdings allesamt ohne verwertbare Profile, sodass wir nichts damit anfangen können. Und was du auch schon festgestellt hattest, es gab zwei Eindrücke im Boden, als hätte dort eine Leiter oder was auch immer gestanden. Zigarettenkippen und die sonst üblichen Hinweise sind offenbar restlos fortgeräumt worden. Es sieht verdammt nach einem Profijob aus.“

„Noch was?“

„Du kennst die alte Burgruine aus der Frankenzeit in der Nähe?“

„Ja, kenn ich.“

„Dort haben sich in der vergangenen Nacht offenbar ebenfalls mehrere Personen aufgehalten. Es gab in der Nähe auch ein paar Reifenspuren, die aber nicht zwangsläufig von Beteiligten stammen müssen, denn der Parkplatz wird auch von Wanderern, Jägern und Waldarbeitern angefahren.“

„Danke, Willy. Fahr noch mal am Fundort vorbei und frag die Kollegen, ob sie noch auf Auffälligkeiten gestoßen sind. Danach kannst du für heute Feierabend machen. Ich muss noch zum Oberstaatsanwalt und Bericht erstatten. Heute gibt’s nichts mehr zu tun, wir machen morgen weiter.“

Willy Klein ließ sich das Angebot eines frühen Feierabends, was mehr als selten vorkam, nicht zweimal unterbreiten. Schnell griff er nach seiner Jacke und wünschte „einen schönen Abend allerseits“, bevor Cernik sich das Angebot anders überlegte, und machte sich eiligst aus dem Staub.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, saß Cernik noch eine Weile in sich versunken an seinem Schreibtisch. Inga beobachtete ihn gespannt und wartete, da er scheinbar noch mit ihr sprechen wollte. Es war nicht zu übersehen, dass irgendetwas ihn stark beschäftigte.

„Inga, setz dich bitte mal hierher!“, bat Cernik sie nach einigen Augenblicken.

Inga rollte mit ihrem Stuhl an seinen Schreibtisch. Cernik blickte sie an und sagte: „Inga, nach den ersten Eindrücken bin ich überzeugt, dass wir hier einen außergewöhnlichen Fall vorliegen haben. Er weist Aspekte auf, die von uns äußerste Vorsicht und Verschwiegenheit in jeder Hinsicht verlangen. In diesem besonderen Fall habe ich zu niemandem Vertrauen außer zu mir und dir. Selbst bei Klein muss ich wachsam sein, da er seinen Mund nicht immer unter Kontrolle hat. Nichts, aber auch rein gar nichts darf von unseren Ermittlungen diesen Raum verlassen, abgesehen von dem, was ich Schneider nicht vorenthalten kann. Und das erledige ich selbst – auf meine Weise.“

Inga Büllesbach schaute ihren Chef fragend an. So hatte sie ihn noch nicht kennengelernt und konnte sich auch keinen Reim auf seine Eröffnung machen.

„Hast du schon etwas über die Saersbecks herausgefunden?“

„Nichts, was die Erwähnung verdient, Chef. Die Saersbecks herrschen über ein sehr weit verzweigtes Handelsimperium. Ich benötige noch mehr Zeit für meine Recherchen.“

„Macht nichts, Inga. Aber nun das Wichtigste: Der Tote hieß früher Brockhuis, so nannte er sich zumindest, und hat den Namen Saersbeck mit seiner Hochzeit angenommen. Wir müssen Licht in seine Vergangenheit bringen. Das aber – wie ich schon sagte – muss äußerst behutsam geschehen! Und nun machen auch wir Schluss für heute, ich muss noch bei Schneider vorbei. Einen schönen Abend.“

„Danke gleichfalls, Chef.“

Gemeinsam verließen sie das Büro, jedoch in unterschiedliche Richtungen. Cernik ging noch einmal zurück, ergriff den Telefonhörer und wählte Schneiders Nummer.

„Schneider“, meldete sich der Oberstaatsanwalt.

„Cernik hier. Sie sind ja noch im Büro. Kann ich noch vorbeikommen?“

„Ich warte schon auf Sie. Bitte beeilen Sie sich, ich habe noch einen Termin heute Abend.“

Cernik quälte sich durch den Feierabendverkehr der Stadt, hatte das seltene Glück, beim Landgericht sofort einen freien Parkplatz zu finden, und stieg hoch ins Büro des Oberstaatsanwalts. Er klopfte an. Schneider öffnete ihm die verschlossene Tür selbst, da seine Mitarbeiter bereits gegangen waren. Wie immer, wenn er dieses Büro betrat, machte sich bei Cernik Verdruss breit. Dem Kommissar mangelte es an Verständnis dafür, dass dieser Mann ein so aufwendig eingerichtetes Büro sein Eigen nennen konnte, ausgestattet mit teurem Mobiliar, wohingegen sein Büro nur spärlich eingerichtet war und bei der Polizei um die Anschaffung eines jeden Bleistifts gekämpft werden musste.

„Kommen Sie rein, Cernik, und schließen Sie die Tür!“, forderte der Staatsanwalt ihn auf, als wenn dies nicht selbstverständlich wäre. Der Kommissar hasste den militärischen Ton, den der Staatsanwalt Untergebenen gegenüber gelegentlich anschlug. Cernik kam es immer wieder vor, dass der Staatsanwalt damit irgendwelche Komplexe zu verbergen trachtete, aber ihm war es bis zu diesem Tag nicht herauszufinden gelungen, welcher Art diese Komplexe sein könnten.

„Ich höre …“, begann der Staatsanwalt das Gespräch recht grantig. Seine Laune schien nicht die beste zu sein, es ging eine ungewöhnliche Unruhe von ihm aus.

„Ich kann Ihnen noch nicht viel sagen. Wir untersuchen gegenwärtig, ob ein Suizid oder ein Verbrechen vorliegt.“

„Bitte …? Ein Mord kommt auch infrage? Was lässt Sie das vermuten?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie Saersbeck es ohne Hilfe angestellt haben soll.“

„Ein Mord würde für erhebliches Aufsehen in Stadt und Land sorgen. Der Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht. Eine Selbsttötung wegen einer plötzlich eingetretenen krankhaften Depression würde ich der Öffentlichkeit eher verkaufen können, damit sie nicht unnötig in der Familie und deren Umfeld herumstochert, denn das würde mit Sicherheit zu Widerständen und Einreden von allen möglichen Seiten führen. Stellen Sie einen Suizid fest!“

„Ich verstehe nicht …“

Cernik verstand natürlich sehr wohl.

„Sie haben sehr gut verstanden.“

„Ich werde – wie immer – meinen Auftrag erfüllen, Herr Oberstaatsanwalt.“

„Sie sollten mich nicht falsch verstehen. Ich habe nur an die Familie gedacht, mit der ich nicht nur bekannt bin, sondern die auch eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft und auch als Steuerzahler spielt. Bis morgen dann – und schonen Sie die Familie!“

Der Kommissar erhob sich und verließ mit einem Nicken das Büro des Staatsanwalts. Mehrere Alarmglocken schrillten in seinem Kopf. So deutlich hatte Schneider noch nie versucht, sich in seine Arbeit einzumischen und Einfluss zu nehmen. Gedanklich knüpfte Cernik Knoten, die er zu zerschlagen gedachte wie Alexander der Große den berühmten gordischen. Hätte er das Telefongespräch mitbekommen, das der Staatsanwalt entgegennahm, nachdem er ihn gerade verlassen hatte, so wäre er in der Lage gewesen, seine Ermittlungen bereits auf eine bestimmte Richtung hin zu fokussieren.

Schneider schrak zusammen, als der rechte der beiden Telefonapparate, die auf seinem Schreibtisch standen, einen Anruf meldete. Er nahm den Hörer ab, ohne seinen Namen zu nennen, denn nur ausgewählte Anrufer benutzten die Geheimleitung. Am anderen Ende meldete sich eine tiefe Stimme, ebenfalls ohne Namensnennung.

„Wir haben einen guten Freund verloren, der sich selbst in Schwierigkeiten gebracht hat. Er hatte noch nie starke Nerven. Wen haben Sie in diesem Fall mit den Ermittlungen betraut?“

„Cernik.“

„Verdammt, musste das sein? Warum gerade Ihr bester Mann? Konnten Sie keinen Anfänger damit beauftragen?“

„Ich weiß genau, wie Cernik arbeitet und denkt. Besser er als jemand, den ich weniger gut einschätzen kann.“

„Wenn Sie meinen … Das gefällt mir aber ganz und gar nicht. Wir werden Ihren Ermittler von nun an im Auge behalten. Und merken Sie sich: Falls die Sache aus dem Ruder läuft …“

Bevor Schneider bestätigen konnte, dass er verstand, hatte der Anrufer aufgelegt.

Verdammt, fluchte er und versuchte gegen seine Beklommenheit anzukämpfen. Am ganzen Körper zitternd, ließ sich in den Sessel fallen, wo er noch eine Weile wie in Trance sitzen blieb. Er genehmigte sich zwei Gläser Cognac, den er hinter einem Aktenordner versteckt hielt. Erst als er sich beruhigt hatte, machte er sich auf den Weg nach Hause.

Cernik fuhr gemächlich heim. Seine Gedanken wirbelten unterwegs mehr als sonst, aber er widmete dennoch dem starken Straßenverkehr seine volle Aufmerksamkeit. Er fuhr gerne Auto, trotz des immer stärker anwachsenden Verkehrs, besonders, nachdem er sich einen getunten BMW 2002 zugelegt hatte, mit dem er ohne Weiteres an Rallyes hätte teilnehmen können. Er stellte sein Fahrzeug vor seinem Wohnhaus am Straßenrand ab, obwohl er eine Garage besaß, stieg die Treppen zu seiner Wohnung hoch und erwischte sich dabei, aus der Diele seiner Wohnung völlig gedankenlos „Anna, ich bin da!“ zu rufen.

Einmal mehr vergegenwärtigte er verdrossen, dass Anna ihn verlassen hatte. Erst nach der Trennung war ihm mit aller Deutlichkeit aufgegangen, wie sehr sie ihm fehlte. Sie hatten zwar in letzter Zeit meistens abends nicht sehr viel miteinander gesprochen, wenn er spät und müde vom Dienst nach Hause kam, zumal er sie nicht mit beruflichen Problemen belasten wollte, doch hatten sie zusammen in stillschweigendem Einvernehmen auf dem Sofa gesessen und zumindest ihre Gegenwart gespürt. Allerdings hatte er schon lange keine Gedanken mehr daran verschwendet, wie sie sich das Zusammenleben mit ihm vorstellte und welche Wünsche auf der Strecke blieben.

Anna hingegen hatte versäumt, mit ihm in aller Offenheit dieses heikle Thema anzusprechen. Sie arbeitete halbtags bei einer Bank, füllte dort einen gut bezahlten Job aus und konnte das verdiente Geld für Kleidung und sündhaft teure Unterwäsche ausgeben, ohne dass es deswegen je zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gekommen wäre.

Zu Beginn ihrer Beziehung hatten sie fast jeden Tag Sex miteinander gehabt. Sie konnten beide nicht genug voneinander bekommen, besonders Anna hatte sich immer wieder neue Spiele im Bett und wo auch immer einfallen lassen, um sich aneinander und den Partner zu erfreuen. Sie kam ihm wie eine Liebesgöttin vor, er hatte nie den Wunsch verspürt, auf andere Frauen einzugehen, obwohl es ihm an unzweideutigen Angeboten nie gemangelt hatte. Anna und er schienen füreinander in jeder Hinsicht bestimmt zu sein. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass eines Tages auch in ihre Ehe der triste Alltag Einzug halten könne. Im Laufe der Zeit reduzierte sich jedoch sein sexuelles Verlangen immer mehr, weil sein Beruf ihm ein Zuviel seiner Energie abverlangte, ihn körperlich auslaugte.

Während seine zahlreichen Fälle ihn im Laufe der Zeit ermüdeten, das Böse in der Welt Narben in seine Seele meißelte und Spuren in seinen Gedanken hinterließ, konnte Anna sich vor Avancen kaum retten. In der Bank galt sie als Sexsymbol wie die berühmten Filmstars ihrer Zeit, obwohl sie ihrem Leo bis vor Kurzem standhaft die Treue gehalten hatte. Es war ihr gegeben, mit ihrer natürlichen Ausstrahlung und einem verführerischen Augenklimpern die Männerwelt verrückt zu machen. Ihre Art, sich zu bewegen, auch sich zu kleiden, weckte Männerfantasien. Sie dachte sich nicht viel dabei, sie war eine geborene Verführerin, ohne derlei Absichten zu hegen. Jeder Mann, der sie missverstand und ihr zu nahe rückte, konnte sich einer Abfuhr gewiss sein, die er so schnell nicht vergessen würde. Das nächste Mal würde er mehr Feingefühl im Umgang mit ihr walten lassen.

Cernik bekam von alledem so gut wie nichts mit. Nachts lag Anna in seinen Armen, bedeckte ihn mit Küssen, verwöhnte ihn sinnlich, ohne jede Scham, und beglückte ihn, als hätte sie eine himmlische Liebesschule durchlaufen. Er war stolz, mit solch einem Geschöpf verheiratet zu sein. Zudem war Anna nicht nur eine Meisterin der Liebeskunst, sondern auch eine der Küche, was sie mangels Gelegenheit allerdings nur selten demonstrieren konnte. In einem Satz: Anna war als Partnerin schlichtweg perfekt, eine gute Hausfrau mit Sinn fürs Schöne, eine Freundin zum Gedankenaustausch und eine göttliche Geliebte, in jeder Hinsicht eine Frau zum Vorzeigen. Alle seine Bekannten beneideten ihn um sie.

Das Glück schien sein Füllhorn über ihre Verbindung ausgeschüttet zu haben, zumindest bis zu jenem Tag, als er Annas nächtliche Annäherung zum wiederholten Mal nicht wahrnahm, weil er bereits eingeschlafen war. Es wollte der Zufall, dass sie am nächsten Tag einen neuen Kollegen erhielt, der nicht nur wie ein Filmschauspieler aussah, sondern auch mit einem sensiblen Gespür für unbefriedigte Frauen ausgestattet war. Als er Anna zum ersten Mal tief in die Augen schaute, war’s um sie geschehen, was bisher fernab ihrer Vorstellungskraft gelegen hatte. Der Verdruss über den Zustand ihrer Ehe spülte sich mit einem Mal an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Bereits am ersten Abend, als ihr Kollege sie zu einem Abendessen in ein feines Lokal eingeladen hatte, landete sie, ohne sich innerlich dagegen aufzulehnen, nach reichlichem Genuss von Champagner in seinem Bett, wo sie alle Hemmungen abwarf. Er erwies sich als dankbarer Empfänger ihrer Künste und zeigte ebenfalls ein bemerkenswertes Talent auf diesem Gebiet.

Leo, der sich zu Hause in die Akten eines neuen Falles einlas, hatte verloren und noch nicht einmal eine Chance besessen, gegen seinen unbekannten Nebenbuhler anzukämpfen. Wenige Tage später verließ Anna ihn, ohne Rücksicht auf die harmonischen Tage ihrer Ehejahre zu nehmen. Sie vermeinte, nunmehr den Partner gefunden zu haben, der für sie vom Schicksal vorgesehen war, um aufzuleben wie eine schöne Orchidee, ein Partner, der nicht nur nahm sondern auch zu geben bereit war.

Cernik betrachtete mit Entsetzen die Unordnung in seiner Wohnung. Er hasste im Grunde jegliches Durcheinander, kam aber nur an seinen freien Tagen dazu, Ordnung zu schaffen. Ein Blick ins Gefrierfach seines Kühlschranks zeigte ihm an, dass noch eine Pizza Tonno vorrätig war. Er nahm sie heraus und legte sie in die Mikrowelle. In der Abstellkammer fand er noch eine ungeöffnete Flasche Bordeaux und entkorkte sie. Als die Mikrowelle ihn durch ein Klingeln die Pizza als zubereitet meldete, setzte er sich mit ihr und dem Wein an den Küchentisch, ergriff die Tageszeitung, die zu lesen er am Morgen nicht mehr geschafft hatte, und nahm sein Abendbrot ein. Anschließend stellte er den Teller in die Spülmaschine, suchte in seiner Musiksammlung, fand nach einigem Suchen die Schallplatte, nach der er Ausschau gehalten hatte, legte sie auf und lümmelte sich mit der Weinflasche und dem Glas in seinen Fernsehsessel. Aus seiner Musikanlage, die er oft so laut aufdrehte, dass die Nachbarn ebenfalls in den Musikgenuss kamen, ertönte die Ouvertüre zu Leoncavallos Meisterwerk Pagliacci. Cernik lehnte sich zurück und ließ mit der Musik das dramatische Geschehen der Oper vor seinen Augen ablaufen. Plötzlich spürte er eine rasende Eifersucht aufsteigen, wie bei Canio, dem Bajazzo in der Oper. Ein Gefühl gewann die Oberhand, das ihm aus seiner täglichen Arbeit nur allzu bekannt vorkam und ihm einflüsterte, dass sein Nebenbuhler den Tod durchaus verdient habe. In diesem Moment wäre er bereit gewesen, dem Liebhaber von Anna aufzulauern und seinen aufgestautem Hass mit einem Messer mitten in dessen Herz zu stoßen. Gerade als Canio seine berühmte Szene „Recitar! … Mentre preso dal delirio …Tu se’ Pagliaccio …“ („Jetzt spielen …“) beendet hatte, läutete sein Telefon. Er wunderte sich, denn seine Telefonnummer war in keinem Telefonbuch verzeichnet und nur wenigen Freunden und seinen engsten Mitarbeitern bekannt. Er nahm den Hörer auf und meldete sich.

„Ja, bitte?“

Am anderen Ende der Leitung hörte er eine Stimme sagen: „Sie leben gefährlich!“

„Das weiß ich. Wer spricht denn da?“

„Einer, der es gut mit Ihnen meint.“

„Einer, der es gut mit mir meint, ruft mich um diese Tageszeit nicht an, sondern gönnt mir meine Nachtruhe!“

„Sie sollten diese Warnung nicht auf die leichte Schulter nehmen!“

„Dazu müsste ich erst einmal wissen, was Sie Wohltäter überhaupt von mir wollen!“

„Sie sollten die Toten in Frieden ruhen lassen. Wer diese Ruhe meint, stören zu müssen, läuft Gefahr, sich selbst bald an dieser Ruhe erfreuen zu dürfen.“

Ehe Cernik noch etwas erwidern konnte, klickte es in der Leitung. Der Anrufer hatte aufgelegt. Im Allgemeinen ließ Cernik sich von derartigen Drohungen nicht beeindrucken, beeinflussen noch weniger. Aber er musste auch an seine Mitarbeiter denken, für die er die Verantwortung trug. Noch war nichts von diesem Fall nach draußen gedrungen, und doch wurde er bereits bedroht. Wie er im Stillen befürchtet hatte, nahm der Fall eine Dimension an, die ihn nötigte, jeden weiteren Schritt sorgfältig abzuwägen. Er durfte und konnte – dieses Gefühl hatte er bereits vor Stunden gewonnen – niemandem Vertrauen schenken. In diesem Fall stellten sogar seine Vorgesetzten eine Gefahr dar, die seine Ermittlungen zu decken und zu vertreten hatten. Offensichtlich war er auf ein Wespennest gestoßen, ohne eine Ahnung zu haben, mit wem er’s zu tun hatte, wie das Telefonat soeben verdeutlicht hatte. Er spürte eine unsichtbare Gefahr lauern, die vielleicht bedrohlicher war als alle, denen er bisher begegnet war.

Nachdem er sein Glas geleert hatte, ging er ins Bad, anschließend zu Bett. Seine Dienstpistole, die er ansonsten kaum jemals benutzt hatte, legte er in Reichweite.

Der Schlaf schenkte ihm in dieser Nacht keine Ruhe. Wirre Bilder flimmerten vor seinen Augen, die sich jedoch zu keinem schlüssigen Gesamtbild zusammensetzten. Mehr denn je sehnte er sich nach einer Ablenkung, nach einer Zerstreuung, wie Anna sie ihm hätte schenken können wäre. Seine Träume plagten ihn bis in die frühen Stunden des nächsten Tages. Cernik maß ihnen indes keine Bedeutung bei.

Treffpunkt Hexeneiche

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