Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 81 - Cliff Carpenter - Страница 5

2.

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Hasard warf sich entschlossen herum. Er schwamm in die Richtung, aus der er den Schrei gehört hatte. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: er mußte Smoky, dem Decksältesten, helfen.

Sie waren eine verschworene Gemeinschaft.

Keiner der Crew, der bemerkt hatte, daß es Smoky erwischt hatte, setzte einfach seinen Weg fort, auch wenn die Kräfte noch so sehr erlahmten oder man mit dem Gefährten anschließend elend ertrank.

Big Old Shane, der Schmied von Arwenack, Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, und Dan O‘Flynn schwammen zurück und taten instinktiv das gleiche wie Hasard, ihr Kapitän.

Selbst Edwin Carberry, der bullige Hüne, bereits mit Old Donegal im Schlepptau, wollte dem Kameraden helfen.

Der alte O‘Flynn hatte in diesem Moment erschöpft losgelassen.

Er fing ihn wieder ein, brachte seine Hand zurück an den eisernen Halsring, den die Spanier den Gefangenen verpaßt hatten, und gurgelte: „Halt dich fest! Ich lege noch etwas zu. Smoky hat‘s erwischt.“

Mühsam spuckte Old Donegal eingedrungenes Wasser aus, verzog schmerzlich das Gesicht und blieb brav beim Profos. Er versuchte mit lahmen Schwimmbewegungen, Carberry zu entlasten, der wie eine stolze Brigg durch das Wasser rauschte, anscheinend nicht kleinzukriegen, unverwüstlich, ein Kerl aus Eisen.

Smoky hatte einen Streifschuß eingefangen. Wie gelähmt hing sein Arm herunter. Und es blieb weder Zeit, ihn zu versorgen, noch sich von der Schwere der Verletzung zu überzeugen.

Gerade hatte Big Old Shane den Decksältesten in Schlepp genommen, da zerriß ein Blitz die Dunkelheit, erhellte weithin die Gegend und zeigte den Flüchtenden, wie ernst die Lage wirklich war: El Verdugo und acht Spanier hockten in einem Boot, das zwar wild auf den Wellenkämmen ritt, aber Kurs auf sie hielt.

Schon griffen die Spanier nach den Waffen. Musketen richteten sich auf die Gruppe.

Hasard schrie seinen Männern zu, wegzutauchen. Er selbst versuchte, dem Boot entgegenzuschwimmen, unsichtbar, unter Wasser. Sehen konnte er nichts, aber seine suchenden Hände ertasteten nach endlosen Sekunden den Kiel des Bootes.

Hasard hatte automatisch nach der Devise gehandelt, die sein Leben beherrschte: Angriff ist die beste Verteidigung. Er wollte sich irgendwie wehren und sich nicht im Wasser abknallen lassen.

Es zeigte sich, wie gut die Crew sich verstand. Nicht Hasard allein griff den Feind an. Ohne ein Wort der Verständigung hatten doch alle begriffen, die bei ihm gewesen waren.

Zuerst handelte Ferris Tucker.

Nur ein Mann wie er brachte es fertig, die Zimmermannsaxt mit dieser Wucht zu führen. Von unten, mit einem verzweifelten Streich, hinter dem jedes Quentchen Kraft steckte, schlug er zu.

Die messerscharfe Schneide klopfte nicht nur an, sondern durchbrach den Boden des Bootes. Sie erwischte knapp noch den Fuß des Henkers.

Den Schrei, den El Verdugo ausstieß, hörten nur jene, die nicht weggetaucht waren.

Hasard richtete sich auf, stemmte den Rücken unter den Kiel des Bootes und wunderte sich, wie leicht er das Gewicht hochdrückte.

Aber mit ihm arbeiten die anderen. Und zwei von ihnen hatten das Glück, Boden unter den Füßen zu haben, eine Sandbank, wie sie zwischen Insel und Festland nicht eben selten waren und die Schiffahrt zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden ließen. So manches spanische Versorgungsschiff, das von Cayenne aus Kurs auf die Teufelsinsel genommen hatte, war auf diesen tückischen Bänken schon aufgelaufen.

Das Boot der Spanier wurde angekippt und schlug nach der Backbordseite um. Die Spanier flogen kopfüber ins Wasser. Sie landeten mitten zwischen den Engländern. Das konnte natürlich nicht gutgehen.

Prompt landete denn auch ein schmächtiger Spanier in Reichweite des wütenden Profos, der sich nur knapp umschaute, ob Old Donegal noch an ihm hing.

Old Donegal schluckte, prustete und schnappte zwischendurch nach Luft. Auch wenn man in dieser ägyptischen Finsternis keine Einzelheiten sehen konnte: sicher war er blau wie ein Tintenfisch, angelaufen von Luftmangel. Was hatte er den gesunden Lungen des mächtigen Profos‘ schon entgegenzusetzen? Immerhin verrieten die würgenden hustenden Laute, daß er noch lebte. Und schon versuchte er zwischendurch, seinen muskulösen Freund anzufeuern. Denn er hatte wohl erkannt, daß der Spanier, der da mühsam den Kopf über das Wasser reckte, vor Angst tollkühn angriff.

„Komm her, du Rübenschwein!“ grollte der grimmige Profos.

Carberry streckte die Pranken aus und erwischte den Spanier an der Gurgel. Liebevoll zog er ihn mit einem Ruck heran. Die Fäuste des Spaniers prallten wirkungslos vom Rammkinn des Profos‘ ab. Carberry grinste gelangweilt, ließ den zappelnden Kerl frei und verpaßte ihm einen Hammerschlag mitten auf den Kopf.

Der Spanier verschwand unter Wasser.

Carberry schloß sich den anderen an, die wieder Kurs nahmen. Sie bewegten sich alle in die Richtung, in der sie das Festland vermuteten. Aber Gewißheit gab es bei diesem Hundewetter für keinen. Der Gedanke, daß man mit aller Kraft immer weiter ins offene Meer hinausschwamm, hatte etwas Lähmendes.

Trotzdem gab niemand auf. Sie schleppten sich weiter. Lieber ein Ende mit Schrecken, als unter der Knute des Henkers, den alle in Gedanken verfluchten, qualvoll einen höllischen Tod zu erleiden. Im übrigen gab es kein Zurück mehr. Denn niemand konnte gegen den Strom anschwimmen, der an der Teufelsinsel vorbeitrieb.

Das Festland schien noch fern. Stets wenn sie die müden Köpfe über die Schaumkämme reckten, um nach dem Land Ausschau zu halten, wurden sie enttäuscht. Endlos und wild bewegt dehnte sich die Wasserfläche vor ihren suchenden Blicken.

Hätte es nicht hin und wieder die Sandbänke gegeben, sie alle wären ertrunken. So aber konnten sie von Zeit zu Zeit etwas Kraft sammeln und sich in der Hoffnung wiegen, vielleicht doch nicht allzuweit vom Land entfernt zu sein.

Kraft zur Verständigung hatten sie längst nicht mehr.

Immer wieder war es Hasard, der das Zeichen zum Aufbruch gab und losschwamm, ohne allerdings die beruhigende Gewißheit zu haben, wann sie in angemessener Entfernung wieder eine Ruhepause einlegen konnten.

Was bedeutete es da, daß sie die spanischen Verfolger zunächst abgeschüttelt hatten? Am Ende schien doch der Tod auf sie zu lauern.

Hasard selbst mußte seinen ganzen Mut zusammennehmen. Er wußte selbst keine Antwort auf die Frage, ob er diese Flucht ins Ungewisse angetreten hätte, wenn ihm auch nur ein Bruchteil der Schwierigkeiten und Strapazen bekannt gewesen wären, mit denen sie jetzt konfrontiert wurden.

Das Seewasser fügte den Qualen eine weitere zu. Wer offene Wunden hatte – und das war bei den meisten der Fall –, litt furchtbar. Das biß und fraß, daß man kaum die Arme beim Schwimmen zu bewegen vermochte.

Smoky, der immer noch an der Schulter blutete, schnappte sich ein Stück Treibholz und schlug seine Zähne hinein, um seinen Retter nicht durch sein Stöhnen zu verunsichern.

Dabei plagte ihn die gräßliche Vorstellung, seine blutende Wunde könne den mordgierigen Haien eine Fährte legen. Das würde das Aus für sie alle bedeuten. Mit den Spaniern konnten sie fertig werden, aber gegen Haie hatten sie keine Chance. Da konnten sie nur noch beten.

Die Nacht schien kein Ende zu nehmen. Kein Silberstreif über der Kimm flößte den Verzweifelten neue Hoffnung ein. Sie wußten nicht mehr, wie lange sie unterwegs waren. Ihr Zeitgefühl war längst erstorben. Das Leben bestand nur noch aus den zermürbenden Bewegungen der Arme und Beine, die den Körper anscheinend um keinen Inch vorwärtsbrachten.

Was wollte es da schon heißen, daß der Sturm abgeflaut war und kein Regen mehr fiel? Dieses Grau um sie herum und über ihnen, diese endlose Monotonie brach auch die Widerstandskraft des Stärksten.

Wozu sich noch anstrengen, wenn doch alles umsonst war? Sie hatten den Kurs verloren, kein Zweifel. Seit über einer Stunde hatten sie keine Sandbank mehr erreicht und damit keine Gelegenheit gehabt, sich ein wenig zu verschnaufen. Ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei. Entzündete Augen hatten es aufgegeben, nach Land zu suchen.

Die Möglichkeit, daß sie sich immer weiter im Meer verloren, nahm erschreckend zu. Mancher der Seewölfe, glücklicher Besitzer eines Messers, spielte bereits mit dem Gedanken, sich die Klinge über beide Handgelenke zu ziehen und anschließend in den Bauch zu rammen. Das mußte eine Erlösung sein gegenüber der Qual des Schwimmens.

Dann wagte sich zum ersten Male der Mond hinter Wolkenbänken hervor. Sein mildes Licht fiel auf die sanft gekräuselte Wasserfläche. Sie erkannten Nachbarn und Leidensgefährten. Sie hatten sie die ganze Zeit neben sich gewußt, aber nicht deutlich erkannt. Jetzt unterschieden sie Gesichter und sahen, daß der andere ebenso schlecht dran war und mit dem letzten Funken Kraft gegen den Untergang kämpfte. Das spornte an. Wieso schaffte der es noch? Da konnte man nicht aufgeben. Nicht eher, als bis der andere auch aufgab.

Die Seewölfe kämpften sich stumm und verbissen weiter vorwärts. Wohin? Wo in diesem elenden Meer war vorn, wo hinten? Wo offenes Meer, wo die Küstenlinie, die sie herbeisehnten?

Niemand wußte es.

Jeder sah Hasard da vorn und folgte ihm. So war es immer gewesen. Sie waren nicht schlecht dabei gefahren. Sie hielten sich auch jetzt an ihn.

Ohne es zu ahnen, trug Hasard die Hoffnungen seiner Männer. Er wußte nur, daß er kein Recht hatte, aufzugeben. Nicht, solange er noch Atem schöpfen konnte. Und wenn die Arme ihm abfielen – er mußte weiterschwimmen. Denn er hatte diese Flucht befohlen.

Er trug keine geringe Verantwortung. Er konnte sich alles leisten, nur durfte er seine Männer nicht enttäuschen. Das war ihm klar. Das gab ihm Kraft, auch dann, als er glaubte, er habe keine mehr.

Mit der Gleichmäßigkeit seiner Bewegungen flossen auch Hasards Gedanken. Immer wieder stellte er sich vor, was er auf der Teufelsinsel gelitten hatte. Das hinderte ihn daran, aufzugeben.

So seltsam es klang: El Verdugo, der Henker, den hoffentlich die Haie geholt hatten, größter Feind und Peiniger der Seewölfe, wurde in diesen einsamen Stunden Hasards stummer Verbündeter. Der Gedanke an ihn und seine grausamen Schikanen erfüllten ihn mit einer solchen Wut, daß er davon mehr vorwärtsgetrieben wurde, als würde er ein Dutzend Hiebe mit der neunschwänzigen Katze empfangen. Schmerzen, wenn sie überhand nahmen, stumpften ab und hinderten niemanden daran, zusammenzubrechen. Ganz anders der Haß. Er weckte die Lebensgeister und fachte erlahmende Kräfte wieder an.

Hasard stellte sich immer häufiger die ekelhafte Schinderfratze des spanischen Henkers vor. Er schwamm auf sie zu, um seine Faust in diese Totenfratze zu rammen und ihm die häßlichen Zähne einzeln einzuschlagen.

Mit Entsetzen erkannte Hasard, schon so weit fertig zu sein, daß sich sein Geist verwirrte und seine Phantasie übermächtig wurde. Vielleicht lebte er schon gar nicht mehr? Vielleicht bildete er sich auch das nur ein? Schwamm er gar nicht mehr im Wasser? War er niemals von der Teufelsinsel aufgebrochen ins Ungewisse, das immer gewisser wurde? So gewiß wie der Tod?

Hasards Lippen waren aufgeplatzt. Eine dicke Salzkruste bedeckte sie. Seine Augen, geschwollen und entzündet, sahen nichts als Wasser. Welch ein Hohn, er schwamm in einem Meer und hatte Durst. Er sehnte sich nach einem Schluck frischen Wassers und hätte seine Seele dafür verpfändet.

Hinter ihm ertönte ein heiseres Krächzen.

Hasard hörte den Laut, der kaum etwas Menschliches hatte, aber er brachte es nicht mehr fertig, den Kopf zu wenden. Seine Halsmuskeln waren viel zu verkrampft. Sein Schädel drohte von der Anstrengung zu zerplatzen.

Nur keine überflüssige Bewegung!

Hasard schwamm weiter, mit zähen, langsamen Bewegungen. Es gab keine Rettung mehr aus der Monotonie des jetzt langgedehnten Auf und Ab. Die See war nicht mehr kabbelig. Die lange Dünung lullte einen ein. Man wurde zu einem unbedeutenden Fleck auf der Weite des Ozeans.

Etwas stieß Hasard an.

Er erschrak bis ins Mark, war aber unfähig, entsprechend zu reagieren. Das Gehirn signalisierte Gefahr. Haie vielleicht? Die Augen weiteten sich reflexhaft, aber der zermürbte Körper gehorchte nicht.

Unendlich langsam drehte Hasard den Kopf und starrte auf einen abgerissenen Ast, der ihn berührt hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis es bei Hasard dämmerte. Ein Ast bedeutete Landnähe. Ein Vorbote der Rettung!

Hasard erwachte aus todesähnlicher Lethargie. Fast schmerzhaft empfand er Freude. Es war ein Gefühl, das ihm den Brustkorb sprengte, das er schleunigst abschütteln mußte, wollte er nicht daran erstikken.

Hasard ruderte mit den Armen, versank, ging unter, kämpfte sich wieder hoch, strampelte vor Freude und trat das Wasser, daß sein Körper sich erhob.

„Land!“ schrie er und wunderte sich, daß die Stimme nicht mehr gehorchte. Er meinte, sein Schrei könne Tote erwecken, und doch erreichte er kaum die Ohren derer, die ihm unmittelbar gefolgt waren: Carberry und Big Old Shane, beide mit Schicksalsgenossen im Schlepp, der eine Old Donegal, der andere Smoky.

Verwirrt stierte Hasard auf die weit auseinandergezogene Kette seiner schwimmenden Männer. Verstand ihn denn niemand? Die Leiden hatten ein Ende! Land in Sicht! Geschafft!

Da sah Hasard, wie in der Ferne Dan O‘Flynn, der Scharfsichtige, verzweifelt nach vorn deutete, als habe er eine Botschaft von höchster Dringlichkeit. Er sah, wie sich der Mund Dans dauernd öffnete und schloß. Aber kein Laut drang an sein Ohr. Darin war nur das ewige Geräusch des Meeres und der Wellen wie in einer leeren Muschel.

Aber Hasard tat Dan den Gefallen. Er veränderte noch einmal die Position. Und da sah er es auch: ein feiner dunkler Strich an der Kimm. Fast nicht zu erkennen im Dunst des nahenden Morgens.

Sie hatten die Küste vor sich.

Alle Ängste verflogen. Sie hatten sich nicht immer weiter in das offene Meer vorgearbeitet. Sie wurden nicht grausam genarrt durch ein unerträgliches Geschick. Sie hatten ein Glückslos gezogen.

Nicht die Spanier, nicht die Haie, nicht der Sturm und nicht das Meer hatten sie bezwungen. Sie waren Sieger geblieben.

Hasard mußte sich dazu zwingen, jetzt nicht durchzudrehen. Er mußte auch weiterhin seine Kräfte einteilen. Er schätzte die verbleibende Strecke, die sie noch zurücklegen mußten, auf eine gute Seemeile. Das war nicht viel gegenüber der Distanz, die sie hinter sich gebracht hatten. Aber es war nach dieser höllischen Nacht kaum zu bewältigen.

Hasard bezähmte den Trieb, das letzte aus sich herauszuholen. Aber seine innere Unruhe kriegte er nicht mehr in den Griff. Jeder Schwimmzug war ihm zuviel. Die Zeit verstrich jetzt viel zu langsam. Die Entfernung wollte nicht schwinden.

Mehr als zwei grausame Stunden kämpften die erschöpften Männer, zumal sich unter Land die Strömungen änderten und sie wieder zurücktrieben. Es war eine letzte furchtbare Prüfung – dann taumelte Hasard an Land. Die Ketten schienen doppelt soviel zu wiegen wie im Wasser. Arme und Beine waren wie abgestorben, als gehörten sie nicht mehr zu seinem Körper.

Hasard hielt sich an den Luftwurzeln einer Mangrove fest. Er taumelte und schloß erschöpft die Augen.

Dann bewegte er sich weiter, um den anderen nicht diesen guten, aber winzigen Landeplatz im Gewirr der Ufervegetation zu sperren. Dabei stolperte er und schlug der Länge nach hin.

Einen Augenblick dachte er, nie wieder aufstehen zu können. Unendlich langsam kämpfte er sich hoch. Erst kniete er. Dann richtete er sich auf. Vor seinen Augen flimmerten und zerplatzten Sterne und Kreise. Alles in ihm sträubte sich gegen die geringste Anstrengung. Er wollte nur noch liegen und ausruhen.

Hasard bezwang den Schwächeanfall.

Er klammerte sich an einer der rissigen Baumwurzeln fest und wandte unendlich langsam den Kopf. Ihn quälte der Gedanke an seine Gefährten. Wie viele waren einsam gestorben auf dieser furchtbaren Strecke zwischen Insel und Festland?

Hasard beobachtete das erschütternde Schauspiel der Landung. Mann für Mann kämpfte sich ans Ufer. Ketten klirrten, entzündete Augen starrten blind in das Grün der Büsche, die bis an den Strand vorgedrungen waren.

Was war aus den stolzen Seewölfen geworden? Ein maroder Haufen. Die Fronarbeit für die Spanier, die Schrecken der Flucht von der Teufelsinsel, die Strapazen des langen nächtlichen Kampfes mit Wind und Wellen hatten tiefe Spuren hinterlassen.

Kaum daß einer ein gequältes Grinsen fertigbrachte wie Big Old Shane, der alte Waffenmeister von Arwenack, oder Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, oder der Riese Edwin Carberry, Profos der „Isabella“. Wobei der Profos wenigstens noch einem Gefährten das Leben gerettet hatte. Treu und brav schleppte er Old Donegal. Ferris Tucker trug seine Axt wie eine Fahne an Land.

„So etwas möchte ich nie wieder erleben“, stöhnte er und schlug in den Sand. Er brauchte lange, bis er wieder soviel Kraft hatte, Hasard zu helfen.

Im Licht des dämmernden Morgens riefen sie Versprengte zu sich heran und halfen den Erschöpften ans sichere Ufer.

Hasard beruhigte sich erst, als er alle wieder um sich versammelt hatte. Ja, sie hatten es alle geschafft, keiner war zurückgeblieben oder hatte sich aufgegeben.

Da lagen sie, mit nackten Oberkörpern, in Ketten, erschöpft und zerschunden, auf dem schmalen Sandstreifen, im spärlichen Schutz der Mangrovenwurzeln, die sich wie ein Netz über ihnen spannten.

Kein anderer Laut drang an ihre Ohren als das leise Plätschern der Wellen, die sich am Ufer totliefen.

„Auf, Leute!“ befahl Hasard unerbittlich.

Noch waren sie nicht in Sicherheit. Es war unwahrscheinlich, daß sich die Spanier darauf verließen, die Ausbrecher seien ertrunken. Sie wollten Beweise haben, Beweise, daß der Seewolf und seine Männer den Silberschiffen der Spanier nie mehr gefährlich werden konnten.

Der Morgen dämmerte.

Die Dons würden ein weiteres Boot ausrüsten und auf die Suche schikken. Entweder nach den Leichen der ertrunkenen Seewölfe oder – wenn sich die Teufelskerle wider Erwarten ans Festland gerettet hatten – um sie wieder einzufangen und auf die Teufelsinsel zurückzuschleppen.

Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich den nächsten Schritt der wütenden Spanier vorzustellen.

Ein unwilliges Stöhnen und Murren antwortete Hasard.

Der Seewolf ging von Mann zu Mann, sprach ihn mit Namen an und half ihm auf die Beine. Obgleich er keine Kraftreserven mehr hatte, schaffte er es noch einmal. Er trieb seine Männer zu einer letzten Anstrengung.

„Weiter im Landesinneren sind wir sicherer. Wir brauchen Ruhe, um uns halbwegs zu erholen. Aber der Strand ist der denkbar ungeeignetste Ort dafür. Die Spanier würden uns mit Sicherheit entdecken. Und dann beginnt die Hetzjagd. Eine Jagd, der wir nicht mehr gewachsen sind. Also los, Leute.“

Inzwischen halfen Tucker und Carberry ihrem Kapitän.

Einige der unsanft Wachgerüttelten waren zwar brav, wie im Unterbewußtsein, hochgetorkelt, als sie die Kommandostimme Hasards hörten, waren aber nicht recht wach geworden und wieder umgefallen. Jetzt lagen sie wieder schnarchend am Strand.

Eine Dusche Wasser, ein gezielter Tritt brachte sie wieder hoch.

Alle hatten begriffen, worauf es ankam. Und es war nicht ihre Art, jemanden zurückzulassen. Sie hatten die Knute der Dons zu lange gespürt, als diese Behandlung auch nur ihrem ärgsten Feind zu wünschen.

Langsam setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Aufeinandergestützt, mit leeren Gesichtern, taumelnd vor Erschöpfung, kämpften sich die Seewölfe weiter, zogen sich an den Luftwurzeln der Mangroven hoch und schleppten sich dem Saum gezackter Palmkronen entgegen, die den nahen Urwald anzeigten.

Schon einem Gesunden hätte ein Marsch durch das sumpfige unwegsame Gelände einiges abverlangt. Die Seewölfe wollten mehr als einmal aufgeben. Jedesmal trieb sie Hasard unerbittlich weiter.

Die Verwundeten wurden getragen. Die Schwachen stützten sich auf die Starken.

Hasard selbst half zweien seiner Männer, die sich an ihn klammerten.

Nur Bill, der schmächtige Schiffsjunge, zeigte Nehmerqualitäten. Er schlug manchen hartgesottenen Seemann um Längen, was Zähigkeit und Ausdauer betrafen. Er stromerte um die Gruppe wie ein Schäferhund um die Herde, lief auch mal voraus und erkundete den Weg, um der Crew die beste Richtung angeben zu können.

Hasard wunderte sich gehörig über den Burschen.

Immer wieder blieb einer der Männer stehen und blickte flehentlich auf den Kapitän, ob die Qual nicht endlich ein Ende habe.

Jedesmal schüttelte Hasard stumm den Kopf. Nur in hartnäckigen Fällen fügte er hinzu: „Wir sind noch lange nicht in Sicherheit. Willst du, daß alle Opfer, alle Anstrengungen umsonst waren? Die Dons könnten uns in unserem jetzigen Zustand mit nassen Handtüchern erschlagen. Wir müssen uns verstecken wie gehetztes Wild. Uns bleibt nichts anderes übrig. Erst wenn wir wieder ausgeruht sind, können wir unserer Wut freien Lauf lassen und uns den Spaniern zum Kampf stellen. An mir soll es nicht liegen. Was ist mit dir? Bist du dabei?“

Solche Appelle hatten immer Erfolg.

Der an seinem Ehrgeiz Gepackte grinste zwar müde, aber doch schon kampflüstern. Einem Spanier an den Kragen zu gehen, einem der Dons, die das alles verschuldet hatten – eine solche Vorstellung belebte die Lebensgeister besser als Speise und Trank. Schon spürte man neue Kräfte, auch wenn es nur ein kurzes Aufflackern war.

Bald aber konnte Hasard weder im Guten noch im Bösen etwas ausrichten. Sie hatten den Rand der grünen Hölle erreicht. Ein Eindringen schien unmöglich. Die Männer schreckten zurück vor der Unnahbarkeit dieses grünen Meeres. Sie waren an Land ohnehin hilflos wie die Schildkröten. Jetzt auch noch wie die Affen zwischen Lianen und Orchideen, Baumriesen und Farnkräutern herumzufegen – das ging gegen ihre Natur.

Sie ließen sich fallen, wo sie standen.

Da nahm auch Hasard erschöpft Platz. Lethargie befiel auch ihn.

Wohin wollten sie eigentlich? Ohne Werkzeuge, ohne Proviant, weitab von ihrem stolzen Schiff? Sie waren gestrandet. Und was das gekostet hatte! Sollte das der Preis sein, hier im Dschungel elend umzukommen oder sich zu verirren?

Da war es der Kutscher, der wieder Leben in das Camp der Verlorenen brachte. Er hatte sich die ganze Zeit bereits rührend um Smoky gekümmert, den Decksältesten. Jetzt störte ihn das Stöhnen des Verwundeten in seiner Ruhe. Seine Kunst wurde gebraucht.

Also zwang er sich, aufzustehen.

Er schimpfte und fluchte, nachdem er die Wunde Smokys mit Seewasser gereinigt hatte. Smoky lag die ganze Zeit flach auf dem Rücken und stöhnte vor Schmerzen.

„Es ist nur ein Streifschuß“, tröstete ihn der Kutscher. „Du hast ‘ne Menge Blut verloren, aber an dem Kratzer geht niemand zugrunde.“

„Dein Wort in Gottes Ohr, Kutscher“, knurrte Smoky. „In den Tropen kann die winzigste Verletzung das große Aus bedeuten. Erzähl mir nichts. An mir soll es nämlich nicht liegen. Ich werde auch weiterhin die Zähne zusammenbeißen, solange ich noch die Kraft dazu habe. Wenn ich es aber nicht mehr schaffe, Kutscher, mußt du mir einen Gefallen tun!“

„Ich bin Medizinmann, kein Schlächter!“ Der Kutscher winkte ab. Er wußte genau, auf was der Decksälteste hinauswollte. Bei dem bloßen Gedanken sträubten sich ihm schon die Nackenhaare.

„Aber es ist deine Christenpflicht. Willst du, daß die Spanier mich fangen? Oder die Würmer mich bei lebendigem Körper auffressen, Mann? Was wäre in solchem Fall wirkliches Mitleid? Du mußt es tun. Versprich es mir, sonst stehe ich nicht mehr auf.“

„Ja, zum Teufel. Aber ehe das eintritt, kämpfe ich wie ein Löwe. Ich werde dich pflegen wie eine Mutter. Und du tust mir den Gefallen und läßt dich nicht gehen. Gemeinsam werden wir es schaffen.“

Smoky nickte und fiel wieder hintenüber. Für einen Augenblick hatte er sich aufgerichtet, den Kutscher am Arm gepackt und ihn wild angestarrt.

Der Kutscher ahnte bereits, wie es weitergehen würde: das Fieber würde über den geschwächten Körper Smokys herfallen. Mit einem Blatt, das er von einer Palme abschnitt, verschloß er notdürftig die Schulterwunde. Mehr hatte er nicht. Ein paar biegsame Zweige mußten den Notverband halten. Das war besser als gar nichts. So konnte nicht jeder Schmutz ungehindert in die offene Wunde eindringen. Und der Patient hatte das Gefühl, daß etwas getan wurde.

„Hol‘s der Satan“, schimpfte der Kutscher.

Er hinkte zu Hasard, der sich bei seinem Nahen sofort aufrichtete, als habe er nie den Schlaf des Erschöpften genossen.

„Was soll jetzt werden?“ fragte der Kutscher. „Wir haben Verwundete. Willst du warten, bis hier ein englisches Schiff vorbeisegelt? Ich fürchte, solange leben wir alle nicht. Bis dahin sind wir verhungert und verdurstet. Die Nahrungsmöglichkeiten sollen im Urwald noch schlechter sein als auf der Teufelsinsel, auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst.“

„Ich gebe niemals auf, soweit solltest du mich schon kennen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich träume davon, meine ‚Isabella‘ wieder in Besitz zu nehmen.“

„‚Deine Isabella‘?“ erkundigte sich der Kutscher streitsüchtig. „Wenn schon, dann unsere ‚Isabella‘.“

„Leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Wenn es dich beruhigt: es war nicht so gemeint“, erwiderte Hasard und grinste.

Der Kutscher stand mit dem Gesicht zum Meer.

„Ich habe auch etwas, das dich interessieren wird“, sagte der Kutscher leise, und seine Augen weiteten sich. „Dort hinten ist eine Schaluppe aufgetaucht. Ich will verdammt sein, wenn ich nicht lauter spanische Helme sehe.“

Hasard sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Gefahr belebte ihn. Herausforderung reizte ihn. Er hätte nicht den Kampf mit den Spaniern gesucht. Jetzt noch nicht. Aber wenn es denn sein mußte …

Hasard entdeckte unschwer die Schaluppe.

An Bord befand sich die halbe Wachmannschaft der Spanier. Am Bug stand, den Kieker vor dem Auge, Capitan Catalina, Kommandant der Teufelsinsel. Systematisch suchte er den Uferstreifen ab.

„Woher weiß dieser Hurensohn, daß wir das Festland erreicht haben?“ fragte der Kutscher. „Es könnten uns doch auch die Haie gefressen haben.“

„Er will sichergehen. Noch einen Fehler kann er sich nicht leisten. Wenn er uns nicht findet, geht er davon aus, daß wir nicht mehr leben, und kann Madrid melden, was ihm paßt. Er braucht nicht einmal zu erwähnen, daß es vorher einen Massenausbruch gegeben hat.“

„Kann er sich so auf seine Leute verlassen?“ fragte Ferris Tucker, der sich ebenfalls erhoben hatte und zu den beiden trat.

„In diesem Punkte schon. Jeder einfache Wachsoldat müßte es büßen, wenn am Hofe ruchbar wird, daß wir entwischen konnten“, erwiderte Hasard. „Also läßt er nichts unversucht, um die Wahrheit herauszufinden. Denn wehe, er behauptet, wir seien tot, und wir tauchen irgendwo wie aus dem Nichts wieder auf und jagen die Spanier, als ob wir nie aus dem Geschäft gewesen wären. Sie würden Catalina hängen.“

„Gönnen würde ich ihm das schon“, sagte der Kutscher rachsüchtig.

„Da sind noch mehr Spanier. Sie gehen am Ufer entlang!“ rief Ferris Tukker erregt. Er hatte den Stamm einer Palme bis zur halben Höhe erklommen, um einen besseren Überblick zu haben.

Jetzt rutschte er schleunigst herunter, um nicht entdeckt zu werden.

„Sie suchen unsere Spuren. Und sie werden sie finden“, sagte der Kutscher erschrocken. „Wenn sie im Spurenlesen geschickt sind, stellen sie sogar fest, daß unsere Crew noch vollzählig ist. Dann kennt ihre Wut keine Grenzen.“

Wie zur Bestätigung knallte am Ufer eine Muskete.

Augenblicklich steuerte die Schaluppe auf den Strand zu.

„Paß auf, was sie tun!“ rief Hasard, lief mit dem Kutscher von Mann zu Mann und scheuchte seine Leute hoch, während Ferris Tucker wieder den Ausguck besetzte.

Die Jagd war eröffnet. Kein Zweifel!

„Sie lassen zehn Mann zurück und bringen eine Drehbasse in Stellung, zum Schutz der Schaluppe!“ rief der Schiffszimmermann.

Keine andere Botschaft hätte den Rest der Crew schneller auf die Beine bringen können. Alles wimmelte durcheinander. Die drohende Gefahr verscheuchte die Müdigkeit. Keiner sah einen Ausweg. Ratlosigkeit herrschte.

„Ruhig Blut, Männer“, mahnte Hasard. „Wir sind mit größeren Schwierigkeiten fertig geworden. Kein Grund, jetzt durchzudrehen!“

„Dann erzähl mal, wie‘s weitergehen soll“, sagte Old Donegal.

„Abhauen können wir kaum. Wir sind zu schwach. Die Spanier haben Macheten, um sich einen Pfad zu schlagen“, stöhnte Smoky.

„Wir haben die Axt von Ferris“, sagte Hasard gelassen.

Er blickte sich suchend um.

„Das Gelände paßt besser in unser Konzept als in das der Spanier. Die würden uns lieber auf freiem Feld hetzen, um uns schneller einholen zu können. Los, Leute! Hinein in den Dschungel. Ferris und Batuti werden euch den Weg mit seiner Axt bahnen. Löst sie rechtzeitig ab. Big Old Shane, Stenmark, Al Conroy, Ben Brighton und ich bleiben hier. Gebt jedem von uns ein Messer.“

Hasard hatte die besten und kräftigsten seiner Männer ausgesucht. Denn es blieb nicht viel Zeit, höchstens eine halbe Stunde. Sie mußten sich beeilen, daß sie ihr Werk vollendeten, ehe die Spanier eintrafen.

„Wollt ihr damit vielleicht die Musketiere abschlachten, ihnen die Schaluppe wegnehmen und das Weite suchen?“ fragte Old Donegal. „Wie wär‘s, wenn ich auch dabliebe und mein Holzbein als Keule benutzte?“

„Verschwindet“, befahl Hasard scharf. Dies war nicht der Augenblick, zu diskutieren und Kleingläubige zu überzeugen. Er wußte genau, was er tat. Er würde den Spaniern einen heißen Empfang bereiten. Ihm fehlte es an Waffen, aber nicht an Erfindungsgeist.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 81

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