Читать книгу Tod in der Hasenheide - Connie Roters - Страница 4
SONNTAG
ОглавлениеDer schrille Alarm riss Cosma Anderson aus dem Traum. Sie atmete schwer und schlug wütend auf den Wecker ein. Der Pyjama klebte an ihrem Körper. Sie hatte wieder die beiden Männer gesehen. Nacht für Nacht derselbe Traum, dieselbe Angst, derselbe Ekel. Und Wut. Sie streckte sich, bis ihre Gelenke knackten, und starrte an die Zimmerdecke. Aufstehen, laufen, nur nicht nachdenken, befahl sie sich, schaltete das kleine Transistorradio auf dem Nachttisch ein und setzte sich auf. Eine fröhliche Stimme verkündete die neusten Informationen aus der Stadt. Mürrisch würgte sie die Nachrichtensprecherin ab und suchte nach Musik. The Cure, das passte. Ihr Blick glitt langsam zum Fenster. Heftiger Wind rüttelte an den Bäumen im Hinterhof und schob schwere dunkle Regenwolken vor sich her.
Wieder so ein Sommertag, der denkt, dass er ein Herbsttag ist, dachte sie verstimmt.
Unwillig verließ sie das Bett und schlurfte in die Küche. Der steinerne Terrazzoboden war kalt, und sie wechselte fröstelnd von einem Fuß auf den anderen. Während sie das Kaffeepulver in die Espressokanne füllte, sah sie in den Hinterhof hinunter. Eine der Nachbarskatzen tat sich an dem Müll gütlich, den die Krähen aus den Tonnen gezogen und rundherum verteilt hatten. Die Vögel schimpften aus sicherer Entfernung.
Sie stellte den Espressokocher auf den Herd, und kurz danach erfüllte die Küche ein herber Kaf feeduft. Cosma sog ihn gierig ein, ging mit der Tasse in beiden Händen ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage an. Sie suchte den gleichen Sender wie im Schlafzimmer, dann stellte sie sich hier ans Fenster. Die schweren Regenwolken schienen fast das Haus zu berühren. Der Wind peitschte den Regen gegen die Scheibe und wühlte das Wasser im Kanal auf. Eine Plastiktüte trieb eilig vorbei. Auf der Straße versuchte ein alter Mann seinen Regenschirm aufzuspannen, aber die heftigen Böen vereitelten seine Bemühungen. Als zwei Rennradler direkt an ihm vorbeisausten, wich der Mann erschrocken aus. Of fenbar gab es noch mehr Verrückte, die sich bei diesem Wetter auf die Straße prügelten, und sie fragte sich, warum auch sie dazugehören musste.
Abrupt drehte sie sich vom Fenster weg und eilte zurück in die Küche, stopfte sich dort hastig eine Banane in den Mund und grif f nach den Sachen, die sie am Abend zuvor über den Küchenstuhl gehängt hatte. Die altgeliebte Jogginghose, das T‑Shirt mit den Brandlöchern und die neuen Laufschuhe, die sie sich erst gestern Nachmittag gekauft hatte. Sie war wieder einmal viel zu lange in den alten gelaufen, trennte sich nur schwer von ihren Sachen und hasste es, einkaufen zu gehen. Den Schuhkauf hatte sie monatelang vor sich hergeschoben. Eigentlich hatte sie in letzter Zeit alles vor sich hergeschoben. Die Steuererklärung, die Überweisung der Telefonrechnung, die Telefonate mit ihren Bekannten und den Besuch bei ihrer Schwester.
»Und jetzt Schluss mit dieser Selbstanklage«, murmelte sie, »jetzt gehe ich ins Bad, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und laufe los.«
Mittlerweile regnete es wasserfallartig. Eine Windböe traf sie so heftig, dass sie schwankte und fast hingefallen wäre. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, umzudrehen und sich mit einer Tasse Tee und dem Buch, das sie gestern Abend begonnen hatte, aufs Sofa zu legen. Aber dann trieb ein innerer Drang sie voran, immer weiter, nicht ausruhen, an die eigenen Grenzen gehen.
Sie schob sich die kleinen Kopfhörer tiefer in die Ohren, schaltete den iPod an und setzte sich langsam in Bewegung. Ein kurzer, heftiger Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Vor vier Wochen war sie beim Laufen umgeknickt und hatte sich den rechten Fuß verstaucht. Erst vor drei Tagen hatte sie ihr Training wieder aufnehmen können und war noch immer ziemlich steif. Vorsichtig lief sie weiter. Der Schmerz ließ etwas nach.
Cosma war froh, endlich wieder laufen zu können. Sie joggte viermal in der Woche, an festen Tagen, zu festen Zeiten und immer dieselbe Strecke. Wenigstens das hielt sie konsequent durch. Es gab ihr Halt.
Sie rannte am Wasser entlang und versuchte, die zahlreichen Pfützen zu umrunden, die der Dauerregen geformt hatte. Mit Bedauern warf sie einen kurzen Blick auf ihre mit Schlamm verspritzten neuen Schuhe und bereute es, die alten gestern Abend kurzerhand in die Mülltonne befördert zu haben. Vor ihr tauchte der alte Mann mit dem großen Regenschirm auf. Mittlerweile war es ihm gelungen, ihn aufzuspannen.
Sie überquerte den Kottbusser Damm, hielt sich links und bog in die Graefestraße ein. Sie liebte die alten stuckverzierten Häuser, die kleinen Läden und die bunten Kneipen und Restaurants. Seit Jahren schon träumte sie davon, sich hier eine Eigentumswohnung zu kaufen, aber dieser Traum würde wohl einer bleiben. Ihre f inanzielle Situation hatte sich in den letzten sechs Monaten drastisch verschlechtert. Zurzeit lebte sie von der Hand in den Mund und brachte nur mit Mühe das Geld für die Miete auf. Wenn es so weiterlief, würde sie bald zum Amt gehen und sich in die lange Schlange vor dem Neuköllner Jobcenter einreihen müssen. Der Gedanke gruselte sie, und sie beschleunigte das Tempo. Ihr Fuß schmerzte immer noch.
Nach einer Weile hatte sie sich eingelaufen und verf iel in den gewohnten Trab. Ihr Körper erinnerte sich. Sie liebte es, in Bewegung zu sein, es hatte etwas Kindliches. Rennen, wie früher.
Sie lief die grün belaubte Straße entlang hinauf zum Park. Nur wenige Autos waren unterwegs. Die Menschen lagen noch in ihren warmen Betten. Es war Sonntag. Sonntagmorgen, halb sechs. Sie überquerte die Hauptverkehrsstraße, ohne auf die rote Ampel zu achten, ließ den menschenleeren Minigolfplatz links liegen und lief hinauf in die Hasenheide. Selbst bei diesem Wetter und zu dieser frühen Zeit standen die Dealer Spalier, eingehüllt in Kapuzenregenjacken, jederzeit bereit, ihr alle erdenklichen Drogen zu verkaufen. Zügig rannte sie an den Männern vorbei und bog in den Rundweg ein. Vor vielen Jahren war er gepflastert worden. Die Radfahrerlobby hatte sich dafür starkgemacht. Damals hatte sie das geärgert, denn sie war lieber auf dem Kies und dem Sand gelaufen, aber heute war der Asphalt besser als die alten Schlammwege, auf denen man bei einem solchen Wetter immer zu versinken drohte.
Der Weg machte eine Rechtskurve, danach verdichtete sich der kleine Parkwald. Die Bäume verdeckten fast den alten Tunnel, der die Ostseite mit der Westseite verband. Da er mit dichtem, dornigem Gestrüpp umwachsen war, konnte man ihn nicht umlaufen. Sie hasste den Tunnel, er war dunkel und stank, und sie hatte immer ein bisschen Angst. Angst vor dem schummerigen Licht, Angst vor Ratten und Angst vor den Männern. Langsam lief sie weiter. Unter ihren Füßen knirschten Glassplitter. Die Penner hatten mal wieder im Suf f ihre Schnapsflaschen zerschlagen. Sie selber lagen wahrscheinlich irgendwo herum und schliefen ihren Rausch aus, hof fentlich noch zu besoffen, um sie zu bemerken.
Das Tageslicht verdunkelte sich. Sie fröstelte.
Vor ihr lag etwas auf dem Boden. Der Anblick brachte sie aus dem Tritt. Fast wäre ich darüber gestolpert, dachte sie. Die Form unterschied sich von den mumienhaften Schatten, die sonst den Tunnelgrund bedeckten. Cosma hielt mit dem Joggen inne und näherte sich vorsichtig der schemenhaften Gestalt. Es war ein Mann. Er lag zusammengekrümmt auf der Seite. Kein Kissen. Kein Schlafsack. Und der übliche Gestank fehlte.
Sie lauschte. Der Wind pf if f durch den Tunnel. Das Rauschen der Bäume verband sich mit dem Regen.
»Hallo?«, sprach sie ihn leise an. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Der Mann antwortete nicht. Sie ging noch einen Schritt näher. Unter ihren Füßen schmatzte es leise, und sie sprang erschrocken zurück, sah das dunkle Blut und spürte, wie ihr übel wurde. Nur schnell weg, dachte sie, konnte sich aber nicht regen. Ein leises Rascheln ließ sie zusammenfahren, sie dachte an die Ratten, und ihre Starre löste sich. Vorsichtig trat sie einen Schritt nach links, umrundete den Mann und lief los. Wieder in Bewegung zu sein, tat gut, gleich würde sie den Tunnel verlassen. Sie steigerte ihr Tempo. Um sie herum wurde es langsam wieder heller. Dann spürte sie den Regen auf ihrem Gesicht und atmete erleichtert auf.
Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich und jemanden rufen:
»He, bleiben Sie stehen! Sofort stehen bleiben!«
Die Schärfe der Stimme durchschnitt die Musik. Sie beschleunigte. Nur weg! Nach Hause! Noch ein Spurt und immer schneller, mehr Distanz zwischen sich und ihrem Verfolger schaffen.
Die Schritte und die Stimme entfernten sich langsam.
Sie hörte den Mann noch einmal schwach rufen, dann kam die Stimme plötzlich von der Seite wieder näher.
»He, bleiben Sie stehen. Polizei.«
Unbeirrt rannte sie weiter, noch schneller und stolperte. Sie f iel hart, ein reißender Schmerz in ihrem Fuß. Kurz danach hatte der Uniformierte sie erreicht und sah auf sie herab. Während sie versuchte aufzustehen, erschien ein zweiter. Die beiden halfen ihr hoch und hielten ihre Oberarme fest umschlossen.
Cosma wehrte sich, wollte weg. Die Polizisten verstärkten den Grif f und drehten ihr den Arm auf den Rücken. Sie schrie auf und hielt still.
»Was machen wir mit ihr?«, fragte der eine.
»Wir halten sie fest, bis die Kripo kommt.«
»Hast du angerufen?«
Der Polizist nickte. »Und wo warst du in der Zeit?«
»Pinkeln.«
»Draußen?«
»Na klar, denkst du, ich pisse neben eine Leiche!«
»Mist. Und ausgerechnet dann rennt sie in den Tunnel.« Er betrachtete Cosma.
»Wenn Sie aufhören, hier so rumzuzappeln, können wir den Grif f lockern«, sagte er.
Cosma nickte. Die beiden ließen den verdrehten Arm los und packten sie wieder an den Oberarmen.
Eine heftige Böe ließ sie frösteln, es goss wie aus Eimern.
»Können wir uns nicht irgendwo unterstellen?«, fragte sie.
Der Polizist schüttelte den Kopf und grif f nach seinem Handy.
Sein Kollege nickte bedauernd.
Cosma spürte, wie ihr der kalte Regen den Rücken herunterrann und in der Jogginghose verschwand. Es fühlte sich an,als ob sie in die Hose gemacht hätte. Sie versuchte, ihre Arme zu bewegen, und trat einen der Polizisten gegen das Schienbein. Blitzschnell lockerte er den Grif f und verdrehte ihr den Arm wieder auf den Rücken.
Sie schrie auf und verharrte bewegungslos in der gebückten Stellung. Kurz danach sah sie aus den Augenwinkeln einen weiteren Mann auf sich zurennen. Er war groß und trug Zivil. Außer Atem stützte er sich auf seine Oberschenkel. Dann zog er eine Plastikkarte aus der Hosentasche und stellte sich den Beamten vor.
»Breschnow, Mordkommission.«
Die zwei Uniformierten taten dasselbe.
»Schmidt«, sagte der eine und »Schulze« der andere.
Wider Willen musste sie schmunzeln. Schmidt und Schulze, tolles Paar.
Aber das Paar hielt sie eisern fest. Breschnows Blick streifte sie prüfend, bevor er den beiden ein Zeichen gab, den verdrehten Arm freizugeben. Sie taten es und grif fen wieder nach ihren Oberarmen.
»Habt ihr uns gerufen?«
Schmidt nickte.
»Es gab einen anonymen Anruf, dass im Tunnel eine Leiche liegt, und wir waren mit der Streife am nächsten dran.«
»Und?«
»Im Tunnel liegt ein Mann in einer Blutlache«, antwortete Schmidt leise.
Breschnow sah, dass er blass wurde.
»Und sie?«
Er deutete mit dem Kopf auf Cosma.
»Stand im Tunnel. Direkt neben der Leiche.«
»Und ist abgehauen, als ich ihr zugerufen habe«, ergänzte Schulze.
Cosma machte wütend auf sich aufmerksam.
»Hallo, ich bin auch noch hier! Lassen Sie mich endlich los!« Als sie versuchte, sich frei zu strampeln, verstärkten die Uniformierten wieder ihren Grif f.
»Was soll das eigentlich alles?«
Der zerknitterte Zivile machte einen Schritt auf sie zu. Sie wollte ausweichen, doch er grif f langsam nach ihren Ohren und zog ihr die Kopfhörer heraus.
»Vielleicht will ich wissen, warum Sie bei dem toten Mann im Tunnel standen?«, antwortete er sehr ruhig und sehr deutlich.
Sie rümpfte die Nase. Der Mann stank nach Schweiß, kaltem Rauch und Schnaps. Und er musterte wie nebenbei das Tattoo auf ihrer linken Gesichtshälfte.
Ursprünglich war es ein Geschenk ihrer Schwester. Margareta hatte an ihrem vorletzten Geburtstag unangemeldet vor ihrer Tür gestanden und von einer Überraschung gesprochen. Cosma war ihr kreuz und quer durch die Stadt gefolgt, und als sie die Spannung fast nicht mehr aushielt, hatte ihre Schwester sie endlich in ein kleines Tattoo-Studio geführt. Zunächst war es ihr schwergefallen, ein Motiv auszuwählen, doch dann entschied sie sich für eine kleine grünbraune Echse, die sich von dem Wangenknochen bis hoch zur Schläfe zog. Margareta hatte sofort angefangen zu protestieren. Nicht im Gesicht, hatte sie immer wieder gesagt und schließlich wutentbrannt das Studio verlassen.
Cosma starrte den Kriminalen trotzig an.
»Warum ich im Tunnel stand, wollen Sie wissen? Solange ich hier wie eine Schwerverbrecherin festgehalten werde, erzähle ich Ihnen das ganz bestimmt nicht!«
Mittlerweile hatte der Regen ihre Kleidung völlig durchnässt und sie fror. Sie sehnte sich nach ihrer Wohnung und einem heißen Bad. Der Grif f der Polizisten tat weh, und dieser Breschnow war ihr unsympathisch. Er sah aus, als ob er drei Tage durchgesof fen und die Nächte auf einer Parkbank verbracht hatte. Seine Kleidung war genauso verknittert wie sein Gesicht. Aber sein Blick war klar und wach. Die grünen Augen strahlten eine Lebendigkeit aus, die so gar nicht zu diesem verlebten Gesamteindruck passen wollte. Sie starrte ihn an, bis er den Kopf etwas zur Seite drehte und sie ansah.
»Ich lasse Sie nach Hause fahren, damit Sie sich umziehen können. Danach kommen Sie aufs Revier. Sie sind eine wichtige Zeugin.«
Cosmas Blick wurde durch vier weitere Beamte abgelenkt, die zügig auf sie zukamen.
»Hallo Breschnow. Da sind wir«, sagte eine kleine mollige Frau, schob sich die Kapuze aus dem Gesicht und sah Cosma neugierig an. Auf ihrem Overall stand Gerichtsmedizin, auf denen der drei anderen Spurensicherung. Nach der allgemeinen Begrüßung folgten die Erklärungen und Anweisungen von Breschnow. Es schien, als hätte er sie völlig vergessen, während er in forschem Ton die Lage erklärte und dabei mit Armen und Händen gestikulierte.
»Sperrt den Tatort ab und durchkämmt das gesamte Gebiet um den Tunnel herum. Zur Not holt euch Unterstützung. Soviel ich sehen konnte, ist die Leiche noch frisch.«
Aus den Augenwinkeln beobachtete Cosma, wie eine Frau mit krausen schwarzen Haaren und kaffeebrauner Haut und ein sehr blasser, glatzköpf iger Mann in Zivil auf sie zukamen.
»Guten Morgen«, grüßte die Polizistin in die Runde. »Ist sie das?«
Sie sah Cosma prüfend an, als wolle sie feststellen, welche Gefahr von ihr ausging.
Breschnow nickte.
»Stellt die Personalien fest, fahrt sie nach Hause, damit sie sich umziehen kann, und bringt sie anschließend aufs Revier. Beeilt euch und kommt danach sofort wieder her und befragt alles, was sich im Park bewegt. Ich habe noch zwei zusätzliche Kräfte angefordert. Aber am Sonntagmorgen …«
Er zuckte mit den Schultern, trat einige Schritte zur Seite und winkte seine Kollegin zu sich.
»Die Streife hat die Frau direkt neben der Leiche entdeckt, und sie ist weggerannt, als sich die Kollegen als Polizisten zu erkennen gaben. Der Mann ist noch nicht lange tot, es kann also sein, dass sie etwas damit zu tun hat. Passt gut auf sie auf, Delego.«
»Wieso hat die Streife sie in den Tunnel gelassen?«
»Weiß ich noch nicht«, antwortete Breschnow und ging zurück zu der kleinen Gruppe.
Delego folgte ihm, zog die Handschellen hervor und sah ihn fragend an. Breschnow schüttelte den Kopf.
»Okay, Jungs, dann gebt sie mir mal«, befahl sie.
Cosma spürte, wie der feste Grif f sich löste, um dann durch einen neuen der Kriminalpolizisten ersetzt zu werden. Sie wurde zur Seite gedreht und auf den Weg geschoben. Niemand redete mit ihr. Abgeführt wie ein Stück Vieh, dachte sie.
Tränen der Wut stiegen in ihr hoch, ihr Magen verkrampfte sich, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich der Verknitterte in Richtung Tunnel entfernte. Plötzlich drehte er sich noch einmal um und rief.
»Ach ja, sie soll gleich noch ihre Schuhe ausziehen und sie Manfred geben.«
Cosma spürte den Adrenalinschub durch ihren Körper schießen.
»Was?!«, schrie sie empört. »Soll ich etwa auf Strümpfen laufen?«
Sie wollte ihm hinterherrennen, aber der Polizist packte fester zu, und sie schrie auf. Delego legte beruhigend ihre Hand auf die ihres Kollegen, worauf sich der Grif f wieder ein wenig löste.
Der Verknitterte sah Cosma aus der Entfernung an und beantwortete ihre Frage mit einem knappen Nicken. Sie hörte die Worte »wichtige Beweisstücke« und sah, wie er einen Mann von der Spurensicherung zu sich rief und ihn bat, ihre Schuhe in Empfang zu nehmen.
»Beweisstücke wofür?«, rief sie aufgebracht.
Ihre Blicke trafen sich. Breschnow musterte sie nur kurz, wandte sich dann schweigend ab und ging zurück zum Tunnel.
Die Polizistin legte eine Hand auf Cosmas Schulter und versuchte so, ihre Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen.
»Mein Name ist Delego, und das ist mein Kollege Subat. Sie bekommen Überzieher, damit Ihre Füße nicht nass werden.«
Sie hielt kurz inne und sah zum Himmel hinauf, aus dem es immer noch schüttete. Dann nahm sie sich selbst und Cosma in Augenschein und lachte.
»Eigentlich brauchen Sie keine Überzieher mehr. Wir sollten Sie lieber so schnell wie möglich ins Trockene bringen. Sonst werden Sie uns noch krank. Manfred leg mal ’nen Zahn zu!«
Ein älterer Herr in einem grauen regensicheren Overall schlenderte auf sie zu und grinste.
»Moin, ihr drei. Haben wir uns nicht ein schönes Wetter für unseren lauschigen Parkausflug ausgesucht?«
Delego lachte wieder. Subat blickte den Kollegen grimmig an und brummte etwas Unverständliches.
Cosma sah zu, wie der ältere Mann sich durchsichtige Plastikhandschuhe überzog.
»Nettes Tierchen, junge Frau.«
Er tippte sich an die linke Schläfe.
»Und nu geiht dat los.«
Er ging in die Hocke und zeigte mit dem Finger auf Cosmas rechten Fuß, den sie bereitwillig hob. Behutsam nahm er ihn in die Hand, öf fnete die Schnürsenkel und zog ihr den schmutzigen Schuh aus. Anschließend streifte er einen Plastikschuh darüber und verschnürte ihn sorgfältig am Gelenk.
»Hat auch nicht jeder«, frotzelte er. »Die neuste Mode aus Übersee!«
Cosma sah zu ihm herunter und lächelte. Seine Freundlichkeit tat ihr gut. Sie stellte den Fuß wieder ab und hob ohne Auf forderung den Linken. Dieselbe Prozedur.
Der Spurensicherer erhob sich mit knackenden Kniegelenken, zog einen imaginären Hut, zwinkerte ihr zu und verabschiedete sich mit einem kurzen »Tschüss, denn man tau«.
»Spinner«, schimpfte Subat, als sie außer Hörweite waren. Seine Kollegin sah ihn mahnend an. Sie hatten Cosma in die Mitte genommen und gingen schweigend in Richtung Auto. Cosma hatte Schwierigkeiten, in den Plastikschuhen zu laufen. Die kleinen Steinchen piekten ihr in die Füße, zudem hatte der Regen den Weg glitschig gemacht. Leise verfluchte sie den Verknitterten und musterte die beiden Polizisten aus den Augenwinkeln. Die Frau war ungefähr so groß wie sie und kräftig. Ihre krausen Haare waren zu kleinen Zöpfen geflochten, die sie am Hinterkopf zusammengesteckt hatte. Der Mann war hager und hochgeschossen. Auf seiner Glatze war bereits ein dunkler Haarschatten zu sehen.
Auch einer, der sich eine Glatze rasiert, wie Dino, dachte Cosma, und wenn sie irgendwann alt sind, fangen sie an zu jammern.
Sie versuchte, das Tempo zu reduzieren.
»Mit den Plastiktüten kann ich nicht so schnell laufen«, maulte sie und sah auf ihre Füße.
Die Polizisten verstärkten erneut ihren Grif f, wurden aber wenigstens langsamer. Endlich erreichte die kleine Gruppe den Transporter am Parkausgang. Subat schloss die hintere Tür auf, dann halfen ihr die beiden beim Einsteigen. Cosma setzte sich auf eine der Sitzbänke an einem kleinen Tisch. Die Polizistin nahm neben ihr Platz, der Kollege ihr gegenüber.
»Wir werden zuerst Ihre Personalien aufnehmen«, stellte er fest. »Können Sie sich ausweisen?«
»Nein, kann ich nicht!«, blaf fte Cosma. »Wenn ich jogge, trage ich nur den Schlüssel um den Hals und den iPod und ein Taschentuch in der Hosentasche. Alles andere bleibt zu Hause.«
Subat hob beschwichtigend die Hände.
»In Ordnung … Sagen Sie uns Ihren Namen, Ihre Adresse und Ihr Geburtsdatum. Wir überprüfen die Personalien dann über Funk.«
»Cosma Anderson. Maybachufer 43. Was war das Dritte?«
»Ihr Geburtsdatum.«
»21.3.77.«
Der Beamte notierte sich die Daten und stieg aus dem Auto. Sie hörte das Öf fnen der Fahrertür in ihrem Rücken. Das Funkgerät rauschte und knisterte.
»Revier 5 an Zentrale, hier Subat.«
»Zentrale, Schubert. Was gibt’s?«
»Personenüberprüfung.«
»Okay, Kollege. Deine Dienstnummer?«
Subat nannte sie und gab Cosmas Personalien durch. Während ihre Angaben durch die zentrale Datenbank liefen, schwiegen sie. Cosma hörte den Regen auf das Blechdach prasseln. Der Transporter wiegte sich in den Böen. Aus dem Fenster sah sie die leere Straße.
Als sie sich zurücklehnte, f ing sie den Blick der Polizistin auf,die sie freundlich anlächelte, und drehte sich sofort weg. Sie spürte, wie die erste Wut nachließ, doch sie war noch immer nervös und angespannt. In diesem Polizeiauto zu sitzen, gab ihr das Gefühl, irgendetwas verbrochen zu haben. Dabei war sie sicher, dass nichts über sie im Computer stehen konnte. Sie hatte höchstens mal ein Knöllchen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung oder Falschparkens bekommen.
Wieder rauschte das Funkgerät. Die Daten waren korrekt.
Subat drehte sich zu seiner Kollegin um.
»Soll ich fahren?«
Delego nickte.
Er startete den Transporter. Cosma merkte, dass sie verkehrt herum saß, und vom Rückwärtsfahren würde ihr übel werden. Sie bat die Polizistin, sich umsetzen zu dürfen. Delego zögerte kurz und stoppte dann den Wagen. Cosma wechselte die Sitzbank, die Polizistin folgte ihr.
Nach knapp zehn Minuten erreichten sie das Maybachufer, und Cosma war froh, das Fahrzeug wieder verlassen zu können. Subat hatte die Heizung und die Lüftung auf voller Kraft laufen lassen und den Transporter so in einen tropischen Kasten verwandelt. Dort, wo sie gesessen hatten, waren kleine Pfützen entstanden. Cosma fror augenblicklich, als die Schiebetür geöf fnet wurde und ein kalter Wind hereinzog. Delego half ihr beim Aussteigen, und Subat packte wieder ihren Oberarm. Er roch stark nach Pfefferminze.
»Ich wohne im dritten Stock«, informierte Cosma die beiden.
Sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
Subat drückte die schäbige Haustür auf, und sie betraten das heruntergekommene Treppenhaus. Der Anstrich hatte sich in den Jahrzehnten in ein schmutziges Einheitsgrau verwandelt, die Briefkästen waren teilweise aufgebrochen, und es stank nach einem Gemisch aus altem Essen und Katzenpisse. Cosma schaltete die Flurbeleuchtung ein, dann stiegen sie schweigend im Gänsemarsch die alte Treppe hinauf. Die Stufen knarrten. An manchen Stellen war das Treppengeländer herausgebrochen worden, und die alten bleiverglasten Fenster waren so schmutzig,dass sie kaum noch Licht durchließen. Vor einer Wohnungstür stand ein gefüllter Müllsack. Cosma hielt den Atem an.
Oben angekommen schloss sie ungeschickt die drei Schlösser ihrer Wohnungstür auf. Subat ließ sie los, und sie betrat den kleinen Wohnungsflur. Die Polizisten folgten ihr. Delego schloss die Tür und sah sich um. Schon auf den ersten Blick war die Wohnung der totale Gegensatz zum Haus. Sie war sauber, aufgeräumt und hell. Von dem schmalen Eingangsflur zweigten vier Türen ab. Die erste führte in ein schmales Bad, die zweite in eine kleine Küche und die dritte, an der Stirnseite des Flures, in ein verdunkeltes Schlafzimmer.
Cosma öf fnete die vierte Tür. Sie führte in ein großes Wohnzimmer, das nach vorne zur Straße hin lag.
»Wohnen Sie allein?«, erkundigte sich Delego, als sie an ihr vorbeiging.
Cosma nickte.
»Vielleicht sollten wir beide erst einmal ins Schlafzimmer gehen, damit Sie sich umziehen können«, schlug die Polizistin vor.
»Ich muss vorher noch aufs Klo, und umziehen kann ich mich alleine.«
Subat löste sich vom Fenster, sah sich die CD‑Sammlung an und pf if f anerkennend durch die Zähne. Delego stellte sich neben ihn.
»Schau dir das an! Sie ist eine richtige Sammlerin, Musik quer durch die Geschichte«, sagte er leise. »Jazz, Klassik, Pop, einige Raritäten.«
Sie hörten erst die Klospülung, dann den Wasserhahn rauschen. Kurz danach kam Cosma mit zwei grünen Handtüchern ins Wohnzimmer und reichte sie den beiden. Dann trat sie an die Stereoanlage und legte eine CD ein. Wenig später erfüllten Trompetenklänge von Miles Davis den Raum. Die beiden Polizisten sahen sie erstaunt an.
Als Cosma zum Schlafzimmer ging, folgte Delego ihr. Im Raum war es dunkel. Cosma zog die blaue Jalousie hoch, um das trübe Licht von draußen hereinfließen zu lassen. Delego lehnte die Tür nur an, sodass Miles Davis immer noch leise zu hören war. Langsam streifte Cosma sich die Überzieher von den Füßen und öf fnete den Kleiderschrank.
»Ich habe mit der ganzen Sache im Park nichts zu tun«, sagte sie leise, während sie sich eine Jeans und ein langärmeliges T‑Shirt grif f. Aus der Kommode holte sie einen BH, einen Slip und Socken.
»Ich war beim Joggen, und da lag dieser Mann. Ich weiß auch nicht, warum ich stehen geblieben bin …«
Langsam zog sie die nassen Sachen aus.
Delego stand am Fenster und schaute auf den trostlosen Hinterhof hinunter. Dann drehte sie sich langsam um und sah die blauen Flecken auf Cosmas Rücken und ihren Oberarmen.
»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte sie besorgt.
Hastig zog sich Cosma das langärmelige T‑Shirt über.
»Nix!«, antwortete sie barsch und sammelte nervös ihre nassen Sachen zusammen. Bevor sie die Schlafzimmertür aufmachen konnte, grif f Delego ihren Arm und hielt ihr eine große durchsichtige Tüte hin.
»Wir brauchen Ihre Kleidung für die Spurensicherung.«
Cosma sah sie fragend an.
»Sie standen neben der Leiche«, ergänzte die Polizistin.
»Und?«
»Eventuell haben Sie Fasern hinterlassen.«
Widerwillig stopfte Cosma ihre Kleidung in die Tüte, riss die Schlafzimmertür auf und zwängte sich wortlos an Delego vorbei. Sie raste in die Küche, holte ihren Rucksack und hielt Subat ungefragt ihren Ausweis unter die Nase.
»Können wir jetzt gehen?«, fragte sie genervt.
Verwundert sah der Polizist seine Kollegin an. Delego nickte.
»Klar, los geht’s«, antwortete Subat etwas zu fröhlich.
Wortlos ging Cosma ins Wohnzimmer und stellte die Anlage ab. Dann stöpselte sie sich die Kopfhörer ihres iPod in die Ohren, öf fnete die Wohnungstür, winkte die beiden an sich vorbei und zog die Tür zu. Delego ging voran, Subat bildete das Schlusslicht. Niemand hielt sie am Arm fest.
Draußen nahmen die beiden sie wieder in die Mitte und überquerten die Straße. Schweigend stiegen sie in den Transporter. Dieses Mal setzte sich Subat neben sie, und Cosma war froh, dass die Polizistin fuhr. Es war ihr peinlich, dass sie ihren Rücken gesehen hatte.
»Du kannst losfahren, Delego. Hier hinten ist alles klar.«
***
Er stand auf einer kleinen Anhöhe und sah dem regen Treiben dort unten aufmerksam zu. Der große Regenschirm hielt ihn trocken. Zufrieden stieg er den niedrigen Hügel wieder hinab.
***
Breschnow war zurück zum Tunnel gegangen. Er war heute sehr schlecht in Form. Zu viel Alkohol und zu viele Zigaretten gestern Nacht in seiner Stammkneipe. Um kurz nach fünf dann der Anruf von der Zentrale. Eine Leiche in der Hasenheide. Sie hatten ihn nach knapp zwei Stunden Schlaf aus seinem Sessel geklingelt, und er hatte eine eiskalte Dusche gebraucht, um überhaupt zu sich zu kommen. Auf dem Weg zum Tatort hatte er die Kollegen von der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin informiert.
Sein Schädel hämmerte, und sein Magen rebellierte nach den Schmerztabletten auf nüchternen Magen. Missmutig dachte er an die junge Frau. Sie war an seinem Tatort herumgetrampelt – oder war sie dahin zurückgekommen?
Und er war sauer, heute Morgen im strömenden Regen hier in der Hasenheide sein zu müssen. Wieder einmal kam ihm der Gedanke, den Dienst zu quittieren. Aber wofür? Um sich dann vor lauter Langeweile totzusaufen?
Vielleicht keine schlechte Alternative, dachte er bitter und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.
Of fensichtlich hatten die Uniformierten die Kollegen unterstützt, denn das Gelände war bereits weiträumig abgesperrt. Zwei Scheinwerfer tauchten den Tunnel in gleißend helles Licht, der kleine Generator stand am Eingang und brummte geschäftig vor sich hin.
Breschnows Handy klingelte. Kurz darauf hörte er von einer trockenen Stimme aus der Zentrale, dass heute keine weiteren Kollegen zur Unterstützung bereitgestellt werden konnten.
Ohne etwas zu erwidern, drückte er die Stimme weg und fluchte. Jetzt würden sie den ganzen verdammten Tag in diesem Park verbringen.
»He, du siehst heute echt scheiße aus!«, grinste Manfred. »Kommst du direkt aus der Kneipe?«
»Mehr oder weniger«, knurrte Breschnow.
Die beiden tranken öfter mal ein Bier zusammen. Der Spurensicherer ein bis zwei, Breschnow in derselben Zeit acht.
Manfred klopfte ihm kameradschaftlich auf den Rücken und drückte ihm einen weißen Overall in die Hand.
»Du kannst dich da hinten umziehen.«
Breschnow ging zu dem kleinen Zelt, das die Spurensicherung aufgebaut hatte, um ihre Instrumente zu schützen.
Drinnen war es sehr eng, und er bemühte sich, keines der Geräte umzuwerfen. Seine nassen Klamotten ließ er einfach auf den Boden fallen und schob sie mit dem Fuß unter das nächste Regal. Auf einem kleinen Tisch daneben stand eine große Thermoskanne mit Kaf fee. Er goss sich einen Becher voll und stimmte innerlich einen Lobgesang auf die Kollegen an. Das heiße Getränk wärmte ihn ein wenig, und er verließ besänftigt das Zelt. Die Gerichtsmedizinerin kniete bereits neben der Leiche. Ihr Overall spannte ein wenig über ihren üppigen Kurven. Die Haare hatte sie unter einem geschickt gebundenen roten Tuch verborgen. An den Seiten lugten schwarze Löckchen hervor. Sie war wie immer kunstvoll geschminkt. Ein junger Fotograf schwirrte aufgeregt um sie herum.
»Na, Gerichtsmedizinerin aus Leidenschaft, ist der denn schon volljährig?«, fragte Breschnow grinsend mit Blick auf den jungen Mann.
»Grade mal eben«, lachte Monika. »Heute Morgen war niemand aufzutreiben, da habe ich in meiner Not den Praktikanten angerufen. Aber er macht seine Sache sehr gut!«
Sie schenkte dem Fotografen einen lobenden Blick. Der junge Mann errötete.
Liebeskranker Praktikant und attraktive Gerichtsmedizinerin, dachte Breschnow.
»Hast du schon was für mich?«
»Männlich, weiß, circa vierzig Jahre alt. Keine Papiere. Ich schätze, er ist erst seit zwei bis vier Stunden tot. Drei Messerstiche, zwei von hinten, einer von vorne – direkt ins Herz. Das war wahrscheinlich der tödliche. Aber Genaueres kann ich dir erst nach der Obduktion sagen.«
»Wann machst du die?«
»Wenn ich einen Assistenten auftreiben kann, dann noch heute. Der Sonntag ist eh versaut«, antwortete Monika und sah ihren Praktikanten an.
Breschnow nickte zustimmend und ging wieder zu Manfred.
»Was gefunden?«
»Oh ja, jede Menge Glasscherben, Kippen, gebrauchte Spritzen …«
Breschnow unterbrach ihn. »Irgendetwas, was wir brauchen können?«
»Woher soll ich wissen, was du brauchen kannst? Ich sammele wie immer den ganzen Kram zusammen und bringe ihn ins Labor. Dann sehen wir weiter.«
»Wo sind die anderen?«
Manfred beschrieb mit beiden Armen einen großen Bogen. »Amüsieren sich im Park. Sonntagsausflug. Suchen ein schönes Plätzchen für ein Picknick.«
Breschnow grinste. Er mochte Manfreds trockenen Humor.
»Nachher kommen noch Subat und Delego. Hebt ihnen was zu essen auf!«
»Zeugensuche?«
Breschnow nickte.
»Was ist mit der Person, die die Leiche gemeldet hat?«, erkundigte sich der Kriminaltechniker.
»Ein Mann. Wir versuchen gerade, seine Nummer zurückzuverfolgen. Ich sehe mich hier noch ein bisschen um.«
Breschnow war froh, wieder ins Freie zu kommen. Eine Leiche in einem Tunnel ist wie eine Leiche in einem Zimmer, dachte er. Zu nah, zu wenig Raum zwischen dem Leben und dem Tod. Langsam ging er den breiten Weg entlang. Der Regen hatte zwar etwas nachgelassen, aber dennoch alle Spuren verwischt.
Der Täter musste Blut an sich gehabt haben, dachte Breschnow. Man erstach niemanden aus nächster Nähe, ohne sich schmutzig zu machen. Obdachlose und Dealer mussten im Park gewesen sein, vielleicht sogar im Tunnel. Aber die zu finden würde schwierig werden, die wollten nichts mit der Polizei zu tun haben.
Von Weitem sah er einen weißen Overall im Gebüsch aufblitzen. Kurz darauf bewegten sich die Büsche an einer anderen Stelle. Ein älterer Mann mit einem großen Regenschirm kam ihm entgegen. Als er auf gleicher Höhe war, nickte er kurz zur Begrüßung. Breschnow nickte gedankenverloren zurück und ging weiter. Sein Magen knurrte. Vielleicht sollte er rasch nach Hause fahren, sich umziehen und etwas essen. Als er das Handy herausholen wollte, verwünschte er seine Unkonzentriertheit. Er hatte es bei den nassen Sachen im Zelt liegen lassen. Schnell drehte er um und eilte zurück zum Tunnel.
Mittlerweile waren zwei weitere Kollegen der Gerichtsmedizin angekommen, um den Toten abzuholen. Sie standen mit verschränkten Armen um die Leiche herum und beobachteten Monika. Den Plastiksarg hatten sie neben sich abgestellt. Sie schienen es nicht eilig zu haben.
Breschnow nickte ihnen zu, verschwand im Zelt und holte das Handy aus seiner Tasche. Ein verpasster Anruf von Delego. Er rief sie zurück.
»Was gibt’s?«
»Cosma Anderson heißt deine Zeugin. Vierunddreißig Jahre alt, keine Vorstrafen. Wir sind auf dem Weg ins Revier. Hast du Verstärkung bekommen?«
»Nein, stellt euch auf einen langen Tag ein. Versucht jemanden zu finden, der etwas gesehen hat. Dealer, Partyheimkehrer, frühe Gassigänger und die Obdachlosen, die immer im Tunnel übernachten. Und versuch, Schmitti oder Drass zu erreichen. Ich hätte gerne jemanden dabei, wenn ich mit der Frau rede.«
»Geht klar.«
Breschnow raf fte seine nassen Sachen zusammen und ging zu Manfred, der noch immer auf dem schmutzigen Tunnelboden herumkroch.
»Warte auf Subat und Delego. Okay?«
Der Spurensicherer sah kurz hoch und nickte.
Breschnow verabschiedete sich und nahm den Weg in Richtung Ausgang. Mittlerweile waren die Uniformierten verschwunden, und vereinzelt trauten sich die ersten Dealer wieder aus ihren Verstecken heraus. Obwohl es aufgehört hatte zu regnen, sah er nur wenige Passanten mit Hunden und einige Jogger.
Was hatte die Frau im Tunnel zu suchen gehabt? War sie zum Tatort zurückgekommen, oder war sie wirklich nur eine Joggerin? Sie war stehen geblieben. Hatte sie etwas gehört oder gesehen? Hatte sie den Mann gekannt?
Fast wäre er am Parkausgang zur Fontanestraße, wo sein Auto stand, vorbeigegangen. Er schloss die Fahrertür auf und stieg in den sechzehn Jahre alten ehemaligen Streifenwagen. Er hatte den grünen Passat damals für wenig Geld ersteigert, als der Fuhrpark erneuert worden war. Jetzt war es wieder so weit, dachte er, die grünen Autos werden blau.
Langsam rollte er rückwärts auf die Straße hinaus und hätte fast einen Radfahrer übersehen, der verkehrswidrig die Fahrbahn überquert hatte. Er fluchte laut.
Der Regen setzte wieder ein und wurde so heftig, dass die alten Wischer Mühe hatten, die Scheibe freizuhalten. Klimaerwärmung? Grundwasserprobleme in Brandenburg? Wohl eher eine neue Sintflut, die alles Böse aus der Welt spülte.
Wieso war die Frau im Tunnel weggerannt?
Zehn Minuten später erreichte er seinen Wohnblock in der Kreuzbergstraße 49. Ein Neubau, von außen schick anzusehen, aber innen schon leicht baufällig. Der Eigentümer hatte das Haus vor fünf Jahren billig hochgezogen, und nun häuften sich die Mängel. Breschnow fragte sich, ob die ständigen Reparaturen nicht letztendlich teurer waren, als wenn der Bauherr von Anfang an sorgfältiger gebaut hätte.
Er versuchte die Haustür aufzuschließen, die wie immer klemmte. Im Treppenhaus war es schummerig, die Deckenlampe brannte nicht. Er stieg in den kleinen Aufzug, fuhr in den dritten Stock und schloss seine Wohnungstür auf.
Er hatte die kleine Dreizimmerwohnung vor zwei Jahren für sich und seine damalige Freundin gekauft. Aber auch diese Beziehung hatte nicht lange gehalten. Nach fünf Monaten war sie gegangen und hatte seine Stereoanlage mitgenommen. In einem kurzen Abschiedsbrief hatte sie erklärt, dass ihr diese, nach der Quälerei mit ihm, zustehen würde. Er konnte es ihr nicht verdenken.
Als sie damals aus dem kleinen Dorf an der nordfriesischen Küste zu ihm nach Berlin gezogen war, hatte er einfach so weitergelebt wie immer. Er war nie zu Hause, sof f, war schlecht gelaunt, und wenn er mal freie Zeit hatte, verbrachte er sie mit einem Stift und einem Block und schrieb Gedichte. Eigentlich wunderte es ihn, dass sie überhaupt so lange geblieben war. Eine neue Stereoanlage hatte er sich bis heute noch nicht gekauft.
Er schmiss seine nassen Sachen auf den weiß gekachelten Badezimmerboden, zog den Overall aus und stellte sich unter die Dusche. Das warme Wasser tat gut. Der Overall hatte zwar den Regen abgehalten, ihn aber nicht gewärmt. Er hob das vom Morgen noch feuchte Handtuch vom Boden auf, versuchte, sich damit abzutrocknen, und ging ins Schlafzimmer. Dort sah es aus wie nach einer Hausdurchsuchung. Die Kleidung der letzten Wochen lag über den Fußboden verstreut, der alte Kleiderschrank war fast leer. Breschnow zog ein weißes verknittertes Hemd aus einem der Haufen und suchte nach seiner schwarzen Jeans. Er fand sie unter dem Bett und in der Kommode sogar noch saubere Unterwäsche und Socken.
Seine Waschmaschine hatte vor vier Wochen den Dienst quittiert und er war bisher noch nicht dazu gekommen, sich eine neue zu kaufen.
Gleich morgen, dachte er und knöpfte sich auf dem Weg in die Küche das Hemd zu. Er öf fnete den Kühlschrank. Bier, Wein und Schnaps. Mit Essen sah es schlechter aus. Er würde sich beim Bäcker ein belegtes Brötchen holen.
***
Der kleine Transporter brummte zufrieden. Der genießt die Fahrt, dachte Cosma neidisch, und ist wahrscheinlich auch der Einzige. Aus dem iPod drang leise die wärmende Stimme von Leonard Cohen. Cosma hätte das Gerät gerne lauter gestellt.
An einer roten Ampel drehte sich Delego um.
»Subat, wir müssen nachher zurück in den Park. Es gibt keine Verstärkung!«
Cosma hörte den Polizisten leise schimpfen. Er hatte sich seinen Sonntag wahrscheinlich anders vorgestellt. Aber hatten sie das nicht alle? Sie würde jetzt gerne mit einer heißen Tasse Tee und einem Buch auf ihrem Sofa liegen. Stattdessen war sie mitten in einem Kriminalfall gelandet. Ihre Schwester wäre bestimmt begeistert.
»Wie lange wird das Ganze noch dauern?«, fragte sie den Polizisten.
Er zuckte nur mit den Schultern.
Cosma sah wieder aus dem Fenster. Der Flughafen Tempelhof zog an ihr vorbei. Sie war immer gerne hierhergekommen und hatte den Flugzeugen beim Starten und Landen zugesehen. Seit der Schließung war sie nicht mehr hier gewesen.
Die große alte Backsteinkaserne in der Friesenstraße wirkte düster und abweisend. Delego bog ab und fuhr zum Eingang in der Golßener Straße, der durch eine Schranke gesichert war.
»Hier steht auch jeden Tag ein anderer«, stellte sie missbilligend fest und lenkte den Transporter im Schritttempo über den leeren Hof des Polizeireviers. Es war ungewöhnlich ruhig an diesem Sonntag. Sie hielt auf einem großen leeren Parkplatz neben einem kleinen metallicgrünen Sportwagen.
»Unser Kollege ist schon da«, stellte sie fest und deutete auf das Auto.
Subat öf fnete die Schiebetür und half Cosma beim Aussteigen. Als er ihren Arm packte, zuckte sie zusammen. Die kleine Gruppe eilte über den Hof, aber der heftige Regen durchnässte sie in Windeseile.
Durch den Hintereingang gelangten sie über eine schmale Treppe ins Hochparterre. Delego öf fnete die schwere Tür, indem sie sich kräftig dagegenstemmte. Sie betraten eine große Eingangshalle, und Delego steuerte die Aufzüge an. Cosma zögerte einen Moment. Sie erinnerte sich mit Grauen an ihre letzte Fahrt im Einkaufszentrum in Neukölln. Es war ein unüberlegter trotziger Versuch gewesen, ihre Klaustrophobie in den Grif f zu bekommen. Und er war kläglich gescheitert. Sie war zusammengebrochen, und zwei Passantinnen hatten sie aus dem Lift ziehen müssen.
Sie atmete tief durch und betrat die Kabine. Ihr Herz raste. Sie versuchte, sich abzulenken, starrte auf den Boden und zwang sich, an den Mann im Tunnel zu denken. Ihr wurde übel.
»Ist Ihnen nicht gut?«, hörte sie die Polizistin fragen.
Die Stimme war weit weg.
Ein kurzes Signal beendete Cosmas Not. Als der Fahrstuhl im ersten Stock stehen blieb, versuchte sie, sich nicht sofort hinauszudrängeln. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich die Aufzugstür öf fnete und ein langer schmaler Flur sichtbar wurde. Endlos schien er sich über die gesamte Etage hinzuziehen, rechts und links von Türen flankiert, die fast alle verschlossen waren. Cosma schwitzte, verließ mit zittrigen Beinen die Kabine und atmete erleichtert auf. Aus den Augenwinkeln sah sie am hinteren Ende des Flurs eine Tür aufgehen.
Ein breitschultriger junger Mann in schwarzer Jeans und einem frisch gebügelten blütenweißen Hemd kam lächelnd auf sie zu geschlendert. Er blieb vor ihnen stehen, begrüßte mit einem Kopfnicken die Kollegen und stellte sich Cosma vor.
»Ich bin Hauptkommissar Andreas Drass. Mein Kollege hat mich gerade angerufen und ist auf dem Weg zu uns. Wir können uns schon mal in den Konferenzraum setzen. Kommen Sie?«
»Und wir fahren dann zurück in den Park, Herr Hauptkommissar«, brummte Subat f inster hinter den beiden her.
Drass schob Cosma sanft in den Raum, aus dem er gekommen war. Ein großes, helles Zimmer mit blauem Teppichboden und weißen Tischen, die zu einem Rechteck zusammengestellt waren. Am Kopfende ein Whiteboard, rechts daneben ein Tisch mit einem Fernsehgerät und einem Videorekorder. Der Raum wirkte kahl. Keine Blumen, keine Bilder an den Wänden.
Drass ging zu der kleinen Küchenzeile hinüber.
»Setzen Sie sich doch bitte. Möchten Sie einen Kaffee?«
Cosma nickte und nahm die Kopfhörer heraus. Langsam beruhigte sich ihr Puls.
Sie hörte, wie der Polizist Wasser in die Kaffeemaschine füllte.
»Ich mag keinen Filterkaf fee«, sagte sie. »Könnten Sie ihn aufgießen?«
»Aufgießen?«
»Ein Teelöf fel Kaf feepulver in die Tasse und kochendes Wasser drüber.«
Drass nickte und schaltete den Wasserkocher an.
»Und was ist mit den Krümeln? Trinken Sie die mit?«
»Nein«, antwortete sie ironisch. »Den Satz lasse ich in der Tasse. Vielleicht können wir nachher die Zukunft daraus lesen.«
»Was wollt ihr tun?«, fragte Breschnow, der gerade den Raum betreten hatte.
»Im Kaf feesatz deine Zukunft lesen«, grinste Drass, zwinkerte Cosma zu und stellte ihr die Tasse mit dem aufgegossenen Kaf fee hin.
»Willst du auch einen?«
Breschnow nickte.
»Wieso sind wir in diesem Raum?«, fragte er, als er zurück zur Tür ging, um sie zu schließen. »Sind die Verhörräume alle besetzt?«
»Nein, ich dachte, es wäre netter, hier zu sein. Immerhin ist es Sonntag.«
Breschnow nickte missmutig und wandte sich Cosma zu. Im Hintergrund gurgelte die Kaf feemaschine.
»Frau Anderson, ich habe Sie hierhergebeten, weil Sie eine wichtige Zeugin sind«, leitete er das Gespräch ein.
Cosma knallte ihre Tasse auf den Tisch. Etwas Kaf fee schwappte über.
»Gebeten?«, zischte sie. »Sie haben mich wie eine Schwerverbrecherin abführen lassen!«
»Hmmm«, brummte Breschnow.
Drass erhob sich langsam, nahm einen Lappen aus der Spüle und wischte die Kaf feeflecken auf dem Tisch weg.
Cosma starrte Breschnow wütend an.
»Und? Bekomme ich wenigstens eine Entschuldigung?«
»Sie können sich bei meinem Vorgesetzten beschweren, Frau Anderson«, antwortete er sachlich.
Cosma schluckte.
Drass musterte sie und setzte sich zurück an den Tisch. Er schob Breschnow eine Tasse Kaf fee hin und wandte sich dann Cosma zu.
»Frau Anderson, es tut uns wirklich leid, wenn Sie durch uns Unannehmlichkeiten hatten, aber weil bestimmt keiner von uns Lust hat, den ganzen Tag hier zu verbringen, schlage ich vor, dass wir jetzt anfangen.«
Cosma f ixierte Breschnow weiterhin grimmig und nickte.
Drass seufzte, stand auf und holte das Aufnahmegerät. Er stellte es auf den Tisch und schaltete es ein. Dabei sah er Cosma freundlich an.
»Sonntag, 26.6.2011. Es ist jetzt neun Uhr fünfundvierzig. Zeugenbefragung von Frau Cosma Anderson. Anwesend Kriminalhauptkommissare Breschnow und Drass.«
»Frau Anderson, können Sie uns bitte Ihre Daten geben?«
»Aber das habe ich doch vorhin schon gemacht!«, blaffte sie. »Vorhin, als ich wie eine Schwerverbrecherin abgeführt wurde!«
Wieder starrte sie Breschnow an. Er hielt ihrem Blick mit unbeweglicher Miene stand.
»Bitte«, bat Drass sanft. »Frau Anderson, wir brauchen Ihre Daten für dieses Befragungsprotokoll.«
Meinetwegen, aber nur für dich, dachte Cosma und nannte ihren Namen und ihre Adresse.
»Was machen Sie beruflich?«, fragte Drass.
»Ich bin Journalistin.«
Drass und Breschnow wechselten einen Blick.
»Bei welcher Zeitung sind Sie tätig?«
»Ich arbeite als Freie für mehrere Zeitungen.«
»Welche zum Beispiel?«
»TAZ, Tagesspiegel, Berliner, manchmal auch Zitty und Tip.«
»Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
»Leben Sie allein?«
»Wieso stellen Sie mir diese Fragen? Was geht Sie das an, wie ich lebe? Ich dachte, ich bin eine Zeugin!«
Das letzte Wort betonend sah sie die beiden Männer herausfordernd an.
»Frau Anderson«, übernahm Breschnow, »Sie standen heute Morgen um kurz vor sechs neben einer Leiche im Tunnel der Hasenheide. Was wollten Sie dort?«
»Ich jogge regelmäßig. Und das ist meine Runde. Als ich in den Tunnel lief, lag der Mann am Boden. Er lag so komisch da, nicht wie sonst die Penner, die dort schlafen. Also habe ich angehalten und bin dann zu ihm hingegangen.«
»Was meinen Sie mit komisch?«
»Ich weiß auch nicht.«
»Sie gingen also zu dem Mann hin …«
»Ja … er lag so gekrümmt da, als ob er Schmerzen hätte«, erinnerte sich Cosma. »Ich habe ihn gefragt, ob er Hilfe braucht. Dann sah ich das Blut und muss wohl in Panik geraten sein. Ich bin weggerannt.«
»War Ihnen bewusst, dass der Mann tot war?«
Cosma schüttelte den Kopf. »Nein. Erst als ich das Blut sah … Vielleicht … Ich kann’s nicht sagen.«
»Haben Sie sonst noch etwas in dem Tunnel bemerkt?«
Sie verneinte erneut.
Schweigend tranken alle drei von ihrem Kaf fee.
»Warum sind Sie weggerannt?«
»Ich weiß nicht … Panik?«
»Warum haben Sie nicht angehalten, als der Polizist Sie rief?«, Breschnow f ixierte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie ernst.
»Sie wissen es nicht?«, hakte Breschnow nach.
Cosma hielt seinem Blick stand und nickte. »Genau! Ich weiß es nicht!«, blaf fte sie.
Die beiden starrten sich feindselig an.
»Kannten Sie den Mann im Tunnel?«, fuhr Breschnow fort.
»Nein!«
»Wirklich nicht?«
Sein Blick durchbohrte sie.
»Nein verdammt!«, antwortete sie wütend. »Sie sind ja vielleicht Tote gewöhnt. Aber ich nicht. Mir läuft nicht jeden Tag eine Leiche über den Weg. Herrgott, ich weiß nicht, warum ich weggelaufen bin. Holen Sie einen Psychologen. Der wird Ihnen wahrscheinlich sagen, dass meine Reaktion ganz normal war. Ich war entsetzt. Ich wollte nur schnell weg, raus dem Tunnel, weg von dem Mann …«
»Schnell weg, damit wir Sie nicht f inden können?«, unterbrach Breschnow den Redeschwall.
»Nein!«, rief sie empört und sprang auf.
Breschnow erhob sich ebenfalls. Obwohl sie groß war, überragte er sie fast um eine Kopflänge.
»Frau Anderson. Was würden Sie an meiner Stelle denken?«
»Weiß ich doch nicht. Ich bin keine Polizistin. Aber denken Sie doch, was Sie wollen. Ich will nach Hause, und Sie können mich nicht daran hindern.«
Drass stand nun ebenfalls auf und stellte sich neben Cosma.
»Frau Anderson«, versuchte er sie zu beruhigen. »Bitte setzen Sie sich doch wieder. Mein Kollege war vielleicht etwas schrof f. Aber ich möchte Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen … Bitte.«
Breschnow warf ihnen einen f insteren Blick zu.
Drass legte eine Hand auf Cosmas Schulter und drückte sie sanft zurück in den Stuhl. Die Freundlichkeit und die Wärme seiner Stimme besänftigten sie etwas.
»Ich kann verstehen, dass Sie weggerannt sind. Die Leiche zu f inden war bestimmt ein Schock, und Sie hatten Angst. Aber ich möchte Sie trotzdem bitten, sich genau zu erinnern, ob Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen ist?«, fuhr Drass einfühlsam fort.
Cosma schüttelte den Kopf.
»Alles war wie immer. Der Weg, die Dealer, wenig Leute unterwegs … Aber, warten Sie. Etwas war anders. Im Tunnel roch es nicht nach Pennern. Sonst muss man immer die Luft anhalten, wenn man da durchläuft. Es stinkt bestialisch, und sie liegen da rum. Heute war niemand da.«
»Niemand außer Ihnen und der Leiche«, warf Breschnow ein. Drass warf ihm einen warnenden Blick zu und wandte sich wieder an Cosma.
»Und bevor Sie in den Tunnel gelaufen sind. Haben Sie da vielleicht jemanden gesehen?«
Cosma verneinte.
»Und nach dem Tunnel?«
»Da bin ich nur gerannt, bis mich diese zwei Polizisten in die Schraubzwinge genommen und mir den Arm verdreht haben. Und dann kam Ihr Kollege angekeucht.«
Sie warf Breschnow einen wütenden Blick zu, der an seiner unbeweglichen Miene abprallte.
»Haben Sie vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches gehört?«, fragte Drass weiter.
»Auch nicht«, verneinte Cosma. »Laufen Sie?«
»Ja.«
»Dann kennen Sie das doch. Man hört in erster Linie sich selbst, den Atem, das Rauschen des Blutes, den eigenen Herzschlag. Und natürlich die Musik.«
»Die Musik?«
Drass sah sie fragend an. Eine Augenbraue hatte sich gehoben.
»Wie machen Sie das?«, fragte Cosma.
»Was?«, fragte er irritiert.
»Na, nur eine Augenbraue hochzuziehen?«
»Berufsgeheimnis«, antwortete er lächelnd.
Breschnow rollte die Augen und seufzte.
Cosma lächelte. Drass war ihr sympathisch. Vielleicht sollte sie aus diesem Sonntag eine Geschichte machen: »Unschuldige Zeugin brutal verhaftet.«
Sie hatte schon lange nichts mehr geschrieben. Alles, was sie interessant fand, erschien ihr letztendlich zu banal, um es aufzuschreiben. Und wenn sie sich dann doch einmal durchrang, erschien ihr das Geschriebene ebenso banal wie die Idee. Aber jetzt gab es einen Toten. Und sie war die Erste am Tatort und als Zeugin nah dran.
»Wie ist der Mann im Tunnel gestorben?«, fragte sie.
»Dazu dürfen wir Ihnen leider nichts sagen«, lächelte Drass.
»Er wurde ermordet, oder?«, hakte sie nach.
Das Lächeln verschwand.
»Es tut mir leid, Frau Anderson. Aber unsere Ermittlungen sind noch nicht an einem Punkt angekommen, an dem wir die Öf fentlichkeit darüber informieren können. Wir wollen doch keine falschen Aussagen in die Welt setzen«, antwortete er diplomatisch.
»Aber …«
Breschnow unterbrach sie barsch.
»Frau Anderson. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass alles, was heute in diesem Raum besprochen wurde, nicht für die Öf fentlichkeit bestimmt ist. Wenn Sie gegen das Schweigegebot verstoßen, machen Sie sich strafbar.«
»Inwiefern?«, fragte Cosma herausfordernd. Sie fand langsam Gefallen an diesem Gespräch.
»Behinderung der Polizeiarbeit«, knurrte Breschnow. »Wo waren Sie heute Nacht zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens?«
Cosma beugte sich vor und zischte: »Denken Sie etwa, ich habe diesen Kerl getötet und bin dann so blöd und bleibe die ganze Nacht bei der Leiche stehen?«
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet«, erwiderte Breschnow ruhig und lehnte sich zurück.
Wieder mischte sich Drass ein.
»Frau Anderson, das ist eine Frage, die wir stellen müssen«, erklärte er ruhig. »Allen, die irgendwie in Kontakt mit dem Toten standen. Bitte tun Sie uns den Gefallen und antworten Sie.«
Cosma lehnte sich seufzend zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich war in meinem Bett, habe gelesen und geschlafen.«
»Gibt es dafür Zeugen?«
»Nein, es sei denn, Sie akzeptieren die Aussagen von Stof ftieren.«
Drass lächelte. »Leider nicht.«
Er sah seinen Chef an und wandte sich dann dem Aufnahmegerät zu.
»Wir beenden die Zeugenbefragung um zehn Uhr vierunddreißig. Frau Anderson wurde darüber aufgeklärt, dass es ihr nicht erlaubt ist, Informationen über dieses Gespräch zu veröffentlichen.«
Breschnow erhob sich.
»Es wäre gut, wenn Sie in den nächsten Wochen die Stadt nicht verlassen würden, falls wir Sie noch einmal befragen müssen.«
Er reichte ihr seine Visitenkarte. »Und falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an.«
Dich ganz bestimmt nicht, dachte Cosma.
Drass war ebenfalls aufgestanden.
»Ich bringe Sie noch zur Tür. In diesem alten Gebäude kann man sich leicht verlaufen.«
Breschnow sah den beiden nach und ließ sich zurück auf den Stuhl fallen. Immer wieder dasselbe Spiel. Good cop – bad cop, und ich bin immer der Böse. Vielleicht sollte er darüber ein Gedicht schreiben. Manchmal hatte er das Gefühl, dass ihm im ständigen Sumpf der Ermittlungen die Worte ausgingen. Aber er hatte noch nie über die Arbeit geschrieben, hatte seine Leben stets sauber getrennt.
Drass drehte sich an der Tür noch einmal um und gab ihm ein Zeichen, dass er nachher mit ihm sprechen wollte. Breschnow nickte.
Eine Zeugin, die nichts gesehen hat, steht kurz nach einem Mord neben einer männlichen Leiche. Sie rennt weg und behauptet, unschuldig zu sein. Und dann ist sie auch noch Journalistin. Bestimmt rennt sie gleich zur nächsten Zeitung.
Sein Handy klingelte.
»Manfred hier. Am besten, du kommst gleich her.«
***
Drass öf fnete die Tür zum Hof. Es goss noch immer in Strömen. Cosma war froh, wieder draußen zu sein, atmete erleichtert auf und trat einen Schritt in den Regen hinaus. Drass hielt sie am Ärmel zurück.
»Wenn es Ihnen recht ist, fahre ich Sie nach Hause«, bot er an.
Sie zögerte einen Moment und nickte.
»Ich wohne am Maybachufer. Aber das wissen Sie ja schon.« Schnell rannten sie über den Innenhof, steuerten einen metallicgrünen Flitzer an, und Drass betätigte die Fernsteuerung.
Das Auto antwortete mit einem leisen Klicken.
»Tolle Karre!«, stellte Cosma bewundernd fest, nachdem sie sich in das kleine Gefährt gezwängt hatte. Anerkennend strich sie über die weißen Lederpolster und schnallte sich an.
»Ein BMW M6«, erklärte Drass stolz. »Ich habe lange dafür gespart. Genau genommen tue ich das noch immer.«
Sie fuhren langsam vom Hof und bogen an der nächsten Ampel links auf den Columbiadamm. Drass sah seine Beifahrerin kurz an, blickte in den Rückspiegel und beschleunigte.
»In vier Komma zwei Sekunden von null auf hundert. Spitzengeschwindigkeit zweihundertfünfzig Stundenkilometer«, verkündete er. Cosma genoss den Schub. Drass bremste wieder ab.
Sein Handy klingelte. Er grif f nach den Kopfhörern. Mit wem er sprach, konnte sie nicht hören.
»Im Auto. Ich fahre die Zeugin nach Hause. Es gießt! Ja. … Wo? Was habt ihr?«
Er musterte Cosma von der Seite, »… ja, okay. Bis gleich.« Sie bogen links in den Kottbusser Damm ein. Schweigend fuhr Drass zickzack an den in zweiter Spur parkenden Autos vorbei, bog ins Maybachufer und hielt vor Cosmas Haus.
»Vielen Dank für die Fahrt. Schade, dass sie so schnell vorbei war«, bedauerte Cosma und pellte sich aus dem Auto.
Drass sah ihr nach, als sie zum Haus eilte. Ein alter Mann mit einem Regenschirm kreuzte die Straße. Drass startete den Wagen und drehte sich noch einmal zu Cosma um. Sie stand immer noch vor dem Haus und blickte zu ihm hinüber.
Er lehnte sich zur Beifahrerseite und öf fnete das Fenster.
»Alles klar?«, rief er.
Cosma zuckte mit den Schultern.
»Ich habe keinen Schlüssel.«
Drass stellte den Motor ab, stieg aus und ging zum Haus.
»Haben Sie alle Taschen durchgewühlt?«
Cosma nickte.
»Ich glaube, ich habe ihn in der Wohnung liegen lassen. Das ist mir noch nie passiert.«
»Wahrscheinlich haben Sie auch noch nie eine Leiche gefunden.«
Cosma schüttelte den Kopf.
»Gibt es einen Zweitschlüssel?«
»Bei meiner Schwester.«
Drass zog sein Handy aus der Hosentasche und ließ sich die Nummer geben. Nachdem er gewählt hatte, reichte er ihr den Apparat.
Sie lauschte eine Weile dem monotonen Klingeln und schüttelte den Kopf. »Sie geht nicht dran. Was mache ich denn jetzt? Einen Schlüsseldienst am Sonntag kann ich mir nicht leisten.«
»Vielleicht steht der Schlüsseldienst ja vor Ihnen?«, lächelte Drass. »Ich habe Werkzeug im Auto. Wollen wir es versuchen?«
Cosma nickte.
Drass holte einen blauen Metallwerkzeugkasten aus dem winzigen Kof ferraum und ging zurück zum Haus. Cosma probierte eine Klingel nach der anderen, bis jemand sie hineinließ.
Im Treppenhaus hatte sich der Geruch nach Essen noch verstärkt. Sonntagmittag, wie bei Mama, dachte Cosma. Sie spürte einen Anflug von Traurigkeit. Ihre Eltern waren im letzten Jahr bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Trotz der häuf igen Meinungsverschiedenheiten und der andauernden Kritik an ihrer Berufswahl hatten sie zusammengewohnt und jeden Sonntag gemeinsam gegessen.
»Meine Schwester würde sich köstlich amüsieren, wenn sie mich jetzt sehen könnte«, sagte sie.
Drass runzelte fragend die Stirn.
»Ich habe drei Schlösser an meiner Wohnungstür und schließe auch immer alle drei ab. Margareta denkt, dass ich einen Schlosszwang habe … vielleicht hat sie ja recht.«
Oben angekommen, stellte Drass den Werkzeugkasten ab und wühlte darin herum. Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen, zwei Minuten später hatte er sie geöf fnet.
Cosma eilte in die Wohnung und ließ ihn wortlos stehen. Er sah ihr irritiert hinterher. Kurz danach kehrte sie lächelnd mit einem Schlüsselbund zurück, der an einer langen Perlenkette baumelte.
»Ich würde mich gerne mit einem Kaf fee und Schokokeksen bei Ihnen bedanken.«
Drass zögerte einen Moment.
»Sie müssen nicht. Es ist schon okay«, ergänzte sie hastig und senkte den Blick.
Drass sah sie an und betrat den kleinen Flur.
Cosma ging lächelnd voran in die Küche und schaltete das alte Transistorradio auf dem Fensterbrett an. Leise Stimmen füllten den kleinen gemütlichen Raum. Drass sah sich um. Ein antiker Küchenschrank stand an der linken Wand, der zerkratzte rote Lack zeugte von vielen Umzügen. Vor dem Fenster stand ein kleiner Ikea-Tisch mit zwei passenden Stühlen, rechts davon der Gasherd und der Kühlschrank, der gerade wie zur Begrüßung zu brummen begonnen hatte. Cosma setzte den Wasserkessel auf und nahm zwei Tassen aus dem Schrank.
»Ich habe leider nur Instantkaf fee und auch keine Milch«, entschuldigte sie sich.
»Das macht nichts. Ich trinke ihn sowieso schwarz.«
Drass stellte sich ans Fenster und schaute auf den öden Hinterhof. Eine fette Katze traute sich aus ihrem Versteck heraus und versuchte vergebens, auf die Mülltonne zu springen.
Nach ein paar Minuten ertönte eine leise Melodie. Cosma nahm den Kessel vom Herd und goss das kochende Wasser in die Tassen.
»Setzen wir uns oder stehen Sie lieber?«, fragte sie.
Drass drehte sich vom Fenster weg und lächelte.
Sie setzten sich an den Küchentisch, schwiegen eine Weile und schlürften den heißen Kaf fee, bis Cosma aufstand und eine Tüte Kekse aus dem Schrank nahm.
»Schokokekse. Sie sind mein absolutes Laster. Aber heute habe ich mir wohl welche verdient. Oder?«
Er nickte und bediente sich.
»Ich auch«, antwortete er und begutachtete den Keks. »Eigentlich wollte ich heute mit Freunden aufs Land fahren und dort grillen.«
Er sah sie an.
»Ums Grillen ist es nicht schade. Das hätten wir wahrscheinlich bei diesem Wetter sowieso gelassen, aber einer der Freunde fährt morgen für ein Jahr zu einem Auslandseinsatz. Ich hätte ihn gerne noch einmal gesehen.«
»Vielleicht später? Nach Feierabend?«, fragte Cosma.
Drass schüttelte den Kopf.
»Er fliegt um vier.«
»Mmh.«
»Und was waren Ihre Pläne für diesen Sonntag?«
»Laufen – den Teil habe ich erledigt. Auf dem Sofa liegen und lesen und abends der obligatorische Weltspiegel. Das kann ich ja noch alles tun.«
»Keine Verabredung?«
»Nein, Sonntag ist mein ›freier Tag‹.«
Sie malte Anführungszeichen in die Luft.
»Der einzige Tag, den ich versuche, nicht zu verplanen. Manchmal ergibt sich etwas … zum Beispiel wie heute. Ich f inde eine Leiche und lerne richtige Polizisten kennen.«
Sie holte tief Luft, zögerte einen Moment und seufzte. »Aber eigentlich lasse ich mir lieber von meiner Schwester,die ein absoluter Krimifan ist, solche Geschichten erzählen, als mittendrin zu sein.«
Sie schwiegen wieder. Nach einer Weile stand Cosma auf.
»Bin gleich wieder da.«
***
Breschnow war gespannt, was die Spurensicherung entdeckt hatte. Am Telefon wollte Manfred es ihm nicht sagen.
Elender Geheimniskrämer, dachte er, schaf ft es immer wieder, mich rennen zu lassen.
Er stellte den Wagen am Parkeingang ab und hetzte den breiten Weg entlang. Unter Regenschirmen halb verborgen, standen die Dealer wieder an ihren Stammplätzen, boten ihm aber keine Drogen an. Mittlerweile hatte sich eine Traube von Presseleuten und Gaf fern an der Tunnelabsperrung versammelt. Der Mord war für die Neuköllner eindeutig das Ereignis des Morgens.
Er ignorierte die Fragen der Journalisten, stieg über das Absperrband und eilte zu Manfred.
»Was habt ihr gefunden?«, fragte er ungeduldig.
Sein Kollege führte ihn zu dem Zelt und reichte ihm eine große durchsichtige Tüte. Breschnow sah erdverschmierte blutige Kleidung. Er besah sich die Fundstücke von allen Seiten und konnte eine Sandale, eine Jeans und ein rotes T‑Shirt erkennen.
»Wo habt ihr das her?«
»Aus dem Gebüsch am Tunnel. Die Sachen waren zwar vergraben, aber die Erde darüber war nicht besonders sorgfältig verteilt worden. Der Regen hat sie zusammengedrückt und Pfützen gebildet. Also haben wir gewühlt und voilà!«
»Meinst du, das ist die Kleidung des Täters oder, wie es ja eher aussieht, der Täterin?«
Manfred zuckte mit den Schultern.
»Kann sein, ist auch wahrscheinlich. Es wäre schon ein merkwürdiger Zufall, hier und heute blutige Sachen zu f inden, die nichts mit dem Mord zu tun haben. Aber Genaueres wissen wir erst, wenn wir das Blut des Opfers bestimmt und mit dem an der Kleidung verglichen haben.«
Er drehte sich wieder zum Tisch.
»Und hier haben wir noch was«, sagte er und reichte Breschnow einen in Plastik verpackten Zettel.
»Wo habt ihr den her?«
»Steckte in der Gesäßtasche der Jeans.«
»Außer Erde und Blut kann man kaum noch etwas darauf erkennen«, brummte Breschnow.
»Wir nicht, aber die im Labor bestimmt«, grinste Manfred und nahm ihm den Zettel wieder aus der Hand.
***
Drass schob sich noch einen Keks in den Mund und sah sich um. Es interessierte ihn, wie andere Leute sich einrichteten. All diese Details, all das unnütze Zeug, das nur herumstand, aber eine Wohnung erst gemütlich machte und viel über ihre Bewohner verriet. Er hatte kein Händchen für Wohnungen, wohl eher für Autos. Er stopfte sich noch einen Keks in den Mund und sah sich den schönen alten Küchenschrank genauer an. Seine Großmutter hatte einen ähnlichen besessen, und er fragte sich, wo dieser schon überall gestanden hatte.
Sein Blick glitt den Fußboden entlang. Sie hatte die Dielen abgezogen, um anschließend rote Farbe ungleichmäßig darauf zu verstreichen. Das gef iel ihm. Und es passte hervorragend zu der Farbe des Schrankes.
Aber der Staub, dachte er, neben dem Schrank ist der Staub unterbrochen.
Neugierig erhob er sich, um genauer hinzusehen. Berufskrankheit, dachte er und ging in die Hocke.
Cosma erstarrte, als sie in die Küche zurückkam. Vor ihr stand der Polizist mit einem langen blutigen Messer. Er hielt es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigef inger hoch und sah sie fragend an.
»Frau Anderson, was ist das?«, fragte er mit kalter Stimme.
Sie starrte auf das Messer, konnte nicht antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Drass sah sie fragend an. Mit der freien Hand zog er umständlich eine Plastiktüte aus seiner Sakkotasche und verstaute den Fund darin.
»Ich frage Sie noch einmal. Was hat das mit dem Messer auf sich? Frau Anderson? An dem Messer klebt Blut! Erklären Sie mir das … Bitte.«
Seine Stimme erwärmte sich etwas.
Cosma starrte auf den Boden, der leicht zu schwanken schien.
Sie zwang sich, den Blick zu heben, und räusperte sich.
»Ich weiß es nicht. Ich habe das Messer vorher noch nie gesehen. Was macht es hier in meiner Küche?«
Sie schlich an ihm vorbei zum Tisch, musste sich setzen. Tränen rannen ihr über die Wangen, und sie zitterte.
»Was passiert hier?«, fragte sie schluchzend.
Drass machte einen Schritt auf sie zu, zögerte, drehte sich um und ging zur Küchentür. Er musterte Cosma misstrauisch, versperrte mit seinem Körper den Ausgang, holte das Handy hervor und wählte.
***
Es klingelte in Breschnows Hosentasche.
»Ja … gut. Ja, lass sie abholen. Aber wartet auf mich. Ich möchte noch kurz mit ihr reden.«
Er sah Manfreds fragenden Blick und hielt die Plastiktüte hoch.
»Kannst du das heute noch untersuchen?«
Manfred nickte.
»Gut. Pack deine Sachen. Wir fahren zum Maybachufer. Ein blutiges Messer in der Küche der Zeugin. Wo sind Delego und Subat?«
»Waren vor ungefähr zehn Minuten noch hier.«
Breschnow wählte die Nummer der Kollegin.
»Wie läuft es bei euch?«
»Negativ«, seufzte Delego. »Unsere Klienten sind nicht besonders gesprächsbereit. Entweder schnell im Gebüsch verschwunden oder schon zu besoffen, um reden zu können.«
»Mmmh, macht trotzdem weiter«, brummte Breschnow und beendete das Gespräch.
Manfred war mittlerweile ein kleines Stück vorausgeeilt.
»Hey, mach mal langsamer!«, rief er ihm hinterher.
Manfred drehte sich um und lachte.
»Eine Schachtel zu viel?«
Breschnow schloss auf und zündete sich demonstrativ eine neue Zigarette an.
»Denkst du, dass es so viel Glück auf einmal geben kann? Eine Täterin, die neben der Leiche wartet, bis wir kommen? Ihre Mordklamotten neben dem Tatort vergraben und in ihrer Wohnung die Tatwaf fe?«, fragte er seinen Kollegen zweifelnd.
»Warum nicht, es ist Sonntag!«, antwortete Manfred und ging auf einen Dealer zu.
Breschnow hörte die beiden flüstern. Der Dealer verschwand im Gebüsch und tauchte kurz danach mit einem kleinen Päckchen auf. Manfred zog seinen Dienstausweis. Der Dealer rannte sofort los, verschwand in den Büschen und mit ihm alle anderen. Manfred lachte. Er liebte solche Scherze.
»Du Hornochse«, schimpfte Breschnow. »Delego und Subat reißen sich den Arsch auf und durchsuchen bei diesem Mistwetter den Park nach Dealern und Pennern als Zeugen, die mit ihnen reden. Und du verschreckst die Kerle. Das nenne ich echte Teamarbeit!«
»Entschuldigung«, murmelte Manfred kleinlaut. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«
Schweigend gingen sie weiter zum Auto.
Breschnow schloss auf, und Manfred legte die Tüte mit dem Beweismaterial in den Kof ferraum. Vorsichtig fuhr Breschnow rückwärts auf die Straße. Dieses Mal kreuzte kein Radfahrer seinen Weg.
Manfred rief seine Frau an, teilte ihr mit, dass sie nicht auf ihn zu warten brauchte, und bat sie, ihre Freunde, mit denen sie heute zum Kaffeetrinken verabredet waren, zu grüßen.
Genauso gehen Ehen vor die Hunde, dachte Breschnow. Zu oft kommt etwas dazwischen, zu oft müssen wir plötzlich weg, zu oft enttäuschen wir die Menschen, die uns nahestehen.
Dann war er in Gedanken wieder ganz bei der Arbeit. Schweigend fuhren sie zum Maybachufer. Vor dem Haus stand bereits ein Streifenwagen. Drass rief ihnen vom Fenster aus zu, dass sie in den dritten Stock kommen sollten. Jemand betätigte den Summer. Breschnow musste heftig gegen die Haustür drücken, damit sie sich öf fnete. Die beiden Männer stiegen die schmutzigen Treppen hinauf. Manfred rümpfte die Nase.
»Ganz schön verkommen. Und wahrscheinlich noch teuer dazu. Wegen der tollen Lage am Ufer. Da wohn ich doch lieber in Rudow.«
Die Wohnungstür stand of fen. Zwei Uniformierte hatten sich im Flur positioniert, bereit, niemanden entkommen zu lassen. Breschnow wies sich aus und ging zu Drass, der wieder in der Küchentür stand. Manfred verschwand im Bad.
Fetzige Rockmusik füllte die kleine Küche. Breschnow stellte das Radio ab, ließ sich die Fundstelle zeigen und ging langsam auf den Tisch zu, an dem Cosma Anderson saß. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Sie starrte vor sich hin und schien ihn gar nicht wahrzunehmen, als er sich vor sie stellte. Er sah sie nachdenklich an.
Sieht so eine Mörderin aus? Ein Häufchen Elend? Was für idiotische Fragen, als ob Mörderinnen bestimmte Erkennungsmerkmale hätten.
Er ging langsam in die Hocke. Seine Knie knackten. Behutsam sprach er sie an. Sie reagierte nicht.
Manfred betrat die kleine Küche, in der es langsam eng wurde. Er deutete auf die Tüte mit dem Messer, die Drass noch immer in der Hand hielt.
»Wo hast du das gute Stück gefunden?«
Drass zeigte auf die Lücke zwischen Küchenschrank, Boden und Wand. Der Spurensicherer bückte sich, begutachtete Stück für Stück den Fußboden rund um das Möbelstück, fand aber keine Blutspuren. Um sicherzugehen, würde er nachher den Boden mit einer Speziallampe ausleuchten. Er zog sich Plastikhandschuhe über, ließ sich die Tüte geben und zog das Messer vorsichtig heraus.
»Eindeutig Blut. Aber ich glaube nicht, dass wir Fingerabdrücke f inden. Sieht nach Handschuhen aus.«
Breschnow kam herüber und sah sich die Waf fe an. Er nickte und wandte sich wieder der Zeugin zu.
»Frau Anderson, wir möchten uns gerne ein wenig in Ihrer Wohnung umsehen. Ist das für Sie in Ordnung, oder müssen wir uns dazu erst einen richterlichen Beschluss holen?«, fragte er sanft.
Die junge Frau reagierte nicht.
Breschnow setzte sich zu ihr und wiederholte leise seine Frage. Vorsichtig berührte er ihre Hand, die vor ihr, fast wie weggelegt, auf dem Küchentisch lag. Sie zuckte zusammen und sah ihn erschrocken an. Ihr Blick berührte ihn. Behutsam bat er erneut um ihre Einwilligung. Sie nickte abwesend, senkte wieder den Blick und starrte auf den Tisch.
Drass stellte sich hinter seinen Chef, beugte sich herunter und sagte leise: »Wir müssen den Notarzt rufen, sie steht unter Schock. Ich möchte mir nachher keine Vorwürfe von oben anhören müssen, falls sie zusammenklappt.«
Breschnow nickte und erhob sich langsam. Sein Blick wanderte von Cosma zu Manfred. Der Spurensicherer kniete jetzt vor dem roten Schrank, konservierte mit einem Klebeband vorsichtig den Schmutz daneben und davor und verteilte ihn in kleine Tüten.
Drass lehnte wieder an der Küchentür und telefonierte. »Schauen wir uns ein bisschen um«, sagte Breschnow und ging an ihm vorbei.
Sie betraten das geräumige Wohnzimmer. Breschnow schloss die Tür hinter seinem Kollegen.
»Wieso bist du eigentlich in der Wohnung?«, blaf fte er.
»Weil es so geregnet hat, habe ich sie nach Hause gefahren.Sie hatte ihre Schlüssel vergessen.«
»Und?«
»Sie hat mich auf einen Kaf fee eingeladen«, antwortete Drass trotzig.
»So, auf einen Kaf fee!« Breschnow zog das -ee spitz in die Länge. »Und du hast dir nichts dabei gedacht, mal eben mit einem Dietrich die Wohnungstür zu knacken und dann mit einer Zeugin, die neben der Leiche stand, alleine in ihre Wohnung zu gehen?«
»Sei doch froh! So haben wir vielleicht die Tatwaf fe!«
»Stimmt. Aber das rechtfertigt nicht dein Vorgehen. Hat sie dir den Kopf verdreht?«
Drass rollte genervt die Augen.
»Standpauke zu Ende? Können wir jetzt weitermachen?«
»Noch nicht. Wenn die Staatsanwältin erfährt, wie du das Messer gefunden hast, ist es als Beweis nicht mehr zulässig.«
»Weil ich es dorthin gelegt haben könnte?« Breschnow nickte.
»Und hast du?«, fragte er dann.
»Ist doch wohl nicht dein Ernst, oder?«
Breschnow brummte etwas Unverständliches und sah sich im Zimmer um. Es war spärlich eingerichtet, wirkte aber nicht kahl. An der rechten Wand stand ein marineblaues Sofa mit einem plüschigen Bezug. Daneben zwei weiße Bücherregale, die bis zur Decke reichten. Sie schienen extra für diesen Raum angefertigt worden zu sein. In einem kleinen Erker unter den zwei Fenstern stand der Schreibtisch. Eigentlich nur eine helle Holzplatte auf vier Beinen. Unter der Platte ein blauer Rollcontainer aus Metall. Breschnow zog sich Handschuhe an und öf fnete eine der Schubladen. Das Übliche: Schreibpapier, Briefumschläge, Klebezettel. Die nächste Lade enthielt Füller, Tintenfässchen, Füllerpatronen, Kugelschreiber und Bleistifte. In einer dritten fand er ihre Kontoauszüge. Er sah sie flüchtig durch. Keine großen Geldüberweisungen. Sie war ziemlich pleite. Auch die anderen Schubladen ergaben keine interessanten Aspekte.
Drass war mittlerweile an das zweite Regal im Raum herangetreten. Dort standen eine teure Stereoanlage von Sony und jede Menge CDs und DVDs.
»Sie hat einen ausgewählten Musikgeschmack«, stellte er bewundernd fest. »Keine Raubkopien, sofern ich das auf den ersten Blick sehen kann. Eine ordentliche Sammlung. Die war teuer!«
»Vielleicht ist sie deswegen pleite. Nach ihren Kontoauszügen zu urteilen, wird sie ein Problem haben, die nächste Miete zu zahlen«, brummte Breschnow. »Lass uns einen Blick ins Schlafzimmer werfen.«
Auf dem Weg dorthin sah Breschnow, dass der Notarzt eingetrof fen war, und stellte sich neben ihn.
»Die Frau steht unter Schock«, sagte der Mediziner. »Sie hört uns nicht und kann sich nicht bewegen. Ich werde ihr eine Beruhigungsspritze geben, damit sich der Stupor löst. Ihr müsst sie sofort in ein Krankenhaus bringen.«
»Können wir sie nicht mit ins Revier nehmen? Nach der Spritze, meine ich?«, fragte Breschnow.
Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Auf gar keinen Fall. Sie muss schleunigst in ein Krankenhaus. Wie ist sie eigentlich in diesen Zustand geraten?«
Breschnow erzählte es ihm.
»Heißt das, dass ihr sie in U‑Haft nehmen wollt?«
Breschnow nickte. »Können wir sie dann wenigstens ins Haftkrankenhaus bringen?«
»Wenn’s unbedingt sein muss«, willigte der Arzt ein und rief zwei Sanitäter in die Küche.
Breschnow drängte sich leise fluchend an ihnen vorbei. Die Ärzte im Haftkrankenhaus würden sich querstellen und ihn nicht zu ihr lassen. Er kannte das schon. Man musste betteln, drohen, reden und noch mehr reden, bis man sie manchmal von der Notwendigkeit, eine Verdächtige schnell zu vernehmen, überzeugen konnte. Durch diese Verzögerung hatte er einen wichtigen Trumpf verloren. Jetzt konnte sich die Frau genau überlegen, was sie sagen wollte.
Er musste in Ruhe nachdenken. Als er den Flur betrat, sah er die zwei Polizisten, die Cosma Anderson ins Revier fahren sollten, dort stehen.
»Was macht ihr denn noch hier?«, pflaumte er sie an.
»Wir hatten die Order, die Verdächtige ins Revier zu bringen, und warten auf einen neuen Befehl.«
Prima, dachte er, und wenn sie keine andere Order bekommen, stehen sie in fünf Jahren noch hier.
»Fahrt zurück zur Wache!«, befahl er. »Ich brauche euch hier nicht mehr. Die Sanis nehmen sie mit.«
***
Cosma spürte durch den Nebel einen fremden Mann auf sich zukommen. Den habe ich noch nie gesehen, dachte sie. Weit entfernt hörte sie eine Stimme, aber sie konnte nicht reagieren. Sie war ein Stein. Ein Stein auf ihrem Küchenstuhl. Aber was machten all diese Männer hier?
Sie senkte die Augen und starrte auf ihre Hände. Irgendwie schienen sie nicht zu ihr zu gehören. Sie konnte sie nicht bewegen, konnte auch nicht den Kopf drehen, um zu sehen, wer neben sie getreten war. Sie hörte noch mehr Stimmen. Weit weg. Jemand berührte sie, fasste sie unter das Kinn und hob ihren Kopf. Sie sah in das Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes und registrierte, dass er lächelnd auf sie einredete. Verstehen konnte sie ihn nicht. Der Mann wedelte mit einer kleinen Taschenlampe vor ihren Augen herum. Jedes Mal, wenn das Licht die Pupille traf, tat es weh. Sie wollte, dass er damit aufhörte. Dann spürte sie, dass jemand ihren Ärmel hochzog, und einen Stich.
Sie entspannte sich. Es fühlte sich gut an. Es war nun friedlich um sie herum geworden. Zwei Männer halfen ihr vom Stuhl auf. Eine Liege stand neben ihr, und sie durfte sich hinlegen.
Wie freundlich, dachte sie und schlief ein.
***
Zufrieden beobachtete er das Geschehen vor Cosmas Haus. Die Polizisten kamen und gingen, die Spurensicherung tat ihren Dienst. Dann sah er den Streifenwagen wegfahren und danach die Sanitäter. Sie bringen sie weg, dachte er. Aber wieso in einem Krankenwagen?
***
Breschnow betrat die Straße. Die kleine Gruppe der Schaulustigen vor der Tür löste sich bereits wieder auf.
Hier gibt es für die Geier nichts mehr zu holen, dachte er verstimmt, überquerte die Fahrbahn und ging den Weg am Wasser entlang. Der Regen hatte aufgehört. Kleine blaue Flecken zeigten sich am Himmel. Die Sonne stach ihm in die Augen. Er spazierte über die Brücke und holte sich am Uferpavillon eine Cola. Nach ein paar Schritten fand er eine Bank, setzte sich und starrte auf das Wasser.
Ein anonymer Anrufer. Eine junge Frau neben einer Leiche. Blutige Klamotten. Ein Messer. Und keine Zeugen. Die Verdächtige nicht ansprechbar.
Er war müde. Gerne hätte er jetzt eine Stunde geschlafen, und er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, zurück in die Wohnung zu gehen und sich dort etwas hinzulegen.
Ein Schlauchboot mit einem Mann und einem Jungen zog vorbei. Die Strömung trieb es voran. Das Kind jauchzte. Ein Rascheln lenkte ihn ab. Neben der Bank versuchte eine schwarze Amsel, ihre Beute aus der Erde zu ziehen.
Vogel und Wurm, dachte Breschnow und zog, während er den Vogel beobachtete, sein Notizheft aus der Jackentasche.
Gespannt wie ein Federstahl
der schwarze Vogel im Gras
die zarten Beine
in den Boden gestemmt
wie Säulen
Ein Schäferhund ohne Leine raste auf den Vogel zu. Die Amsel flog schimpfend davon.
Glück gehabt, dachte Breschnow und beobachtete den Wurm, der sich in die Erde zurückbohrte, bis sein Handy schrillte.
»Wo bist du?«, fragte Manfred. »Soll ich hier noch weitermachen oder ins Labor fahren?«
»Ins Labor. Aber ruf vorher deine Kollegen an. Sie sollen alles andere stehen und liegen lassen und die Wohnung auf den Kopf stellen!«
Breschnow schlenderte zurück zum Haus und sah hinauf. Drass stand am Fenster. Ihre Blicke trafen sich.
Im Treppenhaus kam ihm Manfred voll bepackt entgegen.
»Ich habe noch den Mülleimer mitgenommen. Mal sehen,ob ich Schätze f inde. Wir sehen uns später?«
Breschnow nickte.
Er ging zurück in die Wohnung. Drass stand immer noch am Wohnzimmerfenster und schien in Gedanken versunken.
»Du fährst ins Haftkrankenhaus und siehst nach, wie es der Anderson geht und wann wir sie sprechen können. Ich warte hier auf die Spurensicherung.«
Drass warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, murrte irgendetwas von »so nicht miteinander reden« und verließ den Raum.
»Und lass deinen Charme spielen!«, rief ihm Breschnow hinterher.
Er wartete auf das Klicken der sich schließenden Wohnungstür, trat hinaus in den Flur und steuerte den Schlafraum an. An die Zimmertür gelehnt, starrte er eine Weile auf das Bett, trat dann vor, ließ sich hineinfallen und schlief augenblicklich ein.
***
Als Cosma erwachte, wusste sie nicht, wo sie war, und spürte die Angst irgendwo tief in sich. Sie lag in einem weißen Zimmer in einem weißen Bett und trug ein weißes Hemd. Der Himmel!, dachte sie. Ich bin im Himmel!
Dann f iel ihr Blick auf das Gitter vor dem Fenster. Aber im Himmel würde man bestimmt nicht eingesperrt. Sie versuchte, sich aufzusetzen, hatte aber keine Kraft. Resigniert schloss sie die Augen, wollte wieder schlafen, und danach würde alles anders sein. Ein Geräusch schreckte sie auf. Jemand war ins Zimmer getreten. Sie sah ihn an. Ein Mann. Ein junger Mann. Er schien sie zu kennen. Er trat an ihr Bett und redete ernst auf sie ein.
»Cosma. Ich möchte gerne mit Ihnen reden. Es ist wichtig. Hören Sie?«
Wieder wurde die Tür geöf fnet, und eine hagere Krankenschwester betrat den Raum.
»Was zum Teufel wollen Sie denn hier?«, rief sie ärgerlich. »Raus mit Ihnen!«
Cosma versuchte, die beiden zu beobachten, aber ihr f ielen immer wieder die Augen zu. Die Stimmen entfernten sich. Sie sank zurück in den Schlaf.
Sie lief durch einen Park. Die Sonne schien. Die Vögel sangen. Ein älterer Mann ging neben ihr. Er sah etwas zerknautscht aus. Er lachte sie an. Dann wurde es dunkel. Der Mann neben ihr war verschwunden. Sie stand in einem Tunnel. Eine Ratte nagte an ihrem Turnschuh. Sie schrie.
Sie hörte, wie jemand ihren Namen rief, und spürte, wie sie vorsichtig geschüttelt wurde.
Sie stand immer noch im Tunnel. Sie hatte Angst. Die Ratte krabbelte an ihrem Hosenbein hoch. Dino stand neben ihr und ergrif f die Ratte. Er lachte und holte zum Schlag aus. Sie hörte einen Schrei.
Jemand hob sie abrupt aus dem Kissen. Sie saß, konnte aber die Augen nicht öf fnen. Der Tunnel war weg. Die Hände, die sie hielten, waren warm. Dann wurde es wieder schwarz um sie herum.
Drass stand im Flur vor dem Krankenzimmer und ärgerte sich über die Schwester, die ihn rausgeschmissen hatte. Er hätte die Anderson befragen können. Sie hatte ihn doch angesehen. Nervös lief er vor der Tür auf und ab.
Sie hatte ihm gefallen, und er war gerne ihrer Einladung gefolgt. Eine Verdächtige hatte er in ihr nicht gesehen. Aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Vielleicht simulierte sie nur, um Zeit zu gewinnen, und die naiven Ärzte f ielen wie immer darauf rein.
Die Krankenschwester kam aus dem Zimmer und sah ihn wütend an. »Sie sind ja immer noch hier! Warten wohl, bis ich weg bin, um sich dann wieder hineinzuschleichen. Das können Sie sich abschminken. Ich habe der Patientin noch eine Spritze gegeben. Sie wird jetzt erst einmal ein paar Stunden schlafen. Morgen früh können Sie wiederkommen. Heute läuft nichts mehr.«
»Aber …«, versuchte Drass zu intervenieren.
»Nix und Schluss!«, bellte die Schwester.
Drass salutierte: »Jawohl, Frau General.«
Er drehte sich schnell um und eilte mit großen Schritten den Gang entlang. An der Tür blieb er stehen und sah noch einmal zurück. Die Krankenschwester sah ihm schmunzelnd hinterher. Wahrscheinlich war sie froh, ihn so einfach abgeschüttelt zu haben.
***
Hartnäckiges Klingeln riss ihn aus dem Schlaf. Breschnow sah sich benommen um, fluchte leise und schlurfte zur Wohnungstür. Es klingelte weiterhin Sturm. Er riss die Tür auf, aber im Flur war niemand. Das Klingeln schwoll an zum nervigen Dauerton, und sein Handy gesellte sich dazu. Als er endlich begrif f und den Haustüröf fner drückte, verstummten beide Klingeltöne abrupt, und er atmete erleichtert auf.
»Dritter Stock«, rief er ins Treppenhaus hinunter.
Kurz danach kamen zwei Kriminaltechniker laut schnaufend und schwer bepackt die Treppe hinauf.
»Dass es in diesen alten Häusern keine Aufzüge gibt, f inde ich absolut scheiße. Wir müssen gleich noch einmal runter und den Rest der Sachen holen«, murrte der dickere von ihnen.
Sie stellten die erste Ladung in dem kleinen Flur ab, und Breschnow sah ihnen nach, wie sie die Treppe wieder hinabstiegen. Obwohl er nun schon seit fast fünfzehn Jahren bei der Mordkommission arbeitete, war er immer wieder überrascht, wie viel Technik man für eine Spurensicherung benötigte. Sicherlich hatte sich in den Jahren die Arbeit enorm verbessert, aber brauchte man dazu immer dieses ganze Hightechzeug?
Die beiden Männer kamen zurück und stellten auch den Rest ihrer Ausrüstung in den Flur.
»Was suchen wir, und wo sollen wir anfangen?«, fragte einer von ihnen keuchend.
»Am besten im Schlafzimmer. Reißt mir vorher noch ein paar Haare vom Kopf und zupft ein paar Fasern von meinen Sachen«, brummte Breschnow. »Ich bin nämlich auf dem Bett eingepennt. Ihr werdet Spuren von mir f inden.«
Er überging die Empörung der beiden und wusste, dass diese Geschichte heute Abend die Runde machen würde.
»Die Frau, die hier lebt, ist die aus dem Tunnel«, erklärte er. »In ihrer Küche haben wir ein blutiges Messer sichergestellt. Schaut nach, ob ihr noch weitere Blutspuren f indet. Und nehmt nachher etwas mit, das ihr mit den Klamotten aus dem Park vergleichen könnt. Vielleicht waren es ja ihre Sachen.«
Die Spurensicherer nickten und machten sich schweigend an die Arbeit. Er sah ihnen noch eine Weile zu, bevor er die Wohnung verließ.
Im Treppenhaus klingelte sein Handy.
»Sie lassen mich nicht zu ihr. Morgen früh vielleicht.«
»Ich habe nichts anderes erwartet. Dann tref fen wir uns um acht am Krankenhaus.«
Am anderen Ende wurde geschwiegen. Breschnow nahm den Apparat vom Ohr und betrachtete das Display. Der Empfang war hervorragend. Ein Räuspern drang aus dem Lautsprecher.
»Meinst du, sie war es?«, fragte Drass zögernd.
»Vielleicht?«
»Rufst du mich an, falls Manfred heute noch irgendetwas herausbekommt?«
Breschnow versprach es und beendete das Gespräch.
Sie hat es dir angetan, dachte er und stieg die letzten Stufen hinab. Draußen blieb er unschlüssig stehen, sah noch einmal am Haus empor und dann auf den Kanal und fragte sich, ob er gleich zu Manfred in die Kriminaltechnik oder erst zurück in den Park fahren sollte. Er entschied sich für den Park.
***
In der Hasenheide war wieder Normalität eingekehrt. Die Sonnenstrahlen hatten die Menschen zurück an die frische Luft gelockt. Nun saßen sie auf den Bänken, redeten und lachten, und die Kinder tollten auf den Wiesen herum.
Sonntagnachmittag, dachte Breschnow ein wenig wehmütig. Auch er war manchmal mit seinen Freundinnen hierhergekommen, hatte ihnen Gedichte vorgelesen von Sylvia Plath und manchmal auch von sich. Frisch verliebt und kopflos. Damals, als dieses Gefühl noch wichtiger gewesen war als sein Job, damals als er noch geglaubt hatte, sich entscheiden zu können zwischen der Lyrik oder der Polizei.
Er musste eine Weile suchen, bevor er Delego und Subat fand. Wahrscheinlich war er bereits mehrere Male an ihnen vorbeigegangen, denn sie traten plötzlich aus einem Gebüsch hervor.
»Hallo Breschnow!«, grüßte ihn Delego.
»Du strahlst ja so«, stellte er fest.
»Klar, habe grade im Busch einen Joint geraucht«, lachte sie.
Subat sah sie grimmig an.
»Wir haben endlich jemanden gefunden, der mit uns geredet hat«, erklärte sie. »Er wollte natürlich nicht gesehen werden. Nach dem Gespräch ist er dann in die andere Richtung verschwunden.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Breschnow neugierig.
»Er selber hat nichts gesehen, behauptet, ein anderes Schlafplätzchen gehabt zu haben. Aber seine Kumpel haben sich heute Morgen bei ihm ausgeheult. Sie haben im Tunnel übernachtet und sind wach geworden, weil zwei Männer sich heftig gestritten haben. Als einer dann am Boden lag, haben sie sich lieber aus dem Staub gemacht«, antwortete Delego.
»Konnten sie jemanden erkennen?«
»Nein, natürlich nicht. Die Penner waren breit wie die Haubitzen«, sagte Subat.
»Wo können wir den Mann f inden?«
»Wir tref fen ihn in einer Stunde am U‑Bahnhof Südstern. Da kennt ihn keiner.«
»Hof fentlich kommt er«, wünschte sich Breschnow laut. »Am besten, ihr hättet ihn gleich mitgenommen!«
»Dann hätte er aber nicht mit uns geredet, und ich denke, er wird kommen«, sagte Delego zuversichtlich, »wir haben ihm zwei Flaschen Schnaps versprochen, und er sah nicht so aus, als würde er sich so ein Angebot entgehen lassen.«
Breschnow grinste. »Gut, lassen wir uns überraschen. Ich brauche jetzt erst einmal etwas zwischen die Zähne. Wo ist der nächste Imbiss?«
»Da hinten an der Ecke«, antwortete Subat. »Ich schließe mich an.«
Die drei gingen zu dem kleinen Imbisswagen am Parkrand.
Subat voran, Breschnow und Delego blieben etwas zurück.
»Wie ist es euch sonst ergangen?«
»Frag lieber nicht«, seufzte sie und verdrehte die Augen. »Wir mussten uns viel Scheiße anhören, und Subat ist einmal fast ausgeflippt. Er war nah dran, den Kerl zu schlagen. Das war aber auch ein Arschloch. Kam aus den Anzüglichkeiten und Beschimpfungen gar nicht mehr raus und f ing am Schluss an zu rempeln. Ich bin dann dazwischen. Das hat zum Glück geholfen.«
Breschnow sah nach vorne und musterte Subat nachdenklich. Es war nicht das erste Mal, dass sein Kollege fast die Kontrolle über sich verloren hatte. Er wollte schon seit Wochen mit ihm reden, hatte es aber immer wieder verschoben.
Am Imbiss herrschte reges Leben. Einige Punks saßen mit ihren Hunden auf dem Boden und knabberten an ihren Würstchen. Die Betrunkenen standen mit den Flaschen in der Hand um den Wagen herum. Es roch nach Alkohol und altem Frittierfett.
»Mach doch mal Platz!«, brüllte die dicke Wirtin.
Ihr Kittel war über ihrem prallen Bauch mit Fett und Ketchup verschmiert.
»Lass doch mal die Herrschaften durch.«
Die Männer gehorchten und bildeten eine schmale Schneise. Breschnow zwängte sich hindurch und bestellte dreimal Currywurst mit Pommes und drei Cola.
Nach einer zweiten Runde Pommes und Currywurst, die sie zur Hälfte an die Hunde der Punks verfüttert hatten, schmiss Breschnow eine Runde. Aber weder die Punks noch die Obdachlosen waren gestern Nacht im Tunnel gewesen.
Schweigend machte sich die kleine Gruppe auf den Weg zum U‑Bahnhof. Breschnow voran. Er wollte noch einmal durch den Tunnel gehen.
Die Schaulustigen von vorhin waren verschwunden. Hier gab es, außer dem Absperrband, nichts mehr zu sehen. Auch die Polizisten zur Sicherung des Tatortes waren bereits abgezogen worden, was Breschnow wunderte. Die drei stiegen über die Absperrung und gingen langsam weiter. Ein Geräusch weckte ihre Aufmerksamkeit. Hinten im Dämmerlicht des Tunnels entdeckten sie schemenhaft eine Figur.
»Sehen Sie nicht, dass hier abgesperrt ist?«, blaf fte Breschnow. Die Person drehte sich um. Es war ein älterer Mann mit einem großen Regenschirm. Breschnow hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Der Mann drehte sich erschrocken um.
»Oh, tut mir leid. Ich habe gehört, dass etwas im Tunnel passiert ist, und ich bin so neugierig. Ist wohl das Alter«, sagte er verlegen und blickte zu Boden. Sein Gesicht war leicht gerötet.
»Ist schon gut«, lenkte Delego ein.
Breschnow grübelte noch, als Subat ihn mit einer Frage ablenkte. Delego ging zu dem Alten und bat ihn um die Personalien. Der Mann durchsuchte seine Taschen und kramte einen verknitterten, altertümlichen Ausweis hervor.
»Ich fürchte, er ist schon abgelaufen. Muss ich jetzt Strafe zahlen?« Seine Stimme zitterte.
Breschnow seufzte. Er wollte weiter, bat Subat, die Personalien überprüfen zu lassen, und sah den Alten noch einmal an.
Sein Äußeres passt nicht zu seinem Verhalten, dachte er, aber bevor er den Eindruck richtig zu fassen bekam, schob ihn Delego in Richtung Tunnelausgang und mahnte ihn zur Eile.
Der Gedanke verflüchtigte sich.
***
Drass raste nun schon zum zweiten Mal die Avus entlang. Er brauchte Bewegung und Abstand zwischen der Begegnung mit Cosma Anderson und dem blutigen Messer. Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Seit Langem gef iel ihm mal wieder eine Frau, irgendwie fühlte er sich von ihrer leicht kühlen und schrof fen Art angezogen. Und sie ließ sich nicht alles gefallen. Anders als die Mädchen aus seinem Bekanntenkreis. Die hatten nur wenig anderes im Sinn als ihre Schönheit und verbrachten die Tage vor den Spiegeln zu Hause oder in den Geschäften. Lange war er damit zufrieden gewesen, hatte die Attraktivität der Frauen genossen und sich von ihnen anhimmeln lasen. Aber jetzt reichte ihm das nicht mehr.
Die berufliche Unzufriedenheit und der bohrende Zweifel, ob der Job noch zu ihm passte, hatten sich auch auf sein Privatleben ausgewirkt, und der einzige Freund, den er hatte, flog heute zu einem Auslandseinsatz nach Afghanistan.
Er beschleunigte noch einmal und flog dahin. Die Geschwindigkeit tat gut.
Dann sah er das Blaulicht hinter ihm, fluchte und fuhr rechts ran.
***
Sie erreichten den U‑Bahnhof Südstern, als es bereits dämmerte. Breschnow war überrascht, wie spät es schon war. Die langen Sommertage brachten sein ohnehin schlechtes Zeitgefühl durcheinander.
Sie betraten das fast menschenleere Gebäude und stiegen die Treppen zu den Bahnsteigen hinab. Der Mann war nirgends zu sehen. Ein Zug fuhr ein. Nur wenige Leute stiegen aus. Der Mann war nicht dabei. Sie setzten sich auf eine Bank und warteten schweigend. Ein weiterer Zug fuhr ein. Der Mann war wieder nicht dabei. Breschnow f ielen die Augen zu.
Nach einem kurzen Sekundenschlaf zuckte er zusammen und sprang auf.
»Ich habe Besseres zu tun, als meine Zeit hier auf diesem blöden Bahnsteig zu verbringen und auf diesen Penner zu warten. Bringt ihn doch einfach aufs Revier, falls er heute noch kommen sollte.«
»Wenn du etwas von ihm wissen willst, wirst du wohl hierbleiben müssen. Im Revier wird er nichts sagen«, entgegnete Delego ruhig.
Mittlerweile war auch Subat angekommen. »Seid ihr schon durch, oder ist er noch nicht da?«, fragte er.
»Letzteres!«, knurrte Breschnow. »Was ist mit dem Alten?«
»Die Daten, die er mir gegeben hat, sind in Ordnung. Keine Einträge.«
Subat setzte sich zu ihnen auf die Bank, und sie warteten schweigend. Plötzlich hörten sie Geschrei. Subat sprang auf und lief zur Treppe. Oben stand der Mann, den sie tref fen wollten, aber zwei Sicherheitsleute hinderten ihn daran, den Bahnsteig zu betreten. Subat rannte die Treppe hinauf und zeigte ihnen seinen Dienstausweis.
»Lasst ihn los. Der Mann ist mit mir verabredet.«
Die Sicherheitsleute nickten, hielten den Mann aber weiterhin fest.
»Eigentlich lassen wir hier keine Penner mehr rein und erst recht nicht ohne Fahrschein.«
»Soll ich ihm jetzt etwa ein Ticket kaufen?«
Subat schob den Wachmann grob zur Seite und nahm den Zeugen fest am Oberarm. Hastig führte er ihn die Stufen hinab. Am liebsten hätte er sich mit der anderen Hand die Nase zugehalten. Die Wachleute schimpften hinter ihm her.
Delego und Breschnow standen am Treppenabsatz. Subat ließ den Obdachlosen los und ging auf Abstand.
»Wo is mene Belohnung?«, grinste der Mann und entblößte eine Reihe schwarzer, fauler Zähne.
»Die gibt es später«, versprach Delego. Sie zeigte ihm die Plastiktüte und ließ die Flaschen darin aneinanderstoßen.
»Du warst also nicht im Tunnel letzte Nacht?«, begann Breschnow.
»Nee. Ick hatte ne Pension, mit Bett und so. En Kumpel hat mir senen Schlafplatz abjetreten. Aber die andern warn im Tunnel. Es hat doch wie blöd jerechnet. Da ist der Tunnel prima. Trocken und so.«
»Und deine Kumpel haben dir was erzählt?«
»Also der von de Pension kam heute Morjen wieder und feixte, det mene Kumpel heute Nacht alle nass jeworden sind. Warum, hab ick ihn jefracht. Die waren doch jestern noch im Tunnel. Aber heute Nacht ham se da jemanden abjestochen. Da sinn se alle abjehauen, hat er jesacht.«
Der Mann stockte und sah sehnsüchtig auf die Plastiktüten in Delegos Hand. Sie ließ sie noch einmal leise klirren.
»Und weiter?«, drängelte Breschnow.
»Na ja. Ick bin dann los und hab se jesucht. Der Tunnel war ja jesperrt«, sagte er fast vorwurfsvoll.
»Also hab ick weiterjesucht. Man hat ja so seine Ecken. Zwee habe ick aufm Klo im Park jefunden. Sie haben noch jepennt. Als ick se wachjerüttelt hab, ham se sich bei mir ausjeheult. Schiss hatten se. Sie haben jesacht, dass es einen Riesenkrach jegeben hat und zwei Männer im Tunnel aufeinander losjegangen sind. Davon sind se wach jeworden. Ener hat’n Messer jezogn, und meine Kumpel sin abjehauen, als et jing.«
Breschnow sah Delego an.
»Konnten deine Kumpel die Männer beschreiben?«, fuhr er fort.
»Nee, war viel zu kurz. Außerdem ham se sich fast in die Hose jemacht. Hat man doch schon oft jehört, dass unsereins einfach abjestochen wird.«
Breschnow nickte.
»Wo kann ich deine Kumpel f inden?«
»Wes ick doch nich! Die melden sich doch nich bei mir ab.«
»Und dich? Wo können wir dich f inden, falls wir noch Fragen haben?«
»Im Tunnel, wenn der wieder uf f iss. Oder auf de Wiese beim Kiosk. Im Sommer bin ick immer im Park.«
Delego gab ihm die Tüte. Zufrieden zog der Obdachlose ab.
Sein Abend war gerettet.
»Viel war das ja nicht«, stellte Breschnow unzufrieden fest. »Ihr werdet noch ein bisschen laufen müssen und die Obdachlosen suchen, die wirklich dabei waren.«
Er sah in zwei missmutige Gesichter und fuhr fort.
»Aber für heute ist Schluss. Wir tref fen uns morgen um elf zur Lagebesprechung.«
»Okay!«, antworteten Delego und Subat im Chor.
Breschnow lächelte. »Ab mit euch!«
Die beiden hasteten davon. Breschnow sah auf die Bahnhofsuhr. Delego würde noch rechtzeitig zu ihrer Lieblingsserie zu Hause sein. Und morgen würde sie ihm, ob er wollte oder nicht, das Neuste von Lieutenant Anita van Buren und der Gerichtsmedizinerin berichten. Aber solange sie nicht Schein und Realität verwechselte, war ihm ihre Leidenschaft für Law and Order egal.
Er blieb noch eine Weile sitzen und sah gedankenverloren den ein- und ausfahrenden Zügen hinterher. Ein Satz nahm in seinem Kopf Gestalt an. Er zog den Notizblock aus der Tasche und schrieb ihn auf.
Im Krebsgang rückwärts, anachron, atonal …?
Vielleicht würde er nachher daran weiterarbeiten. Eine junge Frau mit großen Löchern in ihrer verwaschenen Jeans setzte sich zu ihm auf die Bank. Er spürte, dass sie ihn ansah.
Zeit zu gehen, dachte er und verließ den Bahnsteig. Mittlerweile war es dunkel geworden. Er überlegte kurz, ob er ein Taxi zu seinem Auto nehmen sollte, entschied sich aber dagegen. Ein kleiner Abendspaziergang würde ihm guttun.
Der breite Weg in der Hasenheide war nur spärlich beleuchtet, warmes Licht f iel auf die grauen Steine. Er dachte an Frankreich, an einen Urlaub, den er schreibend und trinkend auf dem Balkon einer kleinen Pension verbracht hatte. Die Luft war feucht und frisch gewesen, genauso wie jetzt.
Einzelne Spaziergänger kamen ihm entgegen, gut gelaunte Menschen, Paare, Hand in Hand, Leute mit Hunden, die nicht angeleint waren. Zwei Frauen trugen eine Katze spazieren. Das Tier maunzte leise. Ein Radfahrer beschallte die Gegend mit seinem kleinen Radio, das an der Lenkstange hing. Die Wiesen waren jetzt leer und die Dealer hatten wieder ihre Plätze eingenommen.
Breschnow genoss die abendliche Stimmung, ließ sich auf einer Bank nieder, dachte an den Vogel und den Regenwurm und zückte sein Notizheft. Er hatte Zeit. Zu Hause erwartete ihn nichts.
wie sein Gef ieder glänzt …
sein Auge kalt und hart
bohrt sich hinab
und dann blitzschnell
Sprung, Hieb, Stich