Читать книгу Maria Rosenblatt - Corinna T. Sievers - Страница 4
ОглавлениеDunkelheit hinter den Lidern, die Hand auf dem Oberschenkel des schlafenden Mannes.
Sie lag seit einer Stunde wach. Zeit aufzustehen, sie erhob sich, schlich zur Badezimmertür, drückte die Klinke herab, schaltete das Licht an.
Vor dem Spiegel. Augen groß und schwarz und bodenlos, die Oberlippe voll und geschwungen, Entschädigung für den Höcker auf der Nase, im Gesicht eine Falte, von der linken Augenbraue bis zum Haaransatz.
Sie stellte den Wasserhahn an, der Strahl hart und kalt, massierte ihre Stirn, die Falte blieb, jeden Morgen ein paar Minuten länger.
Sie griff in die Schublade, fuhr mit der Bürste durch das Haar, warf es zurück, nahm den Mascara, tuschte die Wimpern, dreimal, viermal, bis sie tiefschwarz waren, lang wie Spinnenbeine.
Nebenan im Ankleidezimmer schlüpfte sie in ein Höschen, neu und aus roter Spitze. Hannes würde es nicht bemerken, er hat aufgehört, auf ihre Signale zu achten.
Sie zog den Morgenmantel über, Samt, sein Rot etwas tiefer als das des Höschens, der Gürtel verknotet an ihrer schmalen Taille. Aus dem Schlafzimmer Hannes’ Schnarchen, zwei Bier am Abend und seine Zunge sinkt in den Rachen, das pfeifende Luftholen. Manchmal wünscht sie sich, es bliebe aus, doch es kommt, sieben Mal pro Minute, vierhundertzwanzig Mal pro Stunde, dreitausenddreihundertsechzig Mal pro Nacht.
Maria schloss die Tür, wandte sich um, betrat das Zimmer der Kinder, blieb vor dem Bett stehen, beugte sich über die Schlafenden, sog die Luft ein. Das Mädchen roch nach Schokolade, der Junge nach Lakritze; sie schliefen auf einer Matratze, im Traum zusammengerückt.
In zehn Minuten würde sie den Jungen aus dem Bett heben, ihn schlafend ins Badezimmer tragen, bereitmachen für den Tag. Das ist sein Privileg, sie nimmt ihm das Aufstehen ab. Er ist acht.
Sie liebkoste ihn, bewunderte seine kleinen Ohren, die runde Nase, seine Schönheit. Langsam wurde er wach, neugierig auf den Tag, und Maria dachte: Lieber Gott, mach, dass er ein gutes Leben hat.
Wenn er auf den Weg gebracht ist, mit seinem großen Schulranzen auf die Straße getreten, kommt das Mädchen an die Reihe, es hüpft aus dem Bett, ist fünf und geht noch in den Kindergarten, das Haar zu Zöpfen geflochten, es will von Prinzessinnen und Prinzen hören und ob es auch einen bekäme, wenn es groß ist; natürlich, Kind, einen Prinzen, wie Papa einer ist.
Dann steht Hannes auf, ein wenig gekrümmt schon, die Konturen verwaschen, die Haut hat begonnen, sich von dem darunterliegenden Bindegewebe zu lösen. Sein Geschlecht ist groß, was sie früher erregt hat; wenn sie masturbiert, denkt sie noch immer daran. Indessen hat es seinen Betrieb eingestellt.
Maria ging in die Küche, entzündete ein Streichholz, hielt es an die Kerze auf dem Küchentisch, stellte das Radio an, Händel, dann die Kaffeemaschine.
Es gibt Tage, da hindert ihre Wehmut sie am Gehen, am Essen, am Atmen, plötzlich war sie da und hat sich nicht mehr vertreiben lassen. Als Maria bewusst wurde, wann Hannes das letzte Mal mit ihr geschlafen hatte – bei der Zeugung ihrer Tochter –, wich die Leichtigkeit aus ihrem Leben; sie fühlte sich ausgeblutet.
Sie bereitete das Frühstück der Kinder, Marmeladenbrötchen, heißer Kakao, im Radio beklagte Alcina den Verlust ihrer einzigen Liebe Ruggiero, wenigstens liebt Alcina, dachte Maria, was ist größeres Leid, wahnsinnig zu werden aus Liebe oder weil es sie nicht gibt?
Die Kinder waren aus dem Haus, Hannes am Frühstückstisch, er hatte die Zeitung entfaltet. Er schätzt es, wenn sie unberührt ist, Maria vermeidet, sie aufzuschlagen, bevor er es getan hat. Einmal, im Sommer, hatte ein Vogel auf die erste Seite geschissen, er mochte auf dem Briefkasten gesessen und gesungen haben, ehe er sein Geschäft machte, Hannes weigerte sich, die Zeitung anzufassen, Maria entfernte den Fleck mit bloßen Händen.
Jetzt trank er seinen Kaffee in kleinen Schlucken, Maria schob die Hand unter seine, er blickte auf und nickte. Maria blieb sitzen, wartete, dass er begänne, sie zu streicheln, aber Hannes’ Hand lag da wie ein toter Vogel, mit einem Ruck zog Maria den Arm fort.
Hannes griff mit der befreiten Hand nach seiner Tasse, Maria erhob sich und stieg die Treppe hinauf ins Bad, ihres getrennt von seinem.
Sie schlang das Haar zu einem Knoten, frische Kleidung hatte sie am Vorabend bereitgelegt, den roten BH, der ihren kleinen Brüsten Fülle gab, ein kurzes, tief ausgeschnittenes Kleid aus violettem Samt, darunter blickdichte Strümpfe. Für den Fall, dass der neue Staatsanwalt sich vorstellen würde: ins Köfferchen eine weiße, hochgeschlossene Bluse, einen dunkelblauen Rock, der über die Knie reichte.
Es wurde Zeit zu gehen, doch vorher noch einen Walzer auf dem Klavier, sie setzte sich an den Flügel, schlug das Notenheft auf, begann zu spielen, Chopin, Valse in cis-Moll, der Lack an ihren Fingernägeln glänzte matt.
Der letzte Akkord cis-Moll, aber Maria spielte ein Eis statt eines Es, ließ den Walzer in Dur enden statt in Moll, hinunter in die Küche, Hannes über das lichte Haar fahren, der war noch immer über seine Zeitung gebeugt. Maria: Sie müsse gehen.
Hannes begann, die Zeitung zusammenzufalten und glatt zu streichen, und wieder das alte Thema: Er sähe es lieber, wenn sie zuhause bliebe, er habe genug geschafft in seinem Leben für die Familie, sie haben doch alles, was man braucht. Maria: »Ich brauche die Welt da draußen«, in Gedanken: In Wirklichkeit bin ich auf der Flucht, ich weiß nur nicht, wovor. Hannes erwiderte, sie arbeite sich noch zu Tode, etwas stimme nicht mit ihrer work-life-balance. Selbst an den schönsten Stränden der Welt renne sie stundenlang und liege hinterher halbtot auf dem Rücken im Sand. Maria zu sich: Zwischen meinen Brüsten ein winziger See von Schweiß, aber das siehst du nicht, zu Hannes sagte sie: »Eher mit meiner work-love-balance«, sie betonte das Wort love, damit Hannes der Sinn nicht entginge, doch der hatte ohnehin verstanden, er ist ein aufmerksamer Zuhörer.
Im Flur standen ihre Stiefel, fünf Paar nebeneinander, Brauntöne von Haselnuss bis zu dunkler Schokolade, sie stieg in die kniehohen und nahm ihre Aktentasche, auch davon besaß sie fünf in zugehörigem Ton. Sah nach in der Tasche, ob die Mappe da war, Kinderpornographie im Internet, die hatte sie am Vorabend noch einmal durchsehen wollen. Aber sie war eingeschlafen zwischen Heinrich und Elisabeth, und als sie gegen halb zwölf aufwachte, zog sie um in das Ehebett. Hannes, mit einem Kissen im Rücken, Schopenhauer vor der Nase, seinem Bruder im Geiste, wie er sagte, warf Maria einen Blick zu, er habe schon gedacht, sie käme nicht mehr. Maria wusste nicht, was antworten, sie legte die Akte in ihren Schoss und begann zu blättern.
Erst gestern hatte sie den Fall an sich gezogen, den Oberstaatsanwalt bedrängt, das sei Frauensache, auf seine Nachfrage, wie sie darauf käme, sagte sie, die Opfer seien fast ausschließlich Mädchen. Der Oberstaatsanwalt hatte mit den Schultern gezuckt, das nenne er weibliche Logik.
Das erzählte sie Hannes, ohne ihn anzugucken, Hannes entgegnete: Sie habe ein Herz für Kinder, das sei schön, aber ihre eigenen könnten auch etwas Zuwendung gebrauchen, besonders tagsüber, nachts hätten sie wenig davon, wenn sie neben ihnen schliefe.
Daraufhin hatte er das Licht gelöscht.
Draußen war es kalt, sehr kalt selbst für Dezember, im Radio sagten sie, die globale Erwärmung lege eine Pause ein. Maria beschloss, einen Spaziergang durch ihren Garten zu machen, groß und gepflegt von einem Heer von Gärtnern, Portugiesen, Brasilianer, gelegentlich Serben, die im Frühjahr anrücken, Wipfel erklimmen, den Nussbaum stutzen, Unkraut zupfen, ohne sich je aufzurichten. Die harte Arbeit hat ihre Körper gestählt, Maria bewundert ihre Schönheit und Körperlichkeit.
Sie trat an das Gehege, der Zaun mannshoch, es gab einen Fuchs, dahinter auf der verschneiten Wiese drei weiße Hühner, Hannes will jeden Morgen ein frisch gelegtes Ei.
Die Hennen standen reglos, Maria steckte die Finger durch die Maschen: »Was ist los mit euch«, sie hatte ihnen ein paar Krümel von Hannes’ Frühstücksbrot mitgebracht, sie selbst frühstückt nie. Eine Frau kann nie dünn genug sein, merkt euch das! Sie ließ die Krumen fallen, zog die Hand zurück, die Fingerkuppen weiß vor Kälte: Sie sehe schon, ihnen fehle ein Hahn, den schenke sie ihnen zu Weihnachten, einen ganz prächtigen, bunten. Sie flüsterte nicht mehr, sie rief, ihre Stimmungen wechseln plötzlich: »Der euch jeden Tag fickt, alle drei!«
Ihr Blick ging zum Küchenfenster, aber es war geschlossen, im Winter hält Hannes alles verriegelt, auch wenn Maria einwendet, daran zu ersticken.
Sie sah auf die Uhr, fünf nach neun, die Sandwiches für den Lunch! Eilig lief sie zum Auto, ein Mercedes Coupé CLS, das aktuelle Modell, Hannes pflegt die Wagen häufiger zu wechseln als sein Eau de Toilette, das ist Maria nicht unrecht, sie mag den Geruch neuer Autos, er erregt sie, möglicherweise ein lange zurückliegendes Erlebnis auf der Hinterbank eines Neuwagens ihrer Eltern.
Sie warf ihre Aktentasche auf den Beifahrersitz, sich anzuschnallen hält sie nicht für nötig, sie ist Kommissarin bei der Stadtpolizei.
Eine Fahrt von fünfzehn Minuten, vorbei an feudalen Anwesen, wenige so groß wie ihr eigenes, der Flecken, auf dem die Hennen picken, ist ein Vermögen wert, es ist eine goldene Küste.
In der Stadt ist wieder die Hölle los, in wenigen Tagen Weihnachten, die Straße führt am Fluss entlang. In Pelz gekleidete Mütter, beladen mit Paketen, hier spart man nicht am Glück der Kinder, man kauft es ihnen, Berge von Glück. Dass sie noch nichts für Elisabeth und Heinrich habe, dachte Maria, womit spielt man mit fünf, mit acht Jahren, sie würde das Kindermädchen einkaufen schicken.
An der Ampel wartete ein Mann im Anzug, zwei Geschenke, in goldenes Papier gewickelt, von gleicher Größe und Form, unter die Arme geklemmt, eins für die Ehefrau, eins für die Geliebte. Einige von Marias Nachbarinnen teilen sich den Mann, dass Hannes sie betrügt, unmöglich, sie traut es ihm nicht zu.
Sie fand einen Parkplatz am Münster, vergaß den Parkschein. Hannes hätte kein Verständnis für solche Nachlässigkeiten, sie sei eine Hüterin des Gesetzes.
Den Poncho über die Schultern gelegt, der Hals frei, das Dekolleté tief, Sohlen aus Leder, ein federleichtes Geschöpf, sie eilte zur Bahnhofstraße, rutschte auf dem nassen Pflaster aus, fing sich wieder. Sie verabscheut Schuhe mit Gummisohlen und Profil, dafür werden ab November ihre Füße gefühllos und bleiben es bis März, sie strauchelt häufig.
Die Bar der Crédit Suisse gegenüber ist bekannt für ihren Kaffee, der teuerste Kopi Luwak, seine Bohnen haben den Verdauungstrakt der Zibetkatze passiert, die Tasse für dreiundfünfzig Franken. Drinnen fast nur Männer, Ärzte, Anwälte, Banker, der Geruch von nassen Mänteln, getoastetem Brot. Maria erkämpfte sich einen Platz am Tresen, neben ihr ein fideler Dicker, Mitte fünfzig, für einen Wochentag elegant gekleidet, Maßanzug, Fliege, er nickte.
Plötzlich überfiel sie der Wunsch zu bleiben. Zu vergessen, dass sie fünfundvierzig ist und verheiratet, Kinder hat, ein öffentliches Amt bekleidet.
Sie kam an die Reihe, ihre Bestellung: acht Sandwiches mit Roastbeef, schwedischem Lachs oder Roquefort, einhunderteinundachtzig Franken für das Wohlwollen der Kollegen.
Sie zahlte bar. Hannes prüft die Kreditkartenabrechnungen, er wäre entgeistert, dass das Roastbeef vom Koberind im Magen einer Schreibkraft landete.
Auf ihrer Schulter plötzlich eine Hand, der Dicke, von nahem sah sie, dass er schwitzte.
Er zeigte auf die Tüte: »Großen Hunger heute?«
Maria: »Damit füttere ich meine Männer.«
Der Dicke: »Sie machen mich eifersüchtig.«
Ihre Blicke scharf aufeinandergerichtet, Verlangen in seinen Augen und auf seinen Lippen.
Sie schob sich rückwärts zum Ausgang.
Die Tür zur Bar schloss sich, schnitt die Stimmen ab. Es hatte begonnen zu schneien, Stille, als habe jemand eine Decke über den Asphalt gebreitet. Maria erregt, sie hob den Poncho, als müsse sie ihren Unterleib kühlen, bis die Straßenbahn kam und sie aus dem Weg klingelte. Ein Satz zurück, sie begann zu laufen, beim Zunfthaus um die Ecke, geriet in Schieflage, ruderte mit den Armen, stürzte auf das Pflaster, die Tasche mit den Broten unter sich begraben.
Dann kehrten die Geräusche zurück, ein Schmerz in Hüfte und Arm, Tränen, die den Lidstrich verschmierten, Marias erster Gedanke: Ob sie einen Kajalstift dabeihabe, sie holte Luft, stützte den Arm auf das Pflaster, ihr Becken hielt.
Eine Stimme sagte: »Ganz vorsichtig«, sie werden es jetzt zusammen probieren, auf drei. Der Befehl kam von hinten, kraftvoll wie die Hand, die Marias Arm ergriff, eins, zwei, drei.
Sie wurde auf die Beine gestellt, hielt die Augen geschlossen, die Schmach, gestürzt zu sein, war groß.
Bitte, sie solle ihn ansehen.
Als sie die Augen öffnete: Ein Schal aus grauer Seide, ein Mantel aus braunem Kaschmir, der Fremde über eins neunzig, mit der weichen Stimme eines Bassbaritons, sie müsse ihren Poncho ausziehen, er sei ja ganz nass.
Maria gehorchte, ließ ihn sich abnehmen und sich in einen langen, großen Herrenmantel hüllen, in die Wärme und den Geruch eines Unbekannten.
Der Mann beugte sich zu Boden, reichte Maria die Tüte, verneigte sich, kein »Auf Wiedersehen«. Er wandte sich ab und schritt davon, über dem Unterarm Marias schmutzigen Poncho, der Schnee fiel dicht, der Mann verschwand im Gestöber, Maria zweifelte an ihrer Wahrnehmung, möglicherweise hatte es sich um einen Engel gehandelt, Augen blau, dunkles Haar, die Stimme aus Samt.
Sein Mantel reichte ihr bis zum Boden. Sie fuhr in die Taschen, rechts ein gebügeltes Taschentuch, links eine Schachtel Zündhölzer, Maria streckte den Arm, las im funkelnden Licht der Weihnachtsbeleuchtung: Vogelnest, darunter: Club im Niederdorf, vielleicht sein Stammlokal.
Einen Moment stand sie verloren, dann schlug es halb elf von St. Peter: Die Kollegen! Sie würden sich das Maul zerreißen über ihre unpünktliche Vorgesetzte. Maria raffte den Saum und eilte davon.
Die Polizei war in einem historischen Gebäude untergebracht, hinter Säulen, Bögen und Schmiedeeisen Marias Amtszimmer zum Fluss hin nach Osten.
Sie betrat das Büro, an seinem Schreibtisch saß Detlef, ihr Stellvertreter, leptosome Gestalt, helle Wimpern über wasserblauen Augen, deutscher Herkunft, wie Maria mit dreizehn oder vierzehn in die Schweiz gekommen. Zu spät, um noch den Dialekt zu lernen, nach einem »Grüezi« weiter auf Hochdeutsch. Blick auf die Uhr an der Wand: Sie könne ja machen, was sie wolle, sie sei hier die Chefin, aber wenn sie Pünktlichkeit von den anderen verlange?
Maria streifte den Mantel ab, drehte und wendete ihn, studierte die eingenähten Etiketten, das Emblem eines italienischen Herrenschneiders, eine Anleitung zur Reinigung, nur chemisch. Hängte ihn über den Garderobenständer, alles mit Bedacht. Würde Detlef so gut sein, die anderen zu holen, in fünf Minuten sei Besprechung. Keine Frage, ein Befehl, auch das besaß Maria: Strenge.
Der Raum war überheizt, sie fächelte sich Luft zu, ein irritierter Blick auf die geschlossenen Fenster, es roch nach Füßen, ob Detlef seine Turnschuhe unter dem Tisch ausgezogen habe?
Detlef senkte den Kopf: schuldig im Sinne der Anklage. Er erhob sich und öffnete ein Fenster mit messingfarbenem Riegel, dann begann er, Marias Habe einzusammeln, Tüte und Ordner, Schreibzeug.
Maria ging voran, dahinter Detlef, den Kopf in den Nacken gelegt, die Lippen vorgeschoben. Er behauptet, Maria zu riechen, bevor sie einen Raum betritt und lange, nachdem sie ihn verlassen hat. Den Blick auf ihr Gesäß gerichtet, klein und spitz unter dem Tuch des Kleides.
Vor langer Zeit waren sie ein Paar gewesen. Bilder, in Detlefs Netzhaut eingebrannt: Maria beim Akt (mit Büstenhalter, sie bevorzugte es, sich in Dessous ficken zu lassen), Maria entblößt (nach dem Ficken und ohne sich zu reinigen). Am nächsten Morgen: Maria in der Dusche, schmal und aufrecht, mit Schaum im Streifen krausen braunen Haars zwischen ihren Schenkeln.
Detlef war ihr hörig gewesen.
Schon nach zwei Monaten langweilte sie sich. Er war ein ausdauernder Liebhaber, gewiss, doch Maria wollte Worte hören während des Liebesspiels, schmutzige Worte, und diese auch sagen, Detlef war dazu unfähig, auch nach eingehender Unterweisung. Sie verließ ihn.
Seitdem beklagt er sich, er könne nicht mehr lieben, er vögele nur noch, und immer seien sie blond, andere Töne, von brünett bis schwarz, führten dazu, dass ihm sein Schwanz den Dienst versage. Maria schneidet ihm das Wort ab, wenn er davon anfängt. Es ist vorbei zwischen ihnen.
Jetzt klopften sie an Türen und öffneten sie. Maria sah in jedes Zimmer, widerstrebend erhoben sich die Männer und folgten ihr in das Konferenzzimmer am Ende des Flures mit einem Besprechungstisch aus Resopal und zehn harten Stühlen. In der Mitte des Tisches eine Plastiktanne, an den Ästen mehrfarbige LED-Leuchten. Die ist Detlef zuzutrauen, dachte Maria und setzte sich, ihr Stammplatz am Kopfende, die Plätze rechts und links neben ihr blieben leer.
Allesamt Hasenfüße, dachte sie und lächelte über den sprachlichen Anachronismus. Die Männer waren mit ihren Hemdsärmeln beschäftigt, zogen sie zurück und betrachteten ihre Armbanduhren, die Besprechung hätte vor eineinhalb Stunden beginnen sollen.
Maria saß aufrecht, die Unterarme auf den Tisch gelegt, die Hände wie zum Gebet gefaltet, sie öffnete den Ordner und schob ihn nach rechts: Es handele sich um eine neue Ermittlung, die Kollegen mögen einen Blick auf die Fotos werfen, bevor sie fortfahre. Detlef beobachtete sie aus dem Augenwinkel, wie schmal ihre Lippen wurden, wenn sie kommandierte, unvorstellbar, dass das die Frau war, aus deren Mund ein süßes Flüstern kam, wenn sie es trieb, Liebeslaute wie ein Wimmern. Er löste den Blick und zwang sich zu blättern, nickte wortlos und reichte die Akte weiter; nach und nach verstummten die Männer, der Ordner kehrte zu Maria zurück.
Diese Fotos, Maria leise, aber bestimmt, kursieren im Netz, die Kollegen sehen die Geschlechtsteile kleinster Kinder, hier und dort Männerfinger in dünnen Latexhandschuhen, die winzige Schamlippen spreizen und in die Vagina oder den Anus der Opfer eindringen. Stillschweigen, abgewandte Köpfe, Männer ertragen Begriffe wie Schamlippen, Vagina und Anus nicht, zumal aus dem Mund einer Frau.
Urs hob die Hand: Ob die Opfer vielleicht schliefen?
Er ist derjenige, der mich am wenigsten fürchtet, dachte Maria, seine Furchtlosigkeit ist Ausdruck mangelnder Intelligenz. Oder seiner Trunksucht, wie seine Bäckchen zittern.
Vielleicht seien sie tot, so Simon, noch im Sitzen ein Hüne, dichtes blondes Haar, zehn Jahre jünger als Maria; ihr Widukind, ewiger Widersacher Karls des Großen (Marias Leidenschaft ist mittelalterliche Geschichte).
Er war vor fünf Jahren zu ihrer Truppe gestoßen, hatte ihr zu Beginn schöne Augen gemacht, dann verflog das Interesse, sein Geltungsdrang war unvereinbar mit Marias Machtanspruch.
Jetzt starrte er Maria an, und wenn sie tot wären, ob der Erkennungsdienst das feststellen könne?
Maria griff nach ihrem Füller, Caran d’Ache, ein Geschenk von Hannes aus den ersten Monaten der Beziehung. Man müsse heimische Ware kaufen, um den im Zuge der Globalisierung in Bedrängnis geratenen Großkapitalismus in der Schweiz zu unterstützen, hatte er gesagt, Qualität habe ihren Preis, sie presste die Lippen aufeinander und schrieb. Eine Kurzschrift oder Geheimschrift, in Wirklichkeit sind es Phantasiezeichen, was nur Detlef weiß, aus Höflichkeit zu Papier gebracht. Die Männer sollen sich ernst genommen fühlen, tatsächlich verlässt sich Maria nur auf sich selbst.
»Ist es immer dieselbe Hand?« Roman blickte auf die Fotos, die Akte auf dem Schoß, er spricht als einziger Schweizerdeutsch; aus Trotz, weil Maria ihn bei der letzten Beförderung übergangen hat, und aus Vaterlandsliebe. Gebürtig aus Uri, einem der drei Urkantone der Schweiz, ähnelt er dem Wappentier seines Standes, einem Stier mit starken Augenbrauenwülsten, einer breiten Nase und großen Nüstern. Er schließt seine Rede mit einem »Gopferdammi«.
Maria hielt den Kopf gesenkt, die Männer begannen, durcheinanderzureden. Roman: Es scheint dieselbe Hand zu sein, das Latex lässt einiges durchschimmern, Urs: Mal sind die Nägel kürzer, mal länger, hier und da ist eine kleine Wunde erkennbar, Simon: Möglicherweise kann man anhand der Länge der Nägel feststellen, wie viel Zeit zwischen den Aufnahmen der Bilder liegt, Roman: Da ist eine Art Warze am rechten Mittelfinger, Simon: Die Herkunft des Ringes sollte zu ermitteln sein, daraufhin Urs finster, er sei jetzt an der Reihe gewesen und habe dasselbe sagen wollen, die Männer am Tisch verstummten.
Maria erhob sich, Detlef im Stillen: Sie ist eine Bohnenstange, warum noch diese Absätze, Männer sehen ungern auf zu einer Frau. Auch ich hatte einst Angst vor ihr, dann wurde ich für meinen Mut belohnt. Bei diesem Gedanken wich sein Groll leisem Stolz: Er hatte sich aufrecht mit seiner Riesin vereinigt, sie im Stehen gefickt von vorn und von hinten.
Maria beendete die Sitzung: »Meine Herren, das ist ein guter Anfang gewesen, Detlef hat nun eine Stärkung für alle«, man treffe sich um halb eins zur Einteilung der Aufgaben.
Sie verließ den Raum, gab über die Schulter hinweg als Letztes bekannt, sie selbst esse heute nicht zu Mittag.
Zurück im Büro saß sie in ihrem Drehstuhl vor dem Fenster, einem alten schwarzen Ledersessel aus den sechziger Jahren, die Beine verchromt, nicht schön, doch bringt sie es nicht fertig, ihn zum Trödler zu tragen. Er hat ihrem Vorgänger gehört, und davor dessen Vorgänger, sie ist die erste Frau in dieser Position.
Der Sessel in Form eines Eis, Brutstätte für Ideen, jetzt aber herrschte Leere in ihrem Kopf. Sie hielt ihn geneigt, die rechte Hand an der Stirn, ein Pochen, Vorbote einer Migräne. Ein ausgefülltes Liebesleben helfe gegen Spannungskopfschmerz, hat sie gelesen, vielleicht brauchte sie einen Liebhaber, das Hämmern in ihrem Kopf wurde wütend, vorsichtige Schritte zum Garderobenständer. Dort hing neben dem fremden Mantel Detlefs Lederjacke, ein abgewetztes Stück, das sie schon aus Zeiten ihrer Liebschaft kennt. Maria stieß sie beiseite, steckte die Nase in den Kaschmirmantel. Möglicherweise ist dieser Mann anders.
Die Tür flog auf, Detlef trat ein, der Duft von Automatenkaffee, er stellte die Becher auf den Schreibtisch, unzählige Tassen haben darauf ihre Ringe hinterlassen. Wem der Mantel gehöre, er sehe teuer aus.
Maria überhörte die Frage, griff nach ihrem Becher, setzte ihn an die Lippen, zuckte zusammen, Detlef zur Stelle, nahm ihr den Kaffee ab, rührte um, blies: Woher sie die Bilder habe?
Die Staatsanwaltschaft habe sie geschickt, Maria biss sich auf die Oberlippe, du mit deinem heißen Kaffee. Um seine Frage zu beantworten, die Bilder werden per MMS an einen kleinen Kreis von Empfängern verschickt, auf Prepaidhandys, und zwar nur auf diese.
Wie der Staatsanwalt daran gekommen sei, Detlef reichte ihr den Becher zurück, sie solle es noch einmal versuchen. Maria nahm einen Schluck und erwiderte, sie glaube, es sei Zufall gewesen mit den Bildern. Hoffentlich wird das Koffein ihrem Kopf guttun. Es hat sich um ein verlorenes Handy gehandelt, ein junger Mann, der es fand, war neugierig und hat die Mails gelesen, er begriff, dass hier etwas nicht stimmt, erstaunlich eigentlich bei alldem, was die im Internet zu sehen bekommen.
Ob es eine Möglichkeit gebe, an die Kundendaten zu kommen, fragte Detlef. Maria schüttelte den Kopf, die Anbieter von Prepaidkarten seien nicht verpflichtet, Namen und Anschrift des Kunden zu kontrollieren, Falschangaben seien nicht einmal gesetzlich verboten. Sie tastete nach ihrem Hinterkopf, an dem ein Chignon saß, eine absichtslose Gebärde.
Detlef verwirrte ihre Anmut. Wieder ruhte Marias Blick auf dem fremden Mantel, auch das verstörte Detlef, er hob den Arm, vollzog einige alberne Pantomimen in der Absicht, den leeren Becher in den Papierkorb zu werfen, Maria ungeduldig: »Sie werden Fehler machen, irgendwann Bilder auf ein Vertragshandy schicken oder auf ihrem PC abspeichern«, er solle jetzt endlich werfen, es gehe weiter.
Detlef warf und traf daneben, bückte sich und las den Becher auf, Maria: Bitte, sie habe wirklich keine Zeit für seine Albernheiten.
Sie zog ihn hinter sich her auf den Flur, rotes Linoleum, das pfennigrunde Dellen aufweist, Hunderte oder Tausende, die sich zur Mitte hin zu einer Fläche vereinigen, unübersehbar Spuren ihrer hohen Absätze. Die Verwaltung hatte sich beschwert, eine missgünstige Sachbearbeiterin in Slippern tauchte persönlich bei Maria auf. Sie nahm den Schaden in Augenschein, Maria auf ihren Pfennigabsätzen konnte nicht leugnen. Alsdann: Man müsse sich Gedanken über die Qualität des Linoleums machen, und ob sie vielleicht Birkenstocks tragen solle, sie lasse sich wegen ihres weiblichen Schuhwerks nicht diskriminieren, sie erwäge, sich an die Gleichstellungsbeauftragte des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements zu wenden. Fortan herrschte Ruhe.
Jetzt blieb Maria stehen. Detlef prallte gegen sie, bat um Verzeihung. Maria winkte ab, deutete mit der Hand auf die Tür zum Damen-WC, Detlef solle nicht auf sie warten, die anderen seien bereits im Besprechungsraum versammelt. Detlef hätte es vorgezogen, vor dem WC stehen zu bleiben, sie waren sich einmal da drinnen begegnet, er hatte es gewagt, ihr zu folgen, sie saß auf der Toilettenbrille: »Sieh mir zu«, spreizte die Schenkel, befriedigte sich mit ihren flinken, langen Fingern, dabei stieß sie mit der Fußspitze an seinen steifen Schwanz, drückte Detlef von sich und wies ihn aus der Kabine. Die Begebenheit lag lange zurück, Detlef erinnerte jedes Detail, die Farbe ihres Höschens und des Nagellacks an ihren Zehen, er starrte auf die Tür der Damentoilette.
Maria auf der anderen Seite vor dem Spiegel, das Licht war grell und fiel von oben, es formte eine Landschaft auf ihrem Gesicht, Fältchen wurden zu Tälern, Poren zu Kratern, eigentlich ist sie stolz auf ihre Haut, den zarten, blassen Teint, ihre Sommersprossen, im Sommer trägt sie Hut und hochgeschlossene Blusen, wie ein Bild von Edouard Manet. Sie würde einen Termin bei der Dermatologin vereinbaren, botoxen, was für ein Wort. Die Ärztin sagt, man könne nicht früh genug damit beginnen. Es ist nicht das erste Mal, die letzte Injektion liegt einige Monate zurück, Marias Körper hat das Gift abgebaut und verstoffwechselt. Das Honorar: eintausendzweihundert Franken. Dreimal im Jahr, das macht dreitausendsechshundert. Hannes weiß nichts davon, vom Botox ebenso wenig wie von dem Eingriff beim Venerologen, der ihre Krampfadern in Kurznarkose verödet hat, siebentausendsechshundert Franken. Für solche Fälle besitzt sie ein geheimes Konto.
Sie blickte auf die Uhr, die Besprechung lief seit fünfzehn Minuten, es war nicht einfach für Detlef, die unbeliebten Aufgaben zu verteilen: das Abklappern der Handyläden, die Befragung der Anwohner am Fundort, all das bei Minusgraden. Lieber hockten die Männer am Schreibtisch, tranken Kaffee, recherchierten, vorzugsweise im Netz. Nicht, dass Maria ihnen etwas unterstellen will, oder vielleicht doch. Sie hatte die interne Ermittlung beauftragt, die Festplatten aller Mitarbeiter zu überprüfen, jeder einzelne Rechner war an die Reihe gekommen, Roman hatte stundenlang auf youporn.com gesurft. Zur Rede gestellt, schob er fadenscheinige Beweggründe vor. Das hatte ihn die Beförderung gekostet.
Sie verließ das WC, eilte über den Flur zum Besprechungsraum. Die Männer erhoben sich gerade, nur Detlef saß noch da und machte sich Notizen. Vielleicht roch er Maria, ohne aufzublicken deutete er auf den Stuhl neben sich. Maria machte breitbeinig Halt, sie weiß, wie sie ihren Mann steht.
Detlef reichte ihr die Liste, Simon habe er für den Außendienst eingeteilt, es sei ihm am ehesten zuzumuten, sich den Arsch abzufrieren, Urs und Roman dürften Bürodienst leisten, Roman habe die höchste Medienkompetenz. Maria entfuhr ein Lacher, wieso sie ihn immer auslachen müsse, fragte Detlef, Roman sei doch wohl in der Lage, Bilder an Krankenhäuser, Tagesstätten, Kinderheime zu versenden, die Technische Abteilung bemühe sich derzeit, Hinweise auf den pornographischen Gegenstand zu retuschieren, hoffentlich würde ein Kinderarzt den Leberfleck an der Leiste eines Säuglings wiedererkennen, oder einen kleinen Blutschwamm.
Maria nickte, schön, ja, jetzt müssten sie hoffen, dass ihnen der Zufall zu Hilfe käme, sie selbst wolle sich ein paar Stunden zurückziehen, in die Thematik vertiefen, ein Gefühl entwickeln für die Methodik des Gegners. Detlef sollte so freundlich sein, ihr die anderen vom Leib zu halten und sich selbst auch, ja, das vor allem, damit sie irgendwann gegen neunzehn Uhr nach Haus kann.
Es wurde Viertel nach acht, ihr Nacken schmerzte, als sie zuhause eintraf, ihre Augen brannten, ihr Magen seit Stunden leer, ihr war das Hungergefühl abhanden gekommen. Gegen drei Uhr nachmittags hatte ihr Detlef eine Banane auf den Schreibtisch gelegt, bereits geschält, abgesehen davon war er alle zwei Stunden mit einem Becher Kaffee aufgekreuzt, ein stummer Diener, der keinen Dank erwartet und auch nicht erhält, oder, wenn doch, zu einem späteren und gänzlich unvermuteten Moment.
Maria hatte sich eine Akte nach der anderen bringen lassen, auf ihrem Schreibtisch gestapelt und mit Zorn gesichtet. In den vergangenen Jahren hatte es zahlreiche Fälle von Kinderpornographie gegeben, Einzeltäter waren in der Mehrheit, Banden seit der Jahrtausendwende eine Ausnahmeerscheinung. Die Bilder im Internet stammten aus Privathaushalten, meist entstanden ohne das Zutun von Frauen, sie wissen von nichts oder dulden das Handeln ihrer Männer, bei den Opfern sind Mädchen in der Überzahl.
Jetzt stand Maria in der Küchentür, an den Rahmen gelehnt, der aus dunkler Eiche und hundert Jahre alt war. Das Kindermädchen im Begriff zu gehen, Ende zwanzig, aus dem Tessin, die Haut straff, prall der Busen, es spricht Italienisch.
Die Kinder hockten am Küchentisch, es hatte Streit um die letzte Gewürzgurke gegeben, Maria setzte sich dazu, nahm kleine Hände in ihre, teilte die Gurke, schob eine Hälfte in jedes Mündchen. Ihr müsst nicht streiten, Kinder, ihr müsst euch liebhaben.
Da platzten sie los, bezichtigten einander des Mundraubes, Marias Gedanken wanderten ab, ihr müsst euch liebhaben, und was ist mit Hannes und ihr?
Schon war die Gurke vergessen, die Kinder lachten wieder. Wie schnell sie vergeben, dachte Maria und stand auf, ging zum Kühlschrank, vielleicht war etwas vom Mittag übrig, sie entdeckte ein Schälchen Risotto, stellte es in die Mikrowelle.
Ob sie fernsehen dürften? Heinrich war aufgesprungen, legte seinen Kopf auf ihren Bauch, bitte, Mama, Maria vergaß ihre Vorsätze: Na gut, sie brauchte einen Moment Ruhe, aber nur eine Viertelstunde, Kinder. Dann bringe ich euch ins Bett, versprich mir, Heinrich, dass du dich heute bemühst, schnell einzuschlafen.
Sie aß im Stehen, räumte die Teller in die Spülmaschine. Als sie sich aufrichten wollte, schien das unmöglich, plötzlich glaubte sie, vor Erschöpfung umzufallen. Sie gab sich einen Ruck, trat noch einmal an den Kühlschrank, fand einen angebrochenen Gewürztraminer, schenkte sich zwei Dezi ein, dann noch einmal zwei, setzte sich an den Tisch und begann, in der Zeitung zu blättern, exakt gefaltet und im rechten Winkel zu den Tischkanten liegen geblieben. Auf der vorletzten Seite die Sterbeanzeigen.
An Tagen wie diesem stellt sie sich vor, ihr Name stehe dort, oder gemeißelt in einen der Grabsteine beim Steinmetz an der Seestraße. Einmal hatte sie seinen Laden betreten und einen schwarzen Monolithen angezahlt. Der Steinmetz lächelte milde, als sie den Auftrag am nächsten Tag stornierte.
Abends im Bett hatte sie Hannes gefragt, ob es ihm auch so ginge, dass er die Toten um ihre Ruhe beneide; Hannes war Psychiater und kannte sich aus mit den Abgründen der Seele, aber nicht mit Marias. Er faltete die Hände im Schoß, setzte zu einem Vortrag an, die Suizidalität sei traumatisch bedingt, teilweise auch erblich. Sei ein Patient betroffen, versuche man es mit Psychotherapie und Psychopharmaka. Trotzdem komme es immer wieder vor, dass der Psychiater den Erkrankten verlöre. Maria warf ein, es sei doch wohl eher der Patient, der sich selbst verlöre. Hannes winkte ab, vor kurzem habe ein Depressiver seinem Leiden ein Ende gesetzt, indem er die ganze Packung Antidepressiva schluckte, er lachte laut, was selten vorkam.
Daraufhin hatte sie das Licht gelöscht und gegrübelt, welches ihr Trauma sein mochte, ihr fielen nur Männer ein, besonders derjenige, der neben ihr lag; am nächsten Tag ging sie zu ihrem Hausarzt und bat um ein Antidepressivum. Das liegt seither ganz hinten in der Badezimmerschublade.
Sie stieg die Treppe hinauf, ihr Bad liegt unter dem Dach, entkleidete sich. Wenigstens bleibt ihr erspart zu waschen, das macht die Haushaltshilfe aus Chile. Sie warf alles in die Wäschetonne, fuhr mit dem Zeigefinger unter der Achsel entlang, es war Zeit, sich zu rasieren, sie nahm sich vor, nicht länger als bis zum Wochenende zu warten. Sie drehte den Hahn auf, stieg in das heiße Wasser, ließ sich sinken und schloss die Augen, jetzt nicht an die missbrauchten Kinder denken, in ihrem Kopf tauchte auf: der Kaschmirmantel.
Ein Räuspern, sie schrak zusammen, zog die Hand zwischen den Schenkeln hervor und bedeckte ihre Vulva. Vor der Badewanne stand Hannes.
Immer schleiche er sich an, sie legte den anderen Arm über die Brüste, früher, als sie noch miteinander schliefen, hätte sie sich nicht geschämt, vor seinen Augen zu masturbieren.
Er solle sie bitte noch fünf Minuten allein lassen, Marias Stimme kläglich und anklagend. Sie dachte, nur er ist imstande, mich in einen kleinmütigen Menschen zu verwandeln. Hannes sagte kein Wort und verließ das Badezimmer.
Das Wasser war kalt geworden, das Bild des Fremden verschwunden. Maria fror, sie erhob sich, stieg aus der Wanne, griff nach einem Handtuch und trocknete sich ab, Gesicht, Schenkel, Brüste, die Brustwarzen schmerzhaft geschwollen in der Mitte des Zyklus. Sie strich mit der Fingerspitze darüber, noch könnte sie ein Kind haben, manchmal sehnte sie sich danach.
Dreimal war sie schwanger geworden, wenn sie das Kind mitzählte, dessen Leben endete, bevor es begann. Maria mit achtzehn noch nicht bereit, der Erzeuger ein Halbkrimineller, von dem sie sich aus Trotz hatte ficken lassen, ihre Mutter war außer sich. Noch immer betet Maria für dieses Kind – sie nennt es das Verlorene – und für sich selbst, wenn Scham und Schuld über sie kommen.
Sie schlüpfte in ein Nachthemd aus türkiser Seide. Keinen Erdentag hatte es sehen dürfen, losgebrochen von ihr und mit blinden Augen entsorgt. Lieber Gott, es hat ihm doch nicht wehgetan? Sie stand vor dem Spiegel, ließ die dünnen Arme herabhängen und wartete auf Antwort, aber Gott schwieg, oder es gibt ihn nicht, dachte sie.
Die Tür flog auf, Heinrich und Elisabeth in ihren Schlafanzügen, sie drängten sich vor an das Waschbecken. Maria zog das Mädchen an sich, beugte sich hinab und schob ihre Nase in das weiche Haar, so duften nur Kinder. Sie richtete sich auf und begann, Elisabeth einen Zopf zu flechten, strich einmal mit dem Kamm durch das kurze Haar des Jungen: »Zeit, zu Bett zu gehen, Kinder.«
Die Kinder liefen ihr nach, sangen, hüpften ins Schlafzimmer, kletterten in ihre Betten, am Kopfende stand ein Sessel, in den Maria sich setzte.
Das Buch vom Vorabend lag auf dem Boden, Hänsel und Gretel, schwarzweiß illustriert, von einer Düsternis, die Maria schaudern ließ, die Kinder aber verlangten danach, ungerührt vom Elend der anderen, solange sie selbst geborgen sind.
Maria begann vorzulesen. In ihrem Kopf: andere Kinder. Schlafen sie nur oder sind sie tot? Mitten in der Geschichte fielen Elisabeth die Augen zu, Maria mit bemühter Strenge: »Für dich ist jetzt auch Schluss, Heinrich.«
Er streckte die Hand nach ihr aus: »Mamachen, komm zu mir«, Maria nickte, obwohl sie wusste, dass Hannes es hasste, wenn sie das Kind verwöhnte, sie legte sich neben Heinrich und umfasste den kleinen, mageren Körper.
Kurz nach Mitternacht schreckte sie zusammen, die Arme noch immer um den Sohn geschlungen. Sie bettete den kleinen Körper, schlich aus dem Raum in ihr Schlafzimmer, legte sich neben Hannes, er kehrte ihr den Rücken zu: »Hannes?« Sie sei drüben eingeschlafen, er solle entschuldigen.
Sie lag regungslos, Hannes begann zu schnarchen, Maria starrte noch lange in die Dunkelheit.
Am nächsten Tag erwachte sie vor sechs, rollte ein Stückchen hinüber auf Hannes’ Seite, ihre Lippen an seinem Ohr: Sie stelle ihm den Wecker, ob er die Kinder fertigmachen könne, sie müsse heute pünktlich auf dem Revier sein. Sie spürte seine Wärme, hielt einen Moment inne, angezogen von seinem Geruch. Dann seine Hand an ihrer Brust, doch war sie nicht gekommen, um zu liebkosen. Die Hand schob Maria fort.
Maria wich zurück, setzte die Füße auf den Boden, streifte das Nachthemd ab und warf es aufs Bett, nackt ging sie ins Bad.
Später in der Garderobe stand sie vor Hannes’ Mänteln und dem des Fremden, nahm ihn vom Bügel, legte ihn über die Schultern, atmete seinen Duft. Ihr war, als sei er schwächer geworden, in ein paar Tagen wäre er verflogen.
Hannes kam die Treppe hinab, blau-grün karierter Morgenrock, dunkelgrüne Pantoffeln, er schüttelte den Kopf: Was sie da anhabe, ob der Mantel neu sei, er ist ja viel zu groß. Maria: Er sei nur geliehen, ja dann, bis heute Abend, ein flüchtiger Abschiedskuss.
Als sie das Auto auf der Einfahrt zurücksetzte, kam die Sonne hervor, Hannes stand an der Tür, von weitem ein alter Mann.
Detlef war schon im Büro, dabei hatte Maria gehofft, noch eine halbe Stunde für sich zu haben. Er saß am Schreibtisch und hob den Kopf, es gebe schlechte Nachrichten. Maria sagte abwesend: »So?«, zog den Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe, strich mit dem Handrücken über die Wolle. Detlef stand auf und stellte sich neben sie. Der Kaffeeautomat ist defekt, er lachte laut, Maria roch seinen Atem, sein Aftershave.
Detlef: Er gehe jetzt nach unten in die Halle und hole ihnen Kaffee von dort. Maria nickte, setzte sich in den Sessel, drehte sich einige Male, hielt vor dem Fenster. Zwei Krähen querten den grauen Himmel. Detlef kehrte zurück, stellte einen Becher auf die Fensterbank, drückte Maria den anderen in die Hand. Übrigens, ihr Mann habe vorhin angerufen, eines der Kinder sei krank, ob sie sich melden könne. Er griff in die Hosentasche und zog ein Notizblatt hervor.
Maria: Ob er denke, sie wisse ihre eigene Nummer nicht, sie zerknüllte den Zettel und warf ihn auf den Boden. Detlef bückte sich, immer sei sie so gereizt, er zielte auf den Papierkorb und traf.
Es klopfte.
Die Tür öffnete sich, sie sah einen Arm, ihren Poncho, dann den Fremden, gebeugt, um durch den Rahmen zu passen, er ging auf sie zu, hielt ihr die Hand entgegen: »Lorenzo«, seine Stimme jetzt, da die Nebengeräusche fehlten, noch weicher als am Vortag, er sei der neue Staatsanwalt und bringe ihr den Umhang, aus der Schnellreinigung.
Er drehte den Kopf, schien etwas zu suchen, entdeckte den Garderobenständer, da sei er ja, sein Mantel, die Hand noch immer ausgestreckt, als Maria sich nicht rührte, ließ er den Arm sinken und wandte sich an Detlef.
Detlef hasst seinen Namen: »Schimanski«, er hasst das Gelächter, das darauf folgt, aber der Staatsanwalt sagte nur: »Angenehm.«
Wieder an Maria gewandt: »Frau Rosenblatt«, ihre Augen auf Höhe seines Adamsapfels, er würde gern ein paar Minuten mit ihr reden, er sitze in der Cafeteria, wenn es recht sei, und warte auf sie. Er lächelte, ein leises Klacken, als der Zeiger der Wanduhr um eine Minute vorrückte, dann räusperte er sich, nun gut, er wünsche einen schönen Tag, es habe ihn sehr gefreut, adieu, Herr Schimanski.
Er drehte um und verließ den Raum.
Maria schloss die Augen.
Öffnete sie wieder, sah Detlef an, seine Augen noch immer fest auf die Tür gerichtet, er solle sie doch bitte kurz allein lassen.
Detlef schüttelte den Kopf: Erst, wenn sie ihm sage, was das eben gewesen sei, Maria war schon dabei, ihr Köfferchen zu öffnen. Sie hielt den knielangen Rock in die Höhe, die weiße Bluse, hoffentlich ist nichts zerknittert, und ihren Unfall von gestern betreffend, er habe ihr aufgeholfen. Der Gentleman.
Detlef: »Aalglatter Typ, trotzdem solltest du dir überlegen, was du sagst, du wirst ein paar Jahre mit ihm auskommen müssen.« Maria stellte sich taub, streifte die wollenen Strumpfhosen ab, stieg in seidene, in den Rock, knöpfte die Bluse zu.
Sie trat an den Spiegel, die Frisur war akzeptabel, der Lippenstift verschwunden, der klebte an ihrem Kaffeebecher, aber nachtragen würde sie ihn nicht. Das hier wird kein Rendezvous.
Sie griff nach einer Zeitschrift, wollte etwas in den Händen halten, vergaß, sich zu verabschieden, verließ das Büro.
Detlef bückte sich und begann, ihre Kleidungsstücke einzusammeln.
Die Cafeteria liegt im Erdgeschoss, die Fenster gehen nach Osten zum gepflasterten Vorplatz des Präsidiums, im Winter streut eine der Sekretärinnen Vogelfutter. Die Sonne schien.
Der Staatsanwalt an einem Bistrotisch mit dem Rücken zum Fenster, vertieft in eine Akte, er sah erst auf, als Maria vor ihm stand.
Sie schob einen Hocker heran, würde den Rock anheben müssen, um aufzusteigen, mindestens bis zur Mitte des Oberschenkels, entschied sich dagegen, sagte, eigentlich stehe sie auch lieber, da nahm Lorenzo ihren Ellenbogen und zog sie nach oben.
Sie schwieg, blinzelte in die Sonne, der Staatsanwalt räusperte sich, es täte ihm leid wegen gestern. Er habe sich nicht vorgestellt, er blickte auf seine Hände.
Maria ließ einige Sekunden verstreichen, dann: Er dürfe von ihr aus den Kaffee bezahlen.
Lorenzo: Sie könne ja reden.
Er lächelte und erhob sich, ging an die Essensausgabe, sein dunkelgrauer Anzug saß tadellos, war womöglich maßgeschneidert, außerdem hält er sich gerade, dachte Maria, was ihn noch größer erscheinen lässt, und das weiß er. Lorenzo stand unschlüssig vor der Vitrine, in Verhandlung mit der Köchin. Maria stützte das Kinn auf die Fäuste und betrachtete ihn: Alles, was er tut, scheint mit Inbrunst zu geschehen, und dass das bei Detlef auch so ist, und warum es bei dem einen selbstverständlich aussieht und bei dem anderen bemüht, da kehrte Lorenzo mit einem Tablett zurück, darauf zwei Tassen und ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Der Kuchen sei für Maria, die schob den Teller beiseite: Als Wiedergutmachung vollkommen ungeeignet, Frauen über vierzig essen keine Sahnetorte, sie warf einen Blick auf seine Hände, er sei wohl nicht verheiratet?
Lorenzo streckte die Finger beider Hände aus, wie sie sehe: kein Ring. Und sie?
Maria reckte das Kinn, es gebe einen Mann und zwei Kinder, sie sagte dieses munter und ihm ins Gesicht: Sie bereue nichts.
Lorenzo nickte, sie müsse sich doch nicht rechtfertigen, er nahm den Streuer, türmte den Zucker in seinem Cappuccino zu einem Kegel, er habe schließlich auch Fehler, drei, um genau zu sein, er schlafe jeden Morgen bis um neun, zweitens Süßes, er deutete mit dem Kopf auf den Zucker, der den Milchschaum durchbrach und in der Tiefe der Tasse versank, und drittens, seine hellblauen Augen fixierten Maria, schöne Frauen.
Marias Antwort kurz: Ja, fein, dann habe man das geklärt.
Sie schob die Beine unter den Tisch, wusste nicht, wohin mit den Füßen, da war nur Lorenzos Hocker. Ob er jetzt zur Sache kommen könne, sie habe nicht viel Zeit, sie sei im Moment an einer neuen Sache, ihr Fuß führte eine unwillkürliche Bewegung aus.
Lorenzo zuckte, beugte sich nach unten und rieb sich das Schienbein. Ja, er habe davon gehört, sie arbeite unter der Ägide von Staatsanwalt Gysin, dem Glückspilz, und das mache wirklich gar nichts mit dem Tritt eben.
Maria schlug die Beine übereinander. Lorenzo: Man sagt, sie sei die Beste, er musterte sie, ob sie ihren Spitznamen kenne?
Maria lächelte, natürlich, das Hirn, dann sagte sie kokett: »Nein, verraten Sie ihn mir.« Der Staatsanwalt rief: »Miss Marple!« Am Nebentisch drehten sich Köpfe, er wieder leiser: Das ist natürlich ungerecht, die ist ja viel älter.
Maria rührte in ihrem Kaffee, er wisse doch, wie alt sie sei, der Schaum bespritzte Lorenzos Hand, die neben seiner Tasse abgelegt war, er habe doch ihre Personalakte gelesen. Sie sah ihm ins Gesicht. Spott war da keiner, eher eine Art von Rührung. Er hatte den Kopf schräg gelegt: Sie habe Recht, sein Blick fiel auf die Uhr, aber nun müsse er leider zur Verhandlung, damit erhob er sich, griff Marias Hand und zog.
Maria: Es werde schon gehen, aber es ging nicht, ungelenk rutschte sie von ihrem Hocker, und als sie wieder aufrecht stand, gab er ihr einen Handkuss, es habe ihn sehr gefreut und auf gute Zusammenarbeit, er werde sich melden.
Er gab ihre Hand frei, verbeugte sich nochmals und ging.
Maria strich den Rock über die Knie und verfluchte ihre Erregung, es war doch nur ein Handkuss.
Sie verschloss die Bürotür um 22.08 Uhr, auf ihrem Handy drei Nachrichten von Hannes: Wann sie käme? Ob sie überhaupt noch käme? Er werde das Kindermädchen bitten, über Nacht zu bleiben.
Sie stand im Aufzug, ihr Gesicht im Spiegel blass, das morgendliche Make-up war verschwunden, zweimal heute hatte sie den heißen Kopf unter den Wasserhahn gehalten, waren das schon die Wechseljahre?
Von einem Nachlassen ihrer Libido keine Spur. Als sie noch gevögelt hatte, zuerst mit anderen – für eine Frau ihrer Generation waren es viele gewesen, achtzehn oder zwanzig, dann nur noch mit Hannes, hatte sie sich im Griff gehabt. Doch seit mit Hannes nichts mehr lief, machte das Verlangen ihr zu schaffen, war jeder Mann ein potenzieller Geschlechtspartner. Vielleicht sollte sie die Pille nehmen, Hannes behauptet, die wirke regulierend. Vielleicht bekämen dann andere Dinge Bedeutung, sie dachte an die Kinder.
Der Aufzug hielt, sie trat ins Foyer, zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung, die Ermittlungen waren ein Stück vorangekommen, sie wussten jetzt, dass die abgebildeten Finger zu ein und demselben Mann gehörten. Die Gerichtsmediziner konnten sagen, in welcher Reihenfolge, in welchem Abstand die Bilder aufgenommen worden waren, es gab einen mutmaßlichen Ablauf des Geschehens.
Der Ring am Finger des Täters erwies sich als Hoffnungsträger, ein seltenes Stück, aufwendig gearbeitet, doch den Goldschmied zu ermitteln brauchte Zeit. Im ungünstigsten Fall stammte er nicht aus der Schweiz.
Die Fotos der kleinen Leiber waren an alle Spitäler versandt. Es gab noch keine Rückmeldungen, obwohl bestimmte Merkmale einzigartig sein dürften, Nabelbrüche, Leberflecken, Blutschwämme, Maria war zuversichtlich, den Fall lösen zu können.
Sie überquerte den schwach beleuchteten Parkplatz, ihre Zehen schmerzten, flache Schuhe wären vernünftiger, doch das war ausgeschlossen, acht Zentimeter Absatz war das Mindeste. Sie stieg in ihr kaltes Auto, Hannes hatte ihr zu erklären versucht, wie man es fertigbringt, die Sitzheizung zu programmieren, aber Maria fehlte die Geduld, ihm zuzuhören, lieber fror sie.
Die Scheiben beschlugen, Maria wischte mit der flachen Hand über das kalte Glas, rollte vom Parkplatz auf die einsame Straße.
Fünfundzwanzig Minuten später fuhr sie auf die Einfahrt, sah, dass im Haus alles dunkel war, verschloss den Wagen, blickte hinauf in den Sternenhimmel, Licht, das vor Millionen von Jahren ausgesendet worden ist, verglühte Sonnen.
Wie alles erlischt, das Universum ausgestattet mit einem einzigartigen Selbstzerstörungsmechanismus, ebenso ihr eigener Kosmos. Die Uhr läuft rückwärts von Geburt an.
Hannes war schon im Bett, als sie kam, las in einem Fachbuch über Psychoanalyse, er bildet sich fort aus alter Gewohnheit, aber auch, um seine Einsicht in die menschliche Libido nicht zu verlieren (Marias Hypothese: Der Verlust des eigenen Begehrens ist Voraussetzung, um den menschlichen Sexus durch das Vergrößerungsglas zu betrachten). Er trug einen blau-grün gestreiften Schlafanzug, seine Lieblingsfarben, blickte über die Lesebrille zu Maria auf.
Sie im seidenen Hemd, türkis, keinen Slip, setzte sich auf die Bettkante ihrer Hälfte, mit dem Rücken zu Hannes, die Beine geschlossen. So verharrte sie, eine Minute oder zwei, legte sich hin, Hannes blätterte um, wie ihr Tag gewesen sei?
Endlos, dachte Maria und schwieg, zog die Decke hoch bis ans Kinn, eine Hand über ihrer Vulva, die andere über den Augen, bis Hannes das Buch beiseite legte und das Licht löschte.
Am Morgen darauf hatte sie Kopfschmerzen, schon beim Erwachen ein Pochen hinter dem linken Auge, das unerträglich wurde, als sie sich erhob. Vorsichtig ging sie ins Bad, jeder Schritt ein klopfender Schmerz, sie öffnete die Schublade mit den Medikamenten: Imigran, Ibuprofen, Paracetamol, sogar ein Fläschchen Tramal, das sie an den schlimmsten Tagen nahm, Morphium machte außer schmerzfrei auch noch glücklich für drei, vier Stunden.
Hannes verschrieb ihr, was sie benötigte, um mit ihren Migräneattacken fertigzuwerden, das Morphium aber solle sie möglichst selten nehmen, davon sei sie im Handumdrehen abhängig.
Heute brauchte sie ein wenig Glücklichsein, sie schüttelte das Fläschchen, öffnete den Schraubverschluss, träufelte zwanzig Tropfen auf die Zunge, schluckte, entschied, es sich gutgehen zu lassen, noch einmal zehn. Sie legte sich auf den Badezimmerteppich, schloss die Augen und wartete. Nach zwanzig Minuten wurde der Schmerz dumpfer, die Gedanken leichter, Maria erhob sich, sah in den Spiegel, ordnete ihr Haar.
Als Hannes das Bad betrat, putzte sie die Zähne, er stellte sich neben Maria, den Rasierer in der Hand, beinahe hatte das Geräusch etwas Tröstliches. Maria zog sich an, Rufe aus dem Kinderzimmer: »Mama?«, sie antwortete: »Schlaft weiter, meine Engel, heute habt ihr frei, das Kindermädchen wird euch wecken und anziehen!« Wenn Mama im Büro ist.
Hannes am Küchentisch, das Marmeladenbrot in gleichgroße Vierecke geschnitten, Maria saß ihm gegenüber, mit einem Mal kühn: Sie habe gestern Abend mit ihm schlafen wollen, er blickte überrascht auf, dann wieder auf sein Brot, das habe er gar nicht bemerkt.
Maria nickte, erhob sich, nahm eine Tasse aus dem Regal, schenkte sich Kaffee ein, schwarz ohne Milch und Zucker, blieb vor Hannes stehen, wenn er es bemerkt hätte, wäre es auch nicht anders gekommen.
Hannes: Was sie damit sagen wolle, er fügte ihren Namen hinzu, das tat er nicht oft, und wenn doch, hängte er dem »Maria« ein »Magdalena« an: »Maria Magdalena«.
Dass sie es vermisse, Maria biss sich auf die Unterlippe, sie ist fünfundvierzig und immer noch schön. Ihre Stimme wurde lauter, sie mache Sport, sie rasiere sich, schminke sich, zum Teufel, für wen eigentlich?
Hannes drehte den Kopf zum Fenster, und als er sprach, klang es wie von ferne. Er habe es mehrfach erklärt, es sei wegen der Kinder, er deutete vage in Richtung ihres Unterleibes, sie habe sie gewollt, sich genommen, gegen seinen Willen ausgetragen. Er musterte sie, ihr Leib habe sie hervorgebracht, seine letzten Worte ein Verdikt, ihr Leib habe seine Unschuld verloren.
Maria schossen Tränen in die Augen, sie wusste nicht, was antworten, dann sagte sie: Sie komme spät heute Abend. Hannes hatte die Ellenbogen vor sich aufgestützt und die Fingerspitzen aneinandergelegt, er frage sich nur, warum sie Kinder haben musste, wenn sie doch nie zuhause sei. Maria war schon an der Küchentür, lief die Treppen hinab, stolperte auf der vorletzten Stufe und fiel. Oben am Geländer erschien Hannes und rief: »Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird«, als sie schon fast am Ausgang war: »Winston Churchill!«
Es regnete, der wenige, schmutzige Schnee, der noch am Straßenrand lag, bekam kleine Dellen. Wie Orangenhaut, dachte Maria, ich lasse den Oldtimer in der Garage, Hannes hätte ihr die Hölle heißgemacht, bei dem Wetter zu fahren. Sie setzte sich in den Mercedes, schloss die Augen, bemüht, Hannes aus ihren Gedanken zu vertreiben. Als die Kälte an ihr hinaufkroch, fiel ihr ein, dass heute die Dermatologin auf dem Terminkalender stand, fast hätte sie das vergessen über dem Eklat in der Küche.
Sie hatte versäumt, ihr Make-up einzustecken, es war zu spät zum Umkehren, nun würden die Kollegen die Einstiche sehen und sich ihren Teil denken.
Sie startete und bog seeaufwärts ab in den nächsten Ort. Der war seit jeher wohlhabend, die Kirche prächtig, direkt am See gelegen. Früher haben die Bauern mit Wein ihr Geld gemacht, heute werden die Rebberge verkauft, die Weinstöcke weichen gläsernen Villen, hier und da bewahrt die Gemeinde einen Flecken aus Gründen der Folklore.
Hinter der Gaststätte mit Namen »Hirschen« bog Maria ab, fuhr die Hauptstraße entlang den Hang hinauf, fand einen Parkplatz direkt vor der Praxis, warf einen halben Franken in die Parkuhr, lange würde man sie hoffentlich nicht warten lassen. Das Ärztehaus gleich einem Gerippe aus Stahl, Beton und Glas, ein Fremdkörper zwischen den Bauernhäusern, der Aufzug schwebte in die dritte Etage, die Tür zur Praxis öffnete sich ohne Marias Zutun. Die Arzthelferinnen standen bereit und lächelten.
Ein kleines Wartezimmer, an den Wänden warben Mädchengesichter für Unterspritzungen. Maria setzte sich, nahm eine Zeitschrift und blätterte, ringsum Schweigen, kein einziger Mann. Dass Schönheit wohl Frauensache ist, dachte sie.
Ihr Name wurde aufgerufen, sie richtete sich auf, folgte der Arzthelferin in den Behandlungsraum, legte sich auf eine frisch bezogene Liege, Lounge-Musik, wieder wartete sie. Ihr fiel die Parkuhr ein, die Zeit war um, sie starrte an die Decke, dachte an Hannes und seine Worte, ihr Leib habe seine Unschuld verloren, war denn der Körper einer Frau nur begehrenswert, solange er nicht gebar? Die Ärztin kam herein, groß, kräftig gebaut, das Haar lang und dunkel, sie trug es offen. Etwas über fünfzig, das hatte sie verraten, alterslos nicht nur das Gesicht, auch die Handrücken von wundersamer Glätte, nur die Schwere ihrer Hüften wollte sich nicht erschließen.
Sie begrüßte Maria, erzählte von ihrem Urlaub, die Seychellen, ein Paradies, aber arm, ein Elend unter der Bevölkerung, das einem das Vergnügen verderben könne. Sie musterte Maria, während sie sprach, setzte im Geiste die Nadel, auf die Stirn, zwischen die Brauen, in das Unterlid, drehte sich um, hantierte, hatte die Spritze in der Hand.
Ein Stich, ein Brennen, Botulinumtoxin, eines der stärksten bekannten Gifte, dringt unter Marias Haut und an die motorischen Endplatten ihrer Nerven. Maria durch einen schmalen Spalt zwischen ihren Lippen: »Wir verzeichnen hierzulande jährlich ein bis zwei Tote durch Botulinum infolge von Atemlähmung«, die Ärztin: »Vollkommen ausgeschlossen.« Maria: Sie kenne doch wohl die Polizeistatistik, allerdings seien die Todesfälle im Rahmen einer Lebensmittelvergiftung aufgetreten, in der ästhetischen Medizin habe es bislang keine Zwischenfälle gegeben.
Die Ärztin besänftigt, der nächste Stich, Maria schloss die Augen, bis es vorüber war.
Es blute noch ein wenig, aber das gehe gleich vorüber, die Ärztin half Maria auf, bis zum nächsten Mal in vier Monaten. Vor der Tür wartete die nächste Mittvierzigerin, als sich Maria an ihr vorbeizwängte, senkte die andere den Kopf.
Die Arzthelferin an der Rezeption hielt die Rechnung in die Höhe: Das mache eintausendzweihundertfünfzig Franken, mit Kinderstimme: Die Preise seien angepasst worden. Maria bezahlte bar, anderes wurde nicht akzeptiert, es wäre interessant, die Kollegen von der Steuerfahndung vorbeizuschicken, andererseits: Frauen hatten es schwer genug im Leben, sie würde ihre Geschlechtsgenossin verschonen.
Sie vereinbarte einen Kontrolltermin, die Assistentin piepste: »Falls zum Beispiel ein Augenlid zu hängen beginnt«, Maria in Gedanken: Was weißt du über mein Alter, Kind?
Am Ausgang hing ein Spiegel, die Einstiche leuchteten, unterhalb des linken Mundwinkels hatte sich ein Hämatom gebildet.
Auf der Straße sah sie schon von weitem den Bußgeldbescheid, rosarot unter dem Scheibenwischer, sie ließ ihn, wo er war, öffnete die Tür, fiel in den Sitz, startete. Der Strafzettel zerriss, hinterließ eine schmierige Spur auf der Scheibe, der Schnee fiel in dicken Flocken.