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Exil und Emigration im 20. Jahrhundert

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Das Phänomen Exil ist ein jahrtausendealtes Phänomen. Schon in der Antike mussten Menschen, die mit den Herrschenden in Konflikt geraten waren, aus ihren Heimatländern fliehen oder wurden gezwungen, sie zu verlassen. Im Altertum wurde das Exil als Sanktion gegen politische Gegner verwendet, von denen sich die Herrschenden bedroht fühlten. Charakteristisch für das Exil ist zum einen die abrupte, unfreiwillige Trennung von der Heimat und das damit verbundene Gefühl der Entwurzelung, zum anderen die Hoffnung, eines Tages in die frühere Heimat zurückkehren zu können.

Im 20. Jahrhundert wurde das Exil zu einer Erfahrung, die Hunderttausende Menschen teilten, als in Europa Diktaturen entstanden, die ihre Gegner systematisch unterdrückten und bedrohten. In Deutschland wurden all jene von den Nationalsozialisten verfolgt, die deren „rassischen“ Anforderungen nicht genügten, die nationalsozialistische Politik infrage stellten oder als „politisch unzuverlässig“ galten. In den frühen Dreißigerjahren setzte deshalb eine große Fluchtbewegung aus Deutschland und später aus den deutsch besetzten Gebieten ein. Mehr als eine halbe Million Menschen verließen ihre Heimat. Einige von ihnen – vor allem Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler – gingen mehr oder minder freiwillig ins Exil, weil sie sich nicht mit dem NS-Regime arrangieren wollten und befürchteten, unter den neuen Bedingungen nicht genug Freiheit zu haben, um ihre Lebens- und Berufsvorstellungen realisieren zu können. Die meisten Menschen aber mussten aufgrund der rassistischen und politischen Verfolgung buchstäblich um ihr Leben fliehen. Zwischen 1933 und 1941 verließen etwa 278 500 Personen Deutschland und Österreich aufgrund ihrer jüdischen Herkunft bzw. weil sie unter den nationalsozialistischen Gesetzen als „jüdisch“ galten. Hinzu kamen ungefähr 40 000 Menschen, die aufgrund ihrer politischen Ansichten, religiösen Überzeugungen, sexuellen Orientierung oder künstlerischen Tätigkeit als „Feinde“ der „Volksgemeinschaft“ galten und daher ins Exil gehen mussten.1

In den Dreißiger- und Vierzigerjahren gab es kaum ein Land, das nicht zum Zufluchtsort für die deutschsprachigen Flüchtlinge geworden wäre. Die meisten von ihnen, etwa 100 000, gingen nach Frankreich, 140 000 in die USA; in Kanada fanden etwa 3000 Menschen Zuflucht. Nach Großbritannien flohen bis Kriegsbeginn ungefähr 75 000 Personen, darunter 10 000 Kinder, die im Zuge der sogenannten „Kindertransporte“ evakuiert und von britischen Familien aufgenommen wurden. Ein weiteres wichtiges Exilland war Palästina, das zwischen 1933 und 1941 mehr als 60 000 deutsche Juden aufnahm. In die Tschechoslowakei flohen mindestens 10 000 Menschen. Bis zum deutschen Überfall auf die Benelux-Länder gingen ungefähr 35 000, vor allem jüdische Exilanten in die Niederlande, nach Belgien und Luxemburg. Über Italien entkamen etwa 68 000 Personen der rassistischen Verfolgung. Ähnlich verhielt es sich mit den Staaten des ehemaligen Jugoslawien, die als Durchreiseländer für etwa 55 000 Flüchtlinge dienten; in Ungarn kamen zwischenzeitlich mehr als 6000 deutsche Juden unter. Dänemark und Schweden nahmen insgesamt mehr als 8000 deutsche Juden auf, die Schweiz etwa 25 000.

In die Türkei flohen 600 Menschen, die meisten von ihnen Wissenschaftler und Spezialisten, an deren Kenntnissen die türkische Regierung interessiert war. Zypern, das noch unter britischer Herrschaft stand, nahm mehr als 700 Menschen auf. Die Sowjetunion bot Zuflucht für etwa 3000 Personen, zumeist erklärte Kommunisten, die allerdings unter politisch prekären Bedingungen im Exil lebten – etliche von ihnen fielen den stalinistischen „Säuberungen“ zum Opfer. Etwa 5500 Menschen flohen nach Südafrika, 650 nach Kenia. Mehr als 10 000 Personen gingen nach Bolivien, Brasilien und Chile, 30 000 nach Argentinien. Die anderen Länder Latein- und Südamerikas nahmen jeweils mehrere tausend Exilanten auf. Auf Kuba hielten sich zwischenzeitlich um die 6000 Flüchtlinge auf, die von dort weiter in die USA reisen wollten. Nach Australien kamen etwa 9000 jüdische Flüchtlinge, nach Neuseeland um die tausend. Etwa ebenso viele fanden in Indien Zuflucht. Shanghai verlangte bis Ende 1941 als einziger Staat kein Visum; etwa 20 000 Personen nahmen diesen Weg. Nach Japan kamen ungefähr 4000 Juden, die meisten als Transitflüchtlinge, und auf die Philippinen emigrierten mehr als 1000 Menschen. Ebenso viele ließen sich in der Dominikanischen Republik nieder.2

Persönliche Schicksale

Soweit die Zahlen. So wichtig sie sind, bleiben sie abstrakt, wenn man sie nicht mit den individuellen Erfahrungen verbindet, die hinter ihnen stehen. Eine Geschichte des Exils ist eine Geschichte von persönlichen Schicksalen. Selbstverständlich ähnelten sich die Lebensläufe vieler Exilanten, sodass sich einige Gemeinsamkeiten und Muster erkennen lassen. Doch letztlich kann man die konkrete Erfahrung des Exils und die Bedeutung, die sie für einen Menschen hatte, nur auf persönlicher Ebene annähernd nachvollziehen. Jeder einzelne Lebenslauf ist eine eigene Geschichte, die nicht mehr oder weniger repräsentativ für das Exil ist; das Exil ist individuelle Erfahrung. Wie einschneidend diese persönlichen Erfahrungen und Empfindungen in der (anhaltenden) Situation des Exils gewesen sein müssen, lässt sich nur erahnen. Die Philosophin Hannah Arendt fasste die Exilerfahrung 1943 so zusammen:

Wir haben unsere Heimat verloren, und damit die Vertrautheit des täglichen Lebens. Wir haben unsere Arbeit verloren, und damit die Überzeugung, in dieser Welt nützlich zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren, und damit die Selbstverständlichkeit der Reaktionen, die Eindeutigkeit der Gesten, den ungekünstelten Ausdruck von Gefühlen. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos gelassen, und unsere besten Freunde sind in Konzentrationslagern ermordet worden, und das bedeutet das Zerbrechen unseres privaten Lebens.3

Viele der Exilbiographien handeln von verletzten Leben, gescheiterten Karrieren und verlorenen Hoffnungen. Hinzu kam das Hadern einiger Exilanten darüber, dass ihre Familienmitglieder und Freunde, die nicht hatten fliehen können, verhaftet, gefoltert oder gar ermordet wurden, während sie selbst zumindest physisch in Sicherheit waren. In der Rückschau erschien vielen der eigene Lebenslauf als weniger tragisch, denn die konkrete Bedrohung war vorüber und die Existenz gesichert – man hatte sich arrangiert, und: man hatte eine potenziell tödliche Bedrohung überlebt. Bei allem Kummer, der mit dem Exil verbunden sein konnte, war die Exilerfahrung nicht immer nur traurig und düster. Menschen konnten im Exil glücklich sein, neue Bekanntschaften machen und Freundschaften schließen, sich verlieben, neue berufliche Möglichkeiten und neue Interessen entdecken, sich für das Gastland und dessen Kultur begeistern. Der Schriftsteller und Verleger Hermann Kesten (geboren 1900 in Podwoloczyska, Galizien, gestorben 1996 in Basel) hat dies sehr eindrücklich formuliert:

Für jeden anständigen Menschen muss das Dritte Reich eine Hölle gewesen sein. Auch das Exil war eine Art Hölle, und für einen großen Teil der Emigranten bedeutete es Hunger, Gefängnis, Jagd durch Behörden, stete Flucht vor der Gestapo und der deutschen Armee und Folterung und Tod in Konzentrationslagern, Gaskammern, Gestapobüros. Dazu kam die moralische Hölle, die Hilflosigkeit, die tragische Situation von Kassandra, das Repetierliche einer grausigen Entwicklung, das scheinbar Ausweglose, das internationale Obskurantentum, die internationale Senkung des humanen Niveaus, und die Angst vor dem unausweichlichen Krieg, und der Krieg! Aber jede Hölle hat auch ihre lichten Momente, ihre gemütlichen Ecken, wo des Teufels Großmutter strickt, ihre Witze, ihre Ruhepausen, ihre schönen Stellen. Ich müsste mein Leben verleumden, wenn ich sagen wollte, diese dreizehn Jahre der deutschen Schmach seien nur Bitterkeit und Verzweiflung, Todesangst und banale Prophetie gewesen. Ich habe wahrscheinlich mehr gesehn, gelebt, gedacht und gelitten, als ich in dreizehn Jahren zuhaus in Berlin getan hätte [...].4

Hermann Kesten

Der in Nürnberg aufgewachsene Schriftsteller Hermann Kesten gehörte in der Weimarer Republik zu den wichtigsten Vertretern der Neuen Sachlichkeit. Als Lektor des Kiepenheuer Verlags arbeitete er erfolgreich mit bekannten Autoren zusammen und entdeckte neue Talente, musste dann aber Deutschland verlassen, weil er als jüdisch galt. Von Paris aus arbeitete er für den Exilverlag Querido. 1940 wurde er interniert, konnte jedoch über Großbritannien in die USA fliehen; seiner Frau, Mutter und Schwester gelang es erst nach einigen Monaten, Frankreich zu verlassen. Im amerikanischen Exil setzte sich Kesten für die Rettung europäischer Flüchtlinge ein. 1949 nahm er die US-Staatsangehörigkeit an, zog dann aber 1953 mit seiner Ehefrau nach Rom, später nach Basel. Der deutschen Sprache blieb er eng verbunden. In den Siebzigerjahren wurde er PEN-Präsident und erhielt mehrere literarische Auszeichnungen.

Zur Konzeption des Buches

Allgemein bekannt sind die Exilbiographien der „großen Namen“, vor allem der Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller und Politiker wie Thomas Mann, Albert Einstein und Bertolt Brecht. Die Exilerfahrungen solch berühmter Personen waren zweifellos einschneidend, aber aufgrund ihrer Prominenz und ihrer zahlreichen Kontakte hatten sie privilegierte Bedingungen und relativ große Handlungsspielräume. Gegenüber den prominenten Exilanten, die in Autobiographien über ihre Erfahrungen berichtet haben und deren Briefwechsel veröffentlicht sind, ist das Schicksal der „ganz normalen Exilanten“ viel komplizierter zu rekonstruieren. Sie haben ihre Briefe zu Hause aufgehoben und irgendwann aussortiert, und sollten sie Tagebuch geführt haben, ist es vermutlich nicht veröffentlicht worden. Doch es sind diese unbekannten, vermeintlich unspektakulären Biographien, die den weitaus größten Teil der deutschsprachigen Emigration zwischen 1933 und 1945 ausmachen. Deshalb will dieses Buch nicht nur die berühmten Fälle beschreiben, sondern auch Einblick in die „gewöhnlichen“, letztlich wohl typischeren Exilschicksale geben. Neben geographischen Faktoren bestimmten Geschlecht, Alter, Beruf und Herkunftsmilieu, Familienstand, politische Ansichten, Ausbildung, sprachliche Fähigkeiten und nicht zuletzt Zufälle, wie die individuelle Exilerfahrung verlief und welche Bedeutung sie im jeweiligen Leben einnahm bzw. die Exilanten ihr zuwiesen.

Die zeitliche Eingrenzung des Buches (1933 bis 1945) ist entlang der Dauer der nationalsozialistischen Herrschaft gewählt. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Exil für einige bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 begann. Schon in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre wählten einige Menschen das Exil, weil sie sich in der rechtsnationalistischen, zunehmend radikalen Atmosphäre der späten Weimarer Republik nicht sicher fühlten, sich von den unruhigen politischen Entwicklungen distanzieren wollten oder nach größerem künstlerischen und professionellen Freiraum suchten. Auch das Enddatum, 1945, ist nur ein provisorischer Fixpunkt. Für die meisten Flüchtlinge endete das Exil nicht mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945, sondern erst einige Jahre später – oder auch gar nicht. Die offizielle Bedrohung war 1945 vorüber, aber das hieß nicht, dass die Geflohenen ihre Identität und Lebensform als Exilanten gleich aufgegeben und sich in „Normalbürger“ zurückverwandelt hätten. Das Exil kann ein Lebensschicksal sein, das sich nicht von einem auf den anderen Tag abwerfen lässt, sondern Spuren hinterlässt. Die Übergänge sind fließend, und es lässt sich nur schwer definieren, wo das Exil aufhört und die Emigration anfängt.

Auf Politiker, Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler, die aufgrund ihrer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus das Land verlassen mussten, scheint das Konzept des Exils eher zuzutreffen als auf die große Zahl der „rassisch“ Verfolgten. Doch letztlich lassen sich die Lebensläufe der betroffenen Menschen nur sehr bedingt in solche schablonenhaften Kategorien einpassen. Das Exil konnte sich zur Emigration wandeln, indem die Exilanten ein neues Zuhause fanden und sich im Exilland einlebten, das ihnen bald vertrauter erschien als die frühere Heimat. Einige Flüchtlinge verstanden sich im Moment ihrer Flucht nicht als Exilanten, sondern definierten sich erst später als solche, als sie die politische Situation in Deutschland aus der Distanz beobachteten. Andere verzichteten vollständig auf derlei Definitionen, weil es für sie vor allem darum ging, sich möglichst rasch in der neuen Umgebung zu etablieren, die damit einhergehenden Herausforderungen zu bewältigen und die Chancen zu nutzen, die sich aus der Flucht ergaben. Der Dichter, Maler, Schriftsteller und Soziologe Kurt H. Wolff (geboren 1912 in Darmstadt, gestorben 2003 in Boston), der 1933 nach Italien und 1939 in die USA ging, sperrte sich gegen jede Kategorisierung. Er wolle „nicht als Emigrant, Flüchtling oder Einwanderer definiert werden“, betonte Wolff, dessen Bruder in Auschwitz ermordet wurde, denn „das würde bedeuten, dass Hitler mich wirklich besiegt hat, dass aus mir Hitlers Ebenbild oder Gegenbild, sein Sklave, ein bloßes Ding geworden ist“.5

Von den wenigsten Betroffenen gibt es solch explizite Erklärungen zum eigenen Selbstverständnis wie von Kurt H. Wolff. Aus pragmatischen Gründen werden deshalb im Folgenden die Begriffe „Exilant“ und „Emigrant“ synonym verwendet, ebenso „Heimatland“ und „Herkunftsland“, „Exilland“ und „Gastland“. Wenn von „Exilanten“, „Emigranten“ und „Remigranten“, „Künstlern“ und „Wissenschaftlern“, „Autoren“ und „Politikern“ die Rede ist, sind stets Frauen und Männer gleichermaßen gemeint, auch wenn die Erfahrung des Exils je nach Geschlecht unterschiedlich sein konnte.

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