Читать книгу Mami Bestseller 10 – Familienroman - Corinna Volkner - Страница 3

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Es ist ein schöner sonniger Maitag.

Mutter Bona hat gerade den Gartenweg vom Blütenschnee der Kirschbäume freigelegt, als ihr der Postbote einen Brief über den Zaun reicht.

»Aus Hamburg«, ruft er dabei und lacht in sich hinein, denn mit der Post von Frau Bona hat es so seine Bewandtnis.

»Also von der Dorothea«, freut sich Frau Bona und stellt den Besen zur Seite.

»Das ist doch das Jüngste.

Stimmt’s, Mutter Bona?«

Der Postbote besteigt gemächlich wieder sein Fahrrad.

»Nein, nein! Meine Jüngste ist die Rosalie. Der käme es nie in den Sinn, anderswo zu studieren als hier in unserem schönen Tübingen.«

Der Postbote zuckte die Schultern und gibt zurück: »Versteh einer seine Kinder. Mein Junge will auch fort von zu Hause. Will auf eigene Füße kommen. Da kann man nichts tun, gar nichts.«

»Nein«, erwidert Frau Bona gedankenvoll, »da kann man nichts tun als hoffen, dass …«

Sie seufzt und blickt dem Postboten nach, der den schmalen Weg zwischen Seeufer und Parkgrundstück zurückradelt. Es gibt nur diesen einen Weg hier heraus, und der endet etwa hundert Meter weiter bei der herrschaftlichen Villa dort drüben hinter den Fliederbüschen.

In dieser Villa, die lange schon von den Besitzern, einem alten Professorenehepaar verlassen wurde, um sie gegen einen Platz in der Familiengruft derer von Eschwalds einzutauschen, hatten Anna und Oswald Bona gedient. Sie als Köchin und ihr guter Oswald, der schon seit einigen Jahren tot ist, als Gärtner und Chauffeur.

Arbeitsreiche Jahre, gewiss, denn da kamen ja auch in schöner Reihenfolge die vier Töchter zur Welt.

Vier Töchter!

Frau Bona stößt ein kleines, herzliches Lachen aus, während sie ins Haus geht, um den Brief zu lesen, den ihr Dorothea aus Hamburg geschickt hat.

Oh, dieser Oswald! Vier Töchter! Dabei wollte er unbedingt einen Sohn haben. Hat sie, die gutmütige Anna, sein Ännchen, immer wieder beschwatzt, beim nächsten Mal sei es gewiss ein Junge.

Denkste! Ein Mädchen kam und noch eines. Bis es schließlich vier waren, und sie, die Anna Bona, ein energisches Wort sprach. Genug seien es nun. Alle seien sie gesund und wohlgestaltet.

So war es bei Priska, Hermine, Dorothea und Rosalie Bona geblieben, was auch den alten Herrschaften drüben in der Villa Eschwald nur recht gewesen ist. Schließlich hatte die gute Anna sich auch noch um deren Kochtöpfe zu kümmern, die nicht selten überzuquellen drohten von dem, was übrig blieb für die kleinen, später größer werdenden Mäuler der Familie Bona.

Aber das Professorenehepaar gab gern und von Herzen, denn es mochte die heitere Mädchenschar, die plötzlich den weiten Park um die alte Villa herum mit lärmender Geschäftigkeit und Lebensfreude aus seinem Dornröschenschlaf aufschreckte.

Doch leider verging der Kindheitstraum der Barontöchter schnell wie die Jahre selbst. Kaum flügge geworden, zogen die ersten aus. Priska studierte Medizin und nahm sich in der Stadt ein kleines Zimmer, Hermine begann nach einigen Semestern Jura ihre ersten Erfahrungen als Journalistin bei einer Münchener Zeitung zu sammeln.

Ja, und dann gingen auch die beiden jüngsten fort …

Frau Bona ist in der Küche und holt aus dem Nähkästchen ihre Brille. Sie lässt sich am Fenster in einem Korbstuhl nieder und blickt auf das Kuvert in ihren Händen.

»Hamburg«, murmelte sie und versucht ruhig zu bleiben. Vorhin, da hat sie dem Postboten wohl lachend entgegnet, der Brief sei von ihrer Dorothea. Hat es so fröhlich gesagt, dass sich Franzl Schnitzler, der Postbote, bestimmt gedacht hat, auch mit dieser Bonatochter stehe alles zum Besten.

Aber das ist leider nicht so. Frau Bona ahnt es schon längst. Wohl lesen sich Dorotheas Brief leicht, denn sie klagt nie, ihre zweitjüngste, die vor Tagen zweiundzwanzig Jahre alt geworden ist.

»Warum der Mann nur so hart ist?«, murmelte Bona und öffnet schnell den Umschlag. »Wenn sich die Kinder doch lieben. Warum verweigert ein Vater da seinen Segen?«

Zwei tiefe Atemzüge, dann beginnt sie zu lesen. Es ist ein langer Brief, und er weckt gemischte Gefühle in ihrem Herzen. Doch zum Schluss überwiegt die Freude, und Bona presst die beiden eng beschriebenen Briefbögen an ihre Brust.

»Ja, so was?«, ruft sie unter Tränen aus. »Da werde ich ja bald Oma. Und hier soll es sein. Hier in Tübingen will sie ihr Baby bekommen, die Dorothea.«

Nach diesem ersten Freudenausbruch verfällt Bona in tiefes Nachdenken.

Eine Heirat gibt es vorerst nicht, weil Stefans Vater dagegen ist. Nie empfangen hat er Dorothea auf seinem Gut in Schleswig-Holstein. Sein Sohn sei zu jung zum Heiraten.

Das kann Frau Bona fast verstehen, denn Stefan ist genauso alt wie ihre Tochter, nämlich zweiundzwanzig. Die beiden haben sich beim Studium kennengelernt. Längst noch nicht ist der Stefan in der Lage, eine Familie zu ernähren.

Ist alles richtig. Dennoch!

Energisch richtet sich Bona im Sessel auf, schiebt die Briefseiten zurück ins Kuvert und beschließt, zuerst einmal ihre älteste Tochter Priska anzurufen.

Priska weiß Rat für alles, sie ist ruhender Punkt ihrer Familie geworden, seit Vater Bona dies nicht mehr sein kann.

Zweiunddreißig Jahre ist Priska nunmehr, und Mutter Bona denkt nur ungern daran, dass es da im Tübinger Krankenhaus einen Oberarzt gibt, mit dem Priska demnächst wohl enger zusammenleben wird.

Heiraten werden sie wohl, die beiden, denkt Bona, während sie die Telefonnummer ihrer Tochter wählt.

Um diese Zeit ist Priska auf der Kinderstation anzutreffen. Bald vernimmt Bona die ruhige, wohltönende Stimme ihrer ältesten.

»Ja, Mutter, was gibt’s denn?«

»Etwas, worüber ich gern mit dir reden möchte, Priska. Weißt du, die Doro hat geschrieben … Ja, heute! Stell dir vor, sie – bekommt ein Kind.«

Stille!

Frau Bona hält einen Atemzug lang die Augen fest geschlossen und betet inbrünstig, Priska möge so reagieren, wie sie im Allgemeinen zu reagieren pflegt, nämlich mit Ruhe und Nachsicht.

Da sagt Priska zur Erleichterung ihrer ängstlich lauschenden Mutter: »Damit mussten wir ja fast rechnen bei den beiden. Sind doch noch ziemlich unreife Kinder. Aber nun sprich dich endlich aus, Mutter. Was steht in dem Brief? Geht es ihr gut? Will Doro heimkommen?«

Bona nickt unter Tränen. Bis ihr einfällt, dass Priska sie nicht sehen kann. Da ruft sie schnell in den Hörer: »Ja, Priska! Sie will das Kind zu Hause bekommen. Hier bei uns. Sie schreibt, dass du bei ihr sein sollst in ihrer schweren Stunde. Weil – weil der Arzt in Hamburg doch meint, es könnten Zwillinge sein. Stell dir das nur mal vor!«

Schweigen, dann die leicht amüsierte Stimme der jungen Ärztin: »Ich stelle es mir vor, Mutter. Ach, du meine Güte, fast tut mir der alte Mann auf seinem großen Gut leid. Wie stellt sich Olav Bredersen denn dazu?«

Bona schluckt, dann sagt sie bitter: »Er will es nicht wahrhaben, glaube ich. Er hat seinen Sohn kalt abblitzen lassen, als Stefan ihn vor vierzehn Tagen aufgesucht und um Unterstützung gebeten hat. Dabei kann das Baby täglich kommen, schreibt Dorothea wenigstens.«

Einen Augenblick herrscht Stille am Telefon, und Bona glaubt schon, die Verbindung sei unterbrochen. Doch dann meldet sich Priska wieder, und ihre Stimme klingt warm und mitfühlend.

»Arme Dorothea! Du, Mutter, wir sollten Stefan dazu bringen, seinen Vater eine Weile zu vergessen. Das Kind, oder die Kinder, falls es wirklich Zwillinge sind, müssen ja nicht unbedingt einen Großvater haben. Bei einer Omi und drei Tanten wie uns wird es ihnen gewiss an nichts fehlen. Außerdem – was hindert Dorothea und Stefan dran, hier zu heiraten und zu leben?«

Bona stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ach, Priska, die beiden sind leider richtige Großstadtkinder, das weißt du doch. Vielleicht stößt sich dieser Gutsherr auch daran, dass Doro und Stefan ihr Studium nicht sehr ernsthaft betreiben und – und so – herumgammeln, wie die Leute es nennen.«

Ein fast ärgerliches Lachen, dann Priskas Antwort: »Die Zeiten ändern sich eben, Mutter, und deine beiden jüngsten Töchter sind ein Spiegelbild dieser Veränderungen. Dorothea und Rosalie sind keinesfalls schlechter als Hermine und ich. Sie haben nur andere Zielvorstellungen. Das sollte man ruhig akzeptieren.«

Ja, ja, schon gut, denkt Mutter Bona und ist doch ein wenig getröstet. Es ist alles gut gesagt von Priska, aber nimmt ihr, der Mutter, dennoch nichts von den Sorgen um die beiden Jüngsten.

»Wann wollen die beiden denn kommen?«, fragt Priska und scheint ein wenig in Zeitbedrängnis zu sein. Dafür hat Anna Bona ein gutes Ohr.

So antwortet sie schnell: »Morgen schon, Priska. Stelle dir das vor. Schon morgen! Ich wollte es dir gleich mitteilen. Jetzt richte ich das Zimmer her. Und einkaufen muss ich auch noch.«

»Lass dir Zeit, Mutter! Ich komme morgen früh und bringe Lebensmittel mit. Du sollst dich damit nicht abschleppen. Aber nun entschuldige bitte, ich muss zur Visite.«

»Danke, Priska«, sagt Anna und fügt leiser hinzu: »Warst du bei Rosalie?«

»War ich, Mama«, gibt die Ärztin schnell und, wie es Anna Bona scheint, ausweichend zurück. »Ich will versuchen, Rosalie morgen mitzubringen.«

»Das wäre schön, Priska«, seufzt Anna Bona und legt den Hörer auf.

*

Am nächsten Morgen kommt Priska den schmalen Seeweg heraufgefahren.

Anna Bona hat sie schon erwartet und hilft wenig später beim Ausladen der vielen Tüten und des großen Korbs mit Obst und Gemüse. Das geschieht immer einmal in der Woche, denn für Anna Bona ist das Einkaufen mit einem langen, mühsamen Weg verbunden. Es gibt hier im Stillen Seewinkel längst keinen Laden mehr. Wozu auch? Die wenigen Ansiedler drüben in der Ortschaft fahren alle zum Einkaufen nach Tübingen.

»Ich habe etwas mehr eingekauft«, sagt Priska und stellt den Korb in der Küche ab. »Vielleicht kommt ja auch Hermine zum Wochenende aus München. Die Modemesse ist zu Ende gegangen, und darüber schreiben kann sie hier ungestört.«

»Sie wird schon eintrudeln«, gibt Anna Bona lachend zurück. »Ist ja immer froh, mal frische Luft zu schnuppern und ruhig zu schlafen, die Hermine.«

Auch Priska muss lachen und meint: »Ist schon eine tolle Stadt, ihr heißgeliebtes München. Eine schöne laute dazu.«

Rosalie, ihre Jüngste. Anna Bona fällt nun wieder ein, dass Priska gestern am Telefon gesagt hat, sie wolle versuchen, Rosalie heute Morgen mitzubringen. Samstag fällt der Kunstunterricht ja aus.

Da beginnt die junge Ärztin von selbst: »Rosalie lag noch im Bett, als ich vorhin bei ihr angehalten habe. Sie war gestern auf einer Fete und dementsprechend unausgeschlafen. – Aber, Mutter! Warum gleich wieder so angstvolle Augen?«

Priska legt einen Arm um die rundlichen Schultern der Mutter und fügt seufzend hinzu: »Denkst du denn, mir gefällt es, dass unsere Kleine in dieser Wohngemeinschaft lebt? Aber ich sehe keine Alternative zu dieser Art von Rosalies Drang, etwas Sinnvolles tun zu wollen. Genauso verhält es sich nämlich. Die jungen Leute in der Kommune nutzen Rosalie ziemlich übel aus. Sie spielt dort das Hausmütterchen und sorgt für die ganze Clique in rührender Weise. Mich wundert nur, dass sie nebenher noch die Zeit zum Studium findet.«

Währenddessen ist Priska mit der Mutter vors Haus getreten. Sie blickt auf die nahen Apfelbäume, die wohl in den nächsten Tagen ausschlagen. Dick und prall sind die Knospen, während die Kirschen nun schon verblüht sind.

Tief atmet Priska die milde Luft ein. »Gut, dass Dorothea sich dazu entschlossen hat, zu uns zu kommen, Mutter. Und hoffentlich löst sich Hermine für ein paar Tage von ihrer Hektik in der Redaktion. Ja, ich fürchte, Mama, zum Wochenende wird’s bei dir turbulent zugehen.«

Das hört Anna Bona gern. Ihre Augen strahlen, als sie entgegnet: »Einen Lammbraten werde ich zubereiten und natürlich eine Käsetorte backen. Eure Zimmer habe ich gut durchgelüftet und die Betten frisch bezogen. Kommt nur ruhig, Mädels. Kommt heim, wann immer ihr wollt.«

*

Es ist später Nachmittag.

Dr. Priska Bona begibt sich zur letzten Visite auf die Kinderstation. Flüchtig denkt sie dabei an ihre Schwester Dorothea und den jungen Stefan Bredersen, den sie nur einmal gesehen hat. Das war am Heiligabend, als sich die beiden zu einem Besuch bei Mutter Bona befanden.

»Ach, die Frau Doktor ist bei unserer kleinen Heulliese«, sagt die Stationsschwester lächelnd, als sie die Nachtmedizin für die Kinder bringt.

»Geben Sie Melanie nicht zu viel, Schwester Alma. Wir kurieren die Infektion auch so aus«, mahnt Priska noch und erhebt sich vom Stuhl.

»Frau Doktor, ehe ich’s vergesse, Sie möchten so bald es geht ins Casino kommen, auf eine Tasse Kaffee.«

»Danke, Schwester Alma«, sagt Priska freundlich und geht hinaus. Noch zwei Zimmer, noch vier Kindern gute Nacht sagen, ein wenig Trost zusprechen. Es ist kein schwerer Fall darunter, gottlob.

Priska weiß, wer sie auf eine Tasse Kaffee ins Casino bestellt hat und freut sich darauf. Längst ist es durchgesickert, dass die Kinderärztin und den Oberarzt von der Chirurgischen mehr verbindet als nur kollegiale Freundschaft.

Aber bisher gibt es wirklich keinen Klatsch darüber, was nicht zuletzt Priskas Beliebtheit zuzuschreiben ist.

Gerade will sie den Lift hinauf ins Casino nehmen, als das Heulen des Notdienstwagens sie stoppt.

Hört sich ja an, als sei keine Zeit zu verlieren, denkt die junge Ärztin und drückt automatisch den Knopf abwärts, der sie zur Unfallstation bringt.

Dort herrscht bereits hektische Betriebsamkeit.

Und dann ist es Priska, als wankte der Boden unter ihren Füßen. Sie muss sich an die Wand lehnen, blickt starr auf eine zweite Trage. Sieht wuscheliges dunkles Haar.

Stefan hat so schöne dunkle Locken, denkt sie. Im nächsten Augenblick ist der schreckliche Albtraum vorbei. Die Verunglückten sind in die Station gebracht, nur einige Männer der Rotekreuzwagen stehen vor dem Eingang und diskutieren erregt.

Auf diese geht Priska nun zu und fragt: »Was ist passiert? Wer sind die Verunglückten?«

Sie fragt, obwohl sie die Antwort schon zu wissen glaubt. Aber kann man das Unfassbare glauben?

Was muss ich tun, hämmert es hinter ihrer Stirn, bis ein Anruf ihr die Entscheidung abnimmt.

»Frau Doktor! Bitte kommen Sie sofort in den Kreißsaal. Man verlangt nach Ihnen. Bitte fassen Sie sich.«

*

Im ältesten Stadtteil von Tübingen gibt es ein Haus, das von fünf jungen Menschen bewohnt wird.

Es ist ein schmales Haus mit einem Erkerzimmer, in dem sich an diesem Nachmittag eine Schar Studenten eingefunden hat. Es wird gefeiert, geredet, diskutiert und heftig gespöttelt über eine der ihren. Aus einem recht erfreulichen Grund übrigens, der auch den Anlass der Fete darstellt.

Einer der Studenten drückt es so aus: »Wir vier bemühen uns um den Ruhm der Ewigkeit, während sich Rosalie darum kümmert, dass wir unterdessen nicht verhungern. Seht euch also, liebe Freunde, diesen herrlichen Scheck noch einmal an, bevor wir ihn morgen zur Bank tragen und in klingende Münze verwandeln.«

»Die wir dann wiederum für Miete, Lebensmittel und sonstige längst fällige Rechnungen ausgeben!«, ruft eine Studentin lachend dazwischen.

»Immerhin sind dreitausend Euro wahnsinnig viel Geld für Rosalies Kunstwerk«, meint ein anderer trocken.

»Und vergessen wir bitte nicht, dass es eine Lebensstellung mit sich bringen könnte. Falls Rosalie ihr Kunststudium satthat und, was fatal wäre, uns dazu«, spottet ein vollbärtiger, schlaksiger Junge, der ungefähr in Rosalies Alter sein mag.

Zu alledem schweigt sie, aber ihre heitere Miene wirkt etwas verkrampft.

Gundel, ihre engste Freundin, mit der sie auch das Zimmer teilt, hält es für an der Zeit, einzugreifen. »Was habt ihr eigentlich dagegen einzuwenden, dass Rosalie für diesen Tapetenhersteller Muster entwirft? Nun hat sie einen Preis gewonnen für die hübscheste Kinderzimmertapete. Ich find’s prima, und ihr solltet euch auch ehrlichen Herzens darüber freuen, anstatt in eine sarkastische Diskussion über Kunst und Kitsch zu verfallen.«

Natürlich wird auch Gundel übertönt. Das Geld ist schon okay, das kann man gut brauchen. Aber gegen den Wert dieser Preisverleihung muss man ganz einfach zu Felde ziehen.

»Es ist wahnsinnig verführerisch, merkst du das denn nicht?«, mahnt der älteste der Gruppe und blickt beschwörend in Rosalies Gesicht. »Nach den Tapeten kommen die bunten Teller an die Reihe, danach eventuell die Sparschweine der Banken und Sparkassen. Das will ja alles bunt und hübsch angemalt sein. Aber dafür gehst du doch nicht zur Hochschule für bildende Künste!«

»Warum eigentlich nicht?«, trotzte Rosalie plötzlich und erntet einen Sturm der Entrüstung.

Durch den Trubel dringt die Stimme des Bärtigen, der an der Tür zum Wohnzimmer auftaucht.

»Telefon für Rosalie! Mann, oh, Mann, seid doch mal ruhig. Unsere Preisgekrönte wird verlangt.«

Rosalie geht in die Diele und hört Priskas Stimme am Telefon eigentümlich leise sagen: »Rosalie, gut, dass du da bist. Ich hole dich in einer halben Stunde ab. Wir fahren zur Mutter.«

Lärm dringt aus dem Wohnzimmer, man ruft nach ihr. Rosalie nimmt den Hörer ans andere Ohr und wendet sich etwas ab. »Das geht jetzt nicht, Priska«, sagt sie schnell und hofft, dass die Schwester nicht so viel von der Musik mitbekommt. »Wir haben Besuch von einigen Kollegen aus der Uni. Ich kann unmöglich.«

»Ich brauche deine Hilfe, Kleines! Lass mich nicht im Stich! Also bis gleich!«

Es macht klick. Fassungslos blickt Rosalie auf den Hörer. Da hat Priska doch einfach aufgelegt!

Sofort fühlt sich das junge Mädchen bevormundet. Wie springt Priska denn mit ihr um? Bestimmt so einfach über sie, als wäre Rosalie immer noch die kleine Schwester. Aber nicht so! Das ist ein für alle Mal vorbei.

»Und ich komme nicht mit!«, stößt sie hervor und wirft das Haar trotzig über die Schultern zurück. Gerade jetzt, wo es gemütlich wird.

Sie will zurückgehen. Doch dann stockt ihr Schritt. Was hat Priska gesagt? Ich brauche deine Hilfe?

Das gibt’s doch nicht, denkt Rosalie, während sie sich wieder zu den anderen gesellt.

Lass mich nicht im Stich!

Priskas Worte gleichen doch einem flehentlichen Appell.

Reglos steht Rosalie an der Tür zum Wohnzimmer, sieht plötzlich, dass alle sie anstarren, und sagt ruhig: »Ich muss fort. Meine Schwester hat angerufen.«

Sofort werden energische Stimmen laut, die ihr gebieten, sich um Himmels willen nicht so herumkommandieren zu lassen.

»Du hast dich wohl immer noch nicht gelöst? Und das mit fast zwanzig Jahren! Mädchen, du tust mir leid.«

Henning kommt und will sie um die Taille greifen, aber Rosalie wehrt ihn fast schroff ab. »Ihr spinnt ja!«, ruft sie unter Tränen. »Es muss sich um was Ernstes handeln, sonst hätte Priska mich wenigstens angehört.«

Sie rennt hinaus und in ihr Zimmer am Ende des Korridors. Dort bleibt sie atemlos stehen und denkt nach.

»Mutter«, flüstert sie dann in aufsteigender heißer Sorge. Ist etwas mit ihrer Mutter geschehen?

Schon reißt sie die Häkeltasche vom Rundständer und stopft sie voll mit ein paar Dingen, die sie zu brauchen glaubt. Plötzlich geht es ihr nicht schnell genug, von hier fortzukommen.

*

»Fahre du. Bitte!«

Priska ist schon auf den Nebensitz gerückt, und Rosalie steigt ein. »Prima, dass du mich mal ranlässt«, sagt sie erfreut. Zwar besitzt sie seit einem halben Jahr den Führerschein, doch zu einem eigenen Wagen hat’s bisher nicht gereicht. Aber vielleicht bleibt von dem Scheck etwas übrig. Eine Anzahlung würde schon genügen. Den Rest könnte sie in monatlichen Raten von Priskas Zuschuss abstottern.

»Du, Große«, beginnt sie hoffnungsvoll, »demnächst habe ich mein eigenes Auto. Da staunst du, was? Dreitausend hat mir die Firma für meinen letzten Entwurf gezahlt.«

Rosalie fährt zügig.

»Warum hast du mich eigentlich unbedingt mitnehmen wollen?«, fragte sie und legt an Geschwindigkeit zu. Bald sind sie am See, dann sind es nur noch wenige Minuten bis daheim. Nur noch den schmalen Seeweg hinauffahren. Privatweg der Villa Eschwald.

Alles hier gehört zum Besitz dieser Villa, auch ihr Elternhaus. Auch Mutter Bonas erbrechtlich bewohntes Verwalterhaus.

»Ich wäre längst schon mal nach Hause gekommen«, regt sich Rosalie erneut auf, angesichts des starren Schweigens ihrer Schwester. »Mein Fahrrad hat einen Platten, sonst wäre ich am vorigen Sonntag gekommen. Wenn ich erst meinen Wagen habe, besuche ich Mama öfter. Aber das scheint dich ja alles nicht zu interessieren. Auch nicht mein Preis. Du bist genau wie die Jungs in unserer Kommune. Machst dich vielleicht auch lustig über mich.«

»Nein, Rosalie. Aber nein, Kleines.« Priska sieht sie an, und ihre sonst so klaren blauen Augen wirken ganz dunkel.

Sie blickt in Rosalies Gesicht und denkt: Lass sie ruhig eine Weile noch so froh sein. So halb zornig, halb kindhaft trotzig, weil sich anscheinend niemand mit ihr über den errungenen Preis im Tapetenwettbewerb freut und niemand stolz auf sie ist, als sei es eine Kleinigkeit, dreitausend Euro für diesen Entwurf zu bekommen.

»Ich freue mich sehr für dich, Rosalie«, sagt sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte. »Mutter wird stolz auf dich sein.«

»Wirklich?« Sofort erstrahlt Rosalies Gesicht, und schwungvoll lenkt sie den Wagen in den schmalen Seeweg ein.

»Ob sich Hermine auch mal wieder bei Mama einfindet?« Sie stellt den Motor ab und stößt die Wagentür auf. »Eigentlich eine gute Idee, mich mit hinauszulotsen. Wie schön der Garten aussieht, jetzt, wo die Bäume blühen!«

Sie will aussteigen, als Priska sie leise bittet: »Warte noch, Kleines. Ich muss dir etwas sagen. Es ist ein schreckliches Unglück passiert mit Dorothea und Stefan.«

Priskas Gesicht ist erstarrt im Schmerz, ihre Hand zittert, die sich auf den Arm der jüngeren gelegt hat.

»Nein!«, murmelt Rosalie abwesend und streckt jäh die Hand vor. »Nein, Priska, nein!«

Verstört sieht sie zur Haustür hinüber, die sich auftut. Ihre Mutter kommt heraus, dahinter wird Hermine sichtbar.

Priska stößt einen Seufzer aus und fühlt sich etwas erleichtert. Hermine ist da, gottlob.

Sie steigen nun beide aus dem Wagen, schließen die Türen und gehen langsam in den Garten hinein.

Priska muss Rosalie zurückhalten, die sonst sofort auf ihre Mutter zugestürzt wäre.

»Sei tapfer«, raunt sie ihr stattdessen zu und erntet einen großen, fragenden Blick von der jüngeren.

»Weiß Mama denn noch nichts?«

»Nein«, erwidert Priska leise.

»Aber Doro lebt doch noch, nicht wahr, Priska? Sie darf doch nicht …«

»Komm!«, stößt Priska hervor. »Gehen wir ins Haus. Ich zähle auf dich, Rosalie. Wir müssen jetzt alle sehr tapfer sein und zusammenhalten.«

Tapfer sein? Gefasst? Für Rosalie ist es unmöglich, sich zu verstellen. Und als ihre Mutter mit ihrem lieben, glücklichen Gesicht auf sie zugeht, weil sie sich freut über den unverhofften Besuch ihrer Jüngsten, da bricht Rosalie in ein wildes, fassungsloses Schluchzen aus. An der Mutter vorbei eilt sie ins Haus.

»Was hat sie denn?« Anna Bona blickt Priska an.

»Komm, Mutter. Gehen wir hinein. Gut, dass du hier bist.«

Das gilt Hermine.

Die Schwestern sehen sich an, und sofort weiß Hermine, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss.

Anna Bona ist schon vorausgegangen. Sie will schnell zu Rosalie, um zu erfahren, was das Kind so unglücklich macht.

»Wir sind in Sorge, weil Dorothea und Stefan sich immer noch nicht gemeldet haben«, raunt Hermine der Schwester nun zu. »Mutter zeigt es zwar nicht, aber sie blickt alle fünf Minuten auf die Uhr. Die beiden sind doch schon am frühen Morgen um sechs Uhr in Hamburg abgefahren.«

Priska atmet gepresst, hält sie am Arm zurück und sagt so leise, dass ihre Mutter es nicht hören kann: »Sie kommen auch nicht mehr, Hermine. Sie sind mit dem Wagen kurz hinter der Autobahnabfahrt verunglückt. Man hat sie zu uns ins Krankenhaus eingeliefert. Ich bin froh, dass du hier bist.«

Bestürzt blickt Hermine sie an. »Mein Gott! Ist es schlimm?«

Priska nickt und geht ins Wohnzimmer. Dort hockt Rosalie mit blassem, angstvollem Gesicht in der Sofaecke und wagt es nicht, ihre Mutter anzusehen.

Anna Bona zuckt ratlos die Schultern und sieht ihren beiden ältesten Töchtern entgegen. »Sie sagte kein Wort. Seht euch nur das Mädel an! Was mag ihr widerfahren sein? Priska?«

Das klingt wie ein Hilferuf und legt sich wie eine Zentnerlast auf die Schultern der jungen Ärztin.

Hermine tritt neben ihre Mutter, legt einen Arm um deren Schultern, um sie so einem Sessel zuzuführen. »Komm, Mama, nimm hier Platz. Du kannst Rosalie nur helfen, wenn du versuchst, ruhig und tapfer zu sein. Priska muss dir – muss uns etwas Schreckliches mitteilen, und bestimmt trägt sie schwer daran. Aber es hat wohl keinen Sinn, unsere Große länger mit ihrem bedrückenden Wissen allein zu lassen. Wir müssen es gemeinsam tragen. Also rede, Priska! Die beiden sind verunglückt. Hast du Genaues erfahren können in der Klinik?«

Dankbarkeit gegenüber Hermine empfindet Priska, weil diese ihr den Beginn ihres Berichts erleichtert hat. Hermine hat sich neben die Mutter gestellt, während sie selbst ans Fenster tritt, um von dort leise zu antworten: »Ja, Hermine, ich hatte ja noch Dienst. Stefan hat den Wagen gefahren. Irgendwie ist er in einer Kurve von der Straße abgekommen und gegen einen Pfeiler geprallt.«

»Oh, mein Gott! Ich habe es geahnt!«, entfährt es Anna Bona in tiefster Verzweiflung. Sie will sich erheben, aber sanft drückt Hermine sie wieder in den Sessel zurück. Sie belässt ihre Hände auf den rundlichen Schultern der Mutter und blickt Priska in schweigsamer Herausforderung an.

Priska schluckt trocken, ehe sie schnell hinzufügt: »Mutter, es tut mir so leid. Stefan lebte nur noch einige Minuten, nachdem man ihn ins Krankenhaus eingeliefert hat. Mich rief man gleich zu Dorothea. Sie …«

»Sie lebt also?«, wirft Anna Bona hoffnungsvoll ein. Stumm wendet sich Priska herum und blickt in den Garten. Es übersteigt ihre Kräfte. Warum hat sie den Pfarrer nicht mitgebracht, wie ihr der Geistliche angeboten hat? Oder Dr. Schultheiß, den Hausarzt ihrer Eltern.

»Warum sagst du denn nichts, Kind?«, bittet die zitternde Stimme der alten Frau hinter ihr. »Sprich doch! Bitte! Das Kind? Ist es tot? Hat Dorothea ihr Baby verloren?«

»Baby? Was heißt das, Mama? Erwartete Doro denn ein Kind?« Rosalie hebt ihr auf die Brust gesunkenes Kinn, fieberhafte Spannung im Blick. »Priska?«

Das gleicht einem Schrei, der die Kälte um Priskas Herz vertreibt. Sie dreht sich um, sieht, dass Rosalie zu ihrer Mutter geeilt ist, dicht an ihrer Seite auf dem Teppich hockt und sie mit beiden Armen umfängt.

»Es ist so, Rosalie«, beginnt Priska mit ergriffener Stimme. »Deine Schwester erwartete ein Kind. Sie kam ja eigens nach hier, um es in Tübingen zur Welt zu bringen. Und es war ihr noch vergönnt.«

Sie schweigt und senkt vor dem leidvollen Blick ihrer Mutter die Augen.

»So ist Dorothea also auch tot«, sagt Anna Bona mit schwerer, müder Stimme.

»Oh, Mutter!« Rosalie weint verzweifelt und birgt ihr Gesicht an der Mutter Herz.

»Scht. Scht«, macht diese und wiegt die schmale Gestalt wie ein Kind in ihren Armen, wobei sie keinen Blick vom Gesicht ihrer Ältesten nimmt.

Priskas Lippen zucken, als unterdrücke sie so besser ihre Tränen. Sie hätte auch gern geweint, es hätte sie gewiss erleichtert. Schließlich hat sie mehr noch als Mutter und Schwestern vom Schrecken des Unfalls mitbekommen. Aber auch vom Tröstlichen. Davon muss sie nun unbedingt reden.

»Hört zu, ich war bei Dorothea, war über eine Stunde an ihrem Bett. Sie war klar bei Verstand, und sie war glücklich, denn der Arzt versicherte ihr, dass den Kindern nichts geschehen sei. Ja, den Kindern. Dorothea beschwor die Ärzte, ihre Kinder zu retten. Das geschah dann auch durch eine Kaiserschnittoperation. Aber zuvor hat unsere unglückliche Schwester mir ein Versprechen abgerungen, das ich euch mitteilen muss, weil es uns alle betrifft. Es wird wahrscheinlich unser Leben verändern. Vielleicht lehnt ihr beide, Rosalie und Hermine, es auch ab, euch am Vermächtnis eurer Schwester zu beteiligen. Nun gut denn, ich kann euch zu nichts zwingen. Was mich betrifft, ich halte mich an mein gegebenes Wort, und sollte es mich das Glück meines Lebens kosten.«

Immer ernster und eindringlicher hat Priska zum Schluss gesprochen, und sie erreicht damit, dass der erste heftige Schmerz um die Verstorbene etwas in den Hintergrund tritt.

»Willst du dich nicht deutlicher ausdrücken?«, mahnt schließlich nach einigen Sekunden betroffenen Schweigens die Journalistin.

Und Rosalie hat sich erhoben, scheint die Spannung nicht mehr ertragen zu können, sie liest ihr jedes Wort von den Lippen ab.

»Dorothea beschwor mich, keines ihrer Kinder an Olav Bredersen abzugeben. Ihre letzten Worte klangen unversöhnlich gegenüber Stefans Vater. Gewiss nicht ohne Grund.«

»Kinder?«, fragte Hermine leicht konsterniert. »Ich denke, es geht um das Kind unserer toten Schwester.«

Da zuckt um Priskas Mund ein sanftes Lächeln, ehe sie mit leicht hochgehobenen Schultern bekennt: »Es sind Drillinge. Ja, da staunst du, Mama. Deine Tochter brachte drei gesunde, süße Kinder zur Welt, bevor sie starb. Es sind zwei Jungen und ein Mädchen. Alle drei sind lebensfähig und liegen zurzeit im Brutkasten der Kinderstation. Dort müssen sie noch drei Wochen bleiben, dann dürfen wir sie zu uns nehmen.«

»Aber«, japste Hermine, »wie stellst du dir das vor?«

Priska sieht sie gelassen an. »Ich stelle mir gar nichts vor. Ich sage euch nur, wie Dorothea es sich vorgestellt hat.«

Hermine senkt den Blick. Natürlich hat sie den leisen Tadel in Priskas Stimme gehört. Aber sie ist klug genug, um sofort die Tragweite des Geschehens zu erfassen.

»Wie willst du Bredersen denn die drei Kinder vorenthalten?«, fragt sie schließlich gefasster. »Er hat immerhin in Stefan seinen einzigen Sohn und – Erben verloren. Nun sind da zwei Enkelsöhne, von der Kleinen ganz zu schweigen.«

In Priskas Gesicht tritt zornige Röte. »Du vergisst, dass Doro und Stefan nicht miteinander verheiratet waren. Durch die Schuld von Olav Bredersen. Nun kommt uns dieser Umstand gelegen. Ich habe das bereits geregelt. Im Geburtsschein der Kinder steht: Vater unbekannt. Übrigens lässt Bredersen seinen toten Jungen heimholen.«

Mutter Bona sitzt reglos in ihrem Sessel, hört nur zu, hält die Hände im Schoß gefaltet, als ob sie beten würde.

Jetzt sagt sie bedrückt: »Wenn Dorothea es wirklich so will? Auch Olav Bredersen hat ja ein Herz und wird um seinen Sohn trauern. Wir haben die Kinder. Welch ein Glück, dass sie alle drei unversehrt geblieben sind.« Und Priska anblickend fügt sie flüsternd hinzu: »Ich bin froh, dass du bei Dorothea sein konntest.«

Priska geht zu ihr und neigt flüchtig ihr Gesicht auf das silbrige Haar. »Sie hat nicht gelitten, Mutter, denke immer daran. Ihr letzter Wunsch war es, dass ihre Kinder in uns neue Mütter finden. Sie meinte, da wir ja noch zu dritt wären, möge jede von uns eines ihrer Kinder ans Herz nehmen und halten wie das eigene. Stell dir das nur vor, Mama. Da bekommen deine drei ledigen Töchter Priska, Hermine und Rosalie am gleichen Tag ihr Baby. Was die Leute wohl dazu sagen werden?«

Mit diesen Worten erreicht Priska, dass sich das starre Gesicht der Mutter etwas aufheitert. »Mädel! Priska. Na so was!«

*

Olav Bredersen kam nicht nach Tübingen.

Einen Tag, nachdem er von der Krankenhausverwaltung Bescheid erhielt, dass sein Sohn an den Folgen eines Verkehrsunfall verstorben sei, traf sein Verwalter in der Stadt ein, um alles Notwendige zu regeln. Stefan Bredersen würde in Schleswig-Holstein an der Seite seiner vor drei Jahren verstorbenen Mutter beigesetzt werden.

Priska hätte es gar nicht so rasch erfahren, wenn sich dieser Verwalter nicht per Telefon bei ihr gemeldet hätte, und zwar im Krankenhaus. Er bat um eine kurze Unterredung, die ihm die Ärztin natürlich gewährte.

»Gestatten Sie, dass ich Ihnen mein Beileid ausdrücke«, sagt er hölzern, nachdem Priska den Aufenthaltsraum betreten und sich ihm vorgestellt hat, »zum Tod Ihrer Schwester.«

»Danke. Wären Sie Olav Bredersen, müsste ich jetzt das Gleiche zu Ihnen sagen. Da er es vorzog, nicht herzukommen, fühle ich mich davon befreit«, gibt Priska kühl zurück.

Das Gesicht des Mannes wird noch einen Schein rötlicher, und fast spürt Priska Mitleid in sich aufsteigen. Offensichtlich steht sie einem gradlinigen Menschen gegenüber, der sich in seiner Mission sehr unglücklich fühlt.

Nun winden sich seine Hände ineinander, lösen sich, um für Sekunden in den Taschen seines Sportsackos zu verschwinden. Doch ebenso rasch nimmt er sie dort wieder heraus, wobei er einen tiefen Atemzug tut, ehe er hervorstößt: »Um es kurz zu machen, Bredersen will wissen, was mit dem Kind passiert ist. Der Stefan war ja vor ein paar Wochen auf Gut Bredersen und muss dem Chef gebeichtet haben, dass seine Freundin …, ich meine Ihre Schwester …, dass Frau Bona schwanger sei. Darum also nun die Frage nach dem Kind. Sie verstehen?«

Priska beißt sich auf die Unterlippe, blickt den Mann an und gibt knapp zurück: »Kann sich das Herr Bredersen nicht denken? Was mit einem ungeborenen Kind passiert, dessen Mutter schwerste Unfallverletzungen erlitten hat, sodass sie sterben musste?«

Das sonnenverbrannte, vor Verlegenheit zusätzlich gerötete Gesicht des Verwalters wird fahl und drückt Betroffenheit aus.

Doch ungerührt fügt Priska hinzu: »Geben Sie’s Ihrem Chef genauso wieder, dann wird er wissen, woran er ist, der Olav Bredersen, der es nicht einmal für wert hielt, der schwangeren Freundin seines Sohnes auf dem Gut ein Glas Milch anzubieten. Was das gemeinsame Zimmer der beiden jungen Leute in Hamburg betrifft, so regelt meine Schwester Hermine das mit dem Hauswirt. Wir wären allerdings dankbar, wenn Sie dort abholten, was dem Stefan gehörte. Die persönliche Habe von Dorothea übernimmt meine Schwester. So ist wohl alles geklärt, denke ich. Dem Ordnungssinn Ihres Chefs ist damit Genüge getan. Entschuldigen Sie mich jetzt, ich habe auf der Station zu tun. Gute Heimfahrt.«

Sie wendet sich ab, ohne ihm die Hand zu geben, insgeheim entsetzt über sich selbst. So hart ist sie doch sonst nicht. So unversöhnlich.

Als Priska wieder die Treppe zu ihrer Station hochsteigt, beginnt sie plötzlich zu weinen. Es sind die ersten Tränen seit dem Tode ihrer jungen Schwester.

»Frau Doktor?« Die Stationsschwester blickt sie mitfühlend an. »Warum bleiben Sie nicht einige Tage daheim? Wir schaffen es schon auf der Station.«

Priska nickt und hält ihr Taschentuch an die Wange gepresst. Sie wird heimfahren zu ihrer Mutter. Oder zu den Kindern gehen? Die Kinder gedeihen prächtig, und Olav Bredersen weiß es nicht. Er hat keine Ahnung. Gut so. Vorhin hat sie es sehr geschickt umgangen, bewusst die Unwahrheit zu sagen.

Priska fühlt sich befreit. Vielleicht auch darum, weil sie endlich weinen konnte.

Sie verlässt die Station, in der es um diese Zeit still ist, weil die kleinen Patienten Mittagsruhe haben.

Durch eine Glastür getrennt, ist im Nebentrakt die Säuglingsstation. Dorthin wendet sich die junge Ärztin, um einen Blick auf die Drillinge zu werfen.

Am Ende des langen weiß getünchten Ganges steht vor der gläsernen Trennscheibe eine schmale, kindhafte Gestalt.

»Rosalie? Was machst du denn hier?« Priska tritt an ihre Seite und blickt forschend in das Gesicht, das halb durch die Haarflut bedeckt wird.

»Mutter und Hermine kaufen Trauersachen ein«, gibt Rosalie leise zurück, »aber mir ist es schnuppe, was ich zur Beerdigung anziehe. So bin ich hierhergekommen, und die Schwester war so freundlich, mir die Kinder zu zeigen. Ach, Priska!«

Ein tiefer Atemzug, und zwei Tränen rollen über Rosalies Wangen.

»Ist ja gut, Kleines«, sagt die Ärztin und legt einen Arm um die Schultern der jüngeren Schwester. »Wir schaffen das schon mit den Kindern. Sorge dich nicht.«

Da schüttelt Rosalie heftig den Kopf. »Das tue ich auch nicht, Priska. Sorgen mache ich mir nicht. Ich bekomme mein Baby schon groß. Habe mir schon was einfallen lassen.«

Verwundert fragt Priska: »Was denn, um Himmels willen?«

Zwei Sekunden Stille, in der Rosalie den Blick auf die Kinder hinter der Glaswand gerichtet hält, dann sagt sie mit ungewohnt fester Stimme: »Als Erstes gebe ich mein Studium auf und ziehe zu Mama, wo ich auch mein Kind aufziehen werde.«

Jetzt ist Priska doch sehr betroffen. »Dein Kind? Aber Rosalie, du scheinst dich da in etwas hineinzusteigern …«

Brüsk wendet die jüngere sich zu ihr um. »Dorothea hat jeder von uns eines ihrer Kinder anvertraut und gewollt, dass es eine echte Mutter bekommt. Genau so sehe ich es, und darum ist eines der Babys dort mein Kind. Verstehst du denn nicht, Priska, worauf es ankommt?«

Natürlich versteht die Ärztin, deren Aufgabe es auch ist, in den Seelen der Menschen zu lesen. Dennoch …

»Du bist noch sehr jung, Rosalie«, sagt sie ernst und wendet sich wieder den Kindern zu. »Wenn ich recht verstehe, willst du eines der Babys aufziehen und allen Leuten klarmachen, dass du die Mutter bist. Eine junge Mami ohne Trauschein. Du hoffst, dass mit den Jahren Gras über den Tod deiner Schwester wächst, dass in Vergessenheit gerät, wer die echte Mutter deines Kindes ist. Als ob das je möglich sei. Die Behörden wissen immer Bescheid, und im Geburtsschein deines Pflegekindes wird als Mutter immer der Name deiner Schwester zu lesen sein. Das darfst du nie vergessen.«

Bei ihren letzten Worten sieht Priska mit beschwörendem Ernst in das Gesicht der jüngeren Schwester.

Doch trotzig hebt Rosalie den Kopf und gibt zurück: »Den Geburtsschein werde ich gut zu verbergen wissen, und was die Behörden in ihren Papieren stehen haben, das ist mir egal. Ich weiß natürlich, dass man mir keines der Kinder anvertrauen wird. Das geht alles von dir aus. Du hast dich bereitgefunden, dem Vormundschaftsamt das Sorgerecht anzumelden. Du und Mutter, ihr seid die offiziellen Personen, mit denen sich diese Leute über das Schicksal der drei Waisen den Kopf zerbrechen. Als ob mich dies alles interessierte.«

Fast hochmütig blickt sie an Priska vorbei auf die Kinder, von denen eines nun lauthals zu schreien beginnt. »Sieh nur, Große, diesen kleinen Schreihals hat mir seine sterbende Mutter ans Herz gelegt. Das allein ist für mich wichtig. Ich würde mein Leben für dieses Kind hergeben. Ich habe es jetzt schon sehr lieb. Darum will ich, dass es immer denkt, ich sei seine wirkliche Mutter. Du weißt doch genau …«, nun fährt sie zornig zu der jungen Ärztin herum, »wie wichtig es für ein Kind ist, eine Mutter zu haben. Keine Pflegemutter, keine Fürsorgerin, sondern etwas, womit sich ein Kind identifizieren kann. Immer hast du uns von den mutterlosen kranken Kindern vorgestöhnt, die das städtische Waisenhaus dir auf die Station legt. Die zwar körperlich heilen, deren Seelen jedoch viel kränker seien, als es den Anschein hat.«

»Wie wahr!« Priska nickt, weil ihr ein dicker Kloß im Hals steckt. Sie sieht Rosalie an und erkennt, dass ihre kleine Schwester endlich erwachsen geworden ist.

»Wir werden es richtig machen, Rosalie«, sagte sie und lächelt zum ersten Mal seit Tagen wieder wie von einer schweren Last befreit. »Den süßen Schreihals möchtest du also haben?«

Rosalie nickt mit leuchtenden Augen und gibt der Säuglingspflegerin hinter der Glaswand ein Zeichen.

Diese blickt auf das Bändchen am Handgelenk des Babys und tritt dann an die Glastür. »Es ist das Mädchen. Wie soll es heißen? Wissen Sie das schon? Dann schreibe ich den Namen dazu.«

Rosalie überlegt nur einen Augenblick, dann sagt sie: »Schreiben Sie Dorle. So werde ich es rufen. Mein kleines Dorle. Das ist die Abkürzung von Dorothea.«

*

In den nun folgenden Jahren sollte sich zeigen, dass ausgerechnet die jüngste der Schwestern, nämlich Rosalie, am besten mir ihrer unverhofften Mutterrolle zurechtkam.

Aus zwei Gründen:

Zum ersten stellte sich Rosalie ja sofort kompromisslos auf das Kind ein. Damals knapp zwanzig Jahre alt, sensibel und allem Hilflosen sowieso zugeneigt, gewann das süße, kleine Mädchen ganz spontan ihr Herz.

Sie gab also ihr Kunststudium ohne großes Bedauern auf, nahm stattdessen eine freiberufliche Tätigkeit in jener Tapetenfirma an, die es ihr erlaubte, tagsüber zu Hause zu sein.

So zieht Rosalie wieder zurück zu ihrer Mutter, die darüber natürlich sehr froh ist.

Doch auch aus einem anderen Grunde gestaltet sich Rosalies Leben mit ihrem Kind eigentlich sehr heiter. Ihr Herz hat sich ja noch keinem Manne zugeneigt, ihr bleibt daher erspart, was Priska mit dem Oberarzt Dr. Krüger widerfahren ist.

Allerdings weiß niemand etwas Genaues. Priska selber spricht nicht darüber. Nur einmal, wenige Tage nachdem die drei Kinder von der jungen Ärztin zu Anna Bona ins Haus gebracht wurden, meinte sie auf eine schüchterne Anfrage ihrer Mutter, was denn der Oberarzt zu dem Kind sage, es gehe ihn nichts an.

Im Falle einer Heirat aber doch, gibt Frau Bona daraufhin zurück.

Es wird keine Heirat geben, war Priskas knappe Antwort. Anna Bona braucht einige Tage, um den Mut zu finden, ihre Älteste erneut daraufhin anzusprechen.

Mami Bestseller 10 – Familienroman

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