Читать книгу Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über die alten Römer - Cornelius Hartz - Страница 11
|36|IRRTUM 5: Alle Sklaven hatten ein furchtbares Leben
ОглавлениеIm Jahr 2013 erschütterte ein Film die Welt, der den Finger in eine noch immer nicht verheilte Wunde der US-amerikanischen Geschichte legte: „12 Years a Slave” von dem schwarzen britischen Regisseur Steve McQueen. Chiwetel Ejiofor, ebenfalls ein Brite und Sohn nigerianischer Eltern, spielte darin die reale Figur des Solomon Northup, der Mitte des 19. Jahrhunderts aus einem bürgerlichen Leben an der Ostküste herausgerissen und in die Sklaverei verschleppt wurde, in die Südstaaten der USA. Es folgten viele drastische Darstellungen körperlicher und seelischer Gewalt, bis es Northup am Ende gelang, seine Familie zu kontaktieren und das temporäre Sklavendasein hinter sich zu lassen. „12 Years a Slave” erhielt fast durchweg glänzende Kritiken; bei den Academy Awards wurde er als „Bester Film” ausgezeichnet, insgesamt gewann er über 200 Preise.
Was diesen Film besonders erschütternd machte und von früheren US-Produktionen zum Thema Sklaverei wie „Roots” oder „Amistad” unterschied, war die Tatsache, dass in diesem Fall eben nicht, wie man es ja fast schon gewohnt war, Afrikaner direkt auf dem schwarzen Kontinent entführt und nach Amerika gebracht wurden, wie es in der Realität ja auch zumeist der Fall war. Stattdessen |37|riss man hier jemanden direkt aus dem Herzen der Zivilisation (dies zumindest für nordamerikanische Verhältnisse) und brachte ihn ins Zentrum vorsintflutlicher Barbarei.
Kritiker wiesen damals darauf hin, dass Hollywood bislang mehr Filme über die Sklaverei im alten Rom produziert habe als über diejenige in Nordamerika; und natürlich ist dies für die US-amerikanische Öffentlichkeit ein ebenso schwieriges Thema wie der Genozid an den Ureinwohnern. Tatsächlich finden wir gerade in der Lebensgeschichte von Solomon Northup mehr Parallelen zu den Verhältnissen im alten Rom als beispielsweise in derjenigen von Kunta Kinte in Alex Haleys „Roots”.
Es soll nun natürlich nicht darum gehen, Rom mit den Südstaaten zu vergleichen. Die Sklaverei in den USA des 19. Jahrhunderts war ein furchtbarer Anachronismus, der in erster Linie auf rassistischen Prinzipien und Überzeugungen fußte, die die dortige Gesellschaft noch heute prägen. Das war in der Antike überhaupt nicht der Fall. In allen alten Hochkulturen, von Mesopotamien über Ägypten und Griechenland bis hin zu Rom, wurden Sklaven gehalten. Bereits im Codex Hammurabi aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. werden Sklaven erwähnt, und in allen Kulturen des Altertums war die Sklavenhaltung ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, weshalb man diese Kulturen zum Beispiel im Geschichtsunterricht der DDR gerne kollektiv mit einem von Karl Marx geprägten abfälligen Begriff als „Sklavenhaltergesellschaften” bezeichnete.
Ein berühmtes Beispiel kollektiver Versklavung war die Verschleppung der Juden nach Babylon zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. Der babylonische König Nebukadnezar II. hatte Jerusalem erobert, und wie es bei den Babyloniern schon lange Brauch war, wurde ein Teil der Oberschicht des besiegten Volkes nach Babylon umgesiedelt. Dieses „Babylonische Exil” wird in der Bibel als furchtbare Strafe gezeichnet. So heißt es in Psalm 137, der später Boney M. inspirierte: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die daselbst sind. Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen |38|hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: ‚Singet uns ein Lied von Zion!”’ Dabei weiß man heute, dass das „Babylonische Exil” alles andere als eine Zeit großer Entbehrungen und harter Fron war – im Gegenteil: Die Juden hatten eine eigene Verwaltung, sie wurden allem Anschein nach nicht zu irgendeiner Art von Sklavenarbeit gezwungen, vielen Umgesiedelten ging es dort genauso gut, wenn nicht sogar besser als in ihrer Heimat. Und manche konnten sich dort sogar wiederum eigene Sklaven leisten. Wie sie mit ihnen umzugehen hatten, erfuhren sie im 3. Buch Mose (25.44ff.): „Willst du aber leibeigene Knechte und Mägde haben, so sollst du sie kaufen von den Heiden, die um euch her sind, und auch von den Kindern der Gäste, die Fremdlinge unter euch sind, und von ihren Nachkommen, die sie bei euch in eurem Land zeugen; dieselben mögt ihr zu eigen haben und sollt sie besitzen und eure Kinder nach euch zum Eigentum für und für; die sollt ihr leibeigene Knechte sein lassen. Aber von euren Brüdern, den Kindern Israels, soll keiner über den andern herrschen mit Strenge.”
Ob bei den Juden, den Ägyptern oder den Römern: Sklaverei ist, egal in welcher Form, selbstverständlich zunächst einmal eine furchtbare Angelegenheit. Wenn in der Überschrift dieses Kapitels als Irrtum hingestellt wird, dass alle Sklaven ein furchtbares Leben hatten, so muss der Akzent auf „alle” liegen. Es gab – wenn wir uns nun wieder auf das Römische Reich konzentrieren – zahllose Sklavinnen und Sklaven, die unter menschenunwürdigen Umständen leben und arbeiten mussten. Am schlimmsten traf es diejenigen, die unter Tage arbeiten mussten, beispielsweise in Salz- oder Kupferminen. Das war eine Arbeit, zu der man sonst Verbrecher verurteilte. Gebildete Sklaven, die als Lehrer oder sogar als Ärzte arbeiteten, gab es auch, nur waren sie natürlich weitaus seltener – und teurer. Was für alle Sklavinnen und Sklaven gleichermaßen galt, war, dass sie als Gegenstand galten, als Sache, die das komplette Eigentum ihrer Besitzer war. Sie besaßen kaum eigene Rechte und waren den Launen ihrer Besitzer hilflos ausgeliefert. Dazu gehörte zumindest bis zum Beginn der römischen Kaiserzeit auch, dass sie dem Besitzer, wenn |39|er dies wünschte, sexuell zu Diensten sein mussten. Wie wir aus der Literatur wissen, wurde davon auch häufig Gebrauch gemacht – und das gilt für Sklaven beiderlei Geschlechts. So heißt es in einem derben Gedicht des Dichters Catull (56.5ff.): „Gerade erwischte ich den Sklaven meines Mädchens/beim Wichsen: Dem habe ich es, bei Diona,/zur Strafe mit meiner steifen Rute besorgt.”
Man kann voraussetzen, dass das lyrische Ich dazu die Erlaubnis seiner Freundin hatte, denn die Sklavin oder den Sklaven eines anderen ohne dessen Zustimmung zu vergewaltigen, war streng verboten und galt als Sachbeschädigung.
Wer sich als Sklave gegen seinen Herrn wehrte, lebte gefährlich: In seinen „Annalen” erzählt Tacitus, dass gemäß altem Brauch alle Sklavinnen und Sklaven eines Haushalts getötet wurden, wenn einer von ihnen einen Mord beging. Als beispielsweise einmal ein Stadtpräfekt von einem seiner Sklaven ermordet wurde, tötete man kurzerhand alle 400 Sklaven, die der Präfekt besessen hatte. Denen, die das für ungerecht hielten, entgegnet der Historiker: „Manche werden sagen, dass dabei auch die Unschuldigen sterben. Aber selbst in einem unterlegenen Heer, aus dem jeder zehnte Soldat totgeschlagen wird, ereilt das Schicksal ja auch die besonders tapferen Krieger. Bei einer solchen Handlung ist immer ein wenig Ungerechtigkeit im Spiel, die im Einzelfall unschön erscheinen mag, aber der Öffentlichkeit letztlich zum Nutzen gereicht” (24.44).
Ebenso wahr ist aber auch, dass viele Sklaven Geld für ihre Arbeit bekamen. Dass sie in vielen Fällen so viel ansparen konnten, dass sie sich eines Tages freikaufen konnten. Dass viele Sklaven beim Tod des Herrn oder als Belohnung für besondere Verdienste freigelassen wurden und vielfach sogar das römische Bürgerrecht erhielten. Dass viele Freigelassene wiederum bis in hohe, einflussreiche Positionen im Staat gelangten. Dass sie vor Gericht als Zeugen aussagen durften. Und was ein nicht zu unterschätzender Punkt ist: Den meisten römischen Sklaven ging es in vielerlei Hinsicht besser als einem ganz großen Teil der freien Bevölkerung des Römischen Reichs. Vor allem natürlich den liberti und libertae, den freigelassenen Sklavinnen und |40|Sklaven: Sie waren zwar weiterhin als Klienten von ihrem Patron, ihrem ehemaligen Herrn, abhängig, und dieser konnte in einem Freilassungsvertrag regeln, welche Pflichten sie ihm gegenüber hatten. Dieses Klientelverhältnis war jedoch auch für freie Bürger Roms eine ganz alltägliche Einrichtung, die auch für die Klienten viele Vorteile brachte, zum Beispiel vor Gericht.
Die Sklaverei der Antike unterschied sich von der modernen Form der Sklaverei in Nordamerika in erster Linie dadurch, dass sie sich nicht auf eine oder mehrere bestimmte Rassen beschränkte. Die meisten Sklaven kamen als Kriegsgefangene beziehungsweise Kriegsbeute nach Rom, und je mehr das römische Imperium expandierte, desto größer wurde die Zahl der Nationen und Völker, denen die Sklavinnen und Sklaven entstammten. Ein weiterer Weg, auf dem Sklaven nach Rom kamen, waren die vielen Piraten, die auf dem Mittelmeer unterwegs waren, fremde Schiffe kaperten und die Passagiere auf die römischen Sklavenmärkte brachten.
Es gab im Imperium gallische und griechische Sklaven, afrikanische und iberische, Sklaven aus dem Nahen Osten und von der Donau. Als Julius Caesar Gallien erobert hatte, waren am Ende von geschätzten drei Millionen Einwohnern eine Million umgebracht und eine Million in die Sklaverei verschleppt. Doch längst nicht alle fristeten ein menschenunwürdiges Dasein. Der berühmte römische Philosoph Seneca, seines Zeichens Privatlehrer des römischen Kaisers Nero, plädiert in seinem Brief Nr. 47 für einen aufgeklärten Umgang mit Sklaven: „Mit Freude habe ich von den Besuchern, die bei dir waren, erfahren, wie freundschaftlich du mit deinen Sklaven umgehst. Das zeigt, wie klug und gebildet du bist. ‚Das sind Sklaven’, sagt jemand? Ich sage: Das sind Menschen. ‚Das sind Sklaven’, sagt jemand? Ich sage: Die gehören zur Familie. ‚Das sind Sklaven’, sagt jemand? Ich sage: Das sind Freunde, die lediglich einem niedrigeren Stand angehören. ‚Das sind Sklaven’, sagt jemand? Ich sage: Das sind genau solche Sklaven wie du, denn das Schicksal hält ihnen genauso viel bereit wie dir. Daher finde ich es auch lächerlich, wenn es jemand für verwerflich hält, mit seinem Sklaven zusammen zu speisen … |41|Wenn es jemandem unter Androhung von Schlägen verboten ist, zu reden oder auch nur irgendeinen Laut auszustoßen wie Husten, Niesen oder Schluckauf, … dann kommt es dazu, dass die Sklaven umso mehr hinter seinem Rücken über ihren Herren lästern … Sie sind nicht unsere Feinde, sondern wir machen sie dazu … Vergiss nicht: Der, den du deinen Sklaven nennst, ist aus demselben Samen entstanden wie du. Er blickt in denselben Himmel, er atmet, lebt und stirbt genau wie du!”
Letzterer Gedanke kommt einem beinahe ein wenig zu aufgeklärt für das späte 1. Jahrhundert n. Chr. vor, aber er zeigt einmal mehr, dass es zu jeder Epoche Zeitgenossen gab, die sehr wohl erkannten, dass bestimmte Sitten und Überzeugungen gegen die Würde des Menschen verstießen, in diesem Fall, dass ein Sklave eben mehr war als ein Gegenstand – dass er genauso aus Fleisch und Blut war wie ein römischer Bürger. An dieser Stelle kommt wieder zum Tragen, dass die Sklaven in Rom nicht wie die in den amerikanischen Südstaaten einer bestimmten Rasse angehörten, der sich die Herren sozusagen von Hause aus überlegen fühlten. Seit dem militärischen Sieg über Griechenland beispielsweise gab es in Rom eine große Zahl griechischer Sklaven, und jeder zumindest halbwegs gebildete Römer wusste, dass seine eigene Kultur von derjenigen Griechenlands maßgeblich beeinflusst war – oder wie Horaz es so schön formulierte: „Das besiegte Griechenland hat den gefährlichen Sieger besiegt und Künste und Wissenschaft in das bäuerliche Latium gebracht” (Briefe 2.1.156f.).
Interessant ist an Senecas Brief aber auch, dass der Philosoph nicht etwa fordert, die Sklaverei abzuschaffen. Er wird sehr wohl gewusst haben, dass das Wirtschaftssystem des alten Rom ohne Sklaven sofort zusammengebrochen wäre. Aber das hält ihn nicht davon ab, dafür zu plädieren, Sklaven menschenwürdig zu behandeln. Und wie uns schon der Beginn des Briefes zeigt, war er mit dieser Meinung durchaus nicht allein.
Das änderte sich auch nicht etwa schlagartig mit dem Aufkommen des Christentums. Dem christlichen Philosophen Augustinus |42|(354–430) widerstrebte das Prinzip der Sklaverei zwar, er sah aber keine Möglichkeit, es abzuschaffen, ohne die soziale Ordnung zu gefährden; sie war für ihn ein notwendiges Übel, das – wie alle anderen Übel auch – letztlich auf den Sündenfall zurückzuführen war. Und es gab durchaus christliche Bischöfe, die das Ganze noch „lockerer” sahen und selbst Sklaven besaßen.
Zugleich zeigt die hier wiedergegebene Stelle aus dem Seneca-Brief (wie auch diverse andere Stellen), wie schwer es viele Sklaven hatten, wie schlecht sie von ihren Herren behandelt wurden, und dass ihnen bei Verfehlungen in der Regel Prügel drohten. Und dennoch: Selbst ein Sklave, der in einem Haushalt die niedersten Arbeiten verrichten musste und dabei niemals den Mund aufmachen durfte, ja selbst einer, der beispielsweise auf einem Landgut harte körperliche Arbeit zu leisten gezwungen war, hatte es in der Regel noch immer besser als das unüberschaubar riesige Heer der Angehörigen der untersten Schichten der römischen Gesellschaft.
Cato d. Ä. schrieb bereits 150 v. Chr. in seinem Werk „Über die Landwirtschaft”, wie ein Gutsherr seine Sklaven zu behandeln habe (7.2): „Den Sklavinnen und Sklaven soll es nicht schlecht ergehen. Sie sollen nicht frieren, sie sollen nicht hungern, und ihr Herr soll sie durch Bewegung körperlich fit halten; so kann er auch besser dafür sorgen, dass sie ihn nicht bestehlen oder sonst eine Dummheit begehen. Wenn der Herr nicht will, dass sie etwas Böses tun, dann werden sie es auch nicht tun. Wenn er es doch einmal zulässt, dann soll er sie bestrafen, aber er soll sie auch belohnen, wenn sie sich vorbildlich verhalten – so werden auch andere versuchen, sich vorbildlich zu verhalten.” Zwar definiert Cato die Sklaven als res, „Sachen”, nicht etwa wie Seneca als Menschen. Aber nicht zu frieren und nicht zu hungern und für gutes Verhalten belohnt zu werden – davon konnten arme Bauern oder die Unterschicht in der Stadt nur träumen. Man achtete durchaus darauf, dass ein Sklave gut genährt war und dass er auch eine gute medizinische Versorgung erhielt. Denn sonst fiel ja eine Arbeitskraft aus, in die man bereits bei der Anschaffung einiges investiert hatte. Und je mehr man auf diese Weise auch |43|im laufenden Betrieb in einen Sklaven investierte, desto mehr war man darauf angewiesen, dass er möglichst lang am Leben und produktiv blieb.
Es gab eine ganze Reihe Sklaven, über deren Leben wir ziemlich gut Bescheid wissen, da es ihnen gelang, aus dem Schattendasein der Sklaverei herauszutreten und sogar reich und/oder berühmt zu werden. Hier sind vor allem zwei Namen zu nennen, die eine wichtige Position in der römischen Literaturgeschichte einnehmen: Terenz und Phaedrus. Publius Terentius Afer (ca. 190–158 v. Chr.) ist neben Plautus der zweite große Name der römischen Komödie und der frühen römischen Dichtung überhaupt, sechs seiner Komödien sind bis heute erhalten. Der Beiname des Terenz, Afer, verweist auf seine Herkunft: Er war Afrikaner und kam als Sklave nach Rom. Dort ließ ihn sein Besitzer, ein römischer Senator, frei, nachdem er seine dichterische Begabung erkannt hatte. Schon vor seiner Freilassung hatte der Senator dafür gesorgt, dass Terenz eine hochwertige Ausbildung erhielt. Gaius Julius Phaedrus (ca. 20 v. Chr.–50 n. Chr.) war ein Fabeldichter der frühen Kaiserzeit, der später maßgeblich Jean de La Fontaine beeinflusste. Er seinerseits rezipierte die Fabeln des Äsop, aber anders als der Prosaschriftsteller setzte er seine Fabeln in Verse. Phaedrus war ein Sklave des Augustus, der von seinem Herrn freigelassen wurde. Daher trug er auch dessen Namen: Gaius Julius. Wie bekannt er zu Lebzeiten war, ist umstritten, aber da der Epigrammatiker Martial ihn erwähnt, wird er seinen Zeitgenossen kein Unbekannter gewesen sein (3.20): „Muse, sag mir, was mein lieber Canius Rufus so tut …/Versucht er, Phaedrus’ lockere Scherze nachzuahmen?”
Ein weiterer Sklave, der sich im Bereich der Literatur hervortat, war Marcus Tullius Tiro (ca. 103–4 v. Chr.), Sklave und persönlicher Assistent von Cicero. Er kam bereits als Sklave im Haus des nur wenige Jahre älteren Cicero zur Welt und wurde später zu dessen engstem Vertrauten. Tiro entwickelte eine eigene Kurzschrift, die ihm half, die Reden seines Herrn mitzuschreiben. Im Alter von etwa 50 Jahren ließ Cicero ihn frei, dennoch blieb er aus freien Stücken |44|als Angestellter bei seinem ehemaligen Herrn. Nachdem Cicero 43 v. Chr. ermordet worden war, veröffentlichte Tiro zahlreiche von dessen Schriften, außerdem verfasste er selbst mehrere Lehrschriften, unter anderem „Über korrekten Gebrauch und theoretische Grundlagen der lateinischen Sprache”. In unserer Zeit ist er dann wieder in mehreren literarischen Werken aufgetaucht: als Ich-Erzähler in Robert Harris’ meisterhaften Romanen „Imperium” (2006) und „Titan” (2009).
Wohl genauso berühmt oder vielleicht eher berüchtigt war zu Lebzeiten eine andere Figur der späten Republik: eine Sklavin namens Volumnia beziehungsweise Cytheris. Sie war Schauspielerin und Prostituierte – neben den Gladiatoren war Prostitution der Berufszweig in Rom mit den anteilig meisten Sklavinnen beziehungsweise Sklaven –, und als ihr Besitzer, der reiche Publius Volumnius Eutrapelus, sie in ihren Zwanzigern freiließ, sorgte er durch einen entsprechenden Vertrag dafür, dass sie weiterhin für ihn anschaffen ging. Dennoch gelangte die ungewöhnlich schöne Frau bis in die höchsten gesellschaftlichen Kreise: Marcus Antonius und Marcus Junius Brutus waren beide ihre Liebhaber, genau wie der Dichter Cornelius Gallus: Er verewigte sie in seinen Versen, und Vergils 10. Ekloge, die ca. 38 v. Chr. veröffentlicht wurde, handelt davon, wie sehr Gallus sich nach der ihm untreuen Cytheris verzehrt. Sogar ein Papst war vor seinem Pontifikat einmal Sklave: Pius I. († ca. 155) war Quellen zufolge der Bruder eines der Apostolischen Väter, Hermas, der ebenfalls Sklave war. Man nimmt an, dass Pius, der neunte Nachfolger von Petrus, vor seiner kirchlichen Karriere freigelassen wurde.
Wenn ein Sklave einmal freigelassen war, standen ihm viele Türen offen, und einige legten erstaunliche Karrieren hin, vor allem in der Kaiserzeit. Einige finden sich unter den reichsten Männern des alten Rom. So zum Beispiel Narcissus, ein Freigelassener des Kaisers Claudius, der als Großgrundbesitzer ein Vermögen von 400 Millionen Sesterzen anhäufte (Sueton, Claudius 28); der Gallier Gaius Julius Licinius, ein Freigelassener Julius Caesars, der in seiner Heimat als kaiserlicher Verwalter unter Augustus über 200 Millionen Sesterzen |45|zusammenraffte (Dio 54.21); oder der Freigelassene Gaius Caecilius Isidorus (8 v. Chr.), der seinen Erben 60 Millionen Sesterzen und über 4000 Sklaven hinterließ (Plinius, Naturgeschichte 33.135). Die Liste ließe sich noch um einige Namen verlängern.
Dies sind selbstverständlich alles Einzelfälle, aber immerhin zeigen sie, dass es immer wieder Sklaven und ehemalige Sklaven gab, die aus der anonymen Masse hervorstachen und mehr leisteten als so mancher römische Bürger. Das wiederum ist auch nicht allzu verwunderlich, bedenkt man, wie viele Sklaven es im Römischen Reich gab. Zeitweise lebten allein in der Stadt Rom wesentlich mehr Sklaven als römische Bürger. Aber wieso setzten die Sklaven da nicht mehr daran, sich des Jochs der Sklaverei zu entledigen? Eine Frage, die auch in Quentin Tarantinos Western „Django Unchained” eine Rolle spielt: „Why don’t they just rise up and kill the whites?”, fragt dort der von Leonardo DiCaprio gespielte sadistische Plantagenbesitzer – wenn die Sklaven so viele mehr sind als die Herren, warum bringen sie die Herren dann nicht einfach um? Im Film hat Samuel L. Jackson, der als alter schwarzer Sklave innerlich sozusagen bereits die Seiten gewechselt hat, die Antwort parat; im alten Rom jedoch war es mitnichten so, dass alle Sklaven ihr Dasein einfach so als Schicksal hinnahmen. Wir wissen von mehreren großen Sklavenaufständen im Reich, doch erfolgreich war letztlich keiner davon. Beim letzten, größten und berühmtesten, dem Aufstand des thrakischen Sklaven und Gladiators Spartacus in den Jahren 73–71 v. Chr., kamen insgesamt an die 70.000 Sklaven ums Leben – die letzten Überlebenden kreuzigte man zu Tausenden entlang der Straße zwischen Rom und Capua. Ein wahrlich abschreckendes Beispiel.
Dass die Sklaverei im Römischen Reich schließlich abgeschafft wurde, war übrigens, anders als in den USA, kein plötzliches Ereignis, sondern ein langwieriger Prozess. Etwas vereinfacht kann man sagen: Die Sklavenhaltung wurde zu teuer, und es entstanden in der späten Kaiserzeit andere Formen billiger Arbeit. Die Wirtschaft befand sich über Jahrhunderte hinweg in einer schleichenden Rezession, das Reich hatte längst aufgehört zu expandieren, und während |46|es weiterhin Menschen gab, die vom rechtlichen Status her Sklaven waren, wurden die Lohnarbeiter in den Städten und auf dem Lande schließlich billiger als die Sklaven; in der Landwirtschaft mündete diese Entwicklung schließlich in die Enstehung der Leibeigenschaft. Am Ende konnte man Leute anstellen, die kaum noch etwas kosteten, und zwar ohne sie erst teuer kaufen und dann auch noch versorgen zu müssen. Bis zum geregelten Mindestlohn war es noch ein weiter Weg.
Erteilen wir am Schluss noch einmal Seneca in seinem 47. Brief das Wort: „Ich kann dir einen ehemaligen Konsul zeigen, der der Sklave einer alten Frau ist; ich kann dir einen reichen Mann zeigen, der der Sklave einer jungen Dienstmagd ist; ich kann dir mehrere junge Männer aus guter Familie zeigen, die die Sklaven von Tänzern sind – keine Knechtschaft ist verwerflicher als die freiwillige! Daher solltest du dich auch nicht von irgendwelchen widerlichen Leuten davon abhalten lassen, dich deinem Sklaven gegenüber freundlich zu verhalten und nicht auf hochmütige Art und Weise, so als seiest du etwas Besseres. Es ist besser, deine Sklaven verehren dich, als dass sie dich fürchten.” Leider wissen wir nicht, wie viele Römer es gab, die ihre Sklaven so gut behandelten wie Seneca und sein Freund, dem dieser Brief gewidmet ist. Hoffen wir, dass es möglichst viele waren. Gegeben haben muss es sie.