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Spuren im Schnee

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Ungewöhnlich scharf heulte der Ostwind um die Blockhütte. Wütend rüttelte er an den Blendläden und schlug sie im Spielraum ihrer Verankerungen rhythmisch gegen die Außenbalken.

Helen kniete vor dem Kamin, formte Kugeln aus Zeitungspapier und warf sie zu den anderen in den Feuerraum. Dann schichtete sie sorgfältig ein paar Holzscheite um das Papier. Mit einem der langen Streichhölzer zündete sie sich zuerst die Zigarette an, anschließend hielt sie die Flamme unter einige der aus dem Stapel heraus ragenden Papierzipfel und wartete, bis die ersten Feuerzungen daran leckten, sich zart rauchend höher fraßen.

Fröstelnd streckte sie die Hände vor und bewegte die Finger, umarmte sich dann selbst und rieb über die Ärmel ihrer Wolljacke. Einen Moment lang sah sie zurück zur Eingangstür der Hütte und lauschte den Geräuschen von draußen.

Sie war beunruhigt. Woher die Fußspuren im Windschatten der Hütte? Verweht zwar, doch nur leicht bedeckt von neuem Schnee, und eindeutig von einem Menschen. Woher die Kratzspuren am Türschloss? Wer konnte versucht haben, in die Hütte einzudringen? Und war dieser Jemand noch in der Nähe, wartete auf seine nächste Chance?

Die Gummisohlen ihrer Wanderschuhe quietschten über die schweren Holzdielen. Sie kontrollierte noch einmal die Verriegelung der Eingangstür. Nie hätte sie gedacht, dass dieses Monstrum ihr einmal wichtig werden würde. Nur widerstrebend hatte sie im Sommer nach Onkel Rons Tod - weil David es so wollte - diesen überdimensionalen, hölzernen Schieber anbringen lassen, hatte ihn zuvor nie benutzt. Wenn dieses Ding in die dazugehörige Lasche aus Eisen eingerastet war, kam sie sich hier drinnen vor wie in einem Gefängnis, und das mochte sie ganz und gar nicht. Von nichts und niemandem ließ sie sich in ihrer Freiheit gern einschränken. Von einem hölzernen Riegel nicht, von David nicht und von Barrings, diesem ignoranten Karriere-Arschloch, schon gar nicht.

Was hatte er neulich gesagt? "Führungsqualität beweist man, indem man seine Mitarbeiter so schnell über den Tisch zieht, dass sie die Reibungshitze als Nestwärme empfinden." Und dann hatte er sich eine Weile den Bauch halten müssen, weil er seine 'feinsinnige' Bemerkung offenbar selbst derart witzig fand, dass er mit dem Lachen gar nicht mehr aufhören konnte.

Arschloch!

Verächtlich lachte Helen in sich hinein. Nein, auf diese Weise würde sie niemals mit ihren Untergebenen bei VanBioPharma umgehen. Entweder so, wie es ihrer Art entsprach, oder gar nicht. Dann sollte Barrings sich seine Beförderung zur Chefmanagerin der Filiale in Richmond an den Hut stecken. Auf keinen Fall würde sie sich in ihrem Job den Charakter verbiegen. Die Bauchschmerzen, die ihr einige der pharmazeutischen Bio-Produkte bereiteten, für deren Vertrieb sie zu sorgen hatte, waren schon schlimm genug. Da stand manchmal mehr "Bio" drauf, als tatsächlich drin war.

Nun ja – sie seufzte - es tötete nicht ...

Eine Woche Ruhe von allem - weg vom Weihnachtstrubel, Zeit zum Nachdenken, und als Verbindung zur Außenwelt nur Handy und Laptop. Die Entscheidung, ob sie den Job übernehmen würde, würde sie erst fällen müssen, wenn sie zurück in Burnaby war.


Sie strich über das Holz des armdicken Riegels. Heute empfand sie es als beruhigend, dass er da war. Sie zupfte die rotweiß karierten Vorhänge am kleinen Fenster neben der Tür dichter zusammen, ging zurück vor den Kamin und warf die Zigarettenkippe ins Feuer. Noch immer erschöpft von der Fahrt durch den Schneesturm in den Rockys, von den fünfzig Metern Anstieg mit Gepäck – unten vom Parkplatz ihres Wagens her, ließ sie sich in das alte, fellbezogene Sofa fallen und schleuderte - während sie sich zurück lehnte - in der für sie typischen, energischen Kopfbewegung das lange, rotkrause Haar über die Schulter zurück. 'Meine kleine rote Hexe' hatte Ron sie oft genannt.

Ein wehmütiges Lächeln huschte im Schein des Feuers über ihr Gesicht. "Krause Haare - krauser Sinn, und jede Sommersprosse ein kleines Gottes-Mal für deinen Starrsinn", hatte er oft gesagt. "Verdammt, du bist mir so ähnlich. Unglaublich, dass mein schissiger Bruder eine solche Tochter zustande gebracht hat. Die Gene müssen über Kreuz gelaufen sein, könntest meine Tochter sein. Hoffentlich wirst du nicht irgendwann auch noch so groß wie ich. Es ist nicht gut, als Frau die Männer zu überragen. Das mögen sie in der Regel nicht ..."

Die Erinnerung an das breite Grinsen, das sich bei solchen Worten über Rons wettergegerbtes Gesicht gezogen hatte, akustisch untermalt von ein paar glucksenden Lauten, tief aus dem vorgewölbten Bauch, verstärkte Helens noch längst nicht überwundene Trauer und ließ sie für einen Moment die Situation in Vancouver vergessen.

Ja, sie war hochgewachsen, und es gab nur wenige Männer, zu denen sie nicht herab sehen musste. Ja, sie war unabhängig und hatte sich in einer von Männern beherrschten Welt einen beachtenswerten Platz erobert. Aber gern hätte sie noch eine Weile darauf verzichtet, Rons Erbe anzutreten und die Blockhütte ihr Eigen nennen zu können. Doch seit dem Sommer gehörte sie ihr, und das Sägewerk in Calgary musste auf einen kräftig zupackenden Vorarbeiter verzichten.

Das Feuer schien Fuß gefasst zu haben, die Buchen-Scheite glühten. Helen erhob sich, um noch ein paar Kerzen anzuzünden. Das Flackern des Lichts warf eigentümliches Leben auf die Innenwände aus grob behauenen, kanadischen Kiefernstämmen. Die mit einem Lehmgemisch ausgefüllten Ritzen bröckelten zwar an einigen Stellen, aber das unterstützte eher den rustikalen Charakter, und noch immer zog es nirgends durch.

Helen lächelte. Ron hatte seine ganze Liebe in diese Arbeit gesteckt. Wäre da lediglich der Sturm draußen gewesen, sie hätte die Atmosphäre - wie sonst auch - als urgemütlich empfunden. Doch die Kälte, und diese eigenartigen Spuren da draußen ... Wer trieb sich hier in der Umgebung herum?

Helen rieb sich die Hände bevor sie sich eine neue Zigarette anzündete. Lässig umfasste sie den Hals der Cognacflasche, die sie auf dem Kaminsims abgestellt hatte, schraubte sie auf, goss sich zwei Finger hoch ein, schwenkte das Glas in ihrer Hand und nahm im Stehen einen langen Schluck. Angewidert wischte sie mit dem Handrücken über ihre Lippen. Ekelhaft, dieses Zeug. Doch im Moment brauchte sie Wärme von innen. Gut, dass es in Rons 'Geheimfach' unter der Spüle immer noch einen kleinen Vorrat davon gab. Es würde eine Weile dauern, bis die Sandsteine des Kamins mit Wärme so vollgetankt wären, dass sie sie später ein paar Stunden lang wieder abstrahlen konnten. Bis dahin mussten Cognac und Jacke sie weiter wärmen.


Sie zog Handy und Laptop aus der Ledertasche, setzte sich den handlichen Computer auf die Knie, schaltete ihn ein und ließ ihn hochfahren. Das Handy legte sie in Reichweite der Infrarot-Schnittstelle neben sich aufs Sofa, und als beide Geräte betriebsbereit waren, rief sie ihre Mails ab.

Herrgott, schon wieder dreimal "your_shadow@hotmail.com" als Absender! Seit Wochen verfolgte dieser verdammte Kerl sie mit seinen Drohungen, und Helen zermarterte sich das Hirn, suchte nach Erinnerung daran, wem sie bei welcher Gelegenheit auf die Zehen getreten sein könnte. Wer zum Teufel hasste sie so sehr? Wer beobachtete sie und konnte von all diesen intimen Einzelheiten aus ihrem Leben wissen? Hatte dieser Typ nichts Besseres zu tun, als sie zu verfolgen und mit seinen verdammten Drohungen zu bombardieren?

Die drei Mails waren markiert, und der Cursor zielte schon auf den Löschbutton. Dann war die Neugierde doch stärker. Sie entschloss sich, eine zu öffnen. Die Dritte.

Spürst du meinen Atem in deinem Nacken? Ich bin dir ganz nah, Schatz. So nah wie dein Schatten, dem du nicht entfliehen kannst ...

Nein, das musste sie sich nicht weiter antun.

Helen schüttelte hustend den Kopf, atmete tief durch und ging auf 'Löschen'. Es schien dem Irren entgangen zu sein, dass sie nach Banff abgereist war. Und sie hätte es trotz des Schneesturmes bemerkt, wenn ihr auf dem King Horse Pass oder dem Transcanadian Highway jemand gefolgt wäre. Dort war sie nur von wenige Wagen überholt worden. Keine Scheinwerfer, die während der Fahrt längere Zeit in ihrem Rückspiegel geklebt hätten.

Fast willkommen nun die Mail von David. Er beschwerte sich. In seiner neuen Wohnung war es ihm immer noch zu laut.

Sie kicherte. Hatte er bei der Besichtigung nicht aus den Fenstern geschaut? Logisch, dass seine empfindsamen Musiker-Öhrchen in der neuen Wohnung neben einer vierspurigen Hauptverkehrsstraße nicht nur durch Vogelgezwitscher und Waldesrauschen erfreut werden würden. Helen konnte sich eine Spur von Schadenfreude nicht verkneifen. Ja, es musste für ihn schon eine gewaltige Umstellung sein – nach dem Haus und dem großen Garten in Burnaby nun im Getümmel West Vancouvers zu leben. Doch das hätte er sich früher überlegen müssen.

Sie las weiter.

Aha, Davids neue Freundin Lucy hatte schon wieder zu viel Geld für Klamotten und sündhaft teure Kosmetik ausgegeben, und das, obwohl er doch den Job als Cellist beim CBC Vancouver Orchestra noch immer nicht sicher in der Tasche hatte. Die hielten ihn offenbar hin.

Tja – auch das war nun wirklich sein Problem.

Helen seufzte. David – immer spontan, immer unüberlegt, immer noch wie ein kleiner Junge, der glaubte, sich bei ihr ausheulen zu können, wenn es ihm schlecht ging. Mit seinen vierunddreißig Jahren ein unverändert egoistisches Kind, dem es egal war, ob er ihr mit seinem Gejammer weh tat oder nicht. Mit einer Sensibilität nur für Klänge, nicht für die Befindlichkeiten anderer Menschen - wie viele Musiker, die Helen während ihrer Beziehung mit ihm kennen gelernt hatte.

Sie musste wieder husten, drückte ihre Zigarette dieses Mal im Aschenbecher aus, fuhr mit einem bitteren Lächeln den PC herunter und nahm noch einen Schluck Cognac. Sie spürte, wie die Wärme sich langsam in ihrem Inneren auszubreiten begann.

"Lucy, dieses Miststück! Er hat sie gewollt, und er hat sie verdient, weiß Gott! Eine Freundin? Pah!"

Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass auch David irgendwann ins Lucy-Spinnennetz geraten würde. Diese habgierige Giftspinne, die die Männer frisst, wenn ihre Bedürfnisse befriedigt sind. Dieses Luder, das auch in Gewässern fischte, von denen sie besser die Finger gelassen hätte. Ein Hechtweibchen im Karpfenteich. Und nun wartete sie in Lauerstellung mit ihrem weit aufgerissenen, gierigen Maul darauf, dass die Scheidung endlich durch war, die David ihrer Überzeugung nach ein hübsches Sümmchen bescheren sollte. Doch ha! Helen Burger würde den beiden einen kräftigen Strich durch die Rechnung machen und Lucy diesen Leckerbissen vermiesen. Vom Erlös ihrer frühen Börsenspekulationen würde David keinen Cent zu sehen bekommen. Das Geld war längst unangreifbar unter Toms Namen geparkt.

Tom ... Sie hatte ihrem Mitarbeiter bei VanBioPharma nach Mrs. Hensons Tod die Souterrainwohnung im Nachbarhaus vermittelt. Man hatte die alte Frau vor etwa einem halben Jahr erstochen in ihrer Badewanne aufgefunden. Schrecklich! Seit der Trennung von David verband Tom und sie nun eine zart wachsende Freundschaft. Auf seinem Konto war das Geld so sicher wie in Abrahams Schoß, und sie war sich sicher – ihm konnte sie vertrauen.

Im Gedanken an ihn schloss Helen für einen Moment die Augen, und ein verträumtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ja – doch, sie konnte nicht leugnen, ein wenig verliebt in ihn zu sein. Sie seufzte tief, klappte das Laptop wieder zu und schob es auf den niedrigen Holztisch vor dem Sofa. Das Handy schaltete sie aus und warf es zurück in die Tasche.

Noch immer ein wenig fröstelnd, obwohl es in der Hütte langsam wärmer wurde, wickelte sie sich die Wolldecke um die Beine und lehnte sich in die Kissen zurück.

Das Holz der Hüttenwände reagierte auf den Temperaturanstieg im Raum mit ächzendem Knacken. Geräusche, die sie heute zusammenzucken ließen, obwohl sie ihr vertraut waren, und obwohl Angst für sie bisher eher ein Fremdwort gewesen war.

Vielleicht sollte sie erst einmal schlafen. Ihr fielen ja schon im Sitzen die Augen zu. Die Fahrt heute hatte sie wirklich geschafft.

Gähnend schälte sie sich aus der Decke und legte ein paar dicke Holzscheite nach. Das sollte reichen, um die Steine aufzuheizen und die Hütte bis morgen früh einigermaßen temperiert zu halten.

Sie fischte nach dem Lederriemen ihrer Schultertasche, hob den Koffer vom Flickenteppich und ging mit dem Gepäck hinüber in die Schlafkammer. Die Kerzen ließ sie brennen. Für den Fall, dass sie sich später noch etwas zu trinken holen wollte, oder in der Nacht auf den Eimer musste, der im Winter – besonders in einer Nacht wie dieser - das Toilettenhäuschen draußen zu ersetzen hatte.

Aus Gewohnheit knipste sie ein paar Mal am Lichtschalter in der Schlafkammer. Doch auch hier funktionierte – wie in der gesamten Hütte – natürlich nichts. Kein Strom. Morgen früh würde sie im Keller den Generator anwerfen. Hoffentlich war er technisch in Ordnung, denn sie taugte nicht sehr zum Mechaniker. Daran, einen vollen Benzinkanister mitzubringen, hatte sie zum Glück gedacht. In letzter Sekunde, Gott sei Dank. Aber sie hatte keine Lust, jetzt noch einmal durch den Schnee hinunter zum Auto zu stapfen, um den Kanister zu holen. Keine Lust, und auch ein wenig Furcht ...


Das plötzliche Geräusch riss Helen jäh aus dem Schlaf. Nein, nicht der mit wuchtigen Axtschlägen das Holz spaltende Ron aus ihrem Traum, dieser Lärm war real! Und da war er wieder!

Helens Herz drohte auszusetzen. Sie wagte kaum in die wieder eingetretene Stille zu atmen. Langsam richtete sie sich auf, versuchte die Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen und sich zu orientieren.

Da - erneut dieses Schlagen! Jedes Mal wie ein schmerzender elektrischer Impuls für ihr Herz.

Sie tastete auf dem Nachttisch nach Kerze und Feuerzeug. Im flackernden Lichtschein formten sich langsam die Konturen des Raumes. Sie lauschte.

Schon wieder. Nein, nicht an der Eingangstür, es kam aus dem Keller. Bersten von Holz, wie mit einem Brecheisen bearbeitet.

O Gott!

Helens Herzschlag schien ihren Brustkorb sprengen zu wollen. Blind vor Panik tastete sie nach der Tasche neben ihrem Bett, riss sie zu sich hoch und versuchte beim Durchwühlen so leise wie möglich zu sein. Verdammt! Wieso nur hatte sie ein Faible für unübersichtliche Riesenbeutel, in denen man nichts wiederfand?!

Zuerst bekam sie das Handy zu fassen. Sie warf es aufs Bett und suchte weiter, ließ ihre Finger bis ganz nach unten graben.

Da war er endlich. Zitternd umklammerte sie seinen Griff. Sie zog den Revolver aus der Tasche, entsicherte ihn. Ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter schob sie ihre Beine aus dem Bett und schlüpfte in die Fellpantoffeln.

Dann griff sie nach dem Handy, zwang sich zum Aufstehen und tappte leise zur Tür. Die Kerzen im Wohnraum waren fast herunter gebrannt, sie konnte kaum etwas erkennen. Ein leichter Schwindel, sie schwankte. Zu viel Cognac - verdammt!

Wieder dieses Geräusch! Im Keller, jagte es durch Helens Kopf, während sie mit dem Daumen ihre PIN-Nummer ins Handy zu geben versuchte, da ist jemand im Keller!

Das Display leuchtete zwar, doch sie schien sich vertippt zu haben. Keine Verbindung. Mit bebenden Fingern drückte sie die Pin-Zahlen ein zweites Mal. Endlich! Sie wählte den Notruf, hielt dabei den Revolver fest vor sich - bereit, jederzeit den Abzug ihrer Waffe zu drücken. Kaum anzunehmen, dass rechtzeitig Hilfe kommen würde. Zur Not würde sie sich selbst retten müssen ...

Heiß schoss ihr das Blut in den Kopf. Das Kratzen im Hals kündigte einen Hustenanfall an. Um Himmels Willen nicht jetzt! Bitte jetzt nicht husten müssen! Mit aller Kraft versuchte sie, dagegen anzukämpfen. Doch der Hustenreiz war stärker. Bebend presste sie ihren Arm gegen den Mund. Verdammt!

Und plötzlich diese Stimme aus dem Keller: "Helen? Helen, bist du wach?"

Verwundert ließ sie den Revolver sinken. Tom? Nein, das konnte nicht sein! Einen Moment verharrte sie ungläubig. Dann atmete sie durch. "Tom? Bist du das?" Gott sei Dank!

Mit wenigen Schritten war sie an der Kellertür und drehte den Schlüssel zurück.

"Police Department Banff. Womit können wir helfen?", krächzte es aus Helens Hand, doch in ihrer Verblüffung war sie unfähig zu reagieren. "Hallo? Hallo! ... Bitte melden Sie sich doch!"

Aber Helen konnte nur dem lächelnd die letzte Stufe der Kellertreppe herauf steigenden Tom entgegen starren. Sie schwankte zwischen Freude und Verwirrung.

Lässig nahm er ihr Revolver und Telefon aus der Hand und kappte die Verbindung.

Endlich fand sie ihre Sprache wieder. "Tom, um Gottes Willen, was machst du hier? Du hast mich zu Tode erschreckt! Bist du wahnsinnig?"

Er senkte ihr ein wenig den Kopf entgegen. "Entschuldige. Ich hatte Sehnsucht nach dir, und da hab ich mir gedacht ..."

Helen konnte nicht zuhören. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wie Schneeflocken durcheinander, und ein wenig Argwohn begann sich in ihre Überraschung zu mischen. Verunsichert sah sie zu ihm auf. "Woher wusstest du überhaupt, wo du mich finden konntest?"

"Kannst du dich nicht daran erinnern, dass du mir vor ein paar Wochen auf der Karte gezeigt hast, wo Rons Hütte liegt?"

Ja, das fiel ihr wieder ein. "Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich dir davon erzählt habe, dass ich zu Rons Hütte fahre. Ich hab dir nur gesagt, dass ich mir einen Platz suchen werde, an dem ich ein paar Tage allein sein kann."

"Na, da kam doch nur dieser Platz hier in Frage, oder? Ich dachte, du freust dich trotzdem."

"Freuen? Unter normalen Umständen vielleicht. Aber nach einem solchen Schreck? Wieso kommst du mitten in der Nacht durch den Keller und nicht ...", sie machte eine unsichere Handbewegung, deutete auf den verriegelten Hütteneingang, "wieso nicht ganz normal am Tag und durch die Tür?"

"Durch die Tür? Da hab ich’s versucht, Schatz, aber ich kam nicht rein. Du musst dort einen tierisch wirkungsvollen Mechanismus eingebaut haben."

Er versuchte, ihr noch näher zu kommen, sie zu umarmen. Doch sie wehrte ab, schüttelte den Kopf und stützte die Hände gegen seine Brust.

"Warte mal, warte ..." In ihrem Hirn begannen ein paar Alarmlämpchen zu blinken. "Eins nach dem anderen. Du fährst mir nach, weil du Sehnsucht nach mir hast, ja? Du fragst mich nicht, ob mir dein Besuch recht ist, obwohl du weißt, dass ich in Ruhe über wichtige Dinge nachdenken will - und zwar allein. Dann tauchst du hier auf, obwohl ich mich ja auch auf einer einsamen Insel in irgendeinem Hotel einquartiert haben könnte. Wartest, bis ich schlafe. Und am Ende versuchst du, durch den Keller hier einzubrechen. Richtig?"

Er grinste und nickte. "Ja, richtig. Das sollte ja auch Teil meiner Überraschung sein."

Helen wunderte sich über den harten Griff, mit dem er ihren Arm umfasste, sie vor den Kamin führte und ins Sofa drückte. So grob hatte er sie noch nie behandelt. Das kalte Leder an ihrem Arm. Wieso zog er seine Handschuhe nicht aus? Nur noch Glut im Kamin zwar, doch der Raum war angenehm warm. Da konnte man doch seine Handschuhe ausziehen.

Argwöhnisch schaute sie zu ihm auf und studierte seine Züge. Sein Lächeln verlor für sie plötzlich einiges von seinem Zauber.

"Woher wusstest du, dass ich hier bin, und wie bist du her gekommen?" Ihre Stimme zitterte jetzt, und sie schielte nach dem Revolver, den er noch immer in der Hand hielt.

"Bis kurz vor Banff war ich hinter dir. Immer mit genügend Abstand, versteht sich. Da hab ich mir schon gedacht, dass es in die Hütte geht. Als ich es sicher wusste, hab ich dich überholt. Den Weg kannte ich ja. Bin dir und David auch früher schon mal gefolgt. Musste eine Weile darauf warten, dass du endlich hier ankamst. Tut mir wirklich Leid, Schatz, dass du dein schweres Gepäck ganz allein herauf schleppen musstest." Er verzog sein Gesicht zu einer betrübt wirkenden Grimasse. "Dafür hab ich in der Zwischenzeit ganz hübsch gefroren bei dem Sturm, denn bis ich die Luke in den Keller entdeckt habe, hat es eine Weile gedauert. Irgendwie gerecht - so zum Ausgleich, oder?"

Sein zerknirschter Gesichtsausdruck veränderte sich zu einem Grinsen, das mit einem Mal für Helen etwas Teuflisches, Beängstigendes hatte. Unfassbar, fuhr es ihr durch den Sinn, dass ein Mensch, den man bis vor wenigen Stunden noch sehr mochte, sich derart verändern konnte! Und wieso nannte er sie plötzlich 'Schatz'? Das hatte er vorher noch nie getan.

"Wo ...", versuchte sie ihre fliegenden Gedankenfetzen zu ordnen, "wo hast du deinen Wagen abgestellt? Ich hab ihn gar nicht ..."

"Nein, nein", sein Lachen erschien ihr wie das Bellen eines Hundes, "den hab ich gut getarnt. Den konntest du auch nicht sehen – so gründlich versteckt hinter einem Felsvorsprung und Gebüsch weit unten am Hang. Vermutlich ist er inzwischen völlig eingeschneit. Außer dir soll ihn natürlich auch niemand anderes zu sehen bekommen, denn ich habe vor, so wenig aufzufallen wie möglich."

"Was willst du von mir?" Helens Stimme sackte weg. Jetzt war sie komplett verunsichert.

"Ja, hast du meine Mails denn nicht bekommen?"

Langsam hob er den Revolver und richtete ihn auf ihre Brust.

"Deine Mails?" Helen rang nach Luft. "Your Shadow ... Die waren von dir?!"

Wie eine heiße Welle schoss Panik in ihr hoch. Nein, unmöglich! Er war doch ein so netter Kerl. Liebenswert, vertrauenswürdig, zärtlich, einfühlsam – ganz anders als David. Hätte sie ihm sonst ihr ganzes Geld ...?

Ihr Herz schien aussetzen zu wollen. Sie starrte zu ihm hoch. "Du weißt, ich habe die Erklärung in meinem Safe, in der du mir unterschrieben hast, welcher Betrag auf deinem Konto mir gehört", stieß sie hervor.

Hämisch grinsend wiegte er den Kopf. "Ja, ja, ich weiß. Aber sagen wir es mal so: Dieser Zettel war in deinem Safe." Und er legte die Betonung genüsslich auf das 'war'.

Helens Augen fixierten den Revolver in seiner Hand. Um Gottes Willen, wie hatte sie ihm nur den Schlüssel für ihr Haus anvertrauen können?

Langsam hob sie den Blick und entschloss sich, zu bluffen. "Hältst du mich wirklich für so blöd? Meinst du, ich hätte keine Kopie in meinem Banksafe hinterlegt?"

Zweifel zeichneten ihm eine Steilfalte auf die Stirn. Rasch erfasste Helen ihre Chance, nutzte den kurzen Moment seiner Unsicherheit und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Mit einer dieser raffinierten, flinken Bewegungen, die man ihr im Selbstverteidigungskurs beigebracht hatte. Auch eine Idee von David. Und obwohl sie sich auch zu diesem Thema zunächst geweigert hatte: Anscheinend hatte sie damals die 500 Dollar doch recht gut angelegt. Der Revolver schlidderte über die Holzdielen und landete mit spitzem Klacken vor den Steinen des Kamins.

Tom stürzte sich wütend auf sie, doch sie tauchte unter ihm weg, ließ ihren Körper auf den Boden gleiten, hechtete hinüber zum Kamin. Sie spürte, wie sich Toms Finger in ihre Waden krallten und sie festhielten. Verzweifelt hangelte sie nach der Waffe, konnte sie nicht erreichen.

"Ach das dumme Geld, Schatz", keuchte er hinter ihr. "Das war doch nur ein angenehmer Nebeneffekt. Was glaubst du, wie schwierig es war, direkt neben dir eine Wohnung zu bekommen? Ich musste erst der guten, alten Mrs. Henson zu einem Plätzchen unter dem Rasen verhelfen. Du erinnerst dich doch an sie, oder?" Wieder dieses kalte, bellende Lachen. "Ja, das war hart. Und sie hat nicht glauben wollen, dass jemand, der ihr so lieb die Einkaufstüten in die Wohnung geschleppt hat, plötzlich ein so böser Junge werden kann."

Helen wurde übel. Endlich berührten ihre Fingerspitzen den Revolver. In einer letzten Anstrengung dehnte sie ihren Oberkörper weiter vor, konnte die Waffe greifen. Offenbar hatte Tom nicht mit ihrer Kraft gerechnet. Er schien nicht darauf vorbereitet, dass sie ihm blitzschnell ihre Beine entzog. Entschlossen fuhr sie herum und hielt ihm die Revolvermündung entgegen.

"Mrs. Henson", atmete sie schwer, "aha, das warst du!"

Toms Gesichtszüge schienen ihm zu entgleiten. Er wich zurück.

"Und weshalb wolltest du unbedingt mein Nachbar sein, he?"

Er wischte sich den Schweiß von der Oberlippe und schwieg.

"Ach nein", höhnte Helen, "du bist nur mutig mit einer Waffe in der Hand, was? Ist dir die Lust zu Geständnissen vergangen? Weshalb wolltest du mir nahe sein? Du hast mich doch gar nicht gekannt. Oder? Wie lange verfolgst du mich schon?"

Seine Hand tastete in Richtung Hosentasche, während er ihr starr in die Augen sah. "Lange. Sehr lange."

Helen bemerkte seine Bewegung, sah das Blitzen der Messerklinge.

"Finger weg, und die Hände nach oben, sonst zerschieß ich dir das Knie."

Er tat, was sie gesagt hatte, riss die Arme in die Höhe. Die Entschlossenheit in ihrer Stimme ließ ihm offenbar keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte.

"Steh auf!", herrschte sie ihn an. "Arme in den Nacken und hinüber!" Mit einer energischen Kopfbewegung deutete sie in Richtung Keller.

Widerwillig trottete er vor ihr her. An der Tür blieb er stehen, drehte sich um und sah sie fragend an.

"Was ist? Geh weiter!", befahl sie und wies ihm mit der Waffe den Weg.

"Da hinunter?" Er blinzelte irritiert.

"Natürlich da hinunter. Fürchtest du dich etwa plötzlich?", spöttelte sie. "Du kennst dich in diesem Keller doch aus. Hast schließlich stundenlang dort unten gehockt und darauf gewartet, dass du mich endlich schnarchen hörst."

Tom stolperte die Treppenstufen hinunter. Helen folgte ihm – die Waffe zwischen seinen Schulterblättern, die Kerze, die sie sich rasch vom kleinen Tischchen neben dem Kellereingang gegriffen hatte, in der anderen Hand.

"Setz dich vor den Pfosten da drüben und leg die Arme nach hinten!"

Helen stellte die Kerze ab, zog eine von Rons Ketten vom Haken, legte sie Tom mit weiter vorgehaltener Pistole um den Hals, schlang sie hinter dem Pfosten fest, wickelte sie auch um seine Handgelenke und ließ den Karabinerhaken einrasten. Danach legte sie den Revolver zur Seite, umschlang seine Beine mit einem Seil, zog eine von Rons Bärenfallen aus dem Regal und schob sie Tom vorsichtig unter die Füße. Dann griff sie wieder nach der Waffe. "Wenn du dich bewegst, schnappt sie zu." Tom lief trotz der Kälte der Schweiß von den Schläfen.

Draußen war es stiller geworden, der Schneesturm musste sich gelegt haben. Fahles Mondlicht drang durch die Spalten der Kellerluke und warf blassblaue Lichtstreifen auf die in den Fels geschlagenen Wände.

"Wie lange verfolgst du mich?", wiederholte Helen ihre Frage - mit einer Kälte in der Stimme, die sie selbst erschreckte.

"Unser Vater, dieser Schlappschwanz ... Er hat meine Mutter geschwängert und sie ohne einen Cent sitzen lassen."

Ungläubig schüttelte Helen den Kopf. "Unser Vater? Du willst mir doch jetzt nicht erzählen, dass du mein Bruder bist. Mein Vater war kein Frauenheld. Niemals hätte er mit einer anderen Frau ..." Sie brach ab. Der Revolver in ihren Händen bebte. Und wenn es tatsächlich so wäre? Tom – ihr Bruder? Unfassbar!

"Wenn du dich da mal nicht gewaltig täuschst, meine Liebe. Der Typ hat euch alle an der Nase herumgeführt. War er nicht recht häufig auf Geschäftsreisen?"

Für einen Moment fühlte Helen sich verunsichert. Sie wedelte mit der Waffe. "Na, dann erzähl mal weiter. Jetzt bin ich aber gespannt."

Tom lehnte den Kopf an den Balken, an den er gefesselt war, und grinste sie an. "Wenn unser lieber Vater in Richmond zu tun hatte, hat er es doch sicher als 'Geschäftsreisen' ausgegeben, oder? In Wahrheit lebte meine Mutter dort, und auch die verlangte ab und zu nach seiner Anwesenheit." Er rasselte mit seinen Ketten. "Tja, und manchmal kommen bei einer heißen Affäre nun mal auch kleine Baby heraus. Unserem Alten muss die Kinnlade herunter gefallen sein, als meine Mutter es ihm erzählt hat, und seitdem ward er nicht mehr gesehen. Wie hat er deiner Mutter nur erklärt, dass es in Richmond für ihn plötzlich nichts mehr zu tun gab. Wohin seine 'Geschäftsreisen' wohl anschließend geführt haben? Wer weiß, wie viele Geschwister es außer uns beiden noch gibt."

Er stockte, senkte das Kinn gegen die Brust und zog geräuschvoll Luft durch die Nase. "Irgendwann bin ich im Heim gelandet", fuhr er fort, "weil meine Mutter es nicht mehr geschafft hat mit mir. Sie hatte schon Mühe, sich selbst durch zu bringen. Mann, das war hart, sag ich dir. Später kam ich zu Pflegeeltern, die mich wie ihren Sklaven behandelt haben. Es war kaum auszuhalten bei denen. Als ich vierzehn war, wollte ich endlich wissen, wo dieser Vater lebt, von dem mir meine Mutter in ihren Briefen geschrieben hatte. Ich hab mich auf die Suche gemacht, hab ihn irgendwann gefunden." Er schüttelte den Kopf, so gut es – eingezwängt von den Ketten - ging. "Herrgott, der Kerl lebte wie die Made im Speck. In einem respektablen Häuschen mit gepflegtem Garten. Er kümmerte sich rührend um seinen hübschen, neuen Balg, rothaarig, wie ich, während ich gerade von diesen beschissenen Ersatzeltern abgehauen war und nicht mehr zu meiner Mutter zurück konnte. Die war inzwischen nämlich an einer Lungenentzündung krepiert. Ohne Krankenversicherung einfach verreckt in ihrem Loch ..."

Er schwieg. Seine Oberschenkel vibrierten von der konzentrierten Anstrengung, die seine Füße über der Bärenfalle eigentlich ruhig halten sollte.

Helen kämpfte gegen das Mitleid. Doch immerhin hatte dieser Kerl die herzensgute Mrs. Henson umgebracht, und wie sollte sie wissen, ob er ihr nicht neue Lügen auftischte, um seinen Hals zu retten? Inzwischen traute sie ihm alles zu.

"Du hast meine Familie also seit Jahren beobachtet."

Er nickte wortlos. Die Kette klirrte am Pfosten, als er seine Arme in eine andere Position bringen wollte.

"Und wo hast du gelebt in all der Zeit?"

Seine Schultern zuckten kurz. "In zerfallenen Häusern, unter Brücken, in alten Schuppen hinter feinen Häusern ... Mal hier, mal da eben. So lange, bis ich einen Job als Kurierfahrer hatte. Da konnte ich mir ein winziges Hotelzimmer leisten. Hab Kurse besucht, mir Bücher gekauft und gebüffelt wie ein Wilder, weil ich fand, dass mir als dem Sohn meines feinen Vaters ein besseres Leben zustand. Der Abschluss war kein Problem. Bin ja nicht blöd. Genau wie du." Er löste einen Moment lang seinen Blick von der Bärenfalle und grinste zu ihr hoch. "Muss wohl an den gemeinsamen Genen liegen."

Helen spürte, wie ihr das Unbehagen auf den Magen schlug.

"Nun ja", fuhr er fort, "und dann klappte es auch mit dem Job bei VanBioPharma ziemlich schnell. Da war doch diese Stelle im Labor frei geworden, vielleicht erinnerst du dich an Marc Bowman ..."

Helen drohten die Knie wegzusacken. Sie stützte ihren Rücken gegen die Felswand und straffte den Arm, der - während sie seinen Worten gelauscht hatte - die Pistole ein Stück hatte absinken lassen.

"Das warst auch du?", hauchte sie. Und dann mehr zu sich selbst: "Sie haben Marc tagelang gesucht und seine Leiche erst Wochen später am Ufer des False Creek gefunden. Mit einem Messer zwischen den Rippen ..."

Helens Mageninhalt brannte hoch. Würgend stolperte sie die Stufen der Kellertreppe nach oben. In letzter Sekunde hatte sie den Pinkeleimer im Schlafraum erreicht. Angewidert spuckte sie den gelblich-grünen Brei hinein. Erschöpft sank sie danach auf den Boden, lehnte sich gegen die Wand und zog die Knie an den Körper. Schwer atmend rang sie nach Fassung. Himmel, was sollte sie nur tun? Dieser Mann war ein Ungeheuer!

Eine Weile saß sie so da und schluchzte in sich hinein. Dann löste sie sich mit einem Ruck aus ihrer Haltung, erhob sich wieder und ging hinüber zur Kellertür.

Entschlossen stieß sie sie zu und drehte den Schlüssel herum.

Seine verzweifelten Rufe ignorierte sie, während sie sich in der Schlafkammer ankleidete, danach die wenigen ausgepackten Sachen zurück in den Koffer warf.

Was hatte er gesagt? Gemeinsame Gene? Nun gut!

Die Kofferverschlüsse rasteten ein.

Im Wohnraum stellte sie die Cognacflasche zurück in den Schrank, schob das Laptop in die Tasche, steckte die Pistole ein, fand das Handy in einer der Sofaspalten und ließ es ebenfalls in ihren Lederbeutel gleiten. Danach entriegelte sie die Eingangstür und sah sich noch einmal um. Drei Kerzen kämpften in ihren metallenen Leuchtern gegen das Verlöschen. Gut so, sollten sie ausbrennen. Sie konnten keinen Schaden anrichten. Und falls doch – auch nicht schlimm. Dann wären zwei Fliegen mit einer Klappe ...


Frisch strömte Helen beim Öffnen der Tür die klare Morgenluft entgegen. Sie atmete tief durch. Noch war es dunkel draußen, doch ihre Augen hatten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt, und der klare Sternenhimmel schien sich in unzähligen, glitzernden Lichtern über dem Schnee zu spiegeln.

Sie stellte ihr Gepäck ab, verschloss die Blendläden der Hütte.

Zum Glück war der Findling hinter dem Haus nicht festgefroren. Sie wischte den Schnee ab, sammelte all ihre Kraft und stemmte sich gegen den Stein. Immer und immer wieder. Gott, war der schwer. Mit einer Eisenstange, die an der Hüttenwand gelehnt hatte, gelang es ihr endlich, ihn von der Stelle zu drücken und an seinen neuen Platz zu rollen. Die Kellerluke ächzte ein wenig unter seinem Gewicht.

"Ich hoffe, du verzeihst mir", rief sie durch den Spalt und klopfte sich den Schnee von den Handschuhen. "Meine Nachbarn werden sich einen neuen Untermieter suchen müssen, und für die Stelle im Labor findet sich jemand Neues, da bin ich sicher. Es warten ja so viele auf einen Job. Halt die Füße still, wenn du sie behalten willst, bis es vorbei ist. Du wirst Geduld brauchen, denn vor dem Frühjahr kommt hier niemand vorbei. Die Entsorgung der Überreste regele ich dann später ..."

Verwandte Gene?

Vielleicht.

Ein Schauer lief über ihren Rücken, doch Helen fühlte sich fast beschwingt. Kalt lächelnd schulterte sie ihren Lederbeutel, nahm auch das restliche Gepäck und stapfte den Hang hinunter zum Wagen.

Nicht nötig, länger darüber nachzudenken. Gleich nach den Feiertagen würde sie Barrings mitteilen, dass sie den Job übernehmen wird ...

Spuren im Schnee

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