Читать книгу Erst wenn die Nacht beginnt - Cristina Alandro - Страница 4

Kapitel 1

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Noéra. – Noéra!“

Die Stimme ihrer Mutter hallte durch die Halle des Hauses und riss Noéra aus dem Schlaf. Sie hasste es auf solch unsanfte Weise geweckt zu werden. Grimmig zog sie sich die Bettdecke über den Kopf und drehte sich noch einmal herum. Sie hatte noch keine Lust aufzustehen denn sie ahnte bereits dass der Tag nichts Gutes bringen würde.

Wenige Minuten später klopfte es leise an ihre Türe und kurz darauf betrat Sarah, das Dienstmädchen der Haydens, leise das halb verdunkelte Zimmer und trat an Noéras Bett.

„Ms. Noéra, bitte steht auf. Eure Mutter ist bereits außer sich vor Wut. Ihr werdet noch zu spät zum Empfang kommen.“

„Das ist mir egal. Ich habe sowieso keine Lust zu diesem Empfang zu gehen.“ Widerwillig schüttelte Noéra den Kopf, schlug aber dennoch die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Sie wollte verhindern dass Sarah den Zorn ihrer Mutter zu spüren bekam, nur weil sie, Noéra, sich widersetzte. Daher stand sie wenige Augenblicke später schließlich auf, wusch sich und ließ sich von Sarah helfen sich anzukleiden. Da dieser sonnige Julitag versprach warm zu werden, entschied Noéra sich für eine luftige Garderobe. Sie ließ sich von Sarah das neue Kleid bringen, das ihre Mutter erst in der vergangenen Woche beim Schneider hatte abholen lassen. Es war ein hübsches bodenlanges Kleid aus hellblauer Seide. Die kurzen Ärmel, sowie der hochgeschlossene Ausschnitt waren mit weißer Spitze verziert und der weite Rock fiel elegant über die bauschigen Unterröcke und schwang bei jeder von Noéras Bewegungen leicht mit. Noéra gefiel sich als sie sich im Spiegel betrachtete. Der helle, glänzende Stoff betonte den leicht dunklen Teint ihrer Haut und bildete einen schönen Kontrast zu ihrem dunkelbraunen Haar.

„Ihr seht wunderschön aus“, flüsterte Sarah ihr mit einem verschwörerischen Lächeln zu, als sie hinter Noéra trat. Noéra erwiderte ihr Lächeln im Spiegel.

„Danke“, sagte sie leise, wurde dann jedoch wieder ernst als sie sich daran erinnerte aus welchem Anlass sie sich so herausgeputzt hatte.

Heute gaben die Gillivans einen großen Empfang in ihrem Sommerhaus einige Meilen von der Stadt entfernt. Den Gillivans gehörte eines der größten Industrieunternehmen der Region und sie waren einer der wichtigsten Geldgeber für die Universität an der Professor Hayden Geschichte und Archäologie unterrichtete. Außerdem waren die Gillivans und die Haydens schon seit vielen Jahren befreundet. Gegen das Fest an sich hätte Noéra gar nichts einzuwenden gehabt. Sie freute sich sogar darüber, die Stadt an diesem schönen warmen Tag verlassen zu können und aufs Land hinaus zu fahren. Und auch die Gillivans mochte sie sehr gerne. Das ältere Ehepaar war für sie beinahe zu einer Art Ersatzgroßeltern geworden seit ihre eigenen Großeltern vor ein paar Jahren gestorben waren. Sie waren es auch gewesen die Noéra geholfen hatten über den Verlust ihrer geliebten Großeltern hinwegzukommen, als sie sie für einige Monate zu sich in ihr Landhaus geholt hatten. Für Noéra war dieser Verlust weit schlimmer gewesen als für den Rest ihrer Familie, jedenfalls glaubte sie das. Das Verhältnis zu ihren Großeltern, die ebenfalls in dem geräumigen Stadthaus der Haydens gelebt hatten, war viel inniger gewesen als das zu ihren Eltern oder ihrer ein Jahr älteren Schwester Lydia. Doch obwohl sie sich freute Martha und Roger Gillivan wiederzusehen verspürte sie ansonsten keinerlei Lust, zu diesem Empfang zu gehen. Sie mochte es nicht besonders, so viele Leute um sich zu haben mit denen sie gezwungener Maßen Höflichkeiten austauschen musste. Außerdem würde sie sich wieder fühlen wie auf einem Präsentierteller, dessen war sich Noéra sicher. So war es ihr bereits auf den vergangenen Festen und Bällen ergangen, zu denen ihre Mutter sie und Lydia geschleppt hatte. Während Lydia es genoss im Mittelpunkt zu stehen und geradezu aufblühte wenn sie von allen Seiten Aufmerksamkeit bekam, war Noéra dieses Gefühl zutiefst zuwider. Noch schlimmer war es geworden seit sich Lydia vor etwa einem Monat mit dem Sohn eines bekannten Geschäftsmannes aus London verlobt hatte. Denn nun lag Jane Haydens ganzes Augenmerk auf Noéra und darauf, auch für ihre jüngere Tochter möglichst bald einen passenden Ehemann zu finden. Das Problem war jedoch, dass Noéra unter passend etwas ganz anderes verstand als ihre Mutter, weshalb sie in letzter Zeit bereits mehrfach in Streit geraten waren und ihr ohnehin schwieriges Verhältnis zueinander weiter belastet wurde. Noéra wollte ihren zukünftigen Ehemann eines Tages selbst wählen und erst dann, wenn sie sich selber dazu bereit fühlte. Und dieser Zeitpunkt war noch lange nicht gekommen, doch das schien ihre Mutter nicht zu interessieren. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sie, Noéra, nur aus Liebe heiraten würde und nicht irgendeine gute Partie. Und unter all den Männern, die ihr bisher den Hof gemacht hatten, war nicht ein einziger gewesen, den Noéra auch nur entfernt in Betracht gezogen hätte. Es waren zwar durchaus ein paar nette und sogar ganz passabel aussehende junge Herren dabei gewesen, doch das alleine reichte in Noéras Augen eben nicht aus. Sie glaubte fest daran dass es irgendwo auf der Welt das passende Gegenstück zu ihr gab, ihren Seelenverwandten. Das durfte sie nur nicht laut sagen, denn schon einmal war sie von ihrer Mutter und ihrer Schwester wegen ihrer vielleicht viel zu romantischen Vorstellung von der Liebe ausgelacht worden. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal wiederholen.

„Du liest zu viele schlechte Romane“, hatte ihre Mutter verächtlich zu ihr gesagt. Doch damit hatte das überhaupt nichts zu tun, dachte Noéra auch in diesem Moment wieder und kam damit in die Realität zurück, nachdem Sarah sie leicht angestupst hatte, da sie einen viel zu langen Augenblick gedankenverloren vor dem Spiegel gestanden war.

„Ihr solltet nun wirklich hinuntergehen. Die anderen warten bereits auf Euch.“ Und als Noéra sich zu ihr herumdrehte fügte Sarah noch hinzu: „Auch dieser Tag wird vorübergehen. Und wer weiß, vielleicht wird es ja ein schönes Fest und es gefällt Euch.“

„Ja, vielleicht“, entgegnete Noéra noch immer nachdenklich.

„Danke – für alles.“

Lächelnd sahen sich die beiden jungen Frauen an. Sarah war für Noéra weit mehr als eine Hausangestellte. Sie war ihr eine liebe Freundin und Verbündete in diesem Haus, vielleicht ihre liebste Freundin überhaupt, die sie jederzeit verstand und zu ihr hielt. Noéra hatte sie schon oft gebeten, sie nicht mehr so förmlich anzusprechen, doch Sarah bestand darauf. Sie wollte auf keinen Fall Mrs. Haydens Zorn auf sich ziehen weil sie es am nötigen Respekt ihrer Tochter gegenüber fehlen ließ. Doch auch Sarah mochte Noéra sehr und freute sich über ihre Freundschaft. Sie waren fast gleich alt und waren mehr oder weniger zusammen aufgewachsen, denn Sarahs Mutter stand schon seit vielen Jahren im Dienst der Haydens. Und Noéra war so ganz anders als der Rest ihrer Familien. Weder so arrogant und hochnäsig wie ihre Schwester, noch so aufbrausend und wichtigtuerisch wie ihre Mutter. Und schon gar nicht so streng aber teilweise oberflächlich wie ihr Vater Robert Hayden. Nein, in Sarahs Augen war Noéra sehr viel liebenswerter als ihre Familie und sie schätzte sich glücklich, ihr eine gute Freundin sein zu können. Als sie nun gemeinsam das Zimmer verließen drückte sie noch einmal Noéras Hand, dann zog sie sich zurück.

„Da bist du ja endlich“, wurde Noéra am Fuß der Treppe von ihrer Schwester begrüßt. „Wegen dir kommen wir noch zu spät.“

Noéra zuckte jedoch nur mit den Schultern und ging zur Haustür, die offen stand da ihre Eltern bereits zur Kutsche vorausgegangen waren. Sie wollte nicht mit ihrer Schwester streiten. Ihrerseits schweigend folgte Lydia Noéra zur Kutsche und als sie beide eingestiegen waren gab Robert Hayden dem Kutscher das Signal loszufahren. Mit einem Ruck setzte sich der leichte Zweispänner, der von zwei Braunen gezogen wurde, in Bewegung und rollte in zügigem Tempo durch die Straßen von Wilchester.

„Hübsch seht ihr beiden aus“, lobte Jane Hayden ihre Töchter und betrachtete sie anerkennend. Während Lydia sich wie ein kleines Kind über dieses Lob ihrer Mutter freute sah Noéra weiterhin starr aus der Kutsche hinaus und beobachtete die an ihr vorüber ziehende Landschaft. Jane Hayden war sehr zufrieden mit ihren beiden Töchtern, waren sie auch noch so verschieden. Beide waren äußerst hübsch und wohlerzogen. Lydia mit ihrem blonden Haar, dem hübschen herzförmigen Gesicht und den strahlend blauen Augen war ihr Liebling, das konnte sie nicht leugnen. Sie war ihr selbst sehr ähnlich und es hatte nie Probleme zwischen ihnen gegeben. Anders als mit Noéra. Ihre jüngere Tochter war ganz anders als ihre Schwester und sie erschien ihr manchmal fremd. Noéra hatte ihren eigenen Kopf und lehnte sich gegen sie auf. Ihr Verhältnis zueinander war oft schwierig, aber dennoch liebte Jane Hayden auch ihre zweite Tochter mit den hüftlangen, dunkelbraunen Locken und den außergewöhnlich bernsteinfarbenen Augen. Und sie war sich sicher dass auch Noéra bald einsehen würde dass sie nur das Beste für sie wollte.

Der Empfang bei den Gillivans heute war eine gute Gelegenheit, weiter nach einem geeigneten Verehrer für Noéra Ausschau zu halten. Wobei sie sich eigentlich sicher war, bereits den passenden Mann für sie gefunden zu haben. Nun musste sie ihre Tochter nur noch von ihrer Wahl überzeugen. Das bereitete ihr zuweilen Kopfzerbrechen, zumal sie von ihrem Gatten nur wenig Unterstützung in dieser Angelegenheit erwartete. Er ließ ihr dabei „völlig freie Hand“, wie er ihr immer wieder versicherte. Jane war sich jedoch bewusst dass er vermeiden wollte, ebenfalls mit Noéra aneinander zu geraten. Hatte er früher immer Wert auf eine strenge Erziehung seiner Töchter gelegt, so war Jane in den vergangenen Jahren immer öfter aufgefallen dass er nachsichtiger geworden war und jedem Streit, nicht nur mit seinen Töchtern, aus dem Weg ging. Dabei hätte sie in diesem Fall gerne seine Unterstützung gehabt. Vielleicht würde Noéra eher auf ihren Vater hören. Dennoch ließ sie sich davon nicht entmutigen. Sie würde Noéra schon überzeugen. Sie war schließlich ihre Mutter! Und beim Empfang der Gillivans würde sie damit beginnen. Zufällig wusste sie nämlich sehr genau wer auf der Gästeliste stand.

Etwa eine halbe Stunde später erreichte die Kutsche das schön gelegene Haus der Gillivans. Das große, weiß getünchte Haus mit dem urigen Reetdach lag am Ende einer langen Allee zwischen ausgedehnten Wiesen und war von hohen Bäumen umgeben. Vor dem Haus standen bereits zahlreiche andere Kutschen. Milton, der Kutscher, brachte die Pferde vor der Eingangstreppe zum Stehen und öffnete eine der Flügeltüren. Robert Hayden stieg als Erster aus der Kutsche und half anschließend seiner Frau und den beiden Mädchen beim Aussteigen. Dann reichte er Jane seinen Arm und sie gingen, gefolgt von ihren Töchtern, die Treppe zum Eingang hinauf, wo sie der Butler der Gillivans in Empfang nahm und zur Wiese hinter dem Haus führte, wo sie herzlich von Martha und Roger begrüßt wurden.

„Wie schön dass ihr hier seid“, empfing Martha sie mit einem strahlenden Lächeln. Der Reihe nach umarmte sie die Haydens. Nachdem sie Noéra an sich gedrückt hatte schob sie sie einen halben Schritt von sich und betrachtete sie glücklich.

„Du bist noch hübscher geworden seit unserem letzten Zusammentreffen“, sagte sie leise, damit die anderen es nicht hören konnten und strich Noéra flüchtig über die Wange. Noéra erwiderte Marthas Lächeln.

„Es ist so schön endlich wieder hier zu sein. Das letzte Mal ist bereits viel zu lange her.“

„Da hast du recht“, antwortete Martha. „Du musst dir später unbedingt die Pferde ansehen. Sie werden sich über deinen Besuch bestimmt ebenso freuen wie ich.“

„Das werde ich“, versicherte Noéra mit leuchtenden Augen, denn sie hatte die Pferde sehr vermisst.

Martha Gillivan hatte ihr vor einigen Jahren das Reiten beigebracht und Noéra hatte ihre Leidenschaft für diese wundervollen Tiere entdeckt. Noéras Eltern waren anfangs zwar dagegen gewesen Noéra reiten zu lassen, doch die Gillivans, die beide passionierte Reiter waren, hatten Jane und Robert Hayden schließlich überzeugt, wofür Noéra ihnen unendlich dankbar war. Sie bedauerte zu Hause in der Stadt keine Möglichkeit zum Reiten zu haben. Umso mehr freute sie sich nun jedoch auf die Pferde. Doch zunächst musste sie erst einmal einige der anderen Gäste begrüßen und folgte ihren Eltern und ihrer Schwester widerstrebend. Lächelnd schüttelte sie Hände und tauschte Höflichkeitsfloskeln aus. Schon nach kurzer Zeit fiel es Noéra zunehmend schwer, die Maskerade aufrecht zu erhalten und sich mit all den Leuten zu unterhalten, obwohl sie sich viel lieber heimlich zurückgezogen hätte. So freundlich sich all diese Leute auch gaben war Noéra sich doch sicher dass es den meisten von ihnen nur darum ging, sich hier sehen zu lassen, aber kaum einer interessierte sich wirklich für seinen Gegenüber. Für die meisten schien es nur eine weitere Gelegenheit zu sein, ihre teure Garderobe zu tragen und sich über Oberflächlichkeiten zu unterhalten. Noéra riss sich jedoch zusammen, atmete tief durch und fügte sich ergeben in ihr Schicksal. So auch als ihre Mutter kurze Zeit später in Begleitung Henrys auf sie zukam.

Henry war der Sohn eines Kollegen von Noéras Vater und es war bereits abzusehen dass Henry in die Fußstapfen seines Vaters treten würde und bald ebenfalls an der Universität unterrichten würde. Er war etliche Jahre älter als Noéra und sie waren einander bereits vor ein paar Wochen auf einem Ball vorgestellt worden. Noéra hatte gleich bemerkt dass ihre Mutter einen Narren an Henry gefressen hatte und dieser Eindruck verstärkte sich jetzt noch, als Jane Hayden mit einem vielsagenden Blick zu Noéra trat.

„Ah, das bist du ja, Noéra. Sieh mal wer ebenfalls hier ist.“ Bei diesen Worten wandte sie sich Henry aufmunternd zu.

„Guten Tag Henry“, begrüßte Noéra ihn höflich. „Wie schön, Euch zu sehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Miss Hayden.“ Bei diesen Worten verneigte Henry sich galant vor Noéra.

Sie unterhielten sich eine Weile zu dritt, doch dann schien Noéras Mutter auf einmal jemanden entdeckt zu haben, den sie unbedingt und sofort begrüßen musste und Noéra und Henry blieben alleine zurück. Das hatte sie ja geschickt eingefädelte, dachte Noéra grimmig. Was sollte sie jetzt denn nur mit Henry anfangen? Worüber sollten sie sich unterhalten? Henry war zwar ein recht netter Kerl, doch schon bei ihrem letzten Zusammentreffen wäre Noéra vor Langeweile beinahe vergangen, was Henry jedoch keineswegs aufgefallen war. Er war so in seinem Vortrag über eine Studie, an der er gerade arbeitete, aufgegangen, dass Noéra das Gefühl gehabt hatte, er würde sie gar nicht mehr wahrnehmen. Wenn der heutige Nachmittag auf ähnliche Art und Weise verlaufen sollte bemitleidete Noéra sich schon jetzt. Und es schien alles darauf hinzudeuten. Nachdem Henry sich nämlich kurz nach Noéras Befinden erkundigt hatte und wie es ihr seit ihrer letzten Begegnung ergangen war, begann er nun von sich und seinen Studien zu erzählen. Anfangs bemühte Noéra sich noch um eine interessierte Miene und stellte sogar ein paar vorsichtige Zwischenfragen, wenn auch nur in dem Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, was ihr jedoch nicht gelang, wie sie resigniert feststellte. Nach einer Weile ließ sie Henry einfach reden und hörte nur noch mit halbem Ohr zu.

Sie sah sich gerade Hilfe und Ablenkung suchend um als ihr plötzlich ein Einfall kam und sie lächelte in sich hinein. Ihr war eine Idee gekommen wie sie ihre momentane, unangenehme Situation doch noch zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Als Henry eine kurze Pause machte, da er den Faden für einen winzigen Moment verloren zu haben schien, schlug Noéra ihm vor, einen kleinen Spaziergang zu machen. Überrascht aber glücklich strahlend willigte Henry ein und bot Noéra seinen Arm an. Noéra lehnte jedoch lächelnd ab und so gingen sie gleich darauf nebeneinander her, während Henry weiter erzählte und erzählte. Jetzt machte es Noéra jedoch weit weniger aus, Henry weiter zuhören zu müssen, bot sich ihr durch den Spaziergang mit ihm doch eine gute Gelegenheit, nach den Pferden zu sehen. Daher lenkte sie ihren Weg schon nach kurzer Zeit in Richtung der Ställe. Hätte sie sich allein zurückgezogen um die Pferde zu besuchen hätte das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Zorn ihrer Mutter entfacht. Doch so würde diese, wenn sie Noéra und Henry sah, davon ausgehen Noéra wolle sich ein wenig allein und ungestört mit Henry unterhalten und das sicherlich begrüßen. Und dass Jane Hayden ihre Tochter und deren Verehrer beobachtete, dessen war sich Noéra sicher. Beinahe hätte Noéra sich für ihr berechnendes Verhalten geschämt, jedoch nur einen kurzen Moment lang, dann verwarf sie diesen Gedanken wieder. Schließlich hörte sie sich nun seit geraumer Zeit Henrys langweilige Ausführungen und Theorien an. Sie konnte es kaum fassen dass er nicht einmal auf die Idee kam, auch sie einmal zu Wort kommen zu lassen, sie nach irgendetwas zu fragen, vielleicht mit ihr irgendein Thema zu diskutieren. Nein, er war so sehr auf sich selbst fixiert dass er gar nicht daran dachte. Weshalb hätte sie also ein schlechtes Gewissen haben sollen?

Erst als sie den Stall erreichten, der nur ein kurzes Stück vom Haus der Gillivans entfernt lag und von ausgedehnten, saftigen Weiden umgeben war, verstummte Henry abrupt und sah Noéra fragend an.

„Was tun wir hier?“, fragte er und sah sich um.

„Wir sehen uns die Pferde an. Die Gillivans haben sehr schön Pferde.“

„Nun, wenn Ihr das möchtet…“

Noéra hörte deutlich die Enttäuschung und den Unmut aus Henrys Stimme heraus als er ihr die Stalltüre öffnete, doch er nickte dennoch lächelnd.

Im Stall sah sich Noéra suchend nach Sully, dem Fuchswallach um auf dem sie Reiten gelernt und mit dem sie viele schöne Stunden verbracht hatte.

„Er hat mir das Reiten beigebracht“, erzählte sie Henry mit einem verträumten Blick, während sie dem Pferd sanft über die Nase strich. Sie verband so viele schöne Erinnerungen mit diesem Tier.

„Ihr reitet?“, fragte Henry, der ein Stück von dem Pferd entfernt stehengeblieben war, erstaunt. „Nun, mir persönlich sind diese Tiere ja viel zu groß um sie zu reiten. Da ziehe ich es doch vor zu Fuß zu gehen oder in der Kutsche zu fahren.“

Na, das hatte Noéra schon fast vermutet. Henry schien ihr generell nicht der Mutigste zu sein. Er war niemand, der irgendein Risiko eingehen würde. So wie Noéra ihn kennengelernt hatte bestand sein Leben einzig aus Daten und Fakten. Er schien auch keinerlei Hobbys zu haben. Er interessierte sich nur für seine Arbeit. Seine ganze Art passte jedoch, so fand Noéra, wunderbar zu seinem ganzen Aussehen. Er war zwar groß, jedoch von schmächtiger Gestalt. Und sein gepflegtes Äußeres, das streng gescheitelte dunkle Haar und überhaupt sein ganzes Auftreten ließen darauf schließen dass er eher ein Mann des Geistes war, der sich die Hände nicht schmutzig machte. Diese und noch viele weitere Eigenschaften ließen ihn in Noéras Augen auf keinen Fall als zukünftigen Ehemann in Frage kommen. Sie wünschte sich einen Mann, der sich für sie interessierte, der für sie einstand und für sie da war. Mit dem sie ihre Interessen teilen konnte, an dessen Leben sie selbst teilhaben wollte, jemanden, den sie achten konnte. Henry war das genaue Gegenteil davon. Das wurde ihr in diesem Moment, als sie gemeinsam hier im Stall standen, noch einmal völlig bewusst, noch deutlicher als zuvor.

Sie blieben noch einige Minuten bei den Pferden, dann machten sie sich wieder auf den Rückweg zum Haus. Noéra hatte bemerkt dass Henry begonnen hatte, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten und sie wollte seine Geduld nicht über Gebühr strapazieren. Er fühlte sich sichtlich unwohl an diesem Ort.

Als sie den Stall verließen und die Türe gerade hinter sich schlossen trafen sie auf Matt, den Verwalter der Gillivans, der sich auch um die Pferde kümmert. Es dauerte einen Augenblick, doch als er Noéra erkannte erhellte ein Lächeln sein sonst sehr ernstes, beinah finsteres Gesicht.

„Wie schön, euch wiederzusehen, Miss Noéra. Es ist schon viel zu lange her, seit Ihr zum letzten Mal hier gewesen seid.“

„Das stimmt, Matt“, antwortete Noéra ebenfalls lächelnd. „Und ich habe die Pferde sehr vermisst. Gerade eben habe ich Sully besucht und er schien sich tatsächlich noch an mich zu erinnern.“

„Aber natürlich erinnert er sich an euch. Pferde vergessen niemals.“

Kurz darauf verabschiedete Noéra sich mit einem glücklichen Lächeln von dem alten Mann und ging in Begleitung Henrys zurück zur Wiese hinter dem Haus. Keiner der beiden sprach ein Wort, was Noéra jedoch nicht weiter störte. Sie genoss diese wenigen Minuten des Schweigens, das jedoch ein jähes Ende fand als sie die Wiese und die übrigen Gäste erreichten. Mit eiligen Schritten kam Lydia auf sie zugeeilt, begrüßte Henry kurz und fuhr dann an beide gewandt fort.

„Wir haben mit dem Tee auf euch gewartet. Kommt schnell mit, wir sitzen dort drüben gemeinsam mit den Gillivans unter den großen Bäumen. Der Kuchen duftet köstlich und ich kann es kaum erwarten, davon zu kosten.“

Bei diesen Worten nahm sie Noéra an der Hand und zog sie hinter sich her. Henry beeilte sich, den beiden Schwestern zu folgen. Bei Lydias letzten Worten hatte Noéra sich ein Grinsen verkneifen müssen. Als ob ihre eitle Schwester jemals viel Kuchen essen würde. Dafür war Lydia viel zu sehr auf das Bewahren ihrer schlanken Linie bedacht. Obwohl Noéra aufgefallen war dass sich ihre Schwester seit ihrer Verlobung nicht mehr ganz so strikt zurückhielt wenn es um Süßigkeiten ging. Seit einiger Zeit genehmigte sie sich durchaus ab und zu einen Leckerbissen. Noéra selbst hatte sich über derlei Dinge sowieso noch nie Gedanken gemacht. Doch das war auch gar nicht nötig denn sie konnte ohnehin essen was sie wollte und so viel sie wollte ohne auch nur ein einziges Gramm zuzunehmen.

Am Tisch wurden sie von den anderen freudig begrüßt und man wies Noéra und Henry zwei sich gegenüberliegende Plätze zu, direkt neben Noéras Eltern. Noéra war froh dass sich ihr Vater nun eine Weile mit Henry über die Universität unterhielt und atmete erleichtert auf, was ihre Mutter jedoch scheinbar falsch deutete, als sie sich jetzt zu Noéra hinüberbeugte.

„Ihr wärt sicher gerne noch ein wenig länger unter euch gewesen, nicht wahr?“, raunte Jane ihrer Tochter zu. „War euer Spaziergang schön? Ihr hattet euch sicher einiges zu erzählen.“ Dabei lächelte sie Noéra verschwörerisch zu. Noéra nickte jedoch nur kurz.

„Ja, ja, sehr schön. Aber wir waren sowieso gerade auf dem Weg zu euch.“

Noéra hätte ihre Mutter gerne aufgeklärt, damit diese keine falschen Schlüsse zog, doch dafür war hier nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit.

Der restliche Nachmittag verflog weit schneller als Noéra erwartet hatte und es gelang ihr, sich geschickt immer wieder in Gespräche verwickeln zu lassen um sich nicht noch einmal alleine mit Henry unterhalten zu müssen. Erst als Henry sich am frühen Abend verabschiedete wandte er sich noch einmal mit einem charmant gemeinten Lächeln an Noéra.

„Es hat mich sehr gefreut, Euch hier wiederzusehen, Miss Hayden. Ich würde gerne noch ein wenig länger bleiben und mich an Eurer Gesellschaft erfreuen, doch leider muss ich aufbrechen. Ich hoffe jedoch auf ein baldiges Wiedersehen mit Euch.“ Dabei nahm er Noéras Hand in die seine und verbeugte sich leicht vor ihr. Noéra zwang sich zu einem Lächeln, doch bevor sie etwas sagen konnte ergriff ihre Mutter, die Henrys letzte Worte gehört haben musste, das Wort.

„Wir geben in fünf Tagen ein Dinner. Nur in kleinem Rahmen, aber kommen Sie doch auch, Henry. Es würde uns sehr freuen.“

Während sie Henrys Antwort abwartete wechselte sie einen kurzen Blick mit Noéra, die ihre Augenbrauen fragend in die Höhe zog. Auch Henry wirkte überrascht, stimmte jedoch mit einem glücklichen Lächeln zu.

„Diese Einladung nehme ich sehr gerne an, Mrs. Hayden. Vielen Dank.“

„Dann am Donnerstag um sieben Uhr“, erwiderte Noéras Mutter, woraufhin Henry nickte und sich dann endgültig verabschiedete.

Noéra versuchte ihre Bestürzung so gut es ging zu verbergen. Sie musste unbedingt mit ihrer Mutter sprechen. Und zwar bald. Nun versuchte sie jedoch, sich nichts anmerken zu lassen, was ihr auch gelang, bis sie sich wenig später von den Gillivans verabschiedete. Als sie Martha zum Abschied umarmte raunte diese Noéra ins Ohr:

„Ist alles in Ordnung, meine Liebe?“

Noéra nickte, merkte aber selbst dass sie Martha nicht überzeugen konnte. Dafür kannten sie einander zu gut. Martha Gillivan hob jedoch nur kurz eine Augenbraue und nickte dann ebenfalls.

„Roger und ich fahren morgen wieder nach Wilchester zurück. Wir wollen uns übermorgen ein Pferd ansehen. Mr. Christie hat uns benachrichtigt dass er einige neue Pferde bekommen hat. Wenn du möchtest kannst du uns begleiten.“

Mr. Christie war einer der angesehensten Pferdehändler der Gegend und seit kurzem in Wilchester ansässig. Sein Stall lag am Stadtrand von Wilchester, in einer etwas abgelegenen Gegend. Noéras Augen leuchteten auf.

„Ich komme gerne mit. Vielen Dank.“

Martha nickte lächelnd.

„Gut, dann holen wir dich am späten Vormittag ab. Das ist doch in Ordnung, nicht wahr, Robert?“

Fragend sah Martha nun Robert Hayden an, doch sie wusste bereits, dass er keine Einwände haben würde. Nicht, wenn sie ihn darum bat.

„Natürlich“, erwiderte er und Noéra dankte ihm mit einem glücklichen Lächeln. Dann brachen die Haydens auf.

Martha Gillivan sah ihnen noch einen Moment hinterher. Sie hätte gerne gewusst, was Noéra bedrückte.

Zwei Tage später ließ sich Noéra schon früh von Sarah wecken. Sie wollte ihren Vater an diesem Morgen zur Universität begleiten um sich, bevor die Gillivans sie später abholten, in der Bibliothek, die sich gleich neben der Universität befand, ein Buch auszuleihen. Das Buch über keltische Sagen und Legenden, das sie sich in der vergangenen Woche ausgeliehen hatte, hatte sie bereits ausgelesen und nun wollte sie sich nach neuem Lesestoff umsehen. Noéra las gerne, oft bis spät abends, und verschlang die Bücher, die ihr gefielen, geradezu. Dieses Keltenbuch hatte es ihr besonders angetan, hatte es sie doch in eine ganz andere, mystische Welt entführt. Daher hoffte sie, heute nochmals ein ähnliches Buch zu finden. Sie ließ sich gerne in längst vergangene Zeiten entführen, sei es nun durch ein Sachbuch oder einen guten Roman. Noéra mochte beides, Hauptsache sie wurde wenigstens für kurze Zeit von der Realität abgelenkt, denn diese kam ihr an manchen Tagen furchtbar trostlos vor. Es gab so viele Dinge, die sie gerne getan hätte, so viele Orte, die sie gerne gesehen hätte, doch vieles davon ließen ihre Eltern nicht zu und deshalb blieb es ihr verwehrt. Dann wollte sie wenigstens darüber lesen, auch wenn das, wie sie sich leider eingestehen musste, nur ein notdürftiger Ersatz war.

Mit ihrer Vorliebe für Bücher kam Noéra ganz nach ihrem Vater und ihren Großeltern. Auch diese hatten immer viel gelesen, wobei es bei Robert Hayden natürlich auch beruflich bedingt war, dass er Stunden damit zubrachte, Bücher zu wälzen. Noéra hätte liebend gerne ebenfalls studiert wie ihr Vater, doch das hatte ihre Mutter nicht zugelassen da sie der Ansicht war, das sei reine Zeitverschwendung für eine junge Frau. Sie hatte sich nicht einmal auf eine Diskussion darüber eingelassen und Noéra hatte schließlich resigniert einsehen müssen, dass sie auch von ihrem Vater keinerlei Unterstützung zu erwarten hatte. Er hatte ihr, trotz ihres mehrfach geäußerten Wunsches, noch nicht einmal erlaubt, ihn auf eine seiner Reisen zu einer neu entdeckten Ausgrabung zu begleiten. Das sei ebenfalls nichts für Frauen pflegte er dann immer zu sagen. Wie Noéra diesen Ausspruch hasste. Warum sollte es allein den Männern vorbehalten sein, Dinge zu tun, die sie gerne taten, sich zu amüsieren, aber auch sich zu bilden, etwas zu erreichen? Sie schien jedoch in einer Familie, einer Gesellschaft zu leben, in der das so war, und daran konnte sie rein gar nichts ändern. Aber außer ihr schien das niemanden zu stören, was Noéra an manchen Tagen beinahe verzweifeln ließ. Doch mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, dass sie wohl ein wenig anders war als viele ihrer Mitmenschen. Sie hatte all diese Restriktionen satt, doch sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Und auch an diesem Tag kam sie zu dem Schluss, dass sie sich wohl einfach damit abfinden musste. Doch darüber wollte sie jetzt nicht weiter nachgrübeln und so schob sie all ihre trüben Gedanken beiseite. Bald würden die Gillivans sie abholen und es würde bestimmt ein schöner Tag werden. Immerhin hatten ihre Eltern ihr erlaubt, mit zu dem Pferdehändler zu fahren, obwohl Noéra wusste dass ihre Mutter davon ganz sicher nicht begeistert war. Sie hatte Noéra zu Anfang auch gar nicht erlauben wollen, Reiten zu lernen. Doch vor den Gillivans hätte sie das niemals zugegeben.

Es würde nun nicht mehr lange dauern bis sie abgeholt wurde. Daher schloss Noéra rasch die Haustüre hinter sich und eilte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Die beiden Bücher, die sie in der Bibliothek gefunden hatte, legte sie auf ihr Nachttischchen. Dann wechselte sie das dünne Sommerkleid gegen den dunkelbraunen Reitrock und eine beigefarbene Bluse. Sie würde zwar bestimmt keine Gelegenheit haben zu Reiten, dennoch genoss sie es, endlich wieder einmal ihre Reitkleidung zu tragen. Ihre Schwester zog sie zwar immer verächtlich damit auf, wie wenig damenhaft sie in dieser Kleidung aussähe, doch das machte Noéra nichts aus, zumal Noéra nicht der Meinung war, dass Lydia damit Recht hatte. Sie fand den Reitrock sehr elegant und außerdem äußerst bequem.

Wenig später ging Noéra wieder in die Halle hinunter, gerade als es an der Türe läutete, die gleich darauf von Sarah geöffnet wurde. Nachdem auch Jane Hayden die Gillivans begrüßt hatte machten sie sich kurz darauf zusammen mit Noéra wieder auf den Weg zu Mr. Christie. Mit der Kutsche dauerte die Fahrt etwa zwanzig Minuten, dann erreichten sie die ehemalige Lagerhalle, die jetzt zu einem Pferdestall umfunktioniert worden war. Vor dem großen Tor ließ Roger Gillivan den Kutscher anhalten und wies ihn dann an, einen schattigen Platz für die Pferde zu suchen um auf sie zu warten. Dann betraten sie den Stall durch eine schmale Tür, die in die erheblich breiteren und höheren Flügeltüren des großen Tors eingelassen war. Im Stall war es dunkel, deshalb blinzelte Noéra im ersten Moment bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Sie sah sich gerade neugierig um und atmete den angenehmen Geruch nach Heu und Pferden ein als Mr. Christie zu ihnen trat und Martha und Roger Gillivan begrüßte.

„Ich habe Sie bereits erwartet“, sagte er und schüttelte den beiden die Hände. „Und das ist sicher Ihre Tochter? Oder gar Ihre Enkeltochter?“ Damit wandte er sich an Noéra, die ihm höflich die Hand reichte.

„Oh Mr. Christie“, erwiderte Martha mit einem Lächeln. „Sie ist leider weder das eine noch das andere. Sie ist die jüngste Tochter von Professor Hayden, einem guten Freund von uns, und sie interessiert sich sehr für Pferde, ganz im Gegensatz zum Rest ihrer Familie.“ Dabei lächelte sie Noéra verschwörerisch zu, woraufhin Noéra sich nun selbst vorstellte.

„Mein Name ist Noéra Hayden. Ich hoffe es ist in Ordnung, dass ich mitgekommen bin.“

„Aber selbstverständlich. Sieh dich ruhig ein wenig um, Mädchen.“

Dann wandte Mr. Christie sich wieder den Gillivans zu und ging ihnen voraus zu den Pferden. Noéra nahm ihm diese vertrauliche Anrede nicht weiter übel. Sie war sogar froh darüber, dass er in keiner Weise darauf eingegangen war als Martha ihren Vater erwähnt hatte. Mr. Christie kannte Professor Hayden zweifellos zumindest dem Namen nach, das hatte Noéra an dem kurzen, interessierten Aufblitzen seiner Augen gesehen. Und schließlich war Professor Hayden einer der angesehensten Einwohner der Stadt. Aber warum sollte das Mr. Christie auch interessieren? Jedenfalls ließ Noéra es sich nicht zweimal sagen und folgte den anderen zu den Pferden. Während Mr. Christie die Gillivans scheinbar gezielt zu seinen neu erworbenen Pferden führte blieb Noéra an jeder Pferdebox stehen und sah sich die Pferde an. Die Boxen waren klein und einige der größeren Pferde konnten sich nur mit Mühe um ihre eigene Achse drehen, was Noéra sogleich Mitleid mit ihnen empfinden ließ. Aber wenigstens sahen die Pferde alle gut genährt und gesund aus. Manche der Pferde waren sehr neugierig und zutraulich, sodass Noéra ein wenig länger verweilte und sie vorsichtig streichelte. Andere dagegen zeigten keinerlei Regung, selbst wenn sie sie ansprach. Auf einmal wurde Noéra jedoch von dem dunkelbraunen Wallach, den sie gerade beim Fressen beobachtete, abgelenkt. Aus der hintersten Ecke des großen Stalls war auf einmal ein furchtbares Poltern zu hören. Gleich darauf wurde eine Boxentüre zugeknallt und Noéra vernahm ein leises Fluchen. Dann war wieder das nervöse Stampfen eines Pferdes zu hören. Noéras Neugierde war geweckte und sie ging langsam in die Richtung aus der das Geräusch kam. Von einer der Boxen kam nun ein junger Bursche auf Noéra zugeeilt, dessen Gesicht vor Zorn, aber auch vor Schreck verzerrt war. Fluchend ging er an Noéra vorbei, würdigte sie aber keines Blickes.

„So ein Satansbraten“ war alles, was Noéra verstehen konnte. Sie sah dem Jungen, der wohl Mr. Christies Sohn sein musste, einen Moment verwundert hinterher, dann ging sie zu der Box von der der Bursche gekommen war. Langsam ging sie immer weiter bis sie schließlich leise vor der Box stehen blieb und erstaunt die Augen aufriss als sich das Pferd darin steil aufbäumte und dann erneut auf den mit Stroh bedeckten Boden stampfte. Die dunklen Augen des Pferdes schienen vor Zorn zu funkeln. Oder war es nicht nur Zorn sondern auch ein Funken Angst, den Noéra in diesen ausdrucksstarken Augen erkannte? Vorsichtig trat Noéra ein Stück näher an die Box. Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass das möglicherweise gefährlich war, doch irgendetwas an diesem Pferd zog sie geradezu magisch an und sie empfand keinerlei Angst. Ein solch schönes und edles Pferd hatte sie noch nie gesehen und sie erkannte gleich, dass es sich um einen noch recht jungen Hengst handelte. Er hatte ein außergewöhnlich hellbraunes, fast beigefarbenes Fell, das im spärlichen Licht der Deckenbeleuchtung des Stalls golden schimmerte. Seine lange Mähne und der dichte Schweif dagegen waren dunkelbraun, ebenso wie das Fell an seinen Beinen. Noéra konnte jedoch ihren Blick nicht von den Augen des Hengstes wenden, der noch immer nervös war und auf den Boden stampfte. Als Noéra ihn leise und beruhigend ansprach wandte der Hengst ihr blitzartig seine Aufmerksamkeit zu und dann geschah etwas Erstaunliches. Der Hengst schnaubte einmal kurz, während er Noéra gebannt fixierte, dann wurde er plötzlich ganz ruhig und trat vorsichtig zu Noéra an die Boxentüre. Ganz behutsam beschnupperte er Noéra und berührte sie schließlich sanft am Arm, woraufhin Noéra ihn ebenso sanft streichelte, was der Hengst sichtlich genoss. Immer und immer wieder ließ Noéra ihre Hand über das seidige Fell des Pferdes gleiten während der Hengst seinen edlen Kopf vertrauensvoll an Noéras Schulter ruhen ließ. Es war ein ganz außergewöhnlicher Moment. So etwas hatte Noéra noch nie erlebt, doch sie wusste dass dieser Hengst etwas Besonderes war. Zwischen ihnen schien irgendein unsichtbares Band zu existieren. Für einen langen Moment vergaß Noéra alles um sich herum und erst die aufgeregt Stimme Mr. Christies, der gefolgt von den Gillivans auf sie zu geeilt kam, holte sie in die Realität zurück.

„Seien Sie vorsichtig, Miss Hayden, und gehen Sie bitte ein Stück zurück. Er ist gefährlich.“ Vor Aufregung sprach Mr. Christie Noéra nun respektvoller an.

„Gefährlich?“, fragte Noéra tonlos, ließ ihre Hand dabei aber weiter auf dem Hals des Hengstes ruhen, der nun zwar argwöhnisch die Ohren spitzte, jedoch ganz ruhig bei Noéra stehen blieb. Als er das sah blieb Mr. Christie abrupt ein Stück von Noéra und dem Hengst entfernt stehen. Die Gillivans taten es ihm gleich.

„Nun, seit ich den Hengst vor einer Woche hierher geholt habe macht er mir nichts als Probleme“, sagte Mr. Christie. „Er ist ein wahrer Teufel und man muss ständig auf der Hut sein damit er einen nicht angreift. – So ruhig wie jetzt habe ich ihn noch nicht erlebt. Was haben Sie nur mit ihm gemacht, Miss Hayden?“

„Nichts“, erwiderte Noéra mit ruhiger Stimme. „Er hat nur Angst.“

Und nach einem kurzen Moment des Schweigens fügte sie noch hinzu: „Ich finde ihn ganz bezaubernd. Er ist wunderschön. – Wie ist sein Name?“

Mr. Christie sah sie überrascht an. Er war erstaunt darüber, dass sich diese junge Frau derart über den Hengst äußerte.

„Er ist in der Tat eines der schönsten und außergewöhnlichsten Pferde die ich je hatte, mit einer erstklassigen Abstammung. Er kommt direkt aus Südspanien. Sein Name ist Amaté. Ich hatte vor, ihn für eine hübsche Summe zu verkaufen, doch so wie es aussieht wird ihn wohl niemand haben wollen. Das Biest ist unberechenbar und schlägt jeden in die Flucht – naja, fast jeden. Wenn sich daran nichts ändert wird er wohl ein Fall für den Metzger sein.“

„Nein!“, entfuhr es Noéra entsetzt und der Hengst hob erschrocken den Kopf und legte die Ohren an.

„Kommen Sie da weg, Miss Hayden“, rief Mr. Christie und wollte Noéra fortziehen, doch sie hob abwehrend die Hand.

„Nicht. Er wird mir nichts tun.“ Noch immer lag Noéras Hand auf dem Hals des Hengstes, der sich sofort wieder beruhigte. Mr. Christie hielt inne.

„Das mit dem Metzger war nicht ernst gemeint, oder?“, fragte Noéra leise, woraufhin Mr. Christie angespannt lachte.

„Nun, eine Weile werde ich ihn schon noch behalten. Er hat mich schließlich viel Geld gekostet. – Vielleicht möchte Ihr Vater Ihnen den Hengst ja schenken.“

Traurig wandte Noéra den Blick wieder zu dem Hengst um.

„Wohl kaum“, antwortete sie leise.

Noch einmal streichelte sie dem Hengst über den Hals.

„Amaté“, flüsterte sie ihm zu, dann zog sie ihre Hand zurück. Sofort trat wieder eine gewisse Unruhe in die Augen des Pferdes und er wich in eine Ecke seiner Box zurück. Als sie das sah brach es Noéra beinahe das Herz und es fiel ihr schwer, sich Martha und Roger, die sich bereits mit Mr. Christie einig geworden waren und gehen wollten, anzuschließen. Sie wäre gerne noch ein wenig geblieben, doch sie wusste dass das auch nichts geändert hätte. Noch einmal wandte sie sich zu dem Hengst um, dann ging sie mit den anderen mit. Amaté, wir werden uns wiedersehen, dachte Noéra bevor sie den Stall schließlich verließen.

Draußen wurde Noéra vom hellen Sonnenlicht geblendet und auf einmal kam es ihr so vor als sei sie in einer völlig anderen Welt. War das gerade eben wirklich passiert? Eines wusste sie jedoch, auch wenn sie sich noch nicht sicher war, wie sie es anstellen sollte. Sie musste den jungen Hengst noch einmal wiedersehen.

Als sie kurz darauf in der Kutsche saßen erkundigte sich Noéra nach dem Pferd das die Gillivans soeben erworben hatten. Roger berichtete ihr dass es sich um einen zehnjährigen Schimmel handelte, der sich hervorragend zur Jagd eignete. Roger nahm leidenschaftlich gerne an Jagden teil und hatte sich bereits für mehrere Fuchsjagden im kommenden Herbst angemeldet.

Das letzte Stück der Fahrt saßen sie einander schweigend gegenüber. Noéra dachte an den wunderschönen Hengst, daran, wie er sie sanft angestupst hatte während sie sein glänzendes Fell gestreichelt hatte. Ganz so als hätte er ihr etwas sagen wollen. Oder bildete sie sich das etwa nur ein? Hatte es einfach nur damit zu tun dass sie das Reiten so sehr vermisste, und nichts weiter? Noéra wusste es nicht, doch es gab nur eine Möglichkeit es herauszufinden. Sie musste bei Gelegenheit noch einmal zu Mr. Christie gehen und nach Amaté sehen. Doch wie sollte sie das nur ihren Eltern erklären? Sie würden sie nicht verstehen und ihr bestimmt nicht erlauben, den Pferdehändler noch einmal aufzusuchen.

Erst nach einer ganzen Weile bemerkte Noéra, dass Martha Gillivan sie forschend ansah. Verlegen lächelte Noéra sie an.

„Der junge Hengst hat es dir ganz schön angetan, nicht wahr?“, fragte Martha und erwiderte Noéras Lächeln. Noéra nickte.

„Ja“, gestand sie. „Er hat mich wirklich fasziniert. Erst dieses wilde Ungestüm und dann war er so sanft und zutraulich. Und noch dazu außergewöhnlich schön.“

„Das stimmt, er ist von einer ganz besonderen Eleganz. Das zeichnet die spanischen Pferde aus, wobei er doch ganz außergewöhnlich ist. Aber im Umgang scheint er schwierig zu sein. Es ist wirklich fraglich ob Mr. Christie einen Käufer für ihn findet der mit ihm umzugehen weiß.“

Noéra nickte schweigend und auch Martha wurde nachdenklich. Ihr war durchaus aufgefallen wie ungewöhnlich zutraulich der Hengst Noéra gegenüber gewesen war. Sie hatte jedoch auch schon früher bemerkt dass Noéra ein besonderes Gespür für Pferde zu haben schien, aber sie hatte nie mit ihr darüber gesprochen. Sie wollte Noéra keine falschen Hoffnungen machen denn sie wusste dass ihre Eltern ihr niemals erlauben würden, ein eigenes Pferd zu haben, schon gar keinen solch temperamentvollen Hengst. Manchmal bedauerte sie Noéra, die so offensichtlich unter den Restriktionen ihrer Eltern litt. So oft hatte sie sich gesagt dass sie selbst, hätte sie je eine Tochter wie Noéra gehabt, so Vieles anders gemacht hätte.

Als sie schließlich das Haus der Haydens erreichten drückte Martha Noéra zum Abschied fest an sich.

„Komm uns doch im Herbst eine Weile besuchen. Dann könnten wir wieder lange gemeinsame Ausritte unternehmen.“

„Das würde ich sehr gerne, Martha. Vielen Dank für die Einladung. Ich hoffe, dass Mutter und Vater nichts dagegen haben.“

„Wir werden sie schon überzeugen können. Ich werde sie am Donnerstag beim Dinner darauf ansprechen“, antwortete Martha mit einem herzlichen Lächeln, das Noéra hoffnungsvoll erwiderte.

„Bis dann und vielen Dank dass ich mitkommen durfte“, sagte Noéra zum Abschied. Dann stieg sie aus der Kutsche und ging in Haus.

Die nächsten Tage bis zu dem Dinner am Donnerstagabend folgten ihrem üblichen Trott und Noéra verbrachte die meiste Zeit damit im Garten zu sitzen und zu lesen. Das Wetter war nach wie vor warm und sonnig und Noéra genoss es, sich im Freien aufhalten zu können und die frische, warme Sommerluft auf ihrer Haut zu spüren. Obwohl sie sich die meiste Zeit über im Schatten des großen Kirschbaumes aufhielt, der sich im hinteren Teil des großen Gartens der Haydens befand und von allerlei in kunstvolle Formen geschnittenen Büschen und Rosensträuchern umgeben war, war ihre Haut schon bald von einer zarten Bräune überzogen, was sofort eine Rüge ihrer Mutter nach sich zog. Dabei fand Noéra es gar nicht so schlimm, ein wenig Farbe bekommen zu haben. Ihre Haut war ohnehin nicht so hell wie die ihrer Mutter und Schwester und sie hielt auch nicht besonders viel davon, ständig darauf bedacht zu sein, die vornehme Blässe zu bewahren. Doch weitaus schlimmer als diese beifällige Ermahnung ihrer Mutter war die Auseinandersetzung mit ihr an diesem Morgen gewesen. Noéra hatte endlich eine Gelegenheit gefunden ihre Mutter auf das Dinner am heutigen Abend anzusprechen und sie danach zu fragen was sie sich eigentlich dabei gedacht hatte, Henry dazu einzuladen. Ihrer Meinung nach passte Henry nämlich ganz und gar nicht auf die Gästeliste, was sie ihrer Mutter auch gesagt hatte. Außer Henry kamen die Gillivans, Lydias Verlobter Paul sowie Pauls Eltern und ein Kollege ihres Vaters zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter, mit denen die Haydens schon seit Jahren befreundet waren und mit deren Tochter Lydia und Noéra zur Schule gegangen waren. Jane Hayden hatte jedoch nur mit einem zufriedenen Lächeln geantwortet dass Henry doch wunderbar in diese Runde passen würde und Noéras Bedenken einfach mit einer wegwerfend Handbewegung fortgewischt. Als sie dann jedoch noch hinzugefügt hatte, dass sie Noéra damit nur einen Gefallen hatte tun wollen und sie wieder mit diesem verschwörerischen Blick angesehen hatte, hatte Noéra stark an sich halten müssen um sich zu beherrschen und ihrer Mutter nicht geradeheraus zu sagen, was sie von Henry hielt. Es war ihr jedoch gelungen, ihre Wut zu unterdrücken und ihre Mutter nur ganz sachlich darum zu bitten, jegliche weitere Versuche, sie mit Henry zu verkuppeln, zu unterlassen. Wenn sie das wollte würde sie ihr das schon zu verstehen geben, doch Henry würde für sie nie mehr als ein Bekannter bleiben. Dabei hatte Noéra gedacht, sie habe sich deutlich genug ausgedrückt, doch wieder hatte ihre Mutter sie nur angelächelt und erklärt, dass sie und Henry ganz ausgezeichnet zu einander passten und sie, Noéra, das schon noch merken würde, wenn sie nur noch ein wenig mehr Zeit mit Henry verbringen würde. Noéra hatte ihr daraufhin noch einmal verdeutlichen wollen, dass sie eben das nicht wollte, da es ohnehin zwecklos war, doch da hatte ihre Mutter ihr schon gar nicht mehr zugehört und war aus Noéras Zimmer gerauscht. Noéra hatte vor Wut gekocht, doch sie hatte eingesehen dass es keinen Sinn gemacht hätte, an diesem Morgen weiter mit ihrer Mutter zu streiten. Ihre Mutter würde schon noch merken dass sie Henry keinerlei weitergehende Zuneigung entgegenbrachte und von ihrem Plan, sie miteinander zu verkuppeln, wieder abkommen. Und sie konnte Noéra ja ohnehin nicht zu einer Heirat mit Henry zwingen. Oder etwa doch? Einen Moment war Noéra verunsichert gewesen, doch dann hatte sie sich gesagt, dass sie ja schließlich nicht mehr im Mittelalter lebten und dass es außerdem ja noch längst nicht so weit war. Dennoch wurde sie weiterhin von dem unguten Gefühl begleitet, das sie schon seit einiger Zeit verfolgte. Doch schließlich hatte sie ihre Zweifel aus ihrem Kopf verbannt und sich gesagt, sie würde das Dinner nun einfach einmal abwarten und wenn es nötig war ein anderes Mal erneut mit ihrer Mutter sprechen.

Am Abend, bevor die Gäste kamen, war Noéra aber doch ein wenig aufgeregt da sie nicht genau wusste was ihr bevorstand. Als es schließlich an der Türe läutete trat sie lautlos aus ihrem Zimmer und warf erst einmal einen vorsichtigen Blick über das Geländer in die Halle hinunter um zu sehen, wer gekommen war. Erleichtert stellte sie fest dass es Paul und seine Eltern waren, die freudig von Lydia und ihren Eltern begrüßt wurden. Gleich darauf ging auch Noéra die breite Treppe in die Halle hinunter um sie ebenfalls zu begrüßen und sich ein wenig mit Paul zu unterhalten. Sie mochte Lydias Verlobten ganz gerne. Er konnte zuweilen sehr humorvoll und unterhaltsam sein. Sie sprachen eine Weile über die bevorstehende Hochzeit mit Lydia, die in drei Wochen stattfinden sollte. Pauls Augen strahlten als er Noéra erzählte wohin die Hochzeitsreise gehen würde. Er und Lydia würden nach Südfrankreich reisen wo Pauls Eltern ein kleines Ferienhaus direkt am Meer besaßen. Auch Lydia war bereits ganz aufgeregt wegen ihrer näherrückenden Hochzeit und der darauf folgenden Reise. Denn auch Lydia war in ihrem ganzen bisherigen Leben noch nie so weit verreist, ebenso wenig wie Noéra. Noéra freute sich aufrichtig für ihre Schwester, auch wenn ihr Verhältnis zueinander nicht immer einfach war. Doch nun, da Lydia bald zusammen mit Paul nach London gehen würde, wo die beiden gemeinsam leben würden, glaubte Noéra doch, dass sie ihre Schwester zumindest ein wenig vermissen würde. Nicht zuletzt deshalb weil sich dann die volle Aufmerksamkeit ihrer Mutter nur noch auf sie alleine konzentrieren würde. Noéra schalt sich jedoch sofort für diesen selbstsüchtigen und egoistischen Gedanken.

In den folgenden drei Wochen wartete jedenfalls noch einige Arbeit auf sie, bis alles für die Hochzeit vorbereitet sein würde. Doch Noéra freute sich darauf, mitzuhelfen. War es doch eine willkommene Abwechslung zu dem sonstigen täglichen Einerlei. Außerdem hoffte sie, dass die Vorbereitungen für Lydias Hochzeit ihre Mutter von weiteren Versuchen, sie zu verkuppeln, zumindest vorübergehend ablenkten. Doch diese Hoffnung schwand schon sehr kurze Zeit später, nachdem alle Gäste eingetroffen waren und Noéra sich am Tisch gegenüber von Henry sitzend wiederfand. Nachdem Henry sie galant begrüßt hatte und sie sich noch eine Weile mit Lydia und Paul unterhalten hatten, hatte ihre Mutter sie und die anderen Gäste in das große, elegant eingerichtete Esszimmer geführt und ihnen diese Plätze zugewiesen. So blieb Noéra nichts Anderes übrig als sich nahezu den ganzen Abend mit Henry zu unterhalten. Während Henry den Abend sichtlich genoss, besonders Noéras Anwesenheit, woraus er keinen Hehl machte, musste Noéra stark an sich halten um einen fröhlichen Ausdruck zu bewahren, was ihr zunehmend schwer fiel je weiter der Abend fortschritt. Sie bedauerte es außerdem, nur wenig Gelegenheit zu haben sich mit Martha Gillivan zu unterhalten, da die Gillivans zu weit von ihr entfernt saßen. Sie hätte sich gerne nach dem neuen Pferd erkundigt. Erst als sich die Männer zu einem Glas Cognac für eine Weile in Robert Haydens Arbeitszimmer zurückzogen und Noéra Henry freundlich dazu drängte, sich ihnen anzuschließen, fand sie einen Moment Zeit, ungestört mit Martha zu sprechen. Nachdem Martha Gillivan ihr gesagt hatte, dass sie mit ihrer Mutter gesprochen habe und diese einverstanden sei, dass Noéra sie im Herbst für eine Woche besuchte sah sie Noéra forschend an.

„Ist alles in Ordnung mit dir, meine Liebe?“, fragte Martha besorgt. „Bedrückt dich etwas?“

Noéra wusste nicht was sie antworten sollte und zögerte einen Moment.

„Es ist wegen Henry“, gestand sie schließlich.

„Ah. Ein galanter junger Mann. Er hat exzellente Manieren. Und er scheint sehr angetan von dir zu sein.“

„Ja, schon“, erwiderte Noéra. „Aber er… ich…“ Wieder zögerte Noéra, Martha nickte jedoch mit einem wissenden Lächeln.

„Aber er gefällt dir längst nicht so gut wie deiner Mutter, nicht wahr?“

Verblüfft sah Noéra Martha an.

„Ist es so offensichtlich?“, fragte sie besorgt, Martha schüttelte jedoch den Kopf.

„Nein. Aber ich habe dich eine Weile beobachtet und mittlerweile kenne ich dich doch ganz gut. Hast du mit deiner Mutter darüber gesprochen? Oder direkt mit Henry?“

„Mit Mutter habe ich gesprochen, ja. Und wir hatten eine ziemlich schlimme Auseinandersetzung deswegen. Sie ist davon überzeugt, Henry sei der Richtige für mich und es interessiert sie überhaupt nicht, was ich sage. Und Henry – nein, mit ihm habe ich nicht gesprochen. Natürlich nicht. Ich wüsste auch nicht wie ich es anfangen sollte, ob ich das überhaupt könnte. Ich möchte ihm aber auch keine falschen Hoffnungen machen und ich wünschte, Mutter täte das ebenfalls nicht.“

Nachdenklich wandte Noéra den Blick ab.

„Nun, wenn sich deine Mutter mal etwas in den Kopf gesetzt hat ist es schwierig, sie wieder davon abzubringen“, erwiderte Martha ebenfalls nachdenklich, denn sie kannte Jane Hayden ebenfalls sehr gut.

„Aber wenn du wirklich nichts für ihn empfindest wird sie das mit der Zeit schon akzeptieren. Und du bist ja schließlich noch so jung.“ Dabei lächelte sie Noéra aufmunternd zu.

„Hoffentlich hast du Recht“, erwiderte Noéra. „Und ich hoffe dass sie bis dahin nichts Unüberlegtes tut und Henry ebenfalls nicht.“ Und nach einem Moment fügte sie noch hinzu: „Martha, sie braucht nicht zu wissen dass wir darüber gesprochen haben, ja?“ Flehend sah sie Martha an, die daraufhin nickte.

„Natürlich nicht.“

„Danke“, erwiderte Noéra mit einem leichten Lächeln. Auch wenn sie wusste, dass Martha ihr nicht helfen konnte hatte es doch gut getan mit ihr darüber zu sprechen. Und Noéra wusste, dass sie das eben Gesprochene für sich behalten würde trotz ihrer Freundschaft zu Noéras Eltern. Noéra musste jedoch unbedingt noch einmal mit ihrer Mutter sprechen. Diese würde sie sonst womöglich in eine unangenehme Lage bringen. Sie wusste zwar nicht genau, weshalb, doch irgendwie hatte sie ein ungutes Gefühl.

Es wurde noch ein langer Abend und Noéra war heilfroh als die Gäste endlich gegangen waren und sie sich zurückziehen konnte.

Die Gelegenheit, erneut mit ihrer Mutter zu sprechen, bot sich Noéra bereits zwei Tage später. Dieses Mal artete ihre Diskussion jedoch in einen furchtbaren Streit aus, denn dieses Mal gab Noéra nicht nach und sie machte ihren Standpunkt deutlich klar. Sie konnte einfach nicht verstehen warum ihre Mutter so versessen darauf war, dass Noéra Henry heiratete. Denn dass sie das wollte hatte sie Noéra an diesem Vormittag unmissverständlich gesagt, allerdings ohne irgendeine weitere Erklärung oder Begründung. Und dieses Mal war es Noéra gewesen, die ihre Mutter schließlich einfach hatte stehen lassen, als sie wütend und verzweifelt aus dem Zimmer und aus dem Haus gerannt war. Mühsam hatte sie ihre aufsteigenden Tränen zurückgedrängt und war die Straße ein Stück entlang gegangen ohne zu wissen wohin sie eigentlich wollte. Doch zu Hause hätte sie es nicht länger ausgehalten. Sie lief einfach immer weiter, ohne nachzudenken und erst nach einer ganzen Weile fiel ihr auf dass sie unwillkürlich den Weg zu Mr. Christie eingeschlagen hatte. Verdutzt blieb sie einen Moment stehen. Ihre ganze Wut war auf einmal verraucht. Sie überlegte kurz ob sie tatsächlich weitergehen sollte und entschied schließlich, dass das eine gute Idee sei. Zügig ging sie also weiter bis sie nach etwa einer dreiviertel Stunde den Stall von Mr. Christie erreichte. Vor dem großen Tor hielt sie inne und klopfte zaghaft an. Was sollte sie Mr. Christie nur sagen wenn er fragte was sie hier wollte? Es war schließlich nicht gerade üblich dass jemand wie sie einfach einen Pferdehändler aufsuchte. Noch dazu wenn er gar nicht vorhatte ein Pferd zu kaufen. Als Mr. Christie kurz darauf die Türe öffnete und sie überrascht ansah entschied Noéra sich kurzerhand dafür, einfach die Wahrheit zu sagen.

„Ich wollte Amaté gerne noch einmal besuchen“, sagte sie geradeheraus, wenn auch etwas verlegen. „Darf ich?“

„Oh“, erwiderte Mr. Christie. Bevor er fortfuhr schien er einen Augenblick zu überlegen. „Aber natürlich, warum nicht. Aber nur kurz, ich bekomme gleich Kundschaft. Und sei vorsichtig, Mädchen.“

Noéra nickte mit einem Lächeln und folgte Mr. Christie in den Stall. Als er sich gleich darauf wieder an die Arbeit machte und Noéra nicht mehr weiter beachtete ging sie zügig weiter bis zu Amatés Box. Würde er sie wohl wiedererkennen? Er hatte sie schließlich nur ein einziges Mal und nur sehr kurz gesehen. Mit gemischten Gefühlen trat Noéra schließlich an die Box des Hengstes und sprach ihn leise an. Er hob sofort den Kopf und spitzte die Ohren. Es lag keinerlei Argwohn in seinem Blick als er Noéra den Bruchteil einer Sekunde musterte bevor er mit einem leisen Wiehern zu ihr trat.

„Du hast mich nicht vergessen“, flüsterte Noéra mit einem glücklichen Lächeln und streichelte dem Hengst sanft über die Nase und den Hals. Er hielt ganz still und lehnte den Kopf behutsam an Noéras Schulter, wie auch schon beim letzten Mal, so als habe er nur darauf gewartet, dass Noéra zurückkommen würde. Lange Zeit stand Noéra still bei Amaté und flüsterte ihm leise Worte ins Ohr. Sie hatte den Eindruck dass er jedes davon verstand, denn er schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit. Sie merkte aber auch wie sie selbst durch die Nähe des Pferdes ruhiger wurde. All ihre Sorgen waren auf einmal vergessen, wenigstens für den Moment.

Noéra wusste nicht wie lange sie so bei Amaté gestanden hatte, doch als sie plötzlich hörte wie das große Tor geöffnet wurde und Mr. Christie zwei Herren, es schienen Vater und Sohn zu sein, begrüßte, verabschiedete sie sich widerstrebend von dem Hengst. Sie wäre gerne noch länger geblieben, doch auch ein Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass es höchste Zeit war, nach Hause zu gehen. Sie hatte sich schließlich nicht abgemeldet und ihre Eltern würden mit Sicherheit verärgert sein dass sie unentschuldigt nun auch noch das Mittagessen verpasst hatte. Sie legten nämlich größten Wert darauf, dass die Mahlzeiten von der Familie gemeinsam eingenommen wurden. Daher streichelte Noéra dem Hengst noch einmal über die glänzende, lange Mähne und flüsterte ihm einen Abschiedsgruß zu. Dann verließ sie eilig den Stall um Mr. Christie nicht zu stören.

Für den Rückweg ließ sie sich Zeit. Eigentlich hatte sie es nicht eilig nach Hause zurück zu kommen. Daher brauchte sie für den Weg dieses Mal fast eine Stunde. Als sie schließlich zu Hause ankam wurde ihr die Haustür bereits von Margaret, Sarahs Mutter und Köchin der Haydens, geöffnet.

„Da bist du ja. Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Aber komm erst einmal herein.“

„Danke, Margaret“, erwiderte Noéra. „Sind meine Eltern sehr böse?“

„Nun, das waren sie, ja. Aber jetzt machen sie gerade einen Spaziergang. Sie wollten dir eigentlich auch nichts zu essen aufheben, doch ich habe dir ein paar Kartoffeln und ein wenig Salat beiseite gestellt. Komm am besten gleich mit in die Küche.“ Dabei zwinkerte Margaret Noéra kurz zu.

„Vielen Dank. Das ist wirklich lieb von dir.“ Dankbar folgte Noéra Margaret in die Küche. Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie eigentlich war. Sie hatte seit dem Frühstück, das schon einige Stunden zurücklag, nichts mehr gegessen.

Als Noéra gerade mit essen fertig war hörte sie wie die Haustüre aufging und ihre Eltern zusammen mit ihrer Schwester zurückkamen. Sie wappnete sich innerlich bereits für die bevorstehende Rüge ihrer Eltern, doch es kam nichts dergleichen. Ihre Eltern begrüßten sie ganz normal als Noéra ihnen in der Halle entgegen trat, ganz so als sei nichts geschehen. Nur ihre Schwester sah sie grimmig an.

„Du hast Glück. Sie haben ihren Ärger bereits an mir ausgelassen.“ Als Noéra sie daraufhin fragend ansah lächelte Lydia jedoch und gab ihr mit einer Geste zu verstehen dass alles in Ordnung war. Noéra fragte nicht weiter nach. Sie war froh sich keine weitere Standpauke anhören zu müssen. Dies war einer der wenigen Momente, in denen sie ihre Schwester doch ganz gern mochte.

Die folgenden Wochen bis zu Lydias Hochzeit waren äußert betriebsam im Hause Hayden. Nicht nur die Angestellten Margaret und Sarah hatten einiges zu tun, sondern auch Lydia und Noéra, sowie ihre Mutter. Noéra war für die Dekoration verantwortlich, da sie ein feines Händchen für Stilvolles hatte, wie ihre Schwester betonte und Noéra erfüllte ihr diesen Wunsch gerne. Also machte sie sich, nachdem Lydia ihre farblichen Wünsche geäußert hatte, auf die Suche nach geeignetem Material. Dazu machte sie sich mehrmals auf den Weg in die Stadt, wobei sie oftmals von Sarah begleitet wurde. Neben mehreren Terminen beim Floristen besorgten sie gemeinsam Tischdecken, Kerzen und allerlei Bänder und Bordüren. Außerdem nutzte Noéra diese Gelegenheiten dazu, hin und wieder nicht nur an der Bibliothek vorbeizugehen, sondern auch um Mr. Christie aufzusuchen und nach Amaté zu sehen. Anfangs war der Pferdehändler zwar sehr verwundert und Noéra war sich nicht sicher ob es ihm recht war, dass sie hin und wieder vorbeikam, doch schließlich schien er sich daran zu gewöhnen und begrüßte Noéra irgendwann sogar schon ganz selbstverständlich. Sie störte ihn schließlich nicht und warum sollte er ihr also verbieten den Hengst zu besuchen? Und wer weiß, man konnte ja schließlich nie wissen ob ihr Vater nicht doch irgendwann einmal ein Pferd kaufen wollte. Er konnte nur nicht so recht verstehen was sie ausgerechnet an diesem ausgesprochen wilden und ungestümen Hengst fand, der ihm selber nichts als Probleme bereitete. Aber so lange er ohnehin noch keinen Interessenten für ihn hatte sollte die junge Frau den Hengst ruhig weiter besuchen. Sie schien nämlich eine sehr beruhigende Wirkung auf ihn zu haben, wie Mr. Christie zufrieden feststellte.

Auch an diesem Nachmittag verabschiedete Noéra sich unterwegs, nachdem alle Besorgungen getätigt waren, von Sarah und schickte sie alleine nach Hause. Sie gab vor, noch bei einer alten Schulfreundin vorbeigehen zu wollen. Eigentlich wollte sie Sarah nicht belügen und es tat ihr leid, ihrer Freundin nicht die Wahrheit zu sagen, doch sie wollte Sarah nicht in eine Lage bringen in der sie ihre Eltern womöglich belügen musste um Noéra zu schützen. Und Noéras Eltern durften unter keinen Umständen erfahren, dass Noéra heimlich den Hengst besuchte. Daher hielt sie es für besser, Sarah aus dieser Sache herauszuhalten.

Als Noéra an diesem Tag den Stall wieder verließ begann es schon leicht zu dämmern. Sie war später dran gewesen da die Besorgungen länger gedauert hatten als erwartet. Und sie war ein wenig länger bei Amaté geblieben als sonst üblich, denn als sie gekommen war, war der Hengst völlig außer sich gewesen und es hatte lange gedauert bis es Noéra gelungen war, ihn wieder zu beruhigen. Sie hätte gerne gewusst, was vorgefallen war.

Daher beeilte sie sich nun, nach Hause zu kommen. Denn auch dort wartete noch Arbeit auf sie, da die Hochzeit bereits in drei Tagen stattfinden würde. Auch deshalb hatte sie heute ein wenig mehr Zeit bei Amaté verbracht, denn jetzt würde es einige Zeit dauern bis sie das nächste Mal die Gelegenheit haben würde ihn zu besuchen.

Als Noéra den Stall verlassen und sich auf den Rückweg gemacht hatte, hatte sie für einen Moment lang das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Doch als sie sich daraufhin umgeschaut hatte war niemand zu sehen gewesen und auch das seltsame Gefühl war wieder verschwunden gewesen. Kopfschüttelnd war Noéra weitergegangen. Das hatte sie sich bestimmt nur eingebildet.

Am Tag der Hochzeit, einem Samstag, herrschte bereits am Morgen helle Aufregung im Haus der Haydens. Ausgelöst wurde diese durch einen gellenden Aufschrei Lydias, der durch das ganze Haus hallte. Noéra saß noch zusammen mit Sarah in der Küche, wo sie ein spärliches Frühstück aus Tee und Marmelade einnahm. An diesem Tag war keine Zeit um das Frühstück gemeinsam mit der Familie und in Ruhe einzunehmen. Und auch Margaret konnte dieses Mal nicht allzu viel Zeit darauf verwenden, ein ausgiebiges Frühstück zuzubereiten, denn sie war bereits seit dem Morgengrauen mit den Vorbereitungen der Häppchen beschäftigt, die nach der Trauung vor der Kirche gereicht werden sollten. Auch Sarah hatte nur einen kurzen Moment Zeit um Noéra Gesellschaft zu leisten. Dann musste sie ihrer Mutter wieder zur Hand gehen. Die beiden würden erst mittags Unterstützung für die Zubereitung des Tees und vor allem des Abendessens erhalten.

Als sie den Aufschrei ihrer Schwester hörte schreckte Noéra zusammen und sprang sofort von ihrem Stuhl auf um in die Halle und weiter ins obere Stockwerk zu eilen. Schon bevor sie Lydias Zimmer erreichte vernahm sie die aufgeregte Stimme ihrer Schwester und die beruhigend auf sie einredende Stimme ihrer Mutter. Doch auch in der Stimme ihrer Mutter schwang Nervosität mit und sie wandte sich ruckartig um als Noéra die Zimmertüre öffnete und eintrat.

„Ah, gut dass du kommst. Hilf mir hier mal.“

Hastig winkte ihre Mutter Noéra zu sich und Lydia, die, den Tränen nahe, vor ihrem Spiegel stand. Noéra tat wie ihr geheißen und als sie zu den beiden trat erkannte sie sofort, was geschehen war. Während Lydia ihr Hochzeitskleid angezogen hatte, hatte sich eine der Nähte gelöst und nun saß das Kleid an der Taille überhaupt nicht mehr. Jane Hayden hatte bereits damit begonnen, das Kleid mit einigen Nadeln abzustecken. Auch das Garn lag schon bereit, doch die Augen ihrer Mutter waren nicht mehr die besten, obwohl sie sich dennoch weigerte, eine Brille zu tragen. Daher sollte Noéra das Nähen übernehmen. Um die Schneiderin noch einmal kommen zu lassen fehlte die Zeit. So nahm Noéra schließlich widerstrebend Nadel und Faden entgegen, die ihre Mutter ihr reichte. Sie hatte Angst die Naht nicht gut genug flicken zu können und fürchtete, ihre Schwester sei dann unzufrieden und böse mit ihr, doch als sie ihre Bedenken laut aussprach versicherte Lydia ihr, dass sie das ganz sicher perfekt nähen würde und sie ihr für ihre Hilfe ewig dankbar sein würde. Was blieb Noéra also Anderes übrig? Seufzend kniete sie sich neben ihrer Schwester auf den Boden und begann zu nähen. Lydia hatte sich geweigert, das Kleid noch einmal auszuziehen aus Angst, es könne noch etwas passieren. Noéra wurde die Arbeit dadurch zwar erheblich erschwert, sie beklagte sich jedoch nicht. Die Nerven ihrer Schwester lagen ohnehin blank und die ihrer Mutter ebenfalls, da wollte wenigstens sie ruhig bleiben. Sie arbeitete konzentriert und schnell und nach kurzer Zeit war sie fertig und die Naht wieder in Ordnung. Ihre Mutter schloss nun sämtliche Knöpfe und Haken des Kleids und Lydia drehte sich vor dem Spiegel mehrmals um ihre eigene Achse.

„Oh, man sieht gar nichts mehr. Die Naht ist perfekt und das Kleid sitzt wieder wie angegossen“, rief Lydia begeistert aus. „Vielen Dank, Schwesterchen. Du bist die Beste!“

Dankbar lächelte sie Noéra an, dann betrachtete sie wieder ihr Spiegelbild und ließ den weiten Reifrock um ihre Beine schwingen. Es war ein hübsches Kleid, fand Noéra, auch wenn sie für sich selbst ein schlichteres Kleid ausgewählt hätte. Aber dieses stand ihrer Schwester ausgezeichnet. Es war aus weißer Seide genäht und mit unzähligen Spitzen und Schleifen verziert. Fast ein bisschen überladen, wie Noéra in diesem Moment dachte, aber dennoch schön. Es hatte schmale Träger und war weit ausgeschnitten. Neben einer eleganten Halskette aus Perlmutt würde Lydia einen ebenfalls weißen Seidenschal und Handschuhe aus demselben Material tragen. Außerdem einen langen Schleier, den ihre Mutter gerade in der kunstvoll aufgesteckten Frisur befestigte. Sarah hatte am Morgen mehr als eine Stunde gebraucht bis sie die Frisur endlich zum Halten gebracht hatte und Lydias glänzend blondes Haar mit zahllosen weißen Perlen und Schleifen verziert hatte. Doch nun sah sie wunderschön aus, wie Noéra neidlos zugeben musste.

Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr nun aber, dass es höchste Zeit wurde dass auch sie sich umzog. Sie war nur froh, dass sie nicht eine von Lydias Brautjungfern war und ebenso wie Lydias Freundinnen eines dieser furchtbaren hellrosa Kleider tragen musste. Es war ihr viel lieber ihr ebenfalls neues, extra für die Hochzeit angefertigtes Kleid aus beiger und dunkelbrauner Seide tragen zu können. Eilig ging sie also in ihr Zimmer hinüber, schlüpfte aus ihrem Morgenmantel und in das wunderschöne Kleid. Es war das erste Mal dass Noéra es anzog und sie hatte sich bereits seit Tagen auf diesen Moment gefreut. Nachdem sie alle Knöpfe und Ösen geschlossen hatte strich sie das bodenlange Kleid glatt und betrachtete sich im Spiegel. Die dunkle Seide hatte beinahe dieselbe Farbe wie ihr Haar, schimmerte im Licht jedoch fast glänzend golden, je nach dem in welchem Winkel das Licht darauf fiel. Der hellere Stoff, mit dem das Kleid an den halblangen Ärmeln, dem Rock und am Ausschnitt verziert war bildete einen schönen Kontrast und ließ das Kleid sehr edel wirken. Ihre dunklen, langen Locken steckte Noéra zu einem losen Zopf auf, sodass sie ihr in langen, glänzenden Wellen über den Rücken fielen. Als Letztes zog sie sich die Perlenkette ihrer Großmutter an. Behutsam strich sie mit den Fingerspitzen über die kleinen, hellglänzenden Perlen und dachte einen Moment lang wehmütig an ihre geliebte Großmutter zurück. Dann raffte sie jedoch entschlossen ihre Röcke und eilte aus dem Zimmer und die Treppe in die Halle hinunter. Dort wartete sie auf Lydia und ihre Eltern, die wenige Minuten später zu ihr traten. Gemeinsam verließen sie das Haus und bestiegen die festlich geschmückte Kutsche, mit der Milton bereits vor dem Haus wartete. Für die Hochzeit hatten sie zwei weiße Kutschpferde ausgeliehen, die ebenfalls auf Hochglanz geputzt worden waren. Ihre Mähnen und Schweife waren kunstvoll eingeflochten und mit bunten Bändern geschmückt. Die Hufe der Pferde waren eingefettet worden, sodass sie im Sonnenlicht schwarz glänzten, genauso wie die polierte schwarze Kutsche der Haydens, die zudem mit mehreren kleinen Blumensträußen und gelben und beigen Bändern geschmückt war. Nachdem alle saßen und Robert Hayden die Türe der Kutsche geschlossen hatte fuhr Milton los. In gemütlichem Trab ging es zur Kirche, wo der Bräutigam bereits zusammen mit den Gästen wartete.

Als alle ihre Plätze in der Kirche eingenommen hatten begann die Trauung. Es war eine sehr schöne Trauung. Untermalt wurde die Zeremonie durch Gesänge des Kirchenchores und einiger Solostücke einer Bekannten der Haydens, deren Gesang nur durch ein Piano begleitet wurde. Nach dem Gottesdienst fand im Kirchhof ein Stehempfang mit Häppchen und Erfrischungen statt, an dem auch der Pastor teilnahm, bevor das Brautpaar und die Gäste sich auf den Weg zu den „Wilchester Gardens“ machten, wo die eigentliche Hochzeitsfeier stattfinden sollte. Die „Wilchester Gardens“ waren zwei pavillonartige Gebäude, die von einer parkähnlichen Gartenanlage umgeben waren und für besondere Anlässe angemietet werden konnten. Sie lagen ganz zentral mitten in Wilchester, nur wenige Minuten von der Kirche entfernt. Da das Wetter warm und sonnig war hatten die Haydens entschieden, die Feier im Freien stattfinden zu lassen. Daher waren im Garten zwischen den Bäumen mehrere Baldachine aufgebaut worden, sowie ein großes Zelt, in dem es zunächst Tee, Kaffee und Kuchen gab und wo es gegen Abend ein großes Buffet aus verschiedenen kalten und warmen Speisen geben würde. Es war eine schöne Feier und Noéra freute sich, all ihre Verwandten und die Freunde der Familie wiederzusehen. Die Stimmung war alles in allem sehr ausgelassen, alle waren fröhlich und genossen das Fest. Noéra plauderte mit ihren und Lydias Freundinnen, von denen einige ebenfalls bereits verlobt oder gar verheiratet waren. Außerdem freute sie sich, einige ihrer Cousins und Cousinen wiederzusehen, die sie nur selten sah da sie weiter entfernt lebten. Noéras gute Laune änderte sich jedoch schlagartig als am frühen Abend auf einmal Henry auftauchte und sie lächelnd begrüßte. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Eltern ihn ebenfalls eingeladen hatten. Sie versuchte jedoch, sich ihre Verwunderung nicht anmerken zu lassen, begrüßte Henry freundlich und ging ein paar Schritte mit ihm durch den Garten. Noéra wusste nicht warum, doch irgendwie hatte sie an diesem Abend ein seltsames Gefühl in Henrys Gegenwart. Irgendetwas an ihm war anders, obwohl sie nicht zu sagen vermocht hätte was es war. Er war wie immer äußerst höflich und liebenswürdig ihr gegenüber. Allerdings ungewöhnlich schweigsam, weshalb Noéra ihm immer wieder verwunderte Blicke zuwarf.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie Henry schließlich, doch er nickte lächelnd.

„Aber natürlich. Wie immer in Eurer Gegenwart.“

Noéra meinte ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen wahrgenommen zu haben und lächelte ihn kurz an ehe sie weitergingen. Sie hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen, ließ es dann aber dabei bewenden. Eines stand jedoch fest. Sie musste unbedingt mit Henry sprechen. Er durfte sich keine falschen Hoffnungen machen. So konnte es auf keinen Fall weitergehen. Doch heute war nicht der richtige Tag und schon gar nicht der richtige Anlass um mit ihm zu sprechen.

Noéra konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, was ihr an diesem Abend noch bevorstand. Umso größer war ihr Entsetzen als ihr Vater nach dem Hauptgang des Abendessens schließlich aufstand und für einen Moment um Ruhe bat. Noéra erwartete einen weiteren Tost auf das Brautpaar, doch auch sonst hätten sie die Worte ihres Vaters völlig unerwartet und unvorbereitet getroffen. Sie glaubte ihren Ohren nicht trauen zu können als ihr Vater vor all den Leuten ihre Verlobung mit Henry bekanntgab. Einen Augenblick lang fürchtete sie in Ohnmacht zu fallen und kam sich vor wie in einem Alptraum, aus dem sie jeden Moment schreiend erwachen würde. Und nach Schreien war ihr tatsächlich zu Mute, doch es kam kein Laut über ihre Lippen und es gab auch kein erleichtertes Erwachen. Das hier geschah wirklich und doch konnte das einfach nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein. Wie im Traum nahm Noéra voller Entsetzen wahr, wie sich die Leute zu ihr und Henry, der nicht weit von ihr entfernt saß, umwandten, ihr zulächelten und ihre Gläser auf sie erhoben. Ebenso wage nahm sie die fröhlichen Gesichter ihrer Eltern und ihrer Schwester wahr, bis ihr Blick schließlich an Henrys glücklichem Gesicht hängen blieb. Sie wusste nicht, wie sie sich nun verhalten sollte. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Wie konnten sie ihr das nur antun? Warum hatte niemand mit ihr gesprochen? Sie derart vor vollendete Tatsachen zu stellen war eine Gemeinheit, eine Ungeheuerlichkeit. Einen furchtbaren Augenblick lang hatte sie das Gefühl, von ihrer plötzlichen Verzweiflung übermannt zu werden und ihr wurde schwindelig. Doch irgendwie gelang es ihr durch pure Willensanstrengung trotz allem Haltung zu bewahren und sogar zu lächeln. Auch als die Gäste ihr und Henry kurz darauf gratulierten schaffte sie es, sich nichts anmerken zu lassen. Niemand dieser Leute sollte wissen, was da gerade geschehen war und wie es wirklich in ihr aussah. Dies war eine Sache allein zwischen ihr und ihren Eltern. Und Henry. Wie hatte er so etwas tun können? Wie hatte er mit ihren Eltern sprechen können ohne zuvor mit ihr gesprochen zu haben? Wie hatte er vorhin seelenruhig mit ihr spazieren gehen können ohne ein Wort zu sagen? Dafür hasste sie ihn. Und sie hasste ihre Eltern. Wie konnten sie nur gegen ihren Willen Henrys Antrag annehmen? Hatte sie denn gar nichts dazu zu sagen? Durften sie das überhaupt? Sie war zwar noch nicht volljährig, aber dennoch. Und immer wieder ging ihr die eine Frage durch den Kopf. Warum? Warum taten sie ihr das an? Noéra verstand die Welt nicht mehr. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Eines wusste sie jedoch genau und bei diesem Gedanken warf sie Henry einen funkelnden Blick zu, den sonst niemand bemerkte. Sie würde Henry auf keinen Fall heiraten. Um nichts in der Welt. Eher würde sie von zu Hause fliehen, wenn es denn sein musste.

Noéra war froh als sich nach und nach alle wieder dem Brautpaar zuwandten. Sie wusste nicht wie lange es ihr noch gelingen würde, Haltung zu bewahren. Als sie schließlich von ihrem Platz aufstand und so tat als würde sie zum Buffet gehen fing sie für einen Moment Martha Gillivans Blick über die Köpfe der anderen Gäste hinweg auf. Sie sah ihr nur einen Augenblick lang in die Augen, doch sie wusste dass Martha ihren verzweifelten Blick richtig zu deuten vermochte und wusste was geschehen war. Voller Mitleid, so schien es Noéra, schüttelte sie ganz leicht den Kopf, so als wolle sie sich für etwas entschuldigen woran sie gar keine Schuld trug. Als Noéra schließlich den Tisch verließ bemerkte sie, wie Henry ebenfalls aufstand um ihr zu folgen. Sie beschleunigte ihren Schritt und ging ein Stück den von Fackeln gesäumtem Weg entlang. Die Fackeln waren bereits entzündet worden da es mittlerweile dunkel und der Mond aufgegangen war. Nach einigen Metern holte Henry sie ein und beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten. Sie beachtete ihn jedoch gar nicht. Erst als er ihren Arm ergriff hielt sie inne und drehte sich zu ihm herum.

„Fass mich nicht an!“, fuhr sie ihn zischend an.

„Was ist denn los?“, fragte Henry verwundert und raubte Noéra damit beinahe ihren letzten Funken Selbstbeherrschung. Aber immerhin ließ er sie los. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

„Was los ist? Fragst du mich das allen Ernstes?“ Wütend sah sie ihm in die Augen. „Wie konntest du das tun?“

„Was…“ Noéra ließ ihn jedoch gar nicht zu Wort kommen.

„Wie konntest du mit meinen Eltern sprechen ohne mich vorher zu fragen ob ich dich heiraten will? Ohne vorher ein einziges Mal mit mir zu sprechen? Wie konntest du nur…?“ Plötzlich fehlten ihr die Worte.

„Ich dachte das sei auch in deinem Sinne. Ich hatte geglaubt du empfändest genauso wie ich. Ich dachte du würdest dich freuen.“ Noéra schnaubte.

„Mich darüber freuen, derart vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, ohne jemals gefragt worden zu sein? Ich bitte dich, Henry. Wie konntest du das glauben?“ Mit funkelndem Blick sah sie ihn an und sie meinte so etwas wie Scham in seinen Augen aufflackern zu sehen. Oder war es etwas Anderes? Furcht vielleicht? Einen Moment schwiegen beide, dann fuhr Noéra leise fort.

„Egal, was dir meine Eltern gesagt haben. Egal, was für eine Abmachung ihr habt. Ich werde auf keinen Fall deine Frau werden. Niemals!“

„Aber Noéra…“

Doch Noéra wandte sich schon von ihm ab.

„Es gibt nichts mehr zu sagen“, erwiderte sie und ging dann einfach davon. Henry blieb allein zurück und sah ihr nach, sah, wie der Schein der Fackeln ihr Kleid hell schimmern ließ bevor sie schließlich in die Dunkelheit verschwand.

Wie hatte er sich nur so täuschen können, fragte sich Henry. Hatte er sich von seinen eigenen Gefühlen für Noéra blenden lassen? Er sah ein dass er einen Fehler gemacht hatte als er mit Noéras Eltern gesprochen hatte ohne sie vorher selbst um ihre Hand zu bitten. Jane Hayden hatte ihm jedoch versichert, Noéra würde überglücklich sein, seine Frau zu werden. Und es war auch ihr Vorschlag gewesen, die Verlobung bereits an diesem Abend bekannt zu geben. Doch nun? Was sollte er jetzt tun? Schließlich sagte er sich, dass sich Noéra sicher wieder beruhigen und ihre Meinung ändern würde.

Nach ihrem Gespräch mit Henry hatte Noéra die Feier verlassen. Sie wollte niemanden mehr sehen, mit niemandem mehr sprechen müssen. Doch sie wollte Lydia auch nicht das Fest verderben. Daher hatte sie Milton kurzerhand gebeten, sie nach Hause zu fahren. Er hatte zwar kurz gezögert, dann jedoch zugestimmt. Er wurde im Moment ohnehin nicht gebraucht und er konnte die junge Frau bei dieser Dunkelheit schließlich auch nicht zu Fuß gehen lassen. Also brachte er sie nach Hause und ließ sie vor der Haustüre aussteigen.

„Danke, Milton“, sagte Noéra als sie aus der Kutsche stieg. Er nickte knapp und fuhr dann zurück zur Feier.

Noéra war nun ganz allein im Haus. Alles war ruhig, doch das kam ihr gerade gelegen. Sie machte kein Licht, sondern eilte im Dunkeln die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Auch ihr Zimmer wurde nur schwach vom Schein des Mondes erhellt, doch das machte Noéra nichts aus. Die hier herrschende Atmosphäre passte ausgezeichnet zu ihrer düsteren Stimmung. Als sie sich dessen bewusst wurde, lachte sie kurz laut auf, bevor sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Ihre ganze Verzweiflung über ihre ausweglos erscheinende Situation brach nun über sie herein. Doch es gab nun keinen Grund mehr, sich weiter zusammenzureißen. Sie ließ sich auf ihr Bett sinken ohne Rücksicht auf ihr Kleid zu nehmen und weinte so lange bis sie keine Tränen mehr hatte und schließlich einschlief. Es war jedoch ein unruhiger und wenig erholsamer Schlaf.

Der nächste Morgen war wolkenverhangen und Noéra erwachte erst, als Sarah ihr Zimmer betrat und langsam die schweren Vorhänge, die die Fenster verdunkelten, beiseiteschob. Trotz des trüben Lichts fühlte Noéra sich geblendet. Als Sarah zu Noéra ans Bett trat erschrak sie. Noéra sah blass aus und ihre Augen waren vom vielen Weinen noch immer gerötet. Sarah setzte sich zu ihr ans Bett und strich ihrer Freundin das Haar zurück.

„Sie wollen mich zu der Heirat zwingen“, sagte Noéra mit heiserer Stimme.

„Ich weiß“, entgegnete Sarah. „Aber das können sie doch nicht, oder?“

„Doch, ich fürchte schon. Oh Sarah, was soll ich nur tun?“ Sarah hörte sie Verzweiflung in Noéras Stimme.

„Ich weiß es nicht. – Es tut mir so leid.“

Noéra nickte nur schweigend. Natürlich konnte Sarah ihr nicht helfen.

„Sie erwarten dich übrigens unten. Deine Eltern, meine ich.“ Noch einmal strich Sarah ihr über das Haar.

„Danke“, erwiderte Noéra. „Sag ihnen dass ich gleich runter komme.“

Als Sarah nickte und zur Tür ging fuhr Noéra leise fort.

„Sarah – ich kann Henry nicht heiraten. Und ich werde ihn nicht heiraten. Eher gehe ich von hier fort.“

Sarah hielt noch einmal inne und sah Noéra in die Augen. Langsam nickte sie, doch der Klang in Noéras Stimme machte ihr Angst. Sie empfand tiefes Mitleid mit ihrer Freundin. Dann verließ sie Noéras Zimmer.

Wenig später verließ Noéra ebenfalls ihr Zimmer. Sie hatte sich gewaschen, frisiert und angezogen. Doch nach wie vor fühlte sie sich elend. Ihre Verzweiflung war noch schlimmer als am Abend zuvor. Wie sollte sie ihren Eltern bloß gegenübertreten? Noch dazu auf nüchternen Magen? Andererseits hatte sie sowieso keinen Appetit. Vermutlich hätte sie keinen einzigen Bissen herunterbekommen.

Langsam ging sie die Treppe hinunter und weiter zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie wappnete sich innerlich für das bevorstehende Gespräch. Es würde nicht angenehm werden, das wusste Noéra, doch sie würde sich nicht vor der Auseinandersetzung drücken. Sie würde ihren Eltern sagen dass sie Henry auf gar keinen Fall heiraten würde. Und das tat sie, gleich nachdem sie das Zimmer betreten hatte. Sie sah den entgeisterten Blick ihres Vaters und den Zorn in den Augen ihrer Mutter, doch das änderte nichts an ihrem Entschluss. Schließlich ging es hier um ihre Zukunft. Ihre Mutter wollte gerade dazu ansetzen, sie anzuschreien, doch ihr Vater legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm und ergriff stattdessen selbst das Wort. Noéra bemerkte den wütenden Blick ihrer Mutter.

„Noéra, Henry war heute Morgen bereits in aller Frühe hier. Er hat uns von eurem Streit gestern Abend erzählt. Es tut ihm leid was vorgefallen ist und uns tut es ebenfalls leid. Du hast Recht, wir hätten wirklich vorher mit dir sprechen sollen. Henry sieht das genauso. Doch wir waren der Ansicht, völlig in deinem Sinne zu handeln.“ Seine Stimme klang ruhig, doch Noéra blieb trotzdem misstrauisch.

„Wie konntet ihr nur glauben, ich wollte Henry heiraten? Ich habe nie etwas Derartiges gesagt. Weder zu euch, noch zu Henry. Ganz im Gegenteil. Mutter, ich habe dir mehrmals gesagt, dass ich ihn nicht liebe und eine Heirat mit ihm nicht in Frage kommt.“

Noéras Stimme war beherrscht, aber bestimmt und sie sah ihren Eltern abwechselnd fest in die Augen.

„Das hast du nicht zu entscheiden“, brauste ihre Mutter auf. „Und Liebe – davon verstehst du nichts.“

Wieder war es Robert Hayden, der seine Frau unterbrach und auch Noéra von einer nun ebenfalls zornigen Antwort abhielt.

„Noéra, denk bitte noch einmal darüber nach.“ Noéra reckte jedoch nur das Kinn und schüttelte den Kopf.

„Da gibt es nichts zu überlegen“, fuhr Jane Hayden sowohl ihren Mann, als auch ihre Tochter an. „Henry ist eine gute und vorteilhafte Partie. Vor allem wenn er erst einmal die Leitung der Universität von seinem Vater übernommen hat.“

Bei diesen Worten wurde Noéra hellhörig, ihre Mutter fuhr jedoch unbeirrt fort.

„Außerdem werde ich nicht zulassen, dass du uns vor all den Leuten demütigst. Die Verlobung wird nicht rückgängig gemacht. Du wirst Henry heiraten!“

„Er wird dir ein guter Ehemann sein“; fügte ihr Vater beschwichtigend hinzu. Noéra schüttelte aber erneut den Kopf. Jetzt begann sie erst zu begreifen, wenn sie es auch noch nicht richtig verstand. Henry sollte also in absehbarer Zeit den Vorsitz der Universität übernehmen. Aber was hatte das mit ihr – und ihrem Vater zu tun? Plötzlich kam Noéra ein schrecklicher Gedanke.

„Was hat Henry euch für meine Hand versprochen?“ Ihre Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt und sie sah ihren Vater scharf an. Er hob jedoch nur leicht die Hand.

„Er hat nichts versprochen. Doch er wird schon bald ein einflussreicher Mann sein, auch im Stadtrat. Es werden Gelder in die Kassen der Universität fließen und wer weiß…“

Er brach ab als er Noéras entsetzten Blick sah. Plötzlich verstand sie und ein Schauer durchlief sie. Ihr Vater träumte schon seit langem davon, eine Expedition nach Ägypten zu leiten. Bislang hatte der Universität immer das Geld dafür gefehlt, doch nun schien sich eine neue Gelegenheit – vermutlich die letzte Möglichkeit für ihren Vater – zu bieten, und die wollte er sich sichern. Denn eine erfolgreiche Expedition würde ihm großes Ansehen und zahlreiche Auszeichnungen einbringen. Es wäre ein gelungener Abschluss seines Lebenswerkes, bevor er in den Ruhestand ging. Er hatte sich in den letzten Jahren zwar hauptsächlich mit der Geschichte und der Vergangenheit Groß Britanniens befasst, doch seine Leidenschaft hatte schon immer der ägyptischen Geschichte gegolten. Und nun sah er eine Möglichkeit, sich seinen größten Traum zu erfüllen. Außerdem würde er dadurch zusätzliches Ansehen erlangen, was auch ihrer Mutter gefallen würde. Und durch Noéras Heirat mit Henry würden sie sich dessen Unterstützung in dieser Sache sichern. Dazu war ihnen scheinbar jedes Mittel recht.

Noéra konnte es kaum fassen. Wie konnten ihre Eltern derart berechnend sein? Wie konnten sie ihr das antun? Es war beinahe so als verkauften sie sie zu ihrem eigenen Zweck. Und Henry… Das hätte sie nicht von ihm erwartet. So hatte sie ihn nicht eingeschätzt. Er hatte ihr die ganze Zeit etwas vorgespielt und als er merkte, dass sie einem Antrag seinerseits niemals zustimmen würde hatte er sich an ihre Eltern gewandt. Oder tat sie Henry vielleicht unrecht? Waren es einzig die ehrgeizigen Pläne ihrer Eltern, besonders ihrer Mutter, die sie in diese Lage gebracht hatten? Wusste Henry von alle dem vielleicht gar nichts? Doch das spielte ohnehin keine Rolle, denn es würde nichts an ihren Gefühlen für ihn ändern. Sie würde ihn niemals lieben können.

Noéra konnte nicht mehr klar denken. Sie starrte ihre Eltern noch einen Moment wortlos an, dann wandte sie sich ab. An der Zimmertür blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um.

„Ich werde Henry nicht heiraten!“ Dann verließ sie den Raum.

Ihre Mutter rief ihr zornig hinterher, sie solle sofort zurückkommen, doch Noéra beachtete sie nicht mehr und verließ einfach das Haus. Sie brauchte ein wenig frische Luft. Zu Hause hielt sie es jetzt einfach nicht aus. Ohne darüber nachzudenken schlug sie den Weg zu Mr. Christie ein. Amaté würde sie ablenken und vielleicht gelang es ihr, während dem Fußmarsch wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Sie ging zügig voran. Es war ein kühler Tag und die Sonne war nach wie vor von dicken Wolken verdeckt. Noéra hätte eine Jacke mitnehmen sollen, denn das Kleid, das sie trug, war eigentlich für wärmere Temperaturen gedacht. Doch als sie das Haus so überstürzt verlassen hatte, hatte sie gar nicht bemerkt wie kühl es war. Sie machte sich jedoch nichts daraus und ging einfach weiter. Im Stall würde es schon warm sein und vielleicht kam die Sonne gegen später ja doch noch zum Vorschein.

Kurz darauf erreichte sie Mr. Christies Stall. Sie klopfte kurz an und schlüpfte dann durch die nur angelehnte Tür hinein. Im Stall war es dunkler als sonst, wenn die Sonne schien, doch ihre Augen gewöhnten sich schnell an das trübe Licht und Noéra hätte den Weg zu Amatés Box mittlerweile auch blind gefunden. Mr. Christie schien nicht da zu sein, worüber Noéra ganz froh war. Sie wollte jetzt sowieso am liebsten niemanden sehen. Vor der Box des Hengstes blieb sie stehen und Amaté kam sofort zu ihr und begrüßte sie mit leisem Wiehern, wie es seine Gewohnheit geworden war. Lächelnd strich Noéra ihm über den edel geschwungenen Hals und flüsterte ihm leise Worte ins Ohr. Der Hengst hörte ihr aufmerksam zu. Als sie verstummte stupste er sie sanft an, so als wolle er sie auffordern weiterzusprechen. Einen Moment sah Noéra ihn stirnrunzelnd an, das schüttete sie ihm ihr Herz aus. Auch wenn Amaté den Sinn ihrer Worte nicht verstand und ihr nicht antworten konnte war er doch ein geduldiger, aufmerksamer Zuhörer und es tat ihr gut, ihren Kummer in Worte zu fassen. Während sie leise mit ihm sprach und ihm erzählte, was vorgefallen war, kraulte sie den Hengst unablässig, was ihm sichtlich gefiel, denn er blieb ganz still bei ihr stehen und lehnte seinen Kopf sacht an sie an. Als sie alles gesagt hatte, was sie auf dem Herzen hatte, blieb Noéra noch eine Weile bei dem Hengst stehen und gab ihm ein wenig Heu. Sie sah ihm noch einige Minuten beim Fressen zu, dann verließ sie den Stall wieder und machte sich widerstrebend auf den Heimweg. Was würde sie dort wohl erwarten?

Sie war erst ein kurzes Stück gegangen als es zu regnen begann. Nun weinte sogar der Himmel, dachte Noéra und ging zügig weiter. War das ein schlechtes Vorzeichen?

Als sie zu Hause ankam war Noéra völlig durchnässt. Ihre Haare und ihr Kleid tropften, und Wasser lief ihr über das Gesicht. Sie war froh dass niemand sie so sah und eilte in ihr Zimmer hinauf, wo sie sich umzog und ihre Haare zum Trocknen in ein Handtuch wickelte. Anschließen bat sie Sarah, das Kleid zum Trocknen aufzuhängen. Sarah nahm es nickend entgegen und machte sich gleich daran, es zu reinigen und dann aufzuhängen.

Ihre Eltern sah Noéra erst beim Abendessen wieder, da sie das Mittagessen verpasst hatte. Sie hätte jedoch sowieso keinen Hunger gehabt. Noéra erkannte sofort, dass ihre Mutter noch immer böse war und ihr Zorn war durch Noéras überstürzten Abgang am Vormittag noch geschürt worden. Mit funkelndem Blick empfing sie ihre Tochter.

„Wo bist du gewesen?“, fragte sie mit eisiger Stimme.

„Spazieren“, entgegnete Noéra knapp, hielt dem Blick ihrer Mutter aber stand.

„Ein solches Verhalten dulde ich nicht“, erwiderte Jane Hayden. „Du hast Hausarrest für die nächste Zeit.“

„Was? Warum?“, entfuhr es Noéra. Sie war doch kein Kind mehr. Doch ihre Mutter brachte sie mit einer Geste zum Schweigen.

„Ich will nichts hören. Du hast Hausarrest und darüber diskutiere ich nicht. Dann hast du ausreichend Zeit über alles nachzudenken.

Noéra wollte noch etwas entgegnen, schluckte ihre Antwort dann jedoch hinunter. Es machte keinen Sinn, weiter mit ihrer Mutter zu streiten. Schweigend wandte sie den Blick ab und aß eine Kleinigkeit. Der Hunger war ihr gründlich vergangen. Das gesamte Abendessen verlief schweigend und Noéra verließ den Tisch so bald wie möglich um in ihr Zimmer hinauf zu gehen. Sie verließ ihr Zimmer den ganzen Abend nicht mehr und ging früh zu Bett. Doch an Schlafen war nicht zu denken.

Die nächsten Wochen schleppten sich dahin, ohne dass sich das Verhältnis zwischen Noéra und ihren Eltern besserte. Jane Hayden hielt den Hausarrest ihrer Tochter eine ganze Zeit lang aufrecht und gestattete Noéra nicht einmal, Besuch zu empfangen oder die Bibliothek aufzusuchen. Noéra beklagte sich jedoch nicht. Das hätte ihre Lage nur noch verschlimmert. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war ohnehin mehr als eisig, nachdem sie noch ein weiteres Mal über Henry gesprochen hatten. Ihre Mutter hatte ihr noch einmal deutlich gesagt, was sie von ihr erwartete, doch Noéra hielt an ihrem Entschluss, Henry unter gar keinen Umständen zu heiraten, fest. Daran konnte auch die Drohung ihrer Mutter, ihr das Leben zur Hölle zu machen, nichts ändern. Viel schlimmer konnte es ja kaum noch werden, sagte sich Noéra.

Die Tage schlichen dahin und Noéra wurde von einer nie gekannten Lethargie erfasst. Eines Abends hielt sie es einfach nicht mehr aus, eingesperrt zu sein, und schlich sich nach dem Abendessen aus dem Haus. Sie wartete bis sich ihr Vater in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte und ihre Mutter von ihrer Freundin abgeholt worden war um in die Oper zu gehen. Dann holte sie ihren Mantel und verließ das Haus durch die Hintertüre. Abends wurde es bereits empfindlich kalt. Ein Zeichen dafür dass der Herbst Einzug hielt. Sie sah sich noch ein paar Mal verstohlen um, um sicher zu gehen, dass niemand sie gesehen hatte, dann machte sie sich auf den Weg zu Amaté. Es war schon fast zwei Wochen her, dass sie ihn zuletzt besucht hatte. Und das war für Noéra beinahe das Schlimmste an ihrem Hausarrest. Ihren Freundinnen konnte sie zumindest von Zeit zu Zeit schreiben. Die treue Sarah hatte sich bereiterklärt, die Briefe zu überbringen. Und auch Sarahs Gesellschaft war Noéra ein großer Trost. Doch den jungen Hengst hatte sie wirklich vermisst und auch Amaté freute sich sichtlich, sie zu sehen. Noéra fühlte sich gleich viel besser als sie das weiche Fell des Pferdes unter ihren Fingern spürte. Sie blieb an diesem Abend zwar nicht sehr lange bei Amaté, aus Angst, ihr unerlaubtes Verschwinden könne entdeckt werden, doch bei ihrem Abschied versprach sie dem Hengst, bald wiederzukommen. Und sie hielt ihr Versprechen und schlich sich abends bald regelmäßig aus dem Haus, selbst als ihr Hausarrest irgendwann aufgehoben wurde. Niemand sollte wissen wohin sie ging.

Das Verhältnis zu ihren Eltern besserte sich jedoch nicht und Noéra lehnte es auch weiterhin vehement ab, mit Henry zu sprechen, obwohl er mehrfach zum Haus der Haydens kam um sie zu sehen. Aber auch Jane Hayden hielt ihr Versprechen, ihrer Tochter das Leben so unangenehm wie möglich zu machen um sie „zur Vernunft“ zu bringen, wie sie immer wieder betonte. Noéra hatte nicht gewusst, wie grausam ihre Mutter sein konnte und das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war äußerst unterkühlt. Noéra hatte zunehmend das Gefühl, es zu Hause nicht mehr auszuhalten und mit der Zeit reifte ein Plan in ihr. Sie wollte von zu Hause fort. Zunächst war es nur eine vage Idee, doch je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr diese Idee. Sie malte sich aus wie sie durch das Land streifte, sich an verborgenen Orten versteckte und für sich selbst sorgte. Natürlich waren das anfangs nur wilde Fantasien, das wusste Noéra, doch als sie irgendwann begann, ernsthaft darüber nachzudenken, von zu Hause fortzugehen, nahm ihr Plan allmählich Gestalt an. Zunächst hatte Noéra zwar keine Ahnung, wohin sie eigentlich gehen sollte und wovon sie leben sollte, doch dafür würde sie schon eine Lösung finden, da war sie sich sicher. Und Sarah war ihr eine hilfreiche Unterstützung und geduldige Zuhörerin. Noéra hatte sich ihrer Freundin eines Nachmittags anvertraut und obwohl Sarah zunächst sehr bestürzt gewesen war konnte sie Noéra doch verstehen. Sie sah ja täglich, wie unglücklich ihre Freundin war und sie wollte ihr gerne helfen. Und wer weiß, vielleicht würde sie ihre Freundin sogar begleiten. Je länger Noéra darüber nachdachte desto besser gefiel ihr der Gedanke. Es würde zwar sicher nicht einfach werden, doch irgendwie würde sie es schaffen, ein neues Leben zu beginnen. Vielleicht sogar zusammen mit Sarah. Im Moment wäre Noéra fast alles recht gewesen, wenn sie nur ihrem momentanen Leben entkommen konnte. Und ihr Plan, von zu Hause zu fliehen, gab ihr neue Hoffnung, wenn er auch noch nicht ganz ausgereift war.

Sie konnte noch nicht ahnen, dass ihr Plan bereits wenige Tage später zunichte gemacht werden würde.

? ?

Er war schon den ganzen Tag über von einer völlig unnatürlichen Unruhe erfasst. Er konnte sich auf nichts konzentrieren und keinen klaren Gedanken fassen. Das kannte er gar nicht von sich. Normalerweise war er um Ausgeglichenheit und innere Ruhe bemüht und er hatte sich zu jeder Zeit vollständig unter Kontrolle. Das war auch unerlässlich, denn jede, wenn auch noch so geringe Unachtsamkeit und Unvorsichtigkeit seinerseits konnte schreckliche Folgen haben, dessen war er sich bewusst. Genauso wie bereits der geringste Fehltritt ihn verraten könnte. Und das durfte unter keinen Umständen geschehen. Doch an diesem Tag war alles anders und er war sich seiner Selbstbeherrschung nicht mehr sicher. Das Beste würde sein wenn er das kleine Arbeitszimmer, an dessen Schreibpult er gerade stand, gar nicht verließ. Als er jedoch weiter darüber nachdachte was heute wohl nicht stimmte musste er sich irgendwann eingestehen, dass er schon seit einiger Zeit ein seltsames Gefühl hatte, wenn auch noch nie so sehr wie an diesem Tag. Genau genommen schon seit dem Tag als er vor einigen Wochen vorübergehend das kleine Mietshaus am Stadtrand von Wilchester zusammen mit seinem Diener bezogen hatte. Er fühlte sich nirgendwo so wohl wie zu Hause, das war nichts Neues für ihn, und deshalb war er jedes Mal froh wenn er alle Geschäfte getätigt hatte und wieder nach Hause zurückkehren konnte. Doch dieses Mal war es anders und das beunruhigte ihn. Aber es half alles nichts, er würde noch einige Zeit ausharren müssen. Was er hier in Wilchester zu erledigen hatte bedurfte noch einiger Zeit und er wusste noch nicht, wie er es überhaupt angehen sollte. Er hatte geglaubt, dass es einfach werden würde. Davon war er auch noch überzeugt gewesen als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Doch bereits das nächste Mal, als er sie gesehen hatte und ihr ein Stück gefolgt war um sie zu beobachten hatte sich etwas geändert. Sie war an diesem Tag sehr aufgebracht, zugleich aber tieftraurig gewesen, das hatte er deutlich spüren können. Aber da war noch etwas Anderes gewesen, das ihn völlig durcheinander gebracht hatte. Sie hatte eine Seite an ihm berührt, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Sie hatte etwas in ihm geweckt von dem er gar nicht gewusst hatte, dass es existierte. Das eigentlich auch nicht existieren durfte. Doch nun hatte sich alles geändert, alles war komplizierter, schwieriger geworden dadurch und er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Das war der Grund weshalb er schon seit einiger Zeit unruhig war, aber es erklärte nicht seine fast unerträgliche Unruhe und Anspannung, die ihn heute nicht losließ. Was war nur los?

Er wollte gerade nach seinem Diener rufen und trat daher an die Tür des schon den ganzen Tag verdunkelten Zimmers als es ihn plötzlich wie ein Blitz traf. Auf einmal wich alle Unruhe von ihm und wurde von einer schrecklichen Erkenntnis verdrängt. Er musste zu ihr, er musste sie so schnell wie möglich finden, bevor es zu spät war. Sie schwebte in Gefahr und er musste ihr helfen. Würde er sie noch rechtzeitig erreichen können?

Er riss die Türe auf, deren Angeln bei der ruckartigen Bewegung quietschten, und stürmte in die Halle, wo er um ein Haar mit Lawrence zusammengeprallt wäre.

„Bitte verzeih, alter Freund“, entschuldigte er sich bei seinem Diener und eilte dann aus dem Haus, um sein Pferd zu holen. Lawrence sah ihm einen Moment lang nach, doch er ahnte bereits, dass etwas Schlimmes passiert war oder kurz bevorstand. Er hatte seinen Herrn in all den vielen Jahren, die sie schon zusammen verbracht hatten, selten, vielleicht sogar noch nie so außer sich gesehen.

Erst als er das Haus verließ bemerkte er, dass es schon dunkel war. Er hatte gar nicht gemerkt wie schnell der Tag vergangen war und in dem verdunkelten Haus war ihm nicht aufgefallen dass der Mond bereits aufgegangen war. Aber das war gut; die Dunkelheit bot ihm Sicherheit und einen natürlichen Schutz. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung schwang er sich auf den Rücken seines Pferdes und schon im nächsten Moment stürmte der schwarze Hengst los. Er musste sie finden!

? ?

Noéra besuchte Amaté weiterhin regelmäßig. Wann immer sie Zeit fand verließ sie möglichst unbemerkt das Haus und machte sich auf den Weg zu Mr. Christie. So gelang es ihr wenigstens ab und zu, auf andere Gedanken zu kommen. Und nicht nur das. Einige Tage zuvor hatte sie zufällig ein Gespräch zwischen Mr. Christie und einem seiner Kunden mitbekommen in dem er diesem den Preis für den jungen Hengst genannt hatte. Zu Noéras Erleichterung hatte der Kunde jedoch gleich davon abgesehen, Amaté zu kaufen. Noéra dachte seitdem jedoch angestrengt darüber nach, ob es irgendeine Möglichkeit geben würde, dass sie selbst Mr. Christie den Hengst abkaufte. Leider hatte sie jedoch nur wenig Geld und sie hatte bisher keine Idee wie sie diesen Zustand ändern konnte. Der Gedanke ging ihr seitdem aber nicht mehr aus dem Kopf. Sie wünschte sich nichts mehr als Amaté zu bekommen und ihn nicht mehr heimlich besuchen zu müssen. Außerdem wäre eine Flucht mit einem Pferd viel einfacher. Einen kurzen Moment hatte sie sogar darüber nachgedacht, den Hengst einfach zu entführen, doch diesen Gedanken hatte sie sogleich wieder verworfen. Das kam natürlich nicht wirklich in Frage. Mr. Christie war immer freundlich zu ihr gewesen, da konnte sie ihn nicht auf solch niederträchtige Art und Weise betrügen. Wenn es doch nur irgendeine Möglichkeit für sie gäbe an Geld zu kommen. Sie hatte sogar schon darüber nachgedacht ob sie nicht die Mitgift verwenden konnte, die ihre Eltern für ihre Hochzeit vorgesehen hatten. Sie wusste natürlich nicht, ob sie ausreichen würde, um den Hengst davon zu kaufen, denn Mr. Christie hatte dem Mann einen sehr hohen Preis genannt, doch einen Versuch wäre es wert. Und wenn sie von zu Hause ausreißen würde gäbe es ohnehin keinen Grund mehr für eine Mitgift. Die Frage war nur, wie sie an das Geld kommen sollte.

Natürlich hatte sie auch darüber nachgedacht irgendwo zu arbeiten und sich das Geld zu verdienen. Sie könnte zum Beispiel in der Bibliothek arbeiten. Dort hatte sie bereits früher ausgeholfen und kannte sich sehr gut aus. Genauso wie in der kleinen Apotheke von Wilchester. Allerdings würde es auf diese Weise viel zu lange dauern bis sie das Geld zusammen hatte und außerdem würde es ihre Eltern mit Sicherheit misstrauisch machen. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren.

Nun, wenn sie noch eine Weile darüber nachdachte würde ihr vielleicht noch etwas Besseres einfallen. Und das tat sie. Sie dachte an fast nichts Anderes mehr, nur noch daran, wie sie das Geld für Amaté zusammen bekommen konnte und an ihre anschließende Flucht.

Diese Gedanken beschäftigten sie auch an diesem Spätnachmittag, als sie unterwegs zu Mr. Christie, oder vielmehr zu Amaté war. Sie war spät dran und die Sonne ging bereits unter als sie den Stall erreichte. Sie hatte ihrer Mutter am Nachmittag helfen müssen, den Garten mit Margarets Hilfe herbst- und winterfest zu machen. Daher war sie eigentlich viel zu spät losgegangen, denn mittlerweile wurde es bereits früh dunkel. Doch sie hatte an diesem Abend sowieso nichts vor und sie wollte den Hengst unbedingt sehen.

Wie immer genoss sie jede Minute mit dem jungen Hengst, genauso wie er sich über ihre Anwesenheit sichtlich freute. Daher blieb Noéra wider besseren Wissens viel zu lange und es war bereits stockfinster als sie sich von Amaté verabschiedete und den Stall verließ. Eilig machte sie sich auf den Heimweg. Sie wusste dass sie so spät eigentlich nicht mehr alleine unterwegs sein sollte. Die Straßen, durch die sie kam, waren jetzt am Abend menschenleer und nur spärlich beleuchtet. Während tagsüber oftmals reges Treiben herrschte, zumindest auf manchen Abschnitten ihres Weges, war es jetzt völlig still. Beinahe gespenstisch still. Doch Noéra schalt sich und sagte sich, dass es keinen Grund gab sich zu fürchten. Und eigentlich hatte sie auch gar keine Angst und ging entschlossen und festen Schrittes weiter. Alles war gut. Doch als sie auf einmal Schritte hinter sich vernahm begann ihr Herz wie wild zu pochen und sie beschleunigte ihre eigenen Schritte ein wenig. Sie wagte nicht, sich umzusehen, doch sie war sich sicher dass ihr zwei Personen folgten. Und die Schritte kamen näher. Noéra sagte sich dass es sich bestimmt um einen Zufall handelte. Die beiden waren bestimmt nur zu sehr später Stunde unterwegs oder spazieren. Sie würden sie gar nicht beachten. Sicher war ihre plötzliche Angst ganz unbegründet und unnötig. Doch die Schritte hinter ihr wurden schneller und kamen ihr immer näher. Nun gelang es Noéra nicht mehr, sich selbst zu beruhigen. Sie war sich auf einmal sicher dass sie verfolgt wurde und bekam nun wirklich Angst. Am liebsten wäre sie losgerannt, doch sie zwang sich dazu, ganz normal weiterzugehen. Sie vernahm die Stimmen der beiden Personen und erkannte, dass es sich um zwei Männer handelte. Das musste gar nichts heißen, sagte sie sich erneut, doch als einer der Männer nach ihr rief setzte ihr Herzschlag vor Schreck einen Moment lang aus, jedoch nur um gleich darauf umso heftiger weiterzuklopfen. Noéra ließ sich nichts anmerken und ging einfach weiter. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was sollte sie nur tun? In Windeseile überdachte sie ihre Möglichkeiten. Bis nach Hause war es noch sehr weit und im Moment befand sie sich in einer Straße mit nur wenigen Häusern. Sie konnte also nicht einfach irgendwo klingeln und auf Hilfe hoffen.

Als sie gerade an einer eingezäunten Parkanlage entlang ging holten die beiden Männer sie ein und versperrten ihr den Weg. Noéra riss erschrocken die Augen auf, zwang sich dann aber zur Ruhe.

„Warum denn so schnell?“, fragte der eine und musterte sie neugierig. Die beiden Männer waren noch recht jung, wenig älter als sie selbst, und trugen lange, dunkle Mäntel.

„Ich habe es eilig“, entgegnete Noéra und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen und weitergehen lassen würden.“

Als Noéra jedoch Anstalten machte, tatsächlich weiterzugehen, ergriff der Mann, der sie angesprochen hatte, ihren Arm.

„Nicht so schnell. Wir wollen uns doch nur ein wenig unterhalten. So viel Zeit wirst du doch wohl haben, nicht wahr?“ Dabei sah er mit einem anzüglichen Grinsen von Noéra zu seinem Kumpanen und wieder zurück zu Noéra. Noéra lief ein eisiger Schauer über den Rücken, doch sie funkelte den Mann böse an und versuchte, ihm ihren Arm zu entwinden.

„Ich glaube kaum! Würden Sie mich jetzt bitte loslassen? Ich muss weiter.“

„Wirklich zu schade“, erwiderte der Mann, hielt sie aber weiterhin fest. „Aber ich denke nicht dass wir so schnell schon wieder auf deine Gesellschaft verzichten wollen.“ Der andere Mann lachte laut auf und grinste Noéra dann breit an. Noéras Herz pochte wie wild. Was sollte sie nur tun? Selbst wenn sie schreien würde, würde sie hier niemand hören können.

„Lassen Sie mich sofort los“, zischte sie noch einmal. „Sonst…“

„Sonst was?“, fragte der Mann mit höhnischem Grinsen und zog sie ein Stück näher zu sich heran, sodass Noéra seinen nach Alkohol riechenden Atem wahrnehmen konnte. Für einen Moment glaubte sie, ihr würde schlecht werden, doch es gelang ihr irgendwie, sich zusammen zu reißen und Haltung zu bewahren. Sie kam allerdings nicht mehr dazu, irgendetwas zu antworten denn auf einmal ging alles sehr schnell. Die beiden Kerle wollten sie gerade mit sich fortzerren als plötzlich der donnernde Hufschlag eines sehr schnellen Pferdes auf der gepflasterten Straße zu hören war. Das Pferd kam rasch näher und die beiden Kerle hielten überrascht inne und sahen sich mürrisch um. Als auch Noéra aufsah war das tiefschwarze Pferd bereits fast auf ihrer Höhe. Es bewegte sich mit kraftvollen, weiten Galoppsprüngen rasend schnell auf sie zu. Der ebenfalls schwarze Umhang seines Reiters wehte flatternd über der Kruppe des Pferdes und wirkte wie ein unheilbringendes Segel als sich der Reiter bei unverminderter Geschwindigkeit von seinem Pferd und auf die beiden Männer stürzte. Der Mann, der Noéra gerade noch festgehalten hatte, keuchte vor Schreck auf. Er versuchte noch zu fliehen und stieß Noéra dabei von sich, sodass sie ins Straucheln geriet. Halt suchend stützte sie sich an dem eisernen Zaun ab von dem der Park umgeben war. Mit ängstlichen Augen beobachtete Noéra die darauf folgende Szene.

Der völlig schwarz gekleidete Reiter zerrte die beiden Männer von ihr fort und verschwand gleich darauf mit ihnen durch eine schmale Öffnung im Zaun in den Park. Dann sah und hörte Noéra nichts mehr. Ihr Herz klopfte unvermindert schnell und sie zitterte am ganzen Körper. Langsam ging sie in die Knie und kauerte sich auf den Boden. Dort verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und wartete darauf, dass das Zittern nachließ. Sie konnte noch gar nicht fassen was soeben geschehen war. Um ein Haar… Doch darüber wollte sie gar nicht nachdenken. Sie hatte großes Glück gehabt, das wusste sie. Woher war der schwarze Reiter gekommen? Doch eigentlich spielte das keine Rolle. Er hatte sie gerettet.

Noéra sah immer wieder das Bild vor sich, wie sich der Reiter auf die beiden Männer gestürzt und sie von ihr fortgezogen hatte. Und da war noch etwas Anderes gewesen. Es war nur ein winziger Augenblick gewesen, doch bevor er die beiden Kerle fortgezerrt hatte, hatten sich ihre Blicke für den Bruchteil einer Sekunde getroffen. Seine Augen waren einen Moment lang an den ihren hängen geblieben und Noéra hatte den Eindruck gehabt, seine Augen stünden in Flammen. Sie sah seine Augen noch genau vor sich. Sie waren das Einzige gewesen, das Noéra unter der dunklen Kapuze gesehen hatte. Wer war dieser Mann, der ihr zu Hilfe geeilt war und sie gerettet hatte?

Als sie sich ein wenig beruhigt hatte sah sich Noéra vorsichtig um, doch es war niemand zu sehen oder zu hören. Daher blieb sie noch eine Weile still an den Zaun gelehnt sitzen und wartete, bis das Zittern völlig nachgelassen hatte und ihr Atem wieder ruhiger ging. Erst dann stand sie langsam auf und machte sich auf den Heimweg. Noch einmal sah sie sich nach dem Reiter und seinem Pferd um, doch er war nirgends mehr zu sehen. Und auch von den beiden anderen Männern fehlte jede Spur, worüber Noéra jedoch sehr froh war. Sie dachte gar nicht darüber nach, was mit ihnen passiert war. Doch die Augen des schwarzen Reiters gingen ihr nicht aus dem Kopf.

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Es hatte nur einen kurzen Augenblick gedauert, die beiden Kerle unschädlich zu machen. Es hatte ihn jedoch einige Selbstbeherrschung gekostet, die beiden nicht in Stücke zu reißen. Er hatte es kaum ertragen können zu sehen, wie sie sie hatten fortzerren wollen. Alleine der Gedanke daran, was sie ihr möglicherweise angetan hätten, ließ ihn noch immer vor Wut und Sorge beben. Doch er war noch rechtzeitig gekommen und das war alles was zählte. Aber es war knapp gewesen und er hätte es sich nicht verziehen wenn er zu spät gekommen wäre und ihr irgendetwas geschehen wäre.

Vorsichtig und völlig geräuschlos trat er ein kleines Stück aus seiner Deckung heraus. Von hier aus konnte er sie sehen. Sie hatte sich auf dem Boden zusammengekauert und er sah, dass sie noch immer zitterte. Ihr Anblick zerriss ihm beinahe das Herz und er war erschrocken über seine eigenen Empfindungen. Er verspürte den starken Impuls zu ihr zu gehen, sie zu trösten und ihr zu sagen, dass nun alles gut sei. Dass ihr nichts mehr geschehen würde. Dass er über sie wachen würde. Und beinahe hätte er es getan. Doch dann klammerte er sich eisern an den dünnen Baumstamm zu seiner Linken und trat in seine Deckung zurück. Er durfte auf keinen Fall zu ihr gehen. Er war ihr bereits viel zu nah gekommen. Noch immer sah er ihre Augen vor sich, die furchtsam auf ihn gerichtet gewesen waren und deren Blick er einen Moment lang erwidert hatte. Es war nur ein kurzer Augenblick gewesen, doch er war ihm wie eine halbe Ewigkeit erschienen. Ein kurzer Moment, der alles verändert hatte. Was sollte er nur tun?

Als er auf einmal eine Bewegung wahrnahm sah er hastig auf und sein Blick folgte ihr als sie langsam davonging. Sie sah sich noch einmal suchend um und er trat noch ein Stück weiter zurück, jedoch nicht ohne sich jeden ihrer schönen, ebenmäßigen Gesichtszüge genau einzuprägen. Mühsam widerstand er dem Drang, ihr zu folgen. Er wartete noch einen Moment ab bevor er den Park verließ.

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Etwa eine halbe Stunde später kam Noéra zu Hause an. Das Haus war dunkel. Nur im Arbeitszimmer ihres Vaters brannte noch Licht. Leise schloss sie die Haustüre hinter sich und ging die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Kurz bevor sie ihr Zimmer erreichte ging auf einmal die Schlafzimmertüre ihrer Eltern auf und ihre Mutter trat hinaus. Sie hielt eine Kerze in der Hand und sah Noéra fragend an.

„Woher kommst du denn?“, fragte sie überrascht und Noéra erwiderte unsicher ihren Blick.

„Ich konnte nicht schlafen. Deshalb bin ich noch ein paar Schritte in den Garten gegangen. Ich brauchte frische Luft.“

Würde ihre Mutter ihr glauben? Es schien fast so, denn Jane Hayden nickte nur und wünschte ihr dann eine gute Nacht.

„Gute Nacht, Mutter“, erwiderte Noéra erleichtert und ging dann in ihr Zimmer. Sie hätte es nicht ertragen jetzt auch noch mit ihrer Mutter zu streiten. Einen Moment lang lehnte sie sich gegen ihre Zimmertüre und schloss die Augen. Sie fühlte sich wie erschlagen. Langsam öffnete sie die Augen wieder und zog sich zum Schlafen um. Allerdings glaubte sie nicht dass sie würde schlafen können. Nach allem was sie an diesem Abend erlebt hatte. Als sie dann jedoch in ihrem Bett lag wurde sie von plötzlicher Erschöpfung übermannt und schlief sofort ein. Sie wurde jedoch von schrecklichen Alpträumen heimgesucht, die sie am Morgen völlig verstört aufwachen ließen. Langsam setzte sie sich in ihrem Bett auf und dachte nach. War das am vergangenen Abend wirklich alles geschehen? Oder war alles nur ein böser Traum gewesen? Als sie jedoch die kleine Wunde an ihrer Hand bemerkt, wo sie einen Dornenbusch gestreift hatte nachdem der Mann sie von sich gestoßen hatte, wusste sie, dass es wirklich passiert war. Einen kurzen Moment spürte sie wieder die Angst in sich aufsteigen, die sie am Abend zuvor empfunden hatte. Es war ein schreckliches Gefühl gewesen. Sie hatte sich so hilflos gefühlt. Doch dann sah sie wieder die Augen des Mannes vor sich, der sie gerettet hatte. Sie meinte fast, seinen glühenden Blick wieder auf sich gerichtet zu spüren. Wer war er nur? Würde sie ihn je wieder sehen? Sie wusste nicht, warum, doch aus irgendeinem Grund wünschte sie sich, ihn wiederzusehen. Irgendetwas war in seinem Blick gewesen, das sie nicht mehr losließ. Oder lag es einfach nur daran, dass das Geschehene gerade erst einen halben Tag her war und ihre Empfindungen daher noch ein wenig übersensibel waren? Noéra wusste es nicht.

Doch nun stand sie erst einmal auf. Sie hatte jedoch keine Lust, sich schon anzuziehen, daher zog sie sich nur ihren Morgenmantel über und ging zum Frühstück hinunter. Erst anschließend wusch sie sich und zog sich an. Sie war an diesem Tag in einer ganz seltsamen Stimmung und hatte zu nichts Lust. Den ganzen Tag über war sie tief in Gedanken versunken. Gegen Mittag fiel das auch Sarah auf, die Noéra schon seit einer Weile beobachtet hatte. Ihre Freundin lief wie ein Gespenst durch das Haus und schien über etwas nachzudenken. Kurz vor dem Mittagessen fand Sarah endlich eine Gelegenheit um Noéra zu fragen was los war. Noéra antwortete jedoch nur geistesabwesend dass alles in Ordnung sei und es ihr gutginge. Das stimmte zwar nicht ganz, doch sie konnte und wollte im Moment nicht darüber sprechen.

Allmählich wurde Noéra klar, dass das, was am Abend zuvor geschehen war, eine ganze Menge geändert hatte. Es machte ihren Plan, von zu Hause auszureißen, vollkommen zu Nichte. Wenn sie nicht einmal alleine durch ihre Heimatstadt gehen konnte ohne in Gefahr zu geraten, wie sollte sie dann ganz alleine zurechtkommen? Sie musste sich eingestehen dass ihr Vorhaben wohl doch zu gefährlich war. Doch diese Erkenntnis bedrückte sie sehr. Was sollte sie denn dann tun? Einfach ihr Leben weiterleben wie bisher und darauf warten, dass sie Henrys Frau wurde? Denn sie sah nun keine Möglichkeit mehr, diesem Schicksal zu entgehen. Aber wer weiß, vielleicht war das auch besser so. Sie hatte auf einmal das Gefühl ihr würde jegliche Kraft fehlen, sich weiter gegen den Plan ihrer Eltern aufzulehnen. Vielleicht war das einfach ihr Schicksal. Gegen Abend war sie bereits fast soweit ihre Eltern aufzusuchen und in die Hochzeit mit Henry einzuwilligen. Doch als sie gerade ihr Zimmer verlassen wollte um mit ihren Eltern zu sprechen sah sie plötzlich wieder seine Augen vor sich und sie hielt inne. Einem plötzlichen Impuls folgend trat sie an ihr Fenster und sah in die Nacht hinaus. Es war stockfinster, denn der Mond war im Moment nicht zu sehen. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Hatte sie wirklich geglaubt, draußen irgendetwas zu sehen? Sie ging wieder von ihrem Fenster fort, blieb jedoch in ihrem Zimmer und setzte sich an ihren Schreibtisch, wo sie am Tag zuvor begonnen hatte, einen Brief an Martha Gillivan zu schreiben. Sie las den Brief noch einmal durch, ohne sich jedoch auf den Inhalt konzentrieren zu können. Daher legte sie den Brief wieder beiseite. Warum gingen ihr seine Augen nicht aus dem Kopf? Und warum wünschte sie sich so sehr, ihn wiederzusehen?

Schließlich fasste sie einen Entschluss. Sie würde morgen mit ihren Eltern sprechen, jedoch noch nicht in die Hochzeit einwilligen. Doch sie würde wieder aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Sie würde wieder ausgehen, mit ihren Freundinnen auf Bälle gehen, ja, sogar ihre Mutter zu Verabredungen begleiten. Und sie würde einwilligen, sich die Heirat mit Henry noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Und das würde sie tatsächlich. Doch gleichzeitig schürte sie die Hoffnung, ihm bei einem dieser Anlässe wieder zu begegnen.

Ihre Eltern wunderten sich zwar über den plötzlichen Sinneswandel ihrer Tochter, doch vor allem ihre Mutter begrüßte Noéras Entscheidung und jegliche Feindseligkeit ihr gegenüber war auf einmal wie fortgeblasen. Jane Hayden lebte geradezu auf und begann sofort damit, die folgenden Abende für Noéra zu planen. Noéra war es beinahe schon wieder zu viel, doch andererseits würde es sie von ihren trüben Gedanken ablenken. Sie dachte nahezu ständig an das Geschehene zurück und zuweilen durchlief sie erneut ein Zittern. Die Erinnerung an die Begegnung mit diesen beiden unangenehmen Männern verfolgte sie weiter bis in ihre Träume und sie musste sich eingestehen, dass sie weit mehr Angst empfunden hatte als sie zunächst zugegeben hätte. Und auch die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, betrübten sie. Sie erkannte nun, wie schwach sie eigentlich war und das machte sie traurig. Daher stimmte sie schließlich jedem Vorschlag ihrer Mutter zu.

Auch Sarah wunderte sich über Noéras verändertes Verhalten und meinte darin so etwas wie Resignation zu erkennen. Irgendetwas musste vorgefallen sein, dass zu diesem Sinneswandel geführt hatte. Noéra war so fest entschlossen gewesen, Henry nicht zu heiraten. Überhaupt hatte sie immer einen festen Willen und starken Charakter gehabt, doch nun schien alles anders zu sein. Eines Nachmittags sprach Sarah Noéra schließlich an und fragte was passiert sei. Zunächst schwieg Noéra und dachte nach. Doch dann entschied sie sich, Sarah zu erzählen was passiert war. Vielleicht würde es helfen mit jemandem darüber zu reden, ihre Gedanken mit jemandem zu teilen der sie verstehen würde. Daher bat sie Sarah, sie in ihr Zimmer zu begleiten, was Sarah bereitwillig tat. Sie hörte Noéra geduldig zu, wenngleich es sie erschreckte was ihre Freundin ihr erzählte. Noéra war in großer Gefahr gewesen.

„Du hast großes Glück gehabt, weißt du das?“

„Ja“, erwiderte Noéra leise und nickte. „Wenn er nicht gekommen wäre…“ Noéra ließ den Satz unvollendet.

Nun verstand Sarah, weshalb Noéra plötzlich vollkommen davon absah, von zu Hause fortzugehen. Und sie verstand sie, obwohl sie nicht glaubte, dass Noéra glücklich darüber war dass sie sich nun wohl oder übel mit der Hochzeit mit Henry arrangieren musste. Sie sah die Verzweiflung in Noéras Augen. Doch sie hatte auch noch etwas Anderes gesehen als Noéra ihr davon erzählt hatte, wie der Unbekannte sie gerettet hatte. Da war ein kurzes Aufblitzen in Noéras Augen gewesen, das ihre Angst für einen winzigen Moment verdrängt hatte. Sarah überlegte einen Augenblick lang, bevor sie Noéra vorsichtig fragte.

„Hast du eine Ahnung, wer er war?“

Noéra sah ihr schweigend in die Augen, dann schüttelte sie langsam den Kopf.

„Nein. Und ich bin mir sicher dass ich ihn vorher noch nie gesehen habe.“ An diese außergewöhnlichen Augen hätte sie sich erinnert, da war Noéra sich sicher. Doch das behielt sie für sich.

„Vielleicht ist er neu in der Stadt oder hier in der Gegend“, fuhr Sarah fort und Noéra nickte nachdenklich.

„Ja, vielleicht.“

An den vergangenen Abenden war sie auf zwei Bällen gewesen und in der Oper. Sie hatte versucht, die Abende zu genießen. Sie hatte sich ausgelassen mit ihren Freundinnen unterhalten und getanzt. Auf einem der Bälle hatte sie Henry wieder getroffen und sie musste zugeben dass er sich ihr gegenüber sehr zuvorkommend und absolut tadellos verhalten hatte. Er hatte sich sichtlich bemüht, ihr zu gefallen und das hatte Noéra gerührt. Sie wollte ihm wirklich eine Chance geben und versuchen, ihm vorurteilsfrei gegenüberzutreten. Aber würden sich ihre Gefühle ihm gegenüber dadurch ändern?

Als sie nun noch einmal über diese Abende nachdachte musste Noéra sich eingestehen, dass sie trotz all ihrer Bemühungen, die Abende einfach so zu genießen wie sie waren, immer wieder verstohlen nach ihm Ausschau gehalten, nach ihm gesucht hatte. Doch zu ihrer großen Enttäuschung hatte sie ihn in keinem der anwesenden Herren wiedererkannt. Aber würde sie ihn denn überhaupt wiedererkennen, wenn sie ihn treffen würde? Schließlich hatte sie nur seine Augen gesehen, und das auch nur einen kurzen Moment lang. Doch aus irgendeinem Grund war Noéra sich sicher dass sie es wissen würde wenn sie ihm gegenüberstand. Wenn sie ihn jemals wiedersah.

Es hatte Noéra gut getan, mit jemandem darüber sprechen zu können und sie war Sarah sehr dankbar dafür. Sie kam sich auf einmal nicht mehr so alleine vor, so einsam, nur mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, wenngleich sie natürlich wusste dass Sarah ihr bei ihrer Entscheidung nicht helfen konnte. Dennoch war es schön eine solch treue Freundin zu haben.

Sarah freute sich ebenfalls über das Vertrauen, dass Noéra ihr entgegengebracht hatte, als sie ihr von dem Vorfall erzählt hatte. Sie war die Einzige mit der Noéra darüber gesprochen hatte. Wenn sie ihr doch nur irgendwie helfen könnte.

Die nächsten Tage und Wochen vergingen, doch Noéra sah ihn nicht wieder. Allmählich fand sie sich mit dem Gedanken ab, dass sie ihm wohl nicht wieder begegnen würde und es besser war wenn sie ihn vergaß. Doch das konnte sie nicht. Die Erinnerung an die Angst, die sie an jenem Abend verspürt hatte, verblasste mit der Zeit und sie träumte auch nicht mehr so häufig davon. Aber so sehr sie auch versuchte, ihr Leben weiterzuleben und ihn zu vergessen, wollte es ihr doch nicht so recht gelingen. Immer wieder dachte sie an ihn und sah seine Augen vor sich, die undurchdringlich auf sie gerichtet gewesen waren. Wie war es nur möglich dass sie jemanden, den sie eigentlich überhaupt nicht kannte, einfach nicht vergessen konnte? Dass er sie sogar bis in ihre Träume verfolgte? Immer wieder wachte sie nachts auf und lag wach in ihrem Bett. Oft stand sie dann nach einer Weile auf und trat an ihr Fenster um hinaus in den Mondschein zu sehen. Auf völlig unerfindliche Weise beruhigte sie das jedes Mal, sodass sie nach einiger Zeit wieder zu Bett gehen konnte und ganz ruhig wieder einschlief.

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Seit dem Vorfall an jenem Abend war er von einer Unruhe erfasst, die ihn nicht mehr losließ. Er musste immerzu an sie denken und an die Sorge die er empfunden hatte, als er sie dort so völlig hilf- und schutzlos gesehen hatte. Was war nur los mit ihm? Warum war sein Bedürfnis, sie wiederzusehen, so stark? Was sollte er nur tun?

Stundenlang grübelte er darüber nach, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Er wusste jedoch dass er nicht so empfinden dürfte wie er es tat, und das bereitete ihm Sorgen. Denn zum ersten Mal in seinem Leben wusste er tatsächlich nicht mehr weiter und er war sich ganz und gar nicht sicher ob er dazu im Stande sein würde, das zu tun was er tun musste. Was seine Bestimmung war. Und ihre.

Diese Unsicherheit brachte ihn noch um den Verstand und er musste unbedingt etwas unternehmen. Lange hatte er sich dagegen gesträubt, hatte sich geweigert seinem Verlangen nachzugeben, doch eines Abends hielt er es nicht mehr aus und machte sich auf den Weg zu ihr. Er hatte bereits vor langer Zeit, lange vor dem Geschehnis an jenem Abend, herausgefunden, wo sie wohnte. Doch er war nie dort gewesen, war ihr nie gefolgt. Aber an diesem Abend konnte er nicht anders.

Während er sich dort im Dunkeln verbarg schalt er sich bereits selbst für seine dumme Idee, hierher zu kommen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Was hatte er erwartet? Doch als er sich gerade wieder zurückziehen wollte und zu seinem Haus zurück reiten wollte ließ ihn ein plötzliches, unbestimmbares Gefühl inne halten und noch einmal zu ihrem Fenster hinaufsehen. Ihm stockte für einen Moment der Atem als sie an das Fenster trat und in den Sternenhimmel hinaufsah. Vorsichtig trat er noch ein Stück weiter in den Schatten zurück, konnte jedoch den Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen, das im Mondschein silbern schimmerte. Sie war wunderschön. Einen kurzen Augenblick lang meinte er so etwas wie Sehnsucht in ihrem Blick zu erkennen. Sehnsucht, aber wonach? Doch vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Gleich darauf zwang er sich, den Blick von ihr abzuwenden und verschwand in der Dunkelheit. Er hatte auf einmal das Gefühl, kein Recht zu haben, hier zu sein und sie zu beobachten. Doch gleichzeitig wusste er, dass er zurückkommen würde. Und so war es bereits wenige Nächte später. Und wieder sah er sie dort am Fenster stehen. Er war verloren.

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Während der Woche, die Noéra bei den Gillivans in deren Landhaus verbrachte gelang es ihr endlich, aus ihrer Lethargie zu erwachen. Sie genoss die Zeit dort sehr und obwohl es mittlerweile Herbst war und dementsprechend kühl verbrachte sie die meiste Zeit draußen und bei den Pferden. Hier hatte sie kaum noch Zeit zum Nachdenken und das tat ihr gut. Nur Amaté vermisste sie sehr und daher war sie doch froh als sie wieder zu Hause war und den Hengst besuchen konnte.

Sie hatte jedoch auch Zeit gehabt, sich ausführlich mit Martha Gillivan zu unterhalten und Martha hatte ihr wertvolle Anregungen gegeben die ihr geholfen hatten, manche Sachen aus einem ganz neuen Blickwinkel zu betrachten. Zwar hatte Noéra ihr nichts von jenem Abend erzählt, aber dennoch gelang es ihr gegen Ende der Woche, einen Entschluss zu fassen. Einen Entschluss, der ihr Leben auf jeden Fall verändern würde, wenn sie auch noch nicht wusste ob es sich dadurch zum Guten wenden würde. Sie würde Henry heiraten. Ihre Gefühle für ihn hatten sich zwar nicht wirklich geändert, das konnte Noéra nicht leugnen, doch sie sah Henry nun mit anderen Augen und musste sich eingestehen dass er durchaus ein passabler Ehemann sein würde. Er gab sich wirklich die größte Mühe und hatte sein Verhalten ihr gegenüber geändert, sodass Noéra ihm nun zumindest eine gewisse Sympathie entgegenbrachte und allmählich lernte, ihn zu schätzen. Er würde ihr ein guter Ehemann sein. Und wer weiß, vielleicht gab es die große, einzig wahre Liebe, an die sie bislang so fest geglaubt hatte, ja doch nicht und das, was sie Henry gegenüber empfand war das Bestmögliche. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Gefallen fand sie an diesem Gedanken. Jedenfalls redete sie sich das ein.

Als Noéra wieder zu Hause war sprach sie zunächst mit Sarah über ihren Entschluss, bevor sie schließlich ihre Eltern aufsuchte. Sarah konnte ihre Entscheidung, Henry nun doch zu heiraten obwohl sie ihn nicht liebte, anfangs nicht verstehen. Und sie wollte nicht dabei zusehen müssen, wie ihre Freundin in ihr Unglück rannte. Denn Sarah glaubte nicht, dass Noéra mit Henry glücklich werden würde.

„Vielleicht hast du Recht“, entgegnete Noéra gleichmütig, als Sarah sie darauf ansprach.

„Aber ich darf nicht weiter einem Phantom hinterherlaufen. Ich muss meine Zukunft, mein Leben endlich selbst in die Hand nehmen. Es ist zwar nun alles anders gekommen, als ich noch vor ein paar Wochen gedacht hatte, aber daran kann ich nichts ändern und vielleicht ist es ja besser so. Vielleicht werde ich Henry eines Tages ja sogar lieben können. Auf jeden Fall ist mir klar geworden dass ich nicht ewig auf einen Mann warten kann, den es vielleicht gar nicht gibt. Auf eine Liebe, die es möglicherweise nur in Märchen und Geschichten gibt.“

Sarah konnte es Noéra ansehen und in ihrer Stimme hören, dass sie von all dem nicht eben überzeugt war, sondern es sich nur einredete, doch sie erwiderte nichts und nickte nur. Sie wusste dass Noéra tief in ihrem Inneren traurig und verzweifelt war und einfach keinen Ausweg mehr sah. Sie hatte sich mit ihrem offensichtlichen Schicksal abgefunden und schließlich resigniert. Sie hatte keine Lust und keine Kraft mehr, weiter zu kämpfen. Sarah bedauerte, dass sie Noéra nicht helfen konnte und ihr schließlich nichts anderes übrig blieb als Noéra tröstend in den Arm zu nehmen, als ihr eine Träne über die Wange lief.

Am nächsten Tag sprach Noéra mit ihren Eltern und sandte Henry eine Nachricht, in der sie seinen Heiratsantrag offiziell annahm. Sie wusste dass diese Entscheidung ihr Leben verändern würde. Sie hatte so etwas Endgültiges, Unwiderrufliches, wie Noéra fand. Endgültig auch, weil sie damit all ihre kindlichen Träume von einem glücklichen Leben und einer perfekten Welt begrub. Doch sie bot ihr auch die Möglichkeit, ein ganz neues Leben zu beginnen. Sie würde endlich von den Restriktionen ihrer Eltern, insbesondere ihrer Mutter befreit sein. Sie hatte schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass hier, im Haus ihrer Eltern, einfach kein Platz mehr für sie war. Noéra redete sich ein dass ihr Leben mit Henry bestimmt besser sein würde als sie erwartete.

Henry war überglücklich als er Noéras Nachricht erhielt und besuchte sie noch am selben Nachmittag. Auch Noéras Mutter war äußerst zufrieden mit der Entscheidung ihrer Tochter und schon bald stand der Termin für die Hochzeit fest. Noch vor Weihnachten sollte die Trauung stattfinden und es gab noch Etliches vorzubereiten.

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Nein! dachte er und war völlig außer sich. Das darf nicht sein! Die Nachricht, dass sie heiraten würde, traf ihn wie ein Blitzschlag und er ballte die Hände zu Fäusten. Das durfte er auf keinen Fall zulassen. Er musste etwas unternehmen. Und zwar bald. Nun durfte er nicht länger warten, sondern musste handeln.

Er hatte geglaubt er habe noch etwas mehr Zeit um sich zu überlegen, wie er vorgehen sollte. Doch er musste sich eingestehen dass er bereits viel zu lange gezögert hatte. Das war eigentlich nicht seine Art. Er hatte sich eingeredet er müsse sich erst einmal über seine Gefühle klar werden. Doch das stimmte nicht. In Wahrheit war er sich völlig klar darüber, wie er empfand. Und das schon seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Dass er so eigentlich nicht für sie empfinden durfte war eine andere Sache, doch darüber würde er später nachdenken. Nun musste er handeln und durfte keine Zeit mehr verlieren. Es gab noch einige Dinge zu erledigen bevor er seinen Plan, der ihm bereits seit einer Weile durch den Kopf ging, in die Tat umsetzte.

Hastig stand er auf und eilte die Treppe hinunter. In der Eingangshalle rief er nach Lawrence. Sein Diener erschien nur wenige Augenblicke später in der Halle und trat zu seinem Herrn. Er erläuterte Lawrence knapp, was er zu tun gedachte und Lawrence nickte.

„Sehr wohl, Sir. Ich werde alles Notwendige vorbereiten. Wenn Ihr es wünscht können wir in zwei Tagen aufbruchbereit sein.“

„Danke“, erwiderte er und lächelte seinen Diener erleichtert an. Dann verließ er das Haus.

Lawrence sah seinem Herrn noch einen Moment hinterher. Er hoffte dass dieser wusste was er tat. Sein Vorhaben war nicht ungefährlich. Weder für ihn, noch für sie und er handelte damit gegen alle Vernunft. Und noch schlimmer. Er handelte entgegen der Bestimmung. Entgegen seiner und ihrer Bestimmung und es war eigentlich seine, Lawrence‘, Aufgabe dafür Sorge zu tragen dass er seine Aufgabe erfüllte. Doch wie sollte er das tun? Er sah doch tagtäglich, wie es um seinen Herrn bestellt war. Er hatte ihn nie zuvor so außer sich gesehen. Nie zuvor hatte er ihn so glücklich und gleichzeitig so verzweifelt gesehen. Wie konnte er ihm da seine Unterstützung verweigern? Nach allem was sie bereits gemeinsam durchgemacht hatten? Dennoch ahnte Lawrence bereits, dass es nicht einfach werden würde. Weder für seinen Herrn, und schon gar nicht für sie.

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Vor der Hochzeit gab es noch Vieles zu erledigen und Noéra hatte alle Hände voll zu tun. Doch das war gut so, lenkte es sie doch von ihren wirren Gedanken ab. Immer wieder fragte sie sich, ob sie wohl das Richtige tat. Je näher jedoch der Termin heranrückte, desto überzeugter war sie davon. Sie glaubte sogar, sich wirklich zu freuen. Jedenfalls redete sie sich das ein. All ihre Freundinnen waren bereits ganz aufgeregt, viel mehr als Noéra selbst, und freuten sich für sie. Immer wieder erklärten sie ihr, wie sehr sie sie darum beneideten, einen so tollen Mann wie Henry zu heiraten. Und Henry selbst brachte ihr gegenüber deutlich zum Ausdruck wie sehr er sich freute und wie glücklich er war. Er besuchte Noéra so oft es ihm möglich war und überhäufte sie förmlich mit Geschenken. Noéra freute sich darüber, wenngleich keines der Geschenke wirklich ihr Herz berührte. Sie hätte liebend gerne auf jedes einzelne davon verzichtet wenn sie Henry dafür aufrichtig hätte lieben können. Aber vielleicht würde das ja irgendwann der Fall sein. Zumindest versuchte sie sich damit zu trösten und meistens gelang ihr das auch. Nur an einem Nachmittag nicht.

Es war ein anstrengender Tag gewesen und es waren nur noch wenige Wochen bis zu ihrer Hochzeit, die Anfang Dezember stattfinden sollte. Als sie gegen Nachmittag alles erledigt hatte was sie sich für diesen Tag vorgenommen hatte sagte sie Sarah, sie solle ihren Eltern ausrichten sie mache vor dem Abendessen noch einen Spaziergang, sei aber rechtzeitig wieder zurück. Sarah nickte und verabschiedete sich von Noéra, die sich auf den Weg zu Mr. Christie und Amaté machte. Es war bereits wieder einige Tage her seit Noéra den hübschen Hengst zum letzten Mal besucht hatte und daher beeilte sie sich jetzt, so schnell wie möglich den Stall zu erreichen. Sie hatte Amaté vermisst.

Wie gewöhnlich klopfte Noéra kurz an das große Tor bevor sie den Stall betrat. Mr. Christie war nirgends zu sehen, daher ging sie direkt quer durch den Stall bis zu Amatés Box. Zu Noéras Überraschung stand die Boxentür offen und die Box war leer. Verwirrt sah Noéra sich um, doch der junge Hengst stand auch in keiner der anderen Boxen. Daher ging sie zu Mr. Christies kleinem Büro, das sich direkt neben dem Eingang zum Stall befand. Zaghaft klopfte sie an die geschlossene Türe. Eigentlich widerstrebte es ihr, Mr. Christie zu stören, doch sie wollte unbedingt wissen wo Amaté war. Sie hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Dieses Gefühl wandelte sich gleich darauf in Bestürzung, als Mr. Christie ihr öffnete und sie ihn nach dem Hengst fragte.

„Der Hengst ist verkauft“, erklärte der Pferdehändler ohne Umschweife.

„Was?“, entfuhr es Noéra. „Wie…“

„Es ging alles sehr schnell. Gestern Abend kam ein Mann, ein sehr edler Herr, mit seinem Diener hierher. Ich habe ihm viele Pferde gezeigt, doch er hat sich ausschließlich für diesen Hengst interessiert. Ich habe ihn sogar vor der Wildheit des Pferdes gewarnt, doch das war ihm gleichgültig. Er wollte den Hengst unbedingt haben. Nicht einmal gehandelt hat er.“

Noch immer ungläubig über diese Tatsache schüttelte Mr. Christie den Kopf. Als er Noéras traurigen Blick sah fuhr er fort.

„Es tut mir Leid, Mädchen. Ich hätte dir gerne die Möglichkeit gegeben, dich von ihm zu verabschieden, doch der Hengst wurde heute Morgen bereits ganz früh abgeholt.“

Noéra nickte, hielt den Blick jedoch gesenkt. Sie musste ein paar Tränen fortblinzeln.

„Das ist schon in Ordnung. Ich wusste ja, dass dieser Tag irgendwann kommen würde und Sie ihn verkaufen.“

Mr. Christie nickte. Er war erleichtert dass es die junge Frau so gelassen aufnahm. Ihm war schließlich nicht entgangen, dass sie den jungen Hengst sehr gerne gehabt hatte. Insgeheim hatte er immer noch gehofft sie könne ihren Vater davon überzeugen, den Hengst zu kaufen. Aber daraus war nichts geworden.

„Ich danke Ihnen, dass ich so oft hierher kommen durfte“, fuhr Noéra nach kurzem Schweigen fort und reichte Mr. Christie zum Abschied die Hand. Sie würde nicht wieder hierher kommen. Als sie sich verabschiedet hatten und Noéra gerade gehen wollte, fiel ihr noch etwas ein.

„Mr. Christie?“

„Ja?“

Mr. Christie wandte sich Noéra noch einmal zu.

„Glauben Sie, er wird es gut haben? Amaté meine ich.“

Überrascht zog Mr. Christie die Augenbrauen in die Höhe.

„Nun, ich denke schon“, entgegnete er. In Wirklichkeit wusste er es natürlich nicht, aber er wollte Noéra beruhigen. Außerdem hatte der Hengst, ein wundervolles Tier, mit dem der elegante Herr am Abend zuvor hier gewesen war, einen sehr guten und gepflegten Eindruck gemacht. Noéra nickte.

„Das ist gut“, erwiderte sie leise. „Wissen Sie, was er mit ihm vorhat?“

„Ja“, antwortete Mr. Christie zu Noéras Erstaunen. „Obwohl ich nicht weiß ob das eine gute Idee ist.“ Dabei rieb er sich nachdenklich das Kinn und Noéra sah ihn fragend an.

„Er sagte der Hengst sei ein Geschenk. Ein Geschenk für die Frau die er liebt.“

Als er das sagte musste Noéra schlucken. Nun kamen ihr endgültig die Tränen. Hastig verabschiedete sie sich von Mr. Christie und verließ den Stall. Sie blickte sich nicht noch einmal um, sondern rannte nach Hause während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Zum Glück begegnete sie unterwegs niemandem und sie war froh als sie zu Hause ankam.

Sie war zutiefst traurig darüber, Amaté nie wieder zu sehen und nicht einmal die Möglichkeit gehabt zu haben, sich von ihm zu verabschieden. Nie wieder würde sie ihre Hand über sein seidiges Fell streichen lassen können. Das würde fortan eine Andere tun, so hoffte Noéra zumindest. Sie wünschte sich inständig dass es Amaté gut gehen würde. Welch wundervolle Idee, dachte Noéra, jemandem den man liebte ein solches Geschenk zu machen. Leider war nicht sie diejenige. Wie sehr sie die fremde Frau in diesem Moment beneidete, nicht nur des Hengstes wegen. Wie glücklich sie sein musste. Auf einmal erkannte Noéra mit einer Heftigkeit, die sie zu überwältigen drohte, dass sie selbst wohl niemals so glücklich sein würde. Sie erkannte plötzlich, dass sie doch die falsche Entscheidung getroffen hatte. Noch dazu eine falsche Entscheidung mit weitgreifenden Folgen. Einen kurzen Moment lang sagte sie sich, es sei noch nicht zu spät. Noch war sie frei. Aber gleich darauf belehrte sie sich eines Besseren. Sie war wohl nie wirklich frei gewesen und würde es wahrscheinlich auch nie sein. Und nun gab es ohnehin kein Zurück mehr. Sie hatte ihr Wort gegeben und das würde sie halten. Aber dennoch glaubte sie, noch nie so unglücklich gewesen zu sein wie an diesem Abend. Und jetzt war nicht einmal Amaté mehr da um ihr Trost zu spenden.

Sie ging an diesem Abend nicht zum Essen hinunter. Sie ließ sich entschuldigen mit der Begründung, es ginge ihr nicht gut. Dasselbe sagte sie auch Sarah, die gegen später noch einmal nach ihr sah. Noéra war ihrer treuen Freundin sehr dankbar, dass sie ihr Trost spenden wollte und immer für sie da war. Doch an diesem Abend war es Noéra nicht nach Gesellschaft. Sie wollte alleine sein und Sarah akzeptierte das ohne Fragen zu stellen. Noéra konnte noch nicht wissen, dass sie Sarah an diesem Abend zum letzten Mal gesehen hatte.

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Er konnte es kaum ertragen, sie so unglücklich zu wissen. Es bestärkte ihn jedoch gleichzeitig in seinem Entschluss, das zu tun was er bereits im Begriff war zu tun. Doch wie würde sie darauf reagieren? Darüber hatte er bisher gar nicht nachgedacht. Würde sie ihn hassen? Diesen Gedanken schob er jedoch entschlossen beiseite. Sein Entschluss stand fest und nichts würde daran etwas ändern.

Er wartete ab, bis es vollständig dunkel war. Dann machte er sich auf den Weg. Von seinem üblichen Versteck aus beobachtete er ihr Fenster und wartete bis das Licht gelöscht wurde. Als wenig später auch die anderen Lichter im Haus erloschen wappnete er sich innerlich und schritt zur Tat. Zunächst erschien es ihm viel einfacher als er erwartet hatte. Es stellte kein Problem dar, das Haus unbemerkt zu betreten und bis zu ihrem Zimmer zu gelangen. Doch auf das, was dann folgte, war er nicht vorbereitet gewesen.

Er öffnete vorsichtig die Türe zu ihrem Zimmer und trat völlig lautlos ein. Schon im nächsten Moment klammerte er sich jedoch mit aller Kraft an dem vergoldeten Türgriff fest und rang um Selbstbeherrschung. Um ein Haar hätte er Kehrt gemacht und wäre aus dem Zimmer geflohen um zu verhindern, dass er etwas tat, das er bitter bereuen würde. Etwas zu tun, das nicht wieder gut zu machen wäre. Doch er zwang sich, inne zu halten und schloss die Augen. Dabei versuchte er, möglichst nicht zu atmen. Sie dort liegen zu sehen, ihre Anwesenheit, ihre unmittelbare Nähe so deutlich zu spüren war beinahe zu viel für ihn. Mit eiserner Willenskraft gelang es ihm jedoch, sich wieder zu beruhigen. Vorsichtig löste er seine Hand vom Türgriff und öffnete ganz langsam die Augen. Sein Blick flog sofort wieder zu ihr hinüber. Er wurde geradezu magisch von ihr angezogen. Doch nun hatte er sich im Griff. Er hielt noch einen Moment inne, dann ging er langsam und lautlos zu ihrem Bett hinüber. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Er redete sich ein er wolle nur sicher gehen, dass sie nicht aufwachte und ihn sah, doch dann musste er sich eingestehen dass er seinen Blick einfach nicht von ihr abwenden konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Sie war wirklich wunderschön. Ihr Anblick war bezaubernd, wie sie dort schlafend vor ihm lag, ihre ebenmäßigen Gesichtszüge vom Mondschein silbern erhellt und entspannt. Sie raubte ihm den Atem.

Eine Weile stand er völlig reglos da und betrachtete ihr Gesicht. Er hatte das Gefühl, die Zeit würde stillstehen. So lange hatte er auf sie gewartet und nun konnte er kaum fassen, sie tatsächlich gefunden zu haben und hier bei ihr zu stehen, ihr so nah zu sein. Er erlaubte sich, diesen Moment zu genießen und einfach inne zu halten. Gleichzeitig wollte er sicher gehen, dass er vollständig Herr seiner selbst war. Er wollte kein Risiko eingehen und sicher sein, dass er sie unbeschadet von hier fortbringen würde.

Als er sich seiner Selbstbeherrschung schließlich sicher war hob er sie behutsam in seine Arme, verließ mit ihr in Windeseile das Haus und verschwand in die Dunkelheit. Sie würde von alledem nichts mitbekommen, dafür hatte er gesorgt. Sie würde erst wieder erwachen, wenn er sie an einen sicheren Ort gebracht hatte. Und dann würde er ihr alles erklären, wenngleich er noch nicht wusste wie er das anstellen sollte. Aber bis dahin blieb ihm noch etwas Zeit.

Er trieb seinen Hengst zu noch größerer Eile an und gleich darauf flogen sie in raschem Tempo durch die Dunkelheit. Er hatte seinen Umhang um sie gelegt, um sie vor der Kälte zu schützen, und drückte sie behutsam an sich. Es war ein wundervolles Gefühl und gleichzeitig bereitete es ihm furchtbare Qualen. Wie leicht konnte er sie verletzen. Sie war ihm völlig schutzlos ausgeliefert. Es kostete ihn seine ganze Kraft, sich selbst unter Kontrolle zu halten.

Er war froh als er schließlich den vereinbarten Ort ein Stück außerhalb der Stadt erreichte, wo Lawrence bereits mit der Kutsche auf ihn wartete. Sie hatten schon am Nachmittag alles für ihren Aufbruch vorbereitet und konnten daher unverzüglich aufbrechen. Er war froh, Wilchester und England endlich wieder verlassen zu können. Wie sehr er sich auf sein Zuhause freute. Vorsichtig ließ er sich aus dem Sattel gleiten und legte dabei schützend einen Arm um sie. Dann trug er sie zur Kutsche und bettete sie dort behutsam in warme Decken. Widerstrebend trat er schließlich von der Kutsche zurück, warf jedoch noch einen letzten Blick auf sie. Dann ließ er Lawrence ebenfalls einsteigen und trug ihm auf, gut auf sie acht zu geben, woraufhin der alte Diener lächelnd nickte. Anschließend band er seinen Hengst mit einem langen Strick an der Kutsche fest und stieg auf den Kutschbock. Mit einem leisen Schnalzen trieb er die beiden Schimmel an, die sich gleich darauf in Bewegung setzten. Er fühlte eine seltsame Leere an der Stelle, an der er sie gerade eben noch an sich gedrückt hatte. So als fehle dort nun ein Teil seiner selbst. Daher trieb er die Pferde schon wenig später zu einem schnelleren Tempo an. Er hoffte, der Fahrtwind würde das Gefühl vertreiben. Doch dem war nicht so. Er empfand das starke Verlangen, die Pferde anhalten zu lassen, vom Kutschbock zu springen und nach ihr zu sehen. Wie gerne würde er den Platz mit seinem Diener tauschen. Aber das war völlig ausgeschlossen. Es wäre leichtsinnig und gefährlich und er durfte sich nicht zu solch einer Fahrlässigkeit hinreißen lassen. Doch auch so spürte er ihre Nähe und Anwesenheit überdeutlich und es fiel ihm schwer, das zu ertragen. Er hatte nicht geglaubt, dass es sich so anfühlen würde. Dass es so schwer sein würde.

Er ließ die Pferde in eiligem Tempo weiterlaufen und versuchte, seine Gedanken auf etwas Anderes zu lenken. Eine Zeitlang gelang ihm das auch mit viel Mühe, doch dann drohte er von einer Macht, über die er nur begrenzte Kontrolle hatte, übermannt zu werden. Abrupt brachte er die beiden Pferde zum Halten und sprang vom Kutschbock. Nahezu panisch löste er den Strick, mit dem sein schwarzer Hengst an der Kutsche festgebunden war, schwang sich auf seinen Rücken und galoppierte in rasendem Tempo von der Kutsche fort. Gerade noch rechtzeitig, wie er zu seinem Bestürzen feststellen musste. Erst nachdem er das Gefühl hatte, genug Abstand zwischen sie und sich selbst gebracht zu haben, ließ er seinen Hengst das Tempo verlangsamen und schließlich anhalten. Er streichelte ihm lobend den Hals und ließ ihn verschnaufen. Derweil blickte er in die Richtung zurück aus der er gekommen war. Er hatte seine Kutsche auf einer schmalen, ebenen Straße zwischen ausgedehnten Wiesen zurückgelassen und hatte sein Pferd querfeldein getrieben bis hin zu einer kleinen Baumgruppe. Von hier aus konnte er die Kutsche nicht sehen. Er stieg aus dem Sattel und ließ seinen Hengst ein wenig grasen, während er selbst zwischen den Bäumen auf und ab ging. Der Himmel war wolkenlos und sternenklar und der Mondschein erhellte die weite Ebene. Nur die Bäume, unter denen er Schutz gesucht hatte, warfen lange Schatten. All seine Sinne und Nerven waren auf das Äußerste angespannt und bei jedem kleinsten Geräusch sah er sich misstrauisch um. Erst ganz allmählich gelang es ihm, sich zu beruhigen. Bevor er jedoch wieder zu seiner Kutsche zurück ritt verweilte er noch eine Zeit lang im Schatten der Bäume. Er wollte ganz sicher gehen, dass er sich unter Kontrolle hatte. Das Risiko war einfach zu groß. Schließlich schwang er sich auf den Rücken seines Pferdes und ritt ganz gemächlich in ruhigem Schritt zurück. Als er die Kutsche wieder erreichte wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war.

Lawrence sah erschrocken auf als die Kutsche auf einmal mit einem Ruck zum Halten kam. Er hatte gedöst und fragte sich nun, ob etwas passiert war. Als er von seinem weich gepolsterten Sitz aufstand, den dunklen Vorhang beiseiteschob und aus dem kleinen Fenster der Kutsche nach draußen spähte sah er gerade noch, wie sein Herr in rasendem Tempo auf seinem Pferd davon stob. Verwundert sah Lawrence ihm hinterher und lauschte dann in die Nacht hinaus. Es war alles völlig still. Vorsichtig öffnete er die schmale Türe der Kutsche und stieg aus, doch es fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Er wunderte sich über diese unverständliche Handlung seines Herrn, besann sich dann jedoch und stieg eilig wieder in die Kutsche und schloss die Türe. Sein Herr wäre niemals geflohen wenn Gefahr gedroht hätte. Doch ihm dämmerte auf einmal, was los sein musste und er wusste, was sein Herr in diesem Fall von ihm erwartete. Er verließ sich darauf, dass er, Lawrence, auf sie achtgab und dafür sorgte, dass es ihr gut ging und er würde seine Pflicht nicht vernachlässigen. Als er sie nun jedoch prüfend betrachtete stellte er zufrieden fest, dass sie noch immer ganz ruhig schlief. Er sah noch einmal nach draußen, doch von seinem Herrn fehlte jede Spur. Also wartete Lawrence geduldig bei der jungen Lady, bis sein Herr sehr viel später zu ihnen zurückkehrte.

Lawrence trat ihm entgegen und nahm ihm die Zügel aus der Hand. Er war seinem treuen Diener dankbar, dass er keine Fragen stellte. Er ahnte jedoch, dass Lawrence genau wusste was los war. Das las er in den Augen des alten Mannes. Und er las noch etwas Anderes. Als sich ihre Blicke trafen gab Lawrence ihm wortlos zu verstehen, dass mit ihr alles in Ordnung war. Dankbar nickte er kurz, bevor er wieder auf den Kutschbock stieg. Nachdem auch Lawrence wieder eingestiegen war ließ er die Pferde antreten und sie fuhren weiter durch die Nacht.

Im Morgengrauen hielt er nach einem geschützten Platz Ausschau, an dem sie den Tag über rasten konnten. Erst gegen Abend, wenn die Dunkelheit ihnen Schutz bot, würden sie weiterfahren. Welch ein Glück, dachte er, dass die Tage jetzt im Spätherbst schon so kurz waren. So würden sie zügig vorankommen und bald zu Hause sein.

Als er einen geeigneten, gut versteckten Ort in einem hügeligen und dicht bewaldeten Gelände gefunden hatte ließ er die Pferde anhalten. Er spannte die beiden Kutschpferde aus und versorgte sie dann selbst. Es war ihm lieber, wenn Lawrence bei ihr blieb und er selbst beschäftigt war. Dann fiel es ihm wenigsten etwas leichter, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Dennoch warf er immer wieder verstohlene Blicke zu den Fenstern der Kutsche hinüber.

Lawrence beobachtete ihn eine Weile, dann stieg er trotz anders lautender Anweisung aus der Kutsche und trat zu ihm.

„Sir, macht Euch keine Sorgen. Es geht ihr gut. Und ich werde bei ihr bleiben, wenn Ihr das wünscht. Dann könnt Ihr Euch um – andere Dinge kümmern.“

Vorsichtig sah Lawrence seinen Herrn an, der ihm zunächst einen undurchdringlichen Blick zuwarf, dabei jedoch schwieg. Dann veränderte sich seine Miene und er sah nachdenklich aus. Schließlich nickte er.

„In Ordnung. Ich werde mich in der Nähe aufhalten, jedoch weit genug fort sein um kein Risiko einzugehen.“

Lawrence nickte und gleich darauf verschwand er zwischen den Bäumen. Lawrence blieb bei der Kutsche zurück. Er sah noch einmal nach den Pferden, dann setzte er sich wieder zu ihr in die Kutsche. Sie schlief weiterhin ganz ruhig. Lawrence machte jedoch etwas Anderes Sorgen und er wusste, dass seinen Herrn dieselbe Sorge quälte. Lawrence sah ihm deutlich an wie viel Kraft es ihn kostete, ihr so nah zu sein ohne seine Selbstbeherrschung zu verlieren. Es musste ihm Unmenschliches abverlangt haben, sie am vergangenen Abend unbeschadet bis zu dem vereinbarten Ort zu bringen, wo er, Lawrence, mit der Kutsche auf ihn gewartet hatte. Lawrence hoffte inständig dass er durchhalten würde bis sie zu Hause ankamen. Doch das würde noch einige Tage dauern. Und wie würde es dann weitergehen? Das war jedoch nicht Lawrence’ Entscheidung.

Die Weiterreise verlief ohne besondere Vorkommnisse. Sie kamen völlig unbehelligt voran und er war sich sicher, dass sie niemand verfolgte. Ihre Familie hatte ihr Verschwinden zwar mit Sicherheit inzwischen bemerkt und es war gut möglich, dass sie bereits die Polizei verständigt hatten, doch er hinterließ niemals irgendwelche Spuren und daher würde es selbst der Polizei schwerfallen, sie zu verfolgen. Er glaubte sogar, dass es unmöglich sein würde, ihre Spur zu verfolgen und diese sichere Überzeugung ließ ihn zufrieden in sich hineinlachen. Sie waren mittlerweile über eine Woche unterwegs und seine Stimmung hellte sich immer weiter auf als die Landschaft zusehends rauer und bergiger wurde – diese bizarre Schönheit hatte er unendlich vermisst in den vergangenen Monaten. Auch die Pferde schienen zu spüren, dass sie bald zu Hause sein würden, denn sie steigerten ihr Tempo von ganz alleine. Der Weg führte vorbei an abgeernteten Feldern und Wiesen, durch ausgedehnte Wälder, an hohen, kargen Bergen und weitläufigen Seen vorbei und durch tiefe, gewundene Täler hindurch. Obwohl der Winter bereits begonnen hatte war das Wetter schön und erstaunlich trocken, wodurch die Wege noch immer gut passierbar waren. Der erste Schnee schien hier noch fern zu sein und bisher waren nur die allerhöchsten Gipfel mit einer feinen, weißen Schicht überzogen, die von weitem kaum zu erkennen war. Er wusste jedoch wie schnell sich das Wetter in dieser abgelegenen Gegend ändern konnte und er wäre gerne zu Hause bevor der Schneefall einsetzte. Doch darüber machte er sich kaum Sorgen. Hier oben, in dieser einsamen Gegend konnte er bedenkenlos auch tagsüber reisen. Und in der Tat begegneten sie nur wenigen Menschen hier draußen. Die meisten davon waren Bauern, die die letzten Vorbereitungen für den herannahenden, kalten Winter trafen und froh über etwas Abwechslung waren. Er grüßte sie höflich, als er an ihren einsam gelegenen Gehöften vorüber fuhr, ließ sich aber auf kein Gespräch ein. Die meisten der Bauern erwiderten seinen Gruß flüchtig, sahen der Kutsche eine Weile hinterher und machten sich dann wieder an ihre Arbeit. Nur eines Abends, als es gerade zu dämmern begann und er in einem schmalen Tal eine flache Furt durchqueren musste, um anschließend auf der anderen Seite des Baches seinen Weg fortsetzen zu können, wurde er von Wegelagerern aufgehalten. Es handelte sich dabei um insgesamt vier Männer, die an dieser Stelle offenbar auf der Lauer gelegen hatten, ganz so als würden hier regelmäßig Fuhrwerke durchkommen. Sie versperrten ihm den Weg, sodass er mitten im Wasser anhalten musste. Wütend sah er dabei zu wie zwei der Wegelagerer die Zügel der beiden Kutschpferde ergriffen, während die beiden anderen Männer auf ihn zu traten. Dabei zogen sie ihre Waffen, lange Dolche, die auch schon bessere Tage gesehen und bereits zu rosten begonnen hatten. Beinahe hätte er laut losgelacht. Wollten sie ihn damit etwa an der Weiterfahrt hindern? Er verzog jedoch keine Miene. Auch nicht, als sich ihm der dritte Mann von der anderen Seite her näherte. Dieser hatte immerhin eine Schusswaffe, einen alten Revolver, bei sich, den er jetzt auf ihn richtete und ihn aufforderte, mit erhobenen Händen vom Kutschbock zu steigen. Einen kurzen Moment überlegte er, ob er die Pferde einfach zur Weiterfahrt antreiben sollte. Die Männer könnten ihn nicht ernsthaft daran hindern, doch er wollte nicht, dass eines der Pferde verletzt oder die Kutsche beschädigt wurde.

Wegen seines Zögerns forderte der Mann mit dem Revolver ihn erneut auf, die Hände hochzunehmen und sofort abzusteigen. Dieses Mal mit mehr Nachdruck, doch er ignorierte ihn einfach, was den Kerl sichtbar erboste. Aber auch das ignorierte er. Was er jedoch nicht ignorierte war, als einer der beiden anderen Männer zur Tür der Kutsche ging und mit gezogenem Dolch davor stehen blieb. Und auf einmal ging alles sehr schnell. In einer einzigen Bewegung stürzte er sich auf die beiden Kerle mit den Dolchen, denen mit einem überraschten Aufschrei der Mann zur Hilfe eilte, der gerade noch die Pferde gehalten hatte. Es stellte keinerlei Problem dar, diese drei Kerle auszuschalten, doch er fuhr erschrocken herum als plötzlich auf der anderen Seite der Kutsche ein Schuss fiel. Blitzartig eilte er um die Kutsche herum, deren Türe auf der anderen Seite weit offen stand. Der vierte Mann mit dem Revolver stand in der geöffneten Türe und er keuchte erschrocken auf. Schon im nächsten Moment wollte er sich auf den Kerl stürzen doch da taumelte dieser bereits rückwärts, stolperte, wobei ihm der Revolver aus der Hand fiel, und stürzte in das kalte Wasser, wo er regungslos liegen blieb. Angstvoll eilte er zu der offenen Tür, doch im selben Augenblick schob Lawrence mit einem zufriedenen Grinsen den dunklen Vorhang beiseite. Das Gewehr hielt er dabei noch immer in seiner linken Hand. Lawrence fing seinen wilden Blick auf.

„Seid Ihr in Ordnung, Sir?“, fragte Lawrence, und er nickte.

„Natürlich“, antwortete er knapp. „Und – ihr?“

Lawrence sah ihn einen Augenblick lang mürrisch an bevor er antwortete.

„Natürlich“, erwiderte er dann und sein Mund verzog sich erneut zu einem spitzbübischen Grinsen, das ihn auf einmal viel jünger erscheinen ließ. Erleichtert atmete er auf und nun erwiderte er das Lächeln seines Dieners. Er hatte gar nicht daran gedacht, dass Lawrence das Gewehr bei sich hatte. Doch er wusste dass der alte Mann ein ausgezeichneter Schütze war und erkannte zufrieden, dass sie keine Sekunde lang ernsthaft in Gefahr gewesen war. Er dankte Lawrence mit einer stummen Geste und warf nur einen kurzen Blick auf sie, als Lawrence den Vorhang weiter zur Seite schob. Aber dieser kurze Blick genügte um sicher zu sein, dass es ihr gut ging. Er genügte jedoch auch um ihn ruckartig zurücktreten zu lassen. Er war noch zu aufgebracht wegen des Vorfalles eben und konnte es nicht ertragen, sie zu sehen. Er war noch nicht wieder Herr seiner selbst und seine natürlichen Instinkte im Moment zu sensibel und kaum kontrollierbar. Mit einer knappen Geste bedeutete er Lawrence, die Türe gut zu verschließen. Dann schwang er sich wieder auf den Kutschbock und sie fuhren weiter. Die Pferde waren noch ein wenig aufgeregt, doch er hatte sie dennoch fest im Griff und sie würden sich bald wieder beruhigen, wenn sie erst einmal in Bewegung waren. An die vier Kerle verschwendete er keinen weiteren Gedanken mehr. Er hatte sie nur in Windeseile aus dem Bach gezogen und hinter einigen großen Felsen versteckt. Dabei waren seine Kleider größtenteils durchnässt worden, was ihn jetzt leise fluchen ließ, denn die Nachtluft war kalt und der Fahrtwind ließ ihn frösteln. Doch vielleicht tat ihm die Abkühlung ganz gut, dachte er schließlich.

Die Weiterreise verlief ohne weitere Zwischenfälle.

Nach knapp zweieinhalb Wochen erreichten sie schließlich ihr Ziel. Sie waren mit der Kutsche erheblich schneller vorangekommen als er erwartet hatte und er war sehr zufrieden. Erst an den beiden letzten Tagen ihrer Reise, bereits weit oben im Norden, hatte es zu schneien begonnen und der Schnee hatte die Landschaft hier bereits in flächendeckendes, glitzerndes Weiß getaucht. Das lang anhaltend gute Wetter hatte ihr schnelles Vorwärtskommen sehr begünstigt und in den tieferen Lagen würde der Schnee wohl auch noch ein wenig auf sich warten lassen. Doch hier, in seiner Heimat, war alles ein wenig anders.

Sie erreichten Dawning House am späten Nachmittag und wurden bei ihrer Ankunft von Mr. Andrews, dem Verwalter, begrüßt. Mr. Andrews war ein kräftiger, braunhaariger Mann in den mittleren Jahren, der sich während seiner Abwesenheit um das Anwesen gekümmert hatte. Normalerweise fiel diese Aufgabe Lawrence zu, aber auf dieser langen und speziellen Reise hatte er seinen Diener lieber an seiner Seite haben wollen. Doch auch Mr. Andrews war äußerst zuverlässig, nicht nur wenn es darum ging, sich um die Anliegen der Pächter zu kümmern. So fand er Dawning House in exzellentem Zustand vor und alles war für den Winter, der hier bereits eingesetzt hatte, vorbereitet worden. Er dankte Mr. Andrews höchst zufrieden und versprach, ihn am folgenden Vormittag in seinem etwa eine halbe Meile entfernten Haus aufzusuchen. Dann konnte Mr. Andrews ihn über die wichtigsten Vorkommnisse während seiner Abwesenheit in Kenntnis setzen. Und vielleicht würde er auf diesem Weg auch gleich einige seiner Pächter auf ihren Höfen besuchen um sich selbst zu vergewissern, dass dort alles in Ordnung war. Er legte größten Wert auf ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis zu seinen Pächtern und er wusste, dass das von diesen sehr geschätzt wurde. Doch nun gab es erst einmal Wichtigeres, worum er sich kümmern musste und so verabschiedete er sich von Mr. Andrews, der sich sogleich auf den Heimweg zu seiner Familie machte.

Er wartete bis der Verwalter sich weit genug entfernt hatte und ging dann zu seiner Kutsche zurück, wo Lawrence geduldig auf ihn gewartet hatte. Als er ihn kommen sah öffnete Lawrence die Tür auf der linken Seite der Kutsche und sah ihm entgegen. Bereits bevor er etwas sagte erkannte Lawrence die unausgesprochene Bitte in den Augen seines Herrn.

„Selbstverständlich, Sir. Ich werde die junge Lady sofort in das für sie vorgesehene Zimmer bringen und mich um sie kümmern. Es wird ihr an nichts fehlen.“

„Danke, Lawrence“, erwiderte er erleichtert. „Ich werde derweil die Pferde versorgen und dann nachkommen.“

Der alte Diener nickte und tat dann wie ihm geheißen.

Als Lawrence sie fort gebracht hatte ließ seine Anspannung ein wenig nach und er spannte die Pferde aus um sie dann in den Stall zu bringen. Er war froh, sich selbst um die Pferde kümmern zu können. Das würde ihn wenigstens vorübergehend ablenken. Außerdem war er immer gerne mit diesen wundervollen Tieren zusammen. Daher hatte er Mr. Andrews gebeten, den Stallknecht erst am nächsten Morgen wieder zur Arbeit zu schicken. Nachdem die Pferde versorgt waren verweilte er noch eine Zeitlang bei ihnen. Sie beruhigten ihn und hier würde er Kraft sammeln für das, was vor ihm lag.

Erst sehr viel später verließ er den Stall, nicht jedoch ohne sich vorher von jedem Pferd mit einem sanften Streicheln und ein paar leisen Worten zu verabschieden. Draußen war es unterdessen stockdunkel geworden. Es würde eine finstere Nacht werden. Weder der Mond, noch die Sterne waren zu sehen. Wahrscheinlich würde es wieder schneien.

Er hatte sich mehr Zeit gelassen als eigentlich beabsichtigt und er musste sich eingestehen, dass das vor allem an seiner Angst und Unsicherheit lag die er empfand wenn er an das dachte, was nun vor ihm lag. Er konnte sich nicht daran erinnern jemals zuvor so sehr von Gewissensbissen gepeinigt worden zu sein. Er war hin- und hergerissen zwischen seinem Pflichtgefühl, das zu tun was ihm vorherbestimmt war, und dem Verlangen, seinen Gefühlen nachzugeben. Doch egal wie er sich entscheiden würde. Seine Entscheidung würde tiefgreifende Folgen haben. Folgen, deren Konsequenzen er zu tragen hatte. Und nicht nur er. Doch schließlich sagte er sich, er würde erst einmal die nächsten Tage abwarten um zu sehen wie sich alles entwickelte.

Mit festen Schritten ging er über den Hof und ins Haus.

Erst wenn die Nacht beginnt

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