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2064 Die letzte Schlacht

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Ich war allein. Ich war abenteuerlustig. Da kam mir die diplomatische Mission gerade recht. Sie führte mich in die eigenen und in fremde Archive und dann zu den Orten des Geschehens. Das war damals nicht ungefährlich, das Land war vom Auswärtigen Amt als Krisengebiet eingestuft gewesen.

Ich war naiv. Bereits die Recherchen im Zentralarchiv der Nordmächte enthüllten Dinge, auf die ich nicht vorbereitet war. Ich hatte mich im Glauben aufgemacht, die Geschichte der alten Schweiz zu kennen. Das Studium unveröffentlichter Dokumente über die Zeit der Sezessionswirren belehrte mich eines Besseren. Zweifel an der offiziellen Geschichtsschreibung überkamen mich. Der militärische Sieg der Revisionisten über die Harten hatte keineswegs zu der Eintracht geführt, auf der unsere Republik gegründet worden war. Vielmehr war es ein Pyrrhussieg gewesen, der den eigentlichen Wendepunkt der Schweiz begründete.

Je mehr ich herausfand, desto verworrener wurde es. Lag der Zweck meiner Mission wirklich in der Aufarbeitung unserer gemeinsamen Vergangenheit? Ging es nicht vielmehr um die Zementierung der offiziellen Sichtweise? Weshalb sonst waren diese Tatsachen so lange unter Verschluss geblieben?

Doch in einem Punkt hatten sich die Herren zu Hause gründlich in mir getäuscht: Mit meiner Naivität war es vorbei. Zum ersten Mal in meinem Leben war mein Jagdinstinkt geweckt.

Viktor Schwarz trieb nur ein Gedanke um, als er dem Kurier das Couvert mit der Aufforderung übergab, dieses seinem Sohn in Schwyz persönlich auszuhändigen. Darin befand sich die alte Ansichtskarte, die über Generationen in der Familie Schwarz weitergegeben worden war. Am Tag hätte er das Hotel, wo sie geschrieben worden war, von hier aus mit blossem Auge erkennen können, wäre es nicht schon vor Ewigkeiten niedergerissen geworden. Die Karte war eine Erinnerung daran, wo die Familie Schwarz hergekommen war und was für ein Idyll die Einwanderer einst hier vorgefunden hatten. Gleichzeitig war es die Mahnung daran, wofür die Sezessionisten zu töten und zu sterben bereit gewesen sind. Das ist es, woran Viktor Schwarz im letzten Führungsstützpunkt der Harten dachte: Hier also wird es enden.

»General Schwarz, der Stollen ist frei«

»Danke, Leutnant, geben Sie mir Alpha.«

Die Verbindung zum Einsatztrupp hinter der Feindeslinie war miserabel.

»Wie nahe?«

»Der Führerstand ist direkt voraus, hundert Meter.«

»Zielpersonen?«

»Warten auf Bestätigung.«

»Okay, Feuererlaubnis nach freiem Willen – der Schuss muss sitzen. Ist das klar?« Die Bitterkeit in seiner Stimme konnte nur erahnen, der wusste, wen er damit treffen wollte.

»Jawohl, General, wir töten die Zielpersonen und ziehen uns dann zurück.«

»Verstanden und aus.«

Eine schneidend scharfe Bise wehte aus Nordost über die vorgelagerten Hügelketten. Die Schweizerflagge auf der nahen Kuppe flatterte waagrecht im steifen Wind. Die Ränder waren längst zerfranst wie die Gesellschaft, die sich einst darunter versammelt hatte. Niemals mehr würde sie je eingeholt, geschweige denn ersetzt und neu aufgezogen werden.

Der General bestrich mit dem Feldstecher das halbe Mittelland. Die schwere Artillerie der Revisionisten belegte die verbleibenden Stellungen der Sezessionisten mit Sperrfeuer. Kleine Feuerbälle funkelten aufblitzend in der Linse vor seinen Augen. Früher, so erzählte man, hätte man von hier aus in der Neujahrsnacht die in mannigfaltigen Farben aufsteigenden Feuerwerke gesehen, dass man vermeinte, ein Kriegsgebiet zu überschauen.

»Schwachsinn«, murmelte der General in den angegrauten Bart. Mit einer angedeuteten Handbewegung verjagte er die rührigen Fantastereien seiner Altvorderen in eisigen Winternächten.

Alfons Nansés Atem beschlug das Nachtsichtgerät bis zur Untauglichkeit. Der Sohn des Bundespräsidenten verschmierte den Nebel mit dem schweren Stoff des Offiziersrockes. Mit mäßigem Erfolg.

»Major, die Luftwaffe wartet auf Ihren Einsatzbefehl.«

Dieser senkte das Gerät und beugte sich wieder über die rötlich schimmernde Karte.

»Wir benötigen drei Jagdbomber, um die Batterie auszuschalten. Geben Sie die Koordinaten durch. Ich rechne mit maximal zehn Minuten. Sind die Bodentruppen in Stellung?«

»Sie haben den Stützpunkt von Norden und Westen umstellt und sind bereit zum Vorrücken.«

»Gut, lassen Sie starten.«

Die stramme Frau Leutnant quittierte den Befehl ohne das sonst übliche Lächeln um den Mund.

»Warten Sie …«, Alfons Nansé überlegte einen Augenblick, »… nichts, bereiten Sie die Befehle vor.«

»Verstanden.«

Warum bloß habe ich zugelassen, dass sie mit an der Front ist? Ich Idiot, dachte der Major.

Doch die Zeiten, fähige Kämpferinnen am Herd stationiert zu lassen, sind längst vergangen. Die Bevölkerung des Landes war allein in den vergangenen Jahrzehnten um ein Siebtel geschrumpft. Die Demografen versprachen weiter abnehmende Zahlen. Es gingen nicht nur die Fremden und Eliten der bürgerkriegsähnlichen Zustände wegen. Der wirtschaftliche Niedergang trug zum Exodus bei. Ebenso die zunehmend ungünstigen Witterungsverhältnisse.

»Wir müssen gehen, General.«

»Ich weiß.« In der Tat war dem Anführer der Sezessionisten-Armee klar, dass die Schlacht verloren war. Aber nicht der Krieg. Doch dies würden Taten anderer richten. Bleierne Müdigkeit erfasste ihn beim Gedanken daran. Bin ich vielleicht doch zu weit gegangen? Wenn ich einen Fehler begangen habe, dann den, dass ich die Durchsetzungskraft des Bundespräsidenten unterschätzt habe. Als er noch Ratsvorsitzender war, hätte ich ihn ohne Probleme beseitigen können. Hätte Viktor Schwarz damals schon geahnt, dass seine eigene Tochter …

»General?«

Stur blieb dieser am Fernglas hängen und blickte dorthin, wo die Vergangenheit jeden Augenblick ausgelöscht würde.

»Gener— «

»Ruhe!«, bellte er allzu laut und schnappte doch nur nach seinen eigenen Gedanken. Erwürgen, mit eigenen Händen, die eigene Brut und diesen, diesen … Nun stehe ich da, und mein einziger Nachkomme ist ein Feigling, hockt zu Hause. Und sie, die eigentlich mein Sohn sein sollte, sitzt drüben beim Feind. »Verflucht!«

»General!« Der Leutnant ließ sich von den Launen des Vorgesetzten schon lange nicht mehr beirren.

»Zwei Minuten bis zum Eintreffen.«

»Lassen Sie den Wagen kommen, wir fahren ins Hauptquartier zurück.«

»Jawohl, Major Nansé. Noch eine Minute«, berichtete der Verbindungsoffizier.

»Informieren Sie Frau Leutnant.«

Das ist also das Ende der Sezessionisten. Ich hoffe, es erwischt Schwarz, diesen Volksaufwiegler.

»Zielperson im Visier«, verlautete der Einsatzleiter von Alpha aus dem Funkgerät, während General Schwarz die Treppe in den Keller des höchst gelegenen Wohnhauses auf Walchwilerberg hinabstieg. »Warte auf den Schießbefehl.«

Verdammt noch mal, muss man denn alles zweimal kommandieren? »Feuer frei!«

Der Grenadier schloss hinter dem Vorgesetzten die schwere Betontüre zum Luftschutzkeller, während draußen die ersten Bomben fielen. Und er verschloss die zweite, die in den Stollen führte, als die letzten Bomben fielen. Der General, der Leutnant und die beiden Grenadiere nahmen den Weg durch die kilometerlangen Gänge in Angriff, die sie von der Nordfront tief in das Hinterland führen würden.

Alfons Nansé setzte das Nachtsichtgerät ab. Die Treffer auf dem Moränenzug waren mit bloßen Augen zu sehen. Kurz nach zwei Uhr früh stoppte der Beschuss. Zeitgleich das Schattentheater an der südlichen Mauer des provisorisch eingerichteten Führerstandes ›Mitte‹. Das altertümliche Bauernhaus hätte jetzt wohl eine Zeit der Ruhe und Beschaulichkeit verdient. Doch es kam anders.

Der Tumult beim gepanzerten Fahrzeug begann mit dem Aufschrei, gefolgt vom Zusammenbruch von Leutnant Barbara Nansé. Unverzüglich rannte Alfons Nansé, geduckt und von Gegenfeuer gedeckt, vor die Türe und auf das Geländefahrzeug zu. Neben dem Aufprallen der Projektile auf Metall, Mauerwerk, Holz, Menschenfleisch, Beton und Glas verstand er kaum seine sterbende Gemahlin.

»Hilf mir, Alfons, bitte – Simon …«

Kaum fünf Minuten unterwegs, und das Licht ging aus. »Und?«, fragte der General in das Funkgerät. Er erhielt keine Antwort vom Einsatztrupp Alpha. Sie werden es geschafft haben. Im Licht der Taschenlampe eilten sie weiter. Unbekümmert darum, was hinter ihnen geschah.

Die Explosion der Handgranate beendete den Angriff auf Major Alfons Nansé und Leutnant Barbara Nansé. Zerrissen lagen ihrer beiden Leiber da. Zerrissen war ihr Familiengewebe schon lange gewesen. Vater Viktor Schwarz und Tochter Barbara Nansé, geborene Schwarz, hatten sich seit ihrer Entscheidung, den Präsidentensohn zu ehelichen, nichts mehr zu sagen gehabt.

»Zielpersonen eliminiert«, meldete Alpha den Status der Mission dem General. Ohne auf eine Bestätigung zu warten, zogen sich die Kämpfer zurück.

Kurz vor dem ersten Notausstieg bei Kilometer vier lagen Viktor Schwarz und seine Soldaten tot auf dem Boden. Der Meldesoldat würde die Nachricht an das Hauptquartier der Revisionisten in wenigen Minuten absetzen können. Aufenthaltsort und Status von Major Alfons Nansé waren zu dieser Zeit in Bern noch unbestätigt.

Die restlichen Verfolger stürmten den Stollen weiter voran, jederzeit auf der Hut vor einem Überraschungsangriff. Am Ende stiegen sie unbehelligt auf die Mauer eines Ausgleichsbeckens der ehemaligen zentralen Wasserkraftwerke.

Die Morgendämmerung befand sich im astronomischen Stadium und ließ den einsetzenden Zerfall der Anlage umso gespenstiger erscheinen. Noch sammelte das Staubecken im Frühling die Wasser der Bergbäche. Diese verhielten sich hierzulande im Sommer erst seit Kurzem so, wie sich die Wadi in fernab gelegenen Klimazonen seit Jahrhunderten schon verhielten.

Die ersten Schüsse der Sezession waren vor Jahren unter dem Kommando des selbst ernannten Generals Viktor Schwarz gefallen. Die vorletzten Schüsse wurden auf Befehl des Oberbefehlshabers der Linden, Major Alfons Nansé, abgefeuert. Die Allerletzten wiederum auf Geheiß Viktor Schwarz’. Diese galten nicht der Sache, sondern seiner persönlichen Geschichte. Die liberalen Revisionisten haben gewonnen, verloren haben die Sezessionisten dennoch nicht.

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