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Kapitel III
ОглавлениеDraußen
Lemmy sah sich in der Zentrale um. »Wo sind Jörg und Sandra?«
»Draußen«, antwortete Steins. »Sie wollten etwas frische Luft schnappen, als hier ...« Er zögerte. »Nun ja, was-auch-immer geschah.«
»Und was ist hier passiert?«
Gregor ging mit steifen Schritten auf Lemmy und Steins zu. »Roland, Martin und ich haben versucht, die Anschlüsse für die Kameras der unteren Ebenen zu überbrücken, damit wir auch dort immer alles im Auge behalten können«, erklärte er. Seine Stimme war zittrig, aber er wirkte gefasst. »Dann kam zuerst Doktor Levi in die Zentrale gestürmt und brüllte herum, dass Dresen verschwunden und alles voller Blut sei. In dem Moment lief eine der Kameras wieder an, und ich sah, wie Erich ... er hat Gora ein Messer ...«
Gregor verstummte. Sein Blick verschleierte sich, und sein Gesicht wurde noch blasser.
Lemmy rieb sich seufzend mit den Händen übers Gesicht. »Also haben wir hier einen Mörder herumlaufen. Und schlimmstenfalls zwei Zombies in den unteren Ebenen, sofern dieser Mörder seinen beiden Opfern nicht das Gehirn irreparabel beschädigt hat. Sehen Sie das auch so, Frankenstein?«
Steins ignorierte die Anrede und nickte. »Ja.«
»Verdammte Scheiße!«, fasste Lemmy die Situation zusammen. »Wenn das die anderen hören, haben wir hier ein Tollhaus. Wer ist noch unten?«
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Gregor. »Aber von Erich, Gora und Holger abgesehen müssten mindestens vier oder fünf weitere Menschen dort unten sein. Diese Matrone Hengsten ist mit Edith in Aufzug 5 eingeschlossen. Über Interkom hat sie schon rumgekreischt und Erich als Mörder identifiziert.«
»Was haben die da unten gemacht?«, wollte Lemmy wissen.
»Entweder waren sie in den Offiziersquartieren oder in den Freizeiteinrichtungen der Suite«, meinte Steins.
»Hat schon irgendjemand mitbekommen, was die Hengsten mitzuteilen hat?«
»Nein.« Gregor schüttelte den Kopf. »Doktor Steins hat sofort die Interkom-Verbindungen abgebrochen, als Lemmy die Sirenen des Alarms ausschaltete.«
Lemmy sah den Totlebenden abschätzend an. »Aber der Lockdown besteht weiterhin?«
»Ja.«
»Können sie das große Tor trotz des Lockdowns öffnen? Ich will nämlich Jörg und Sandra nicht alleine da draußen lassen.«
»Das muss am Tor selbst geschehen. Dafür brauchen sie einen Code, den sie dort eingeben müssen. Er überbrückt den Lockdown.«
Lemmy kreiste ungeduldig mit der rechten Hand. »Und? Worauf warten Sie noch?«
Steins nannte Lemmy die Zahlenreihenfolge.
»Okay. Ich hole die beiden wieder rein«, sagte Lemmy. »Ihr seht in der Zwischenzeit zu, dass nichts nach außen dringt: keine Mörder, keine Interkom-Meldungen der Hengsten, einfach nichts, klar?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Lemmy sich auf dem Absatz herum und stürmte aus der Zentrale. Er ging zielstrebig durch die Korridore der obersten Bunkerebene. Ab und zu sah er über seine Schulter, um zu prüfen, ob ihm jemand folgte.
Dann erreichte er die breite Laderampe des Haupttors, das nach draußen in die Höhle des künstlichen Hügels führte. Das Tor sah aus wie eine überdimensionale Tresortür. Es war fast fünf Meter hoch und acht Meter breit.
Lemmy fand die kleine Tastatur und tippe den Code ein, den ihm Steins genannt hatte.
Mit einem pneumatischen Seufzen löste sich die Verriegelung des Tors. Kurz darauf schwang es auf, und Lemmy betrat die künstliche Höhle. Schon auf den ersten Schritten zur Rampe, die aus dem Hügel herausführte, wehten ihm aufgebrachte Stimmen entgegen.
»Ihr habt das Unheil in unser Dorf gebracht!«
»Leg den Bolzenschneider weg, oder ich schieße!«
»Ruhe! Bitte bewahrt doch alle die Ruhe!«
Die letzte Stimme ließ Lemmy lächeln. Er bog um die Ecke und sah, dass Sandra und Jörg mit gezogenen Waffen diesseits des Zauns standen. Auf der anderen Seite befand sich eine Gruppe von etwa fünfzehn Überlebenden, die sich mit Lumpen und zerfetzten Kleidungsstücken vor der Kälte des überraschend strengen Winters zu schützen versuchten. In ihren Augen flackerte Angst, ihre Körper zeugten von Hunger, Entbehrung und Erschöpfung. Lemmy erkannte einige von ihnen. Es waren zum Teil Menschen aus Schwarmstein.
Dann sah er ihn. Er hatte sich kaum verändert, vielleicht einssiebzig groß, braune Haare und eine gigantische Hakennase.
Zielstrebig näherte sich Lemmy dem Zaun. »Sandra, Jörg, steckt die Waffen weg. Es ist alles in Ordnung.«
Jörg fuhr herum. »Was? Spinnst du? Die haben einen Bolzenschneider dabei!«
Lemmy legte ihm eine Hand auf den Arm. »Lass gut sein. Das sind nur ein paar Menschen, die voller Angst sind.«
Jörg schluckte und ließ die Waffe sinken. Sandra, die leicht versetzt vor Lemmy und Jörg stand, folgte der Aufforderung ebenfalls, blieb aber angespannt.
»Bist du das etwa?«, fragte der kleine Mann, den Lemmy erkannt hatte.
»Ja. Komm bitte ein Stück auf die Seite, damit wir uns in Ruhe unterhalten können. Und ihr anderen beruhigt euch wieder. Wir haben ein Problem im Bunker, aber sobald das geklärt ist, werden wir euch reinlassen.«
»Was?«, rief Jörg. »Wer hat di...«
Der ehemalige Hauptmann der Luftwaffe verstummte, als Lemmy ihn mit einem eisigem Blick ansah. »Gib mir einen Moment, Junge, dann wird sich die Sache klären.«
Jörg fing sich wieder. »Und wer hat dir das Kommando übertragen?«
»Das möchte ich dich fragen, Jörg Weimer. Wer hat dir denn die Macht verliehen, über das Schicksal dieser Menschen zu entscheiden?«
Jörg blickte Lemmy schweigend an.
»Na also. Fünf Minuten. Und dann lassen wir diese Flüchtlinge rein.«
Lemmy bedeutete dem kleinen Mann vor dem Zaun, ihm ein Stück weit zu folgen. Als sie außer Hörweite waren, legte er eine Hand auf das Gitter.
Der kleinere Mann tat es ihm nach. »Wie geht es dir? Du hast dich verändert, mein Freund. Ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt. Reinkarnation?«
Lemmy nickte. »Ja. Ich hätte nur ganz gerne vorher gewusst, auf was ich mich da einlasse.« Er schüttelte den Kopf. »Wie auch immer, es ist lange her, Longinus. Was machst du hier?«
»Ich habe erfahren, dass Gabriel und Luzifer immer noch ihre Spielchen treiben, als hätten sie nicht schon genug angerichtet.«
Lemmy seufzte. »Ja. Die zwei haben diesmal wirklich ganze Arbeit geleistet. Und jetzt streiten sie sich um die Reste wie zwei kleine Kinder um ein Spielzeug. Wenn unsere Gemeinschaft noch kleiner wird, werden sie irgendwann vollkommen außer Kontrolle geraten.«
Longinus nickte ernst. »Dieser Moment könnte früher kommen, als uns allen lieb ist.«
»Warum?«
»Wir sind die letzten fünf. Du, Alexander, ich und diese beiden Hitzköpfe.«
»Was? Wo sind die anderen?«
Longinus zuckte mit den Schultern. »Spurlos verschwunden. Ich hatte zuerst vermutet, Gabriel oder Luzifer hätten sie in sich aufgenommen. Aber in dem Fall würden wir jetzt nicht hier stehen, oder?«
Lemmy atmete tief durch. »Wohl kaum. Ob sich die anderen vielleicht vereint haben?«
»Wie kommst du darauf?«
»Spürst du es nicht auch, diesen Ruf, der uns nach Süden zieht? In dieser Gruppe hier sind ein paar Kinder, aber auch Erwachsene, die den Ruf ebenfalls spüren. Und Er ist auch hier.«
»Wer?«
»Der Erschaffer der Tore. Aber er weiß nichts von seiner Vergangenheit. Er wurde wiedergeboren und ahnt nichts von seinen Fähigkeiten.«
Longinus atmete tief durch. »Also sind die anderen doch nicht verschwunden!«
»Wie meinst du das?«
»Diesen Ruf verspüre ich auch. Und du sagst, in deiner Gruppe gibt es noch mehr wie uns?«
Lemmy zuckte mit den Schultern. »Zumindest haben sie einen kleinen Teil unserer Fähigkeiten. Sie spüren den Ruf deutlich und nennen den Ort ›Eden‹. Es scheint ein Refugium zu sein, wo sich die letzten Menschen zusammengefunden haben.«
Longinus schwieg einen Moment. Sein Blick glitt über die Gruppe Überlebender, die er hierher geführt hatte. »Vielleicht ist das unsere Bestimmung, der Grund für unser Dasein? Das Auslösen der Katharsis, aus der sich dann etwas Besseres, Größeres entwickeln kann?«
»Das wäre möglich. Wirst du dich uns anschließen?«
»Nein. Ich werde weitersuchen.«
Lemmy schüttelte den Kopf. »Nach all den Jahrhunderten suchst du immer noch nach Gott?«
»Natürlich. Das ist meine Aufgabe. Dafür hat er mich erschaffen.«
»Und unterwegs sammelst du verlorene Seelen ein, richtig?«
»Man tut, was man kann«, erwiderte Longinus mit einem Lächeln. »Ich weiß, du glaubst nicht an Gott oder die Existenz von Göttern überhaupt. Aber wenn es Ihn nicht gibt, welchen Sinn hätte unsere Existenz denn sonst? Oder unsere Fähigkeiten, unsere Gemeinschaft?«
»Vielleicht sind wir nur eine Laune der Natur?«
Longinus schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das kann ich nicht glauben. Ich war da, als Sein Sohn starb. Ich wurde Zeuge eines Wunders, das sogar unsere Kräfte übersteigt. Ich kann Seine Existenz nicht anzweifeln.«
»Also ziehst du weiter durch die Welt und kehrst die Reste zusammen, die Gott zurückgelassen hat. Und ab und an suchst du jemanden, der sich ihrer annimmt.«
»Es sind einfache Menschen. Sie sind hilflos. Aber in einer Gemeinschaft zusammengebracht könnten sie etwas Neues aufbauen, etwas, das besser ist als das, was jetzt zerbrochen am Boden liegt. Und vielleicht sind die anderen wirklich eine besondere Vereinigung eingegangen, um das, was du Eden nennst, zu erschaffen. Es wäre die Erfüllung einer Bestimmung und Gottes Wille zugleich.«
Lemmy schnaufte verächtlich. »Wie das Bessere aussieht, habe ich in Schwarmstein gesehen. Und was ich von Gott halte, weißt du. Wir hatten schon öfter unsere Dispute über dieses Thema. Aber was Eden betrifft, könntest du recht haben. Vielleicht haben die anderen wirklich mit ihren vereinten Kräften ein solches Refugium erschaffen.«
»Schwarmstein existiert nicht mehr, mein alter Freund. Die Zombies haben es überrannt. Es waren aber keine normalen. Sie wurden von irgendeiner Kraft gelenkt, die ich noch nicht ganz verstehe.«
Lemmy nickte. »Also gut. Ich nehme deine verlorenen Schafe auf. Und ich werde versuchen, die Herde zu diesem Eden zu führen. Aber nur, weil ich dir vertraue, und weil ich niemanden da draußen alleine lassen will.«
Die beiden Männer machten sich auf den Rückweg.
»Und was ist mit dem da? Wird er es verstehen?«, fragte Longinus, während er in Jörgs Richtung nickte. »Er macht auf mich den Eindruck, als würde er wieder in die alten Gewohnheiten fallen und sein Revier verteidigen.«
»Er meint es nur gut, aber er wird auch irgendwann verstehen müssen, dass sich die Welt verändert hat, mein Freund. Denn wenn er nicht akzeptiert, dass jetzt eine neue Ordnung herrscht, in der die letzten Überlebenden zusammenhalten müssen ...« Lemmy zögerte und blieb stehen. »Dann hat auch unsere letzte Stunde geschlagen.«
»Wirst du auf meine Schafe aufpassen?«
»Solange sie sich an die Regeln halten, ja.«
»Ich danke dir.«
»Willst du schon wieder los? Willst du dich nicht aufwärmen und etwas Vernünftiges essen, bevor du deine Suche fortsetzt?«
Longinus schüttelte den Kopf. Um seine Lippen spielte ein kleines Lächeln. »Der Herr ist mein Hirte. Es wird mir an nichts mangeln.«
Lemmy nickte. »Dann leb wohl, Centurio Longinus.«
»Nein, ich bin schon lange nicht mehr Centurio Longinus, der Mann, der Jesus am Kreuz mit einem Speer die Seite öffnete. Ich bin Longinus der Suchende.«