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Kaiser Kokolores neue Kleider

Es war einmal ein nicht unbedeutendes Land mit Namen Wirsindwer mitten in Europa. Dort herrschte der Kaiser Kokolores, der, wie wir im Folgenden hören werden, sich die allergrößte Mühe gab, seinem etwas lächerlich anmutenden Namen alle Ehre zu machen.

Zum Leidwesen seiner geplagten Untertanen war er ein verschwenderischer, genusssüchtiger Mann, dem an nichts mehr als an seinem eigenen Wohlergehen gelegen war. Er pflegte die unter schwersten Bedingungen erarbeiteten Steuergroschen der Bürger mit vollen Händen für kostbare Kleider aus dem Fenster zu werfen – über goldene Knöpfe und edelsteinbesetzte Roben konnte er vor Freude in Tränen ausbrechen. Er widmete sich mit Inbrunst nicht nur seinem eigenen Äußeren, sondern war ebenfalls davon besessen, sein Schloss immer nach dem letzten Schrei sowie seiner Vorstellung von „Schöner Wohnen“ mindestens einmal im Jahr neu auszustatten. Aus allen Teilen der Welt wurden die teuersten Stoffe, die prunkvollsten Ein-richtungsgegenstände und Dekorationen herbeigeschafft, Vorhänge aus kostbaren Stoffen, Teppiche aus dem Orient, eigens entworfene Designer-Möbel. Dem König schwebte vor, dass sein Schloss es eines Tages an Glanz und Prunk mit dem von Versailles aufnehmen, wenn nicht gar übertrumpfen könnte. Um die bald folgenden Geschehnisse richtig einordnen zu können, muss unumwunden und ohne Beschönigung ausdrücklich festgehalten werden: Das Herrscherhaus war ein kostspieliges Vergnügen, an dem nur der Monarch und seine Hofschranzen Freude hatten.

Zu allem Überfluss liebte er auch noch das gute und reichliche Essen, wobei Kaiser Kokolores unter gutem Essen fette und schwere Kost verstand. Dieser fatalen Schwäche gab er sich gleich mehrere Male am Tage hemmungslos hin. Sein Lieblingsgericht war bekanntermaßen Saumagen mit Leberknödeln. Ebenso schätzte er einen guten Tropfen sehr, seinem Lieblingswein, dem Pfälzer Grauburgunder, sprach er in überreichlichem Maße zu, was sich zusammengenommen naturgemäß auf seinen Leibesumfang auswirkte. Er trug bereits einen gewaltigen Bauch vor sich her, der ihm beim Laufen erhebliche Probleme bereitete, damit nicht genug, den Anschein erweckte, als könne er jeden Moment wie ein aufgeblähter Ballon auseinanderplatzen.

Einzig und allein der Umstand, dass er seine Gemahlin schon früh verloren hatte, kann zu seiner Entschuldigung angeführt werden. Die Kaiserin war eine kluge und besonnene Frau gewesen, die ihren zügellosen, zu Wutausbrüchen neigenden Mann mit mäßigem Erfolg im Zaum zu halten versucht hatte.

Nachdem wir uns solchermaßen ein ungefähres Bild über die unhaltbaren Zustände in jenem Land verschaffen konnten, darf ohne Übertreibung behauptet werden, der Kaiser war ein eitler Fant und ein dummer noch dazu. Obwohl sich etliche Lehrmeister redlich bemüht hatten, einen halbwegs gebildeten Mann aus ihm zu machen, fehlte es ihm an jedwedem gesundem Menschenverstand, und mangelte es ihm in ebensolchem Maße an Fingerspitzengefühl, ansonsten hätte er sehr wohl die Zeichen der Zeit erkennen müssen, denn sie standen auf Sturm.

Obwohl Revolutionen und Aufstände in diesen Breitengraden vollkommen aus der Mode gekommen waren, brodelte es mittlerweile an allen Ecken und Enden. In den Straßen, unter den Torbögen und Hauseingängen bildeten sich immer öfter Grüppchen von unzufriedenen Bürgern und Bürgerinnen, die, zwar noch vorsichtig und verhalten, kopfschüttelnd leise murmelten: So kann es nicht weitergehen. Die Taschen waren leer, die Untertanen ächzten unter der Abgabenlast, die Schatzkammern des Reiches so gut wie geplündert, und manch einer der Verwalter hatte sich bereits, das nahe Ende kommen sehend, mit gefülltem Beutelchen aus dem Staube gemacht. Denn dem Kaiser die nackte Wahrheit ins Gesicht sagen, das traute sich keiner. Wie das in Monarchien gang und gäbe ist, wird der Hofstaat zu einem Sammelbecken von Jasagern und Speichelleckern, im gemeinen Volk ist ein noch viel deftigeres Wort gebräuchlich, aber das verschweigt der Erzählerin Höflichkeit.

Da das Kaiserpaar kinderlos geblieben war, bot sich in dieser verzwickten Lage auch keine patente, auf dem Teppich gebliebene junge Prinzessin an, die das Schlimmste möglicherweise noch hätte verhindern können, indem sie einen stattlichen, vernunftbegabten Mann aus dem Volke ehelichte, oder zumindest aus dem Bürgertum, welches allerdings dahinschwächelte. Das soll nicht heißen, dass es bereits im Stadium der vollkommenen geistigen Verblödung gewesen wäre, nein, das ginge möglicherweise zu weit; jemand aus diesen Kreisen hätte vielleicht noch das einfache Kopfrechnen beherrscht und die Pleite vorhersehen, wenn auch nicht vollständig abwenden können.

So nahm das Schicksal dergestalt seinen Lauf, indem es dort ansetzte, wo der unbedarfte, selbstverliebte Herrscher immer mehr und immerfort zusetzte, bei seinem Leibesumfang. Wie sagt schon der Volksmund: Dummheit und Arroganz gehen oft Hand in Hand. Eines Tages war er so aufgegangen, dass er aus allen Nähten platzte und seine Garderobe einer grundlegenden Erneuerung hätte unterzogen werden müssen. Dieser Tag fiel mit dem traurigen Umstand zusammen, dass die Schatzkämmerer verkünden mussten, die Schatzkammer sei endgültig leer und für derlei Firlefanz stünde keine einzige Golddukate mehr zur Verfügung. Kurz gesagt, man war pleite. An Kleidung von der Stange war, wie man sich ohne große Anstrengung denken kann, nicht zu denken. Das ließ den Kaiser Kokolores in eine grenzenlose Traurigkeit verfallen, so dass nun auch noch die einfachsten Amtsgeschäfte nicht mehr erledigt werden konnten. Er verließ tagelang nicht mehr sein in rotem und blauem Samt ausgeschlagenes Schlafgemach und jammerte und klagte ununterbrochen vor sich hin.

In Zeiten der modernen Kommunikationsmedien wie Internet, Fernsehen, Radio und Mobiltelefone nicht anders zu erwarten, verbreitete sich die Kunde in Windeseile bis in jeden Winkel des Reiches. Für überzeugte Zeitungsleser, die sich immer noch auf diese aus der Mode gekommene Weise informieren, die trotzig darauf bestehen, zum Frühstück gehöre, neben dem warmen Brötchen, Schinken, Käse, der Marmelade und dem Honig, dem Kaffee oder Tee, ein Druckererzeugnis, das man in die Hand nehmen und Seite für Seite umblättern kann, erst dann sei der Tagesbeginn vollkommen, sei noch tröstlich vermerkt, dass auch die wenigen verbliebenen Zeitungen an der Verbreitung der Nachricht beteiligt gewesen sind. Was die Aktualität betraf, natürlich in weitaus geringerem Umfang, da sie weder mit der Schnelligkeit noch der Unmittelbarkeit der neuen Medien mithalten können. Kurz gesagt, jeder Einwohner des Landes bis hinein in den entlegensten Winkel wusste nun über das Missgeschick, das dem Kaiser widerfahren war, Bescheid. Die Nachricht erreichte den armseligsten Tagelöhner, der inzwischen für einen Euro, so die landläufige Landeswährung, also einem Hungerlohn, arbeiten musste, und jeden Penner, wie die Ärmsten der Armen leichtfertig und geringschätzig genannt werden, deren Zahl sich unter den gegebenen Umständen verständlicherweise stetig vermehrte, und es kann und darf nicht verschwiegen werden, sie wurde nicht nur von jenen nicht gänzlich ohne Häme und Schadenfreude aufgenommen.

So erfuhren auch die zwei ebenso gewitzten wie talentierten Schneidergesellen Wusel und Wastel davon, die ohne Arbeit und Brot waren, da die Leute es sich nicht mehr leisten konnten, sich Kleider nach Maß anfertigen zu lassen, sondern in Billigmärkten und Zweite-handläden einkaufen mussten. Wie sie so im Schneidersitz, wie das Schneider zu tun pflegen, auf ihren gepfändeten Tischen saßen, die Nähnadeln fein säuberlich in Reih und Glied aufgereiht und das schöne, in allen Farben des Regenbogens schimmernde Garn vor sich, durchfuhr sie gleichzeitig der wahrscheinlich rettende Geistesblitz. Wie es so heißt, zwei Seelen, ein Gedanke!

Wusel und Wastel blickten sich schelmisch und verschwörerisch an, tuschelten so leise miteinander, dass wir, wären wir dabei gewesen, es nicht hätten hören können; und das ist auch gut so. Die Pointe der Geschichte soll selbstverständlich erst am Schluss verraten werden, die ihr, wenn es soweit ist, sowieso nicht glauben werdet, und dennoch der vollen Wahrheit entspricht.

Die beiden Schneiderlein machten sich nun voller Tatendrang auf den Weg, in ihren Rucksäcken ihr Handwerkszeug und im Kopf einen vortrefflichen Plan. Am Schlosstor angekommen, baten sie entschlossen um Einlass, indem sie sich bei der Torwache brüsteten, dem Kaiser ohne lange zu fackeln und ohne großes Brimborium neue und unvergleichlich schöne Kleider nach Maß auf den üppigen Leib schneidern zu können. Verständlich, dass der Wachtposten die Ankündigung mit Freude und Erleichterung vernahm, hatte auch er wie allen anderen Bediensteten des Hofes unter der Übellaunigkeit des Herrschers zu leiden. Also bat er die beiden Nadel-und-Faden-Künstler überaus freundlich näher-zutreten, um sogleich Bescheid zu geben.

Es dauerte auch nicht lange, und sie wurden in den Schlosssaal geführt, in welchem der Kaiser Kokolores schwach und hinfällig auf dem Thron hingestreckt mehr lag als saß. Er war nur notdürftig mit einem riesigen schwarzrotgoldenen Tuch bekleidet, bei dem es sich um die Landesfahne handelte, die als einzige groß genug war, die Blöße des Kaisers zu bedecken. Wusel und Wastel unterbreiteten dem Herrscher ihr Angebot, die schönsten Kleider zu einem Vorzugspreis aus dem Stand heraus zu nähen, so dass er bereits in einigen Tagen eine vollkommen neue und prächtigere Garderobe als je zuvor sein eigen nennen könne. Nach dieser an sich schon verblüffenden Behauptung schüttelten sie noch eine weitere Trumpfkarte aus dem Ärmel, sinnbildlich gesprochen. Sie verstiegen sich zu der Behauptung, dass die von ihnen kreierte neuartige Bekleidung sich vor allem dadurch auszeichne, dass nur kluge Leute sie sehen könnten, für Dummköpfe jedoch unsichtbar bliebe.

Der Kaiser wurde im Nu munter. Der Gedanke an nagelneue Kleider mit solch einmaliger Eigenschaft war zu verführerisch, so dass er alle Warnungen seines Schatzkämmerers, zum unbedingten Maßhalten, in den Wind schlug, und dachte bei sich vermeintlich gewitzt: Wie praktisch, zudem kann ich gleich die Fähigkeiten meiner Minister, Beamten und Höflinge sozusagen einer Nadelprobe unterziehen, schmunzelte er, begeistert ob seiner geistreichen Wortspielerei. Er wies seine Diener an, den beiden unverzüglich alles zur Verfügung zu stellen, was sie benötigten, um mit der Arbeit zu beginnen.

Ha, das hättet ihr mal sehen sollen! Heidewitzka, wie da die Nadeln und Scheren flogen! Um die beiden pfiffigen Schneider mit den feinsten Stoffen und Zierat versorgen zu können, ließ der Kaiser nun die Truhen und Tresore der Besserbetuchten im Lande plündern, auch die Hofbediensteten wurden nicht verschont, bei den Minderbemittelten war ohnehin nichts mehr zu holen. Heimlich, hinter vorgehaltener Hand, hörte man jetzt schon Flüche und Verwünschungen. Ach, du dummer, dummer Kaiser Kokolores!

Die Hofleute wurden angewiesen, den Fortgang der Arbeit in allen Einzelheiten zu verfolgen und ihm stündlich Bericht zu erstatten. Jeden Tag sollte ein Bulletin veröffentlicht werden, damit auch das gemeine Volk in vollem Umfang Anteil habe an einem unvergleichlichen Projekt, das, so kann man sagen, seinesgleichen suchte, als ob das nicht andere Sorgen gehabt hätte! Auch von der außergewöhnlichen Beschaffenheit der Kleider wurden alle Untertanen und Staatsdiener in Kenntnis gesetzt:

Nur den Augen der Dummköpfe werden sie verborgen bleiben!

Der ganze Hofstaat war ob dieser Mitteilung in Unruhe versetzt worden, wie denn der gemeine Pöbel sie zum Anlass zu einigen unehrerbietigen Frotzeleien nahm. Eine davon lautete folgendermaßen:

Kommt der Minister für innere Angelegenheiten zum Kaiser und fragt ihn: Hochwohlgeboren, wie befinden heute? Der Kaiser trägt seine neuen Hosen und antwortet: Bestens, lieber Schräubele, dank meiner neuen Beinkleider habe mich noch nie so wohl in meiner Haut gefühlt! Woraufhin Schräubele, obwohl sich ihm, wie bei dessen sprich-wörtlicher Dummheit nicht anders zu erwarten, lediglich die nackten, unästhetisch behaarten Beine des Herrschers darbieten, beeilt zu beteuern: Kein Wunder, sie sitzen ja auch wie eine zweite Haut!

Doch wie hieß es schon so schön in Mozarts Zauberflöte: Ein Weiser prüft und achtet nicht, was der gemeine Pöbel spricht! Ein guter Rat, an den wir uns alle einfach halten sollten.

Nun sehen wir, oder stellen wir uns vor, wie gespannt alle Stunde Abgesandte des Kaisers in die Nähstube lugten, um zu erfahren, wie weit die als unvergleichlich und erlesenen angepriesenen Gewänder wohl geraten sein mögen, und ob sich die Zuschneide- und Nähkünstler schon anschickten, Auskunft zu geben, inwieweit sie den hoch-gesteckten Erwartungen des Kaisers genügen würden, in der Hoffnung, dass er sein herrschaftliches Amt, wenn auch wie gewohnt eher schlecht als recht, aber immerhin wieder aufnähme. Die Regierungsgeschäfte lagen so gut wie brach, da niemand sich traute, ohne den allerhöchsten Segen zu regieren in der Befürchtung, man könne etwas verkehrt machen und hätte, wenn der Zeitpunkt gekommen und die alten Verhältnisse wiederkehren, es ausbaden müssen. Ein anschauliches Beispiel für die unerquicklichen Folgen des Absolutismus, in dem ein Einziger einzig und allein Entscheidungen trifft, und der lauter willfährige Duckmäuser hervorbringt. Es wäre dringend geboten gewesen, dass irgendjemand sich ein Herz fasste und bedeutete, wo’s längs geht, damit das friedliche und einst auch bedeutende Land Wirsindwer nicht in das für aufmerksame Zeitgenossen sich abzeichnende Chaos oder weitaus schlimmer in Anarchie versinken möge.

Doch sie trauten ihren Augen nicht recht, denn als sie auf die zwei, zweifellos fleißig arbeitenden Gesellen blickten, sahen sie zwar deren Handwerkszeug sich auf- und niederbewegen, aber ansonsten rein gar NICHTS! Kein Tuch, kein Hosenbein, keine Joppe, nicht ein einziges Hemdelein, und sei es nur aus Leinen, und noch so klein! Die Schneiderlein saßen zwar recht zierlich und geschickt mit gekreuzten Beinen auf ihren Tischen, Nadel und Faden waren auch parat, jedoch ein Ergebnis ihrer offensichtlichen Bemühungen war nicht zu erkennen. Sie trauten ihren Augen nicht, aber untereinander trauten sie noch weniger, eingedenk dessen, dass nur derjenige die Kleider nicht sehen kann, der ein rechter Dummkopf ist. Jeder dachte sich insgeheim:

„Sollte ich denn so ein Hohlkopf und Trottel sein, bisher hielt ich doch auf meine Klugheit große Stücke und meinte nur die anderen seien die Dummen?“ Es wurde ihnen ganz bang ums Herz, und angstvoll stellte sich ein jeder die ohnehin berechtigte Frage:

„Ja, tauge ich womöglich gar nicht für meine Stellung als Minister oder Staatsrat?“ und fürchtete um seinen Posten. Also schwiegen sie lieber still, kehrten zum Kaiser zurück und überboten sich in fantasievollen Beschreibungen der wahrlich unbeschreiblichen Kleidungsstücke, die entweder noch in Arbeit oder kurz vor der Vollendung seien. Der Kaiser konnte kaum noch an sich halten vor Vorfreude und war aufgeregt wie ein Kind.

Bald nahte der große Tag, da sich der Kaiser in seiner eine neue bahnbrechende Moderichtung einschlagenden Garderobe den Landes-kindern präsentieren wollte. Dies sollte im Rahmen eines groß angelegten Volksfestes, dem eine eindrucksvolle Parade vorausgehen sollte, stattfinden. Der Hofmarschall selbst hatte es sich nicht nehmen lassen, ein bis ins kleinste Detail ausgearbeitetes Programm zu entwerfen: Die Staatskarosse mit vier geschmückten, aufgezäumten Schimmeln sollte vorfahren, der Kaiser mit allen Rang- und Ehrenzeichen dekoriert auf dem mit purpurnem Samt bezogenen Prunksitz Platz nehmen, sodann im Schritttempo, damit auch jeder einen Blick auf ihn und seine schmucken Gewänder werfen konnte, am staunenden Volk vorbeirollen. In dem mittleren Teil des Zuges, zwischen all den Honoratioren und den gesamten Vertretern des Ministerrates, den Soldaten in ihren prachtvollsten Paradeuniformen, allen voran sollte der Generaloberst schreiten, der sich rechtmäßig als der beste Tambourmajor im ganzen Reich bezeichnete, da er die Kunst beherrschte, den mit dreifarbigen Kordeln und Quasten, rot, blau und weiß, geschmückten Tambourstab, nicht nur im doppelten Flickflack, was etliche beherrschen, sondern dreifach in die Luft werfen und mit traumwandlerischen Sicherheit wieder auffangen zu können.

Zuvor musste die notwendige Anprobe erfolgen, auch wenn die Schneider vorschriftsmäßig Maß genommen hatten, erforderte es die Berufsehre zu überprüfen, ob alles tadellos passen würde. Als Kokolores in atemloser Spannung und kaum noch zu bändigender Neugier das Ankleidezimmer betrat, ließ er blitzschnell seine Augen in die Runde gehen, um möglichst vorab einen Gesamteindruck der Garderobe erhaschen zu können. Zunächst sah er nichts, und machte sich keine weiteren Gedanken außer, dass er dachte: „Gewiefte Kerle, sicher wollen sie die Überraschung möglichst lange hinauszögern!“

Nun trat der Wusel vor und sagte: „Wollen Euer Hochwohlgeboren bitte ablegen?“, damit konnte nur das schwarzrotgoldene Tuch gemeint sein, mehr war ja nicht vorhanden zum Ablegen.

„Sehen, edler Herr, dieses erlesene Beinkleid, beachten, Euro Gnaden, die edlen Appreturen (das ist so Schneidersprache), die vollkommene Eleganz, die ziselierten Knöpfchen, die das Hosenbein abschließen?“

Und so weiter, und so fort, so ging es die ganze Zeit, und der Kaiser stand da mit hochrotem Kopf und offenem Mund, die Augen vor Schreck glasig und weit geöffnet. Um Himmels willen, grundgütiger Gott, steh mir bei, sagte er bei sich, ich sehe absolut nichts. Jetzt steht es fest, ich ahnte es schon immer, ich bin ein Einfaltspinsel, ein unfähiger Tropf. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schüttelte ihn gewaltig, als wolle er aus einem bösen Traum erwachen.

„Ah, Majestät sind außer sich vor Freude und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. So etwas haben Euer Allergnädigster noch nicht zu Gesicht bekommen, nicht wahr?“, drängten die Schneidermeister ob ihres angeblich gelungenen Werkes auf eine Antwort.

„Ja, ja, ganz außerordentlich, ich habe tatsächlich noch niemals etwas Derartiges, ähm, ähm, nicht gesehen! Gute Arbeit, wahrlich, ihr lieben Leute!“, und zog sich, das schwarzrotgoldene Tuch wieder aufnehmend und um sich schlingend, so würdevoll es eben noch ging aus dem Zimmer zurück. Wusel und Wastel rieben sich indes vergnügt die Hände. Der Tanz konnte beginnen!

Alles verlief wie geplant und am Schnürchen. Eine riesige Menschenansammlung war auf dem Schlosshof zusammengeströmt. Zur Feier des Tages waren die großen Tore geöffnet worden, um der Menge Einlass zu gewähren. Kamerateams und Berichterstatter aus aller Welt waren selbstverständlich zur Stelle, die das festliche Ereignis, heute auch Event genannt, vor allem nicht, wenn es um gekrönte Häupter geht, um keinen Preis verpassen wollten. Die Fernsehsender jubilierten, die Einschaltquoten schossen in die Höhe und die Telefonrechnungen auch. Per Telefonumfrage waren die Zuschauer in der Lage, direkt bei dem sogenannten „Ted“ anzurufen, den keiner kennt und von dem niemand weiß, wie er aussieht, und ihm mitzuteilen, ob und wie ihnen das ganze Spektakel gefallen hat. So sind heutzutage die Zeiten, sie können gar nicht schlecht genug sein, um darauf zu verzichten, sich auf „Deubel, komm raus“ unterhalten lassen zu wollen, oder wie es Neudeutsch heißt „fun“ zu haben. Dem einfachen, leicht beeinflussbaren Volke, das, wie man aus der Geschichte weiß, aus ihr nichts gelernt hat, muss zugute gehalten werden, dass die Presse im Vorfeld durch fortlaufende tagtägliche Berichterstattung die Spannung geschürt hatte. Also, die Erwartungshaltung war riesig!

„Wir stehen hier in der Residenz des Kaisers Kokolores von Wirsindwer und erwarten jede Minute, dass er das Schloss verlässt und sich den Zuschauern endlich in seinen prächtigen neuen Gewändern präsentiert. Es gab ja zuvor schon Lobgesänge und Vorschusslorbeeren für die, wie man hört, unvergleichlichen Kreationen, dass es allen anderen etablierten und namhaften Modeschöpfern die Schames- und Zornesröte ins Gesicht getrieben hat. Die beiden Couturiers sind ja nur ganz simple Schneidergesellen, in der Modebranche vollkommen unbeschriebene Blätter, die für den Kaiser Kleidung erfunden haben sollen, mit der nur Ludwig XIV., der sogenannte Sonnenkönig, mithalten könnte, wenn er nicht längst das Zeitliche gesegnet hätte, so wird gesagt!“ So oder so ähnlich tönte es nun aus den Lautsprechern in die guten Stuben.

Endlich war der große Augenblick gekommen! Dem Kaiser war zwar noch etwas mulmig zumute, aber er tröstete sich damit, dass all die Leute, die sich hier scharenweise eingefunden hatten, sein Hofstaat und die ganz gewöhnlichen Menschen da draußen, klüger als er selber seien und insofern seine neuen Kleider Würdigung und Beifall finden würden.

Unter Fanfarenklingen und Fahnenschwingen traten Kaiser Kokolores und sein Gefolge mit seltsam anmutenden hochroten Köpfen durch das pompöse Portal des Schlosses hinaus in Freie. Alles reckte die Köpfe und die Hälse, beides zusammen, weil ja eins zum anderen gehört. Ein gewaltiges, unüberhörbares Raunen ging nun durch die Menge, darauf dann eine Stille folgte, in der man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Einige in den vorderen Reihen blickten peinlich berührt zu Boden. Etliche kicherten auch, wurden aber mit strengen Blicken von den Sicherheitsleuten zur Ordnung gerufen. Hmmh ja, ich bin dumm, und wie steht es mit dir, Nachbar? Das wagte keiner zu sagen oder zu fragen. Also, blieb es bei dem betretenen Schweigen. Zuvörderst, auf den ersten besten Plätzen standen zwar wie üblich einige bestellte Jubler und Klatscher, die Fähnchen schwenkten und: „Hoch, hoch und hurra!“, riefen, aber das war auch alles.

Kokolores verharrte noch einige Minuten auf den Stufen des Palastes, um seinen Blick gnädig über die Volksmassen schweifen zu lassen und deren Huldigungen entgegenzunehmen. Als aber kaum ein Laut zu vernehmen war, kroch das unangenehme Gefühl in ihm hoch: Hier stimmt was nicht! Glücklicherweise unterbrach die kaiserliche Blaskapelle die beklemmende Stille, indem sie den Beginn der Parade schwungvoll mit eben der unerlässlichen Marschmusik einleitete, deren leidenschaftlicher Anhänger der Kaiser war. Es war sein Lieblingsstück, der Radetzky-Marsch, der gleich anfangs zu seinem Ergötzen intoniert wurde. Nun seufzte Kaiser Kokolores erleichtert und konnte sich, das sei vorweg geschickt, kurzfristig dem Trugschluss hingeben, dass nun alles gut sei oder werde. Mit Wohlwollen nahm er zur Kenntnis, dass sich auch der Hofnarr alle Mühe gab, die Menge bei Laune zu halten, richtiger gesagt, sie in gute Laune zu versetzen.

In den Reihen der Medienvertreter war blanke Panik ausgebrochen. Was sollten sie denn nur ihren Zuschauern sagen? Sie konnten ja nicht wissen, ob welche darunter waren, die etwas Bekleidenswertes an dem Kaiser sahen, klüger waren als sie selbst. Wenn sie sich noch solche Mühe gaben, sich noch so feste die Augen rieben und die Brillen putzten, nichts anderes offenbarte sich ihnen, als ein Mensch im Adamskostüm, nackt wie Gott ihn schuf. Krampfhaft versuchten sie zu retten, was nicht zu retten war, und die peinliche Situation mit einer bunten Mischung aus Wortgeklingel, einem Schwall hohler Sprüche, beigemengt und gewürzt mit Klatsch und Tratsch, was den meisten keine Schwierigkeiten bereitete, zu überbrücken. Da hatten es die Rundfunkberichterstatter einfacher, sie konnten zumindest frei von der Leber weg ins Mikrofon fabulieren. Zuhörer sind schwerlich imstande, den Wahrheitsgehalt einer Live-Übertragung zu überprüfen, sie können, wenn sie wollen, alles für bare Münze nehmen, müssen aber nicht, was seltener der Fall ist.

Nach einer Weile kam ein RTL-Reporter, die man zu den ausgebuffteren ihrer Klasse zählen darf, auf die glorreiche Idee, Augenzeugen zu befragen. Darin geübt Leute zu löchern, egal ob sie gerade ein Gemetzel überlebt haben oder ihnen ein freudiges Ereignis begegnete, beugte sich der Pressemensch des bedauerlicherweise sehr populären Senders zu der ihm am nächsten stehenden Person hinunter, bei der es sich um ein kleines Mädchen handelte. Das Kind stand direkt an der Absperrung, Hand in Hand mit seinem Großvater, der gegen derlei Rummel eine gewaltige Abneigung hegte. Aus reiner großväterlicher Zuneigung hatte er das Mädchen begleitet, das unbedingt dem Schauspiel beiwohnen wollte, weil es sonst am nächsten Tag im Kindergarten nicht hätte mitreden können, denn auch dort würde es mit Sicherheit, kaum zu glauben, aber leider wahr, Tagesgespräch sein, wie überhaupt Kinder gezwungen sind, allerlei Blödsinn im Fernsehen anzuschauen, sonst geraten sie in den Verdacht, hinterm Mond zu leben, verständlicher gesagt, sind nicht „in“.

„Nun, liebes Kind, du bist doch mit“, fragend den Begleiter anschauend, der ergänzte: „Großvater“, „hierher gekommen, um die schönen, neuen Kleider des Kaisers und die Parade zu bewundern?“

Das Mädchen, das den schönen Namen Traudelinde trug, antwortete wahrheitsgemäß, laut und vernehmlich für alle Umstehenden:

„Aber der Kaiser hat doch gar nichts an!“


Des Kaisers neue Kleider

Das schlug ein wie eine Bombe. Ein zunächst kaum vernehmbares Getuschel setzte ein, das immer lauter und lauter wurde, anschwoll und sich über den ganzen Schlossplatz verbreitete: „Haben Sie das gehört!? Der Kaiser hat doch gar nichts an, der Kaiser ist splitterfasernackt!“, bis auch der Hofstaat und der Kaiser selber es nicht mehr überhören konnten. Jetzt hörte man erste Lacher und Gekicher, erst noch vereinzelt und hinter vorgehaltener Hand, das in einem donnerndem Gelächter gipfelte und in Worten in Windeseile durch die Straßen und Gassen, in die Häuser und Wohnungen, über die Stadt hinaus aufs Land und über die Felder und Wiesen getragen wurde, die Bauern bei der Ernte erreichte, die die Arbeit unterbrachen, aufhorchten, die Köpfe hoben und sie schallend auflachend in den Nacken warfen. In den Wirtshäusern klopften sich die unentwegten Kneipenbesucher krachend auf die Schenkel und forderten vergnügt: „Darauf noch einen Schnaps und ein Bier!“, was zum Wohlsein der Wirtsleute beitrug.

Kurzum, die Heiterkeit schlug hohe Wellen, und Kaiser Kokolores war dem Gespött und der Schadenfreude preisgegeben!

Doch zurück zum Schauplatz des schmachvollen Geschehens. Da stand er nun, der Kaiser, in seiner ganzen blassrosa fleischlichen Körperfülle und schaute entsetzt an sich herunter. Seinem mächtigen Bauch hatte er zu verdanken, dass seine Sichtweise bis auf den Nabel beschränkt blieb. Tränen traten ihm in die Augen, die Welt brach zusammen, und er fiel in eine gnädige Ohnmacht. Da lag er nun hilflos am Boden, der mächtigste Mann von Wirsindwer, nackt wie ein Neugeborenes.

Eilig bedeckten ein paar Bedienstete Kokolores erneut mit der Landesfahne, die, das muss mal gesagt werden dürfen, auch wenn man nicht unbedingt ein Freund von Nationalflaggen ist, wirklich gute Dienste geleistet hatte. Die für solche Anlässe gerüsteten, bereitgestellten Rettungsdienste kamen zum Einsatz, und die Sanitäter waren erfreut, dass sich ihnen die Gelegenheit bot vorzuführen, welch eingespieltes Team sie sind. Der Kaiser wurde auf eine Trage gewälzt, in den Notarztwagen geschoben, und mit Tatütata ging es ins Herrschaftliche Krankenhaus ganz in der Nähe, in dem versucht wurde, den Unglücklichen mit einem Beatmungsgerät wieder ins Leben zurückzurufen. Es war wirklich schlecht um den Landesvater bestellt, ja, es hatte sogar den Anschein, als habe er nicht die Absicht, wieder zu sich zu kommen, was man ihm unter den gegebenen unglückseligen Umständen nicht verübeln konnte.

Den Zuschauern und Hörern vor den Fernsehern und an den Rundfunkgeräten in aller Welt ging nun endlich und gänzlich unbeabsichtigt ein Licht auf. Ein Kind hatte ihnen in seiner Arglosigkeit ihre eigene peinliche Dummheit vor Augen geführt. Niemand hatte es gewagt, das Offensichtliche auszusprechen, aus Angst sich zu blamieren, aus Feigheit, sich lächerlich zu machen, aus Mangel an Mut zur eigenen Meinung. Wie Schuppen fiel es ihnen allen von den Augen, sich dies einzugestehen, liebe Leute, was wir an Unzulänglichkeit, Feigheit und Schwäche oft genug bei uns selbst feststellen können und was wir bemüht sind, vor uns und vor anderen zu verbergen. Mag sein, dass diese plötzliche Einsicht da draußen an den Monitoren, den Bildschirmen und den Lautsprechern, nur vorübergehend war, und die meisten aus Bequemlichkeit wieder zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehrten. Doch im Land Wirsindwer war dem nicht so, und der Vorfall hatte, wie wir gleich erfahren werden, weitreichende Konsequenzen.

Der Kaiser befand sich noch im Zustand der Bewusstlosigkeit, streng genommen, allerdings nicht vom medizinischen Standpunkt aus, nichts Besonderes, als sich die gesamte Ministerrunde, alle im Dienst befindlichen Hof- und Staatsbeamten im Schloss versammelten, um zu beratschlagen, wie sie sich aus der Affäre ziehen könnten, bevor Schlimmeres passierte. Es könnte, welch eine ungeheuerliche, kaum auszudenkende Vorstellung, zu einer Revolution kommen! Ein Umsturz, ein Tumult, Unruhen, Aufruhr, Terror, womöglich Anarchie, Chaos, Gesetzlosigkeit! Kleinlaut, ängstlich und ratlos fanden sie sich im Großen Thronsaal zusammen und waren wieder einmal nicht imstande, sich zu eigenen Entschlüssen durchzuringen; der Kaiser befahl, und sie folgten ihm, so war es stets gewesen, und so sollte es auch bleiben, aber wie? Niedergeschlagen ließen sie die ansonsten hoch erhobenen Köpfe hängen.

Ihre Kopflosigkeit vergrößerte sich durch bedrohliche Geräusche, die durch die dicken Mauern, vorsorglich verschlossenen Portale und Fenster des Schlosses drangen; Stimmengewirr, laute Rufe, fordernde Rufe, die sich Gehör verschaffen wollten, abwechselnd unterbrochen von grausigem, furchteinflößendem Gelächter.

Eine ganze Weile saßen und standen sie nun schon unschlüssig beisammen. Langsam begannen sich trotz der Anspannung, menschliche Bedürfnisse zu regen. Magen und Gaumen wollten ihr Recht, es verlangte sie, die keinerlei Entbehrung gewohnt waren, nach Speis und Trank. Sie wagten nicht, die Glocke nach den Bediensteten zu läuten, denn es hatte sich, was zur allgemeinen Beunruhigung beitrug, von der Dienerschaft noch niemand blicken lassen. Kein gutes Zeichen!

Ihnen wurde in ihrer misslichen und, wie sie befürchteten, ausweglosen Lage Hilfe von einer Seite zuteil, von der sie es am wenigsten erwartet hätten.

Das kaiserliche rote Telefon läutete. Der Höchstkaiserliche Geheime Rat eilte heran, hob mit bebender Hand den Hörer und sagte mit zitternder Stimme: „Ja, bitte, wer da?“ Am anderen Ende meldete sich der Oberarzt des Hochherrschaftlichen Hospitals. Der Geheimrat schaltete auf Mithören, begierig und erwartungsvoll lauschend vernahmen die Anwesenden nun die folgenden Worte:

„Sehr geehrte Herren!“ Die Beteiligung von Damen an Regierungsämtern verstieß zwar nicht gegen die guten Sitten, war aber eher ungebräuchlich, auch eine Quotenregelung war bisher nicht erwogen worden; auch hier sollte sich in Zukunft einiges tun, das sei nur am Rande vermerkt, mag aber für die eine oder andere Leserin von Interesse sein.

Also noch mal von vorne:

„Sehr geehrte Herren! Ich habe Ihnen eine gute Nachricht zu überbringen. Der Kaiser Kokolores ist aus der Ohnmacht erwacht. Der Zustand des Patienten ist soweit stabil, und er befindet sich auf dem Wege der Besserung.“ An dieser Stelle unüberhörbare Seufzer der Erleichterung seitens der Versammelten. Doch der Herr Medizinalrat ist noch nicht zu Ende: „Der Kaiser hat den Wunsch geäußert, unverzüglich ins Schloss zurückzukehren, um persönlich eine Bekanntmachung von schwerwiegender Bedeutung abzugeben. Er bittet alle wichtigen und maßgeblichen Persönlichkeiten des Landes, alle Regierungs- sowie Medienvertreter sich zur Verfügung zu halten, und sobald er es sie wissen lasse, im Schlosse zu erscheinen.“

Was konnte das bedeuten? Verunsichert, achselzuckend, einige händeringend, andere kopfschüttelnd, blickten sie einander an.

Nun, es wurde so verfahren. Der Schlosssaal war gerammelt voll, als schließlich der Kaiser in Krankenhauskleidung, die von einer freundlichen, barmherzigen Seele von Krankenschwester notdürftig aus einigen Laken zusammengeflickt worden war, auf der Bildfläche erschien. Seltsamerweise machte der Kaiser einen geradezu fröhlichen und unbeschwerten Eindruck. Lange hatte man ihn nicht mehr so aufgekratzt gesehen. Kokolores verschmähte den angestammten Platz auf seinem Thron, nahm nichtsdestoweniger inmitten der Versammlung eine majestätische Haltung ein, alsdann verkündete er mit fester, salbungsvoller Stimme, dem Anlass angemessen, wie wir und die gespannte Menge gleich erfahren werden:

„Ich danke ab. Ich entledige mich aller Ämter und Würden. Ich verzichte auf den Thron. In meiner Eigenschaft als noch regierender Alleinherrscher ordne ich an, dass eine demokratische Volksabstimmung über die künftige Regierungsform stattfinden soll. Das Volk soll entscheiden, ob es eine Republik oder eine Monarchie will. Dieser meiner letzten Weisung ist unbedingt und unverzüglich Gehorsam zu leisten.“

Sprach’s und sank erschöpft auf eine in der Nähe befindliche Bank. Sein Kabinett zweifelte an seinem Verstand, aber noch nie im Leben war der Verstand von Kokolores in einem derartig klaren und geordneten Zustand gewesen.

Was war nur geschehen?

Als er im Hospital aus der Ohnmacht erwachte, überkam es ihn wie eine Erleuchtung. Er erinnerte sich sofort an alle Einzelheiten seines peinlichen Auftritts und an seine mit nichts zu entschuldigende maßlose Torheit. Beschämt musste er erkennen, dass er unfähig war, ein so großes und wichtiges Land zu regieren, von seinen Untertanen Schaden abzuwenden und Entscheidungen zu treffen, die dem Wohle aller dienen. Er erkannte, dass er ganz im Gegenteil durch bodenlose Eitelkeit und Unmäßigkeit das Land fast in den Ruin geführt hatte. Ihm wurde klar, dass er eigentlich gar kein Kaiser und Herrscher sein wollte, es war weder seine Bestimmung, wenn es auch die Tradition und Etikette, verkörpert von seinen gestrengen Eltern, von ihm gefordert hatten, noch jemals sein eigenster Wunsch und Wille gewesen. Diese Einsicht erfüllte ihn mit großer Dankbarkeit gegenüber den beiden Schneidern, die ihm, zwar auf drastische Weise, sein Unvermögen vor Augen geführt hatten, und dem Kinde, das als einziges die Wahrheit gesprochen hatte.

Einige Tage später trat Kokolores Darmbichel aus dem jahrhundertealtem Adelsgeschlecht derer von Darmbichel entschlossen und mutig vor sein Volk, das sich in atemloser Stille der Dinge harrend, die da kommen sollten, und es war bereits von großen Dingen die Rede, vor dem Schloss versammelt hatte. Wusel und Wastel waren beauftragt worden, ihm zu diesem gewichtigen Anlass einen formvollendeten, jedoch schlichten Anzug in einem diskreten Grau aus feinster Merinowolle auf den fülligen Leib zu schneidern, in dem er sich so pudelwohl wie nie zuvor fühlte. Die beiden schlitzohrigen, jedoch verdienstvollen Schneider waren einerseits heilfroh, dass ihnen der Kaiser verziehen hatte und andererseits, dass sie nun doch noch beweisen konnten, in der Tat so geschickt und fix im Umgang mit Nadel und Faden zu sein, wie sie anfangs behauptet hatten.

Der Anzug wurde denn auch ein vortreffliches Meisterwerk der modernen Schneiderkunst, komplettiert durch ein dezent matt-glänzendes hellblaues Hemd, farblich abgestimmt dazu eine bordeauxrote Krawatte mit dunkelblauen und nepalgelben Längs-streifen, verlieh dem Ganzen den letzten Schliff und Pfiff. Eine dezente Krawattennadel mit einer Krone aus Rubinen und Smaragden, die er noch in der fast leeren Schatztruhe gefunden hatte, gaben letztes bescheidenes Zeugnis von Amt und Würden, denen er im Begriff stand, endgültig Adieu zu sagen. Wer wollte dem Kaiser Kokolores daraus einen Vorwurf machen, dass er immer noch auf sein äußeres Erscheinungsbild, oder wie man heute sagt Outfit, allergrößten Wert legte. So von Grund auf kann sich ein Mensch von heute auf morgen nicht ändern, und ehrlich gefragt, haben wir nicht alle unsere großen und kleinen allzu menschlichen Schwächen? So äußerlich und innerlich aufs Gründlichste vorbereitet, hielt Kaiser Kokolores die wichtigste Ansprache seines Lebens:

„In meiner Eigenschaft als noch Alleinherrscher des Landes Wirsindwer, ausgestattet mit allen Mitteln der Macht, bestimme ich, dass ab morgen im ganzen Land ein Volksentscheid über die Abschaffung der Monarchie und die Einführung einer demokratischen Republik stattfindet. Jeder Bürger und jede Bürgerin jedweden Alters, das heißt auch Kinder im schulpflichtigen Alter, hierauf lege ich besonderen Wert, ist stimmberechtigt. Voraussetzung für die Gründung einer Demokratie ist mein Rücktritt und der Verzicht auf alle weiteren Rechte als Kaiser auch für eventuelle Nachkommen, von denen ich hier und jetzt selbst keine Kenntnis habe.

Um diese Voraussetzungen zu schaffen, erkläre ich hiermit vor dem Volke und allen Repräsentanten des Staates meinen Rücktritt und meinen Verzicht auf den Thron für alle Zeiten.“

Die Leute staunten nicht schlecht, als sie den Kaiser so staatsmännisch und vernünftig reden hörten. Sie riefen Hurra, jubelten, applaudierten, allerdings noch etwas unsicher, ob sie ihrer unbändigen Freude, den Kaiser und die gesamte kostspielige Monarchie loszuwerden, vor seinen Augen so unverhohlen Ausdruck verleihen durften. Etliche machten Luftsprünge und warfen Hüte und Käppis in die Luft, einige besonders Übermütige tanzten gar. Es kehrte eitel Sonnenschein im Staate Wirsindwer ein, auch wenn just in diesem freudigen Moment recht unpassend einige Regentropfen von einem fast wolkenlosen Himmel tropften. Doch das tat der Freude keinen Abbruch, zumal nach wenigen Sekunden ein prächtiger leuchtender Regenbogen sich wie eine farbenfrohe Girlande über das ausgelassene Treiben unter ihm spannte. Auch der Kaiser lachte und freute sich wie ein Schneekönig, das war lustig.

Wie die Volksabstimmung ausging, dazu bedarf es nicht mehr vieler Worte. 99,9 Prozent sprachen sich für die Abschaffung der Monarchie aus, wer die Abweichler waren, lässt sich denken. Jetzt war es vorbei mit den fidelen Zeiten, in dem aus dem Vollen geschöpft wurde, und das gemeine Volk das Nachsehen hatte. Neue Zeiten, glorreiche Zeiten der Gerechtigkeit, ganz ohne eine Revolution, nicht einmal einer friedlichen, standen unmittelbar vor der Tür. Damit das gediegene gute Maß übervoll wurde, erließ der Kaiser, bevor er die Abdankungsurkunde unterschrieb, noch rasch ein Gesetz, damit das Land gerecht unter den Bewohnern aufgeteilt werden konnte. Jeder Bürger und jede Bürgerin sollte eigenen Grund und Boden haben und ihn nach Gutdünken bestellen können. Hier gab es schon einige mürrische Stimmen, die sich als Stimmen der reinen Vernunft ausgaben, dass das zu viel des Guten sei, aber es waren nur einige wenige und sie fanden keinerlei Beachtung.

Aus einer Reihe von ehrenwerten, unbescholtenen Männern und Frauen wurden nun mittels einer freien Wahl in einem sogenannten Urnengang die Volksvertreter gewählt, die eine Regierung bildeten. So etwas nennt man eine Demokratie. Davon werdet ihr alle sicher schon gehört haben. Leider hat sie sich einen schlechten Ruf erworben, aber dafür kann sie nichts. Da erging es der Demokratie wie den Religionen: Die Absicht ist gut, aber die Menschen sind es weniger. Wie sagt so schön und richtig der Dichter: Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach. Aber die Bewohner von Wirsindwer bildeten da glücklicherweise eine Ausnahme. Sie hatten aus der Vergangenheit gelernt, und es nicht nur in schönen Worten auf Büttenpapier geschrieben, denn auch schöne Worte können tote Worte werden, zumal wenn sie auf Papier stehen. Hier irrt der Dichter, wenn er sagt: Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.

Die frischgebackene Regierungsmannschaft fackelte nicht lange, schritt unverzüglich zur Tat und ließ einen richtig frischen Wind durchs Land wehen: Das Schloss wurde Regierungssitz. In Bürger-beratungsbüros konnte sich die Bevölkerung Rat holen und eventuelle Beschwerden und Sorgen vortragen. Sie trafen stets auf offene Ohren. Die dort Beschäftigten gaben sich alle erdenkliche Mühe zu helfen und Lösungen zu finden, mussten sie sich selbst noch vor kurzem mit ähnlichen und gleichen Problemen herumschlagen. Das Land war zwar total heruntergewirtschaftet, doch es wurde voller Tatendrang, wie man so sagt, in die Hände gespuckt. In einer gemeinsamen Anstrengung, von manchen, die sich in politischen Begriffen auszukennen glauben, eine konzertierte Aktion genannt, begannen sie zu schaffen und zu werkeln, bis alles wieder soweit im Lot war, dass jeder Mensch sein Auskommen mit dem Einkommen hatte.

Allerdings wehren sich die braven Bürger und Bürgerinnen von Wirsindwer heute noch dagegen, Urheber dieses einfältigen Liedes gewesen zu sein, dass da lautet: Schaffe, schaffe Häusle baue. Wirklich reich wurde niemand, doch sie hatten verstanden, dass das Miteinanderteilen für das Gedeihen eines Landes segensreicher war, als nur an sein eigenes Wohlergehen zu denken. Das, liebe Leute, werdet ihr zugeben, ist wirklich märchenhaft!!!

Doch wie ist es Kokolores ergangen, was ist aus ihm geworden?

Ich erzähle den Fortgang der Geschichte nur allzu gerne, bei der ich, wie unglaubwürdig es auch klingen mag, mit einem Happy End, mit einem rundum glücklichen Ende, aufwarten kann. Ich liebe Happy Enden!

Dem Kaiser, dem berühmt-berüchtigten Liebhaber des reichlichen Essens, wurde das verantwortungsvolle Amt des Abschmeckers in der Küche eines renommierten Drei-Sterne-Restaurants angeboten, das sich, wie das Leben manchmal so spielt, ganz in der Nähe des ehemaligen Schlosses befand. Zu seinem Einstand hatten ihm Wusel und Wastel unentgeltlich eine wunderschöne Livree in Admiralblau aus gutem haltbarem Stoff mit goldenen Knöpfe auf den immer noch üppigen Leib geschneidert. Sie stand ihm vortrefflich zu Gesicht, und er wusste sich vor Freude und Dankbarkeit kaum zu lassen.

Kokolores war, wie bekannt, ein Kenner und Genießer deftiger Hausmannskost. Daher empfahl ihm der Küchenchef zunächst einen Kurs für die Küche der verfeinerten Lebensart sowie hochwertiger, biodynamischer Ernährung, die gerade zur Zeit sehr im Kommen sei, zu absolvieren. Das tat er gerne. Er sei für alles Neue offen, war seine Antwort.

Als hätte im Leben nichts anderes getan, sah man ihn binnen kurzem würdevoll und im Bewusstsein seiner großen Verantwortung durch die Restaurantküche stolzieren, hier eine einfache Sauce hollandaise, dort sahnige Amaretto-Mascarpone-Creme, an dieser Stelle ein raffiniertes Schokoladenmousse mit Orangensauce, verfeinert mit Olivenöl und Rosmarin, oder an jener eine frische Bouillabaisse kostend und für ausgezeichnet, gut oder nicht ganz ausreichend befindend. Die Köche und Beiköche waren voll des Lobes ob seiner Sachkenntnis und Geduld, denn in ihm hatten sie einen Küchenmeister aus Liebe zur Kochkunst gefunden, der wohl am Ende Kaiser in seinem Fach war.

Die beiden Schneider Wusel und Wastel, die mit Witz und Schalk unerschrocken eine beispiellose historische Wende herbeigeführt hatten, eröffneten ein Modegeschäft ganz in der Nähe, und Kunden aus aller Welt rissen sich um die Kreationen aus der „WuWa-Kollektion“. Sie waren nun berühmt wie heutzutage nur Popstars.

Dem kleinen Mädchen Traudelinde jedoch errichteten die dankbaren Bürger und Bürgerinnen ein Denkmal mit der Inschrift:

„Kindermund spricht Wahrheit Grund“

Die Bewohner von Wirsindwer verehrten es bis an sein Lebensende wie eine Heilige. Eine großzügige Rente sorgte dafür, dass weder Traudelinde noch ihre Angehörigen sich jemals finanzielle Sorgen machen mussten.

Wie erstaunliche und krumme Wege das Schicksal manchmal geht, hier hat man ein wirklich exemplarisches Beispiel dafür gefunden. Und die Moral von der Geschicht’ muss jeder für sich selber finden.

Märchen im neuen Gewand

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