Читать книгу Immer kommt der Tag ganz plötzlich oder der blaue Elefant - Dagmar Meyer - Страница 5

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Weiß sind die Felder,

Träume von Freuden im Schnee.

Gestern war´s – nicht heut´.

2 Februar

„Liebste, was tun wir hier? Komm, lass uns nach Hause gehen.“

Ich schrecke hoch und knipse die Lampe an. Die Nacht hält die Welt noch fest umklammert.

Ganz deutlich habe ich deine Stimme gehört, so wie ich sie im Krankenhaus gehört habe, als ich die Tür zu deinem Zimmer öffnete, du schräg auf der Bettkante saßest, schwanktest und ich zu dir stürzte, um dich vor dem Herausfallen zu bewahren. Du konntest dich aus eigener Kraft nicht mehr bequem zurücklegen. In höchster Not rief ich nach der Schwester, gemeinsam schoben wir dich zurück in die Waagerechte. Aufstehen wolltest du, das Gehen üben, mit dem Ziel, bald nach Hause zu kommen.

Liebste, lass uns nach Hause gehen.

Deine Stimme nur noch ein leises Flüstern. Mir blutete das Herz. Nein, du würdest nie mehr nach Hause gehen. Ich wusste es.

Oft höre ich dich diese Wörter sagen, wenn Alpträume mich nachts aus dem Schlaf reißen und in eine Realität zwingen, die ich nicht wahrhaben, ja, nicht haben will.

Es ist nicht wahr, dass ich nun allein bin. Es ist nicht wahr, dass ich umgezogen bin. Es ist nicht wahr, dass ich dich nie mehr umarmen kann, dass du mich nie mehr küssen wirst, dass deine Arme mich nie mehr warmhalten werden, wenn ich, wie so oft, friere. Es ist alles nicht wahr, und „nie mehr“ gibt es nicht. Gleich wirst du zur Tür hereinkommen und „halli hallo“ rufen, wie du es beim Heimkommen immer getan hast. Es kann nicht anders sein. Bis die Wirklichkeit sich durchsetzt. Dann ist der Absturz brutal, mit schmerzhaftem Druck auf der Brust und tränennassen Kissen. Immer wieder.

Nein, die Eine-Person-Welt will ich nicht.

Dabei kenne ich Ort und Umgebung meiner Wohnung aus einer Zeit, bevor unser gemeinsames Leben begann, das sich jetzt auch Vergangenheit nennen lassen muss und sich zur vergangenen Vergangenheit gesellt. Ich erinnere mich an Wälder und Wege, die ich vor vielen Jahren gegangen und gejoggt bin, an Menschen, die die gleichen Wege gegangen und gejoggt sind, am selben Tag und um die gleiche Zeit: Wir waren eine Gruppe, du und ich waren ein Teil von ihr; du gehörtest zum Trainerteam, blaugraue Augen unter buschigen Brauen, schmales, gebräuntes Gesicht, gut hast du ausgesehen.

Sooft sind wir dort gelaufen, dass ich heute meine, jeden Baum und Strauch rechts und links des Weges noch zu kennen. Von der Firma, in der du gearbeitet hast, hast du mir auf der Joggingrunde erzählt, von deiner Arbeit als Papieringenieur und von dem neuen Job als Qualitätsmanager, der in jenen Tagen gerade installiert worden war.

Stell dir das bitte einmal vor. Ich sitze vor einem leeren Schreibtisch, nur mit meinem Computer und Terminkalender darauf, und meiner Kaffeetasse natürlich, mit einer ganz neuen Aufgabe: Qualitätsmanagement. Buchstäblich bei null fing ich wieder an.

Qualitätsmanagement, was soll das denn sein? Wozu ist das gut?

Du hast es mir erklärt, ich hörte dir zu und bewunderte dich im Stillen. Im Laufe der nächsten Jahre habe ich gesehen, wie maßgeschneidert der neue Job für dich war, wie er zu deinem logischen Denkvermögen, zum dir gegebenen Perfektionismus in Organisation und Darstellung von Abläufen passte; deine Grafiken und Schriftstücke waren vollkommen in Inhalt und Ausführung, die Einladungen zu deinen Filmabenden perfekt.

Doch nicht nur solche bedeutenden, auch die kleinen Ereignisse sind mir im Gedächtnis geblieben, denn hier im Wald nahm das „Uns“ seinen Anfang.

Da war die Blindschleiche, die sich urplötzlich vor meinen Schuhen krümmte und mich vor Schreck zu einem Satz ins Gestrüpp zwang, das den schmalen Weg zu beiden Seiten säumte; da war die abschüssige Stelle auf dem Weg, an der ich aus Unachtsamkeit über eine Baumwurzel stolperte und heftig hinschlug.

Ins Krankenhaus musste ich dich fahren zum Nähen der klaffenden Wunde am Unterarm. Zwei Tage später gingen wir dann den ganzen Laufweg noch einmal ab.

Du mit einer großen, gefährlich aussehenden Axt bewaffnet, du, der friedliebendste Mensch, den ich je kannte. Und ein Sicherheitsfanatiker warst du auch. Du hast alle Wurzeln, die zu weiteren Stolperfallen für Jogger und Spaziergänger hätten werden können, kurz und klein gehauen. Wir redeten die ganze Zeit über dies und das, spürend, dass da mehr war als sportliche Verbundenheit, dass die Nähe immer näherkam, dass da zwei Pole waren, die sich anzogen. Diesen Marsch durch den gewitterschwangeren Wald habe ich nie vergessen, wenn auch das grüne Blümchenkleid, das ich damals trug, längst im Altkleidercontainer gelandet ist. Kann ich den vertrauten Weg jemals gehen, ohne dich als Axt schwingenden Rübezahl vor mir zu sehen?

Dabei warst du von deiner Figur her gewiss nicht Rübezahl, eher mittelgroß, schlank und sehr sportlich.

Wo sind sie geblieben, die Lauffreunde von damals? Die Gesichter der Läufer von heute sind mir fremd und naturgemäß viel jünger. Die Sportler von damals sind alt, sagt man mir, die ich auch alt bin, sie wollen oder können nicht mehr joggen, sind krank oder verstorben. Ich verstumme.

So gehe ich nun die alten Wege allein, bleibe an dem Gedenkstein stehen, der damals gesetzt worden war für deinen Freund, der das Leben nicht mehr ertragen und freiwillig verlassen hatte. Schuldgefühle blieben dir dein Leben lang.

Warum habe ich nicht gemerkt, dass es ihm so schlecht ging, dass er sich mit Selbstmordgedanken trug? Warum nicht? Wir waren doch sooft zusammen.

Jeder Mensch hat doch auch ein eigenes Leben und du mit deinem neuen Arbeitsfeld ...

Das war schwach. Ich fühlte mich hilflos und schwieg.

Ich habe seine Sorgen nicht ernst genug genommen, ich hätte aufmerksamer sein müssen.

Ich weiß, sein selbst gewählter Tod hat dich dein Leben lang belastet.

Und jetzt läufst du allein im Wald herum, das gefällt mir auch nicht, du als Frau ...

Und ich frage dich: Was soll ich denn machen? Sag es mir bitte! Im Moment sehe ich keine Alternative. Entweder allein oder gar nicht. Ich kann doch nicht irgendjemand bitten: Geh mal mit mir spazieren. Das siehst du doch ein? Den ganzen Tag zu Hause sitzen, das kann ich nicht. Schon Großmutter und Mutter waren ausgeprägte Naturläufer, das innere Bedürfnis nach dem Draußen sein habe ich wohl geerbt. Das bedeutet logischerweise, dass ich mich daran gewöhnen muss, Wege allein zu gehen. Basta.

So spaziere ich oft hinaus durch die Felder, die gleich am Haus beginnen, bis zum höchsten Punkt der Umgebung, von dem aus man einen herrlichen Rundblick hat über Wiesen und Hecken, Dörfer und Straßen bis dort, wo die dunkle Linie des Schwarzwaldes meine Augen ausbremst. Oben stehen Bänke und Liegen aus Holz zum Ausruhen. Am Himmel schweben vereinzelt Raubvögel und beäugen mich misstrauisch, sitzen auf extra für sie eingerammten Stangen und halten nach herumlaufendem Futter Ausschau. Erst, wenn ich schon recht nahegekommen bin, schwingen sie sich mit trägem Flügelschlag in die Luft, als sei ihnen mein Erscheinen an diesem stillen Ort gar nicht recht. Kummerberg habe ich diese Erhebung für mich genannt, weil ich diesen Spaziergang am liebsten dann unternehme, wenn mein Herz schwer ist. Ich liebe diese Einsamkeit, weil Erinnerungen ungestört zu dir fliegen, weil die Tränen fließen und von meiner Seele den Druck mitnehmen können, der sich wie Schorf stets von neuem auf sie legt.

Am Abhang grast eine schweigende Herde Schafe, die mich nur kurz zur Kenntnis nimmt und dann wieder den Kopf senkt. Wunderbar frischer Wind treibt flinke Wolken vom Schwarzwald herüber zu mir. Für ein Weilchen setze ich mich ganz still auf eine der Balkenbänke, bevor ich den Rückweg antrete und mich ermahne: Heule nicht, nicht schon wieder.

Hier am höchsten Punkt der Umgebung brausen oft Wind und Sturm über die Landschaft, über die kurvige Straße mit den Spielzeugautos weit unten und über die Bahn, die pfeilgerade zum nächsten Bahnhof eilt.

Ich stemme mich gegen den Wind, blicke über den Horizont hinweg bis nach Tibet und sehe uns unterwegs auf Schotterpisten, von Stürmen umtost, die ihre ganze Palette an Regen-, Hagel- und Schneeschauern auf uns herabschütteten. Doch wir fühlten uns eins mit der rauen Natur zwischen den eisigen Bergriesen, an deren Flanken jenseits des Tales hin und wieder Lawinen abbrachen und in die Tiefe donnerten wie Düsenjäger im Sturzflug. Schweigend wanderten wir dem nächsten Zeltcamp entgegen. An solchen Tagen hast du deine Filmkamera, die du sonst nie aus der Hand gelegt hast, sicher in der blauen Tasche verstaut. In den zwanzig Jahren Trekkingreisen, sei es hoch in den peruanischen Anden, oder im Aufstieg durch den Bergregenwald zum Kilimandscharo in Afrika, oder wandernd durch die vulkanische Landschaft Indonesiens -, stets baumelte die blaue Filmtasche vor deinem Körper und umklammerten deine Finger die Kamera. Du und sie waren eins auf allen Reisen, kein Foto von dir ohne Kamera und Tasche. Ohne sie konntest du nicht sein, gib´ s zu. Entsprechend lädiert sahen beide am Ende ihres und deines Lebens aus.

In der Fachliteratur habe ich von den Wellenbewegungen der Trauer gelesen, von Phasen der Ablenkung und Erleichterung durch Aktivitäten und solchen des Wiedereintauchens in den großen Kummer. So empfinde ich auch: Nach einer von Tränen begleiteten Wanderung spüre ich, dass eine wohltuende Leere in mir ist, als ob das Herz leergelaufen und aller Schmerz vorübergehend ausgewaschen sei.

Auf dem Rückweg gehe ich an dem großen Stein vorbei. Da stehe ich dann – und die Tränen fließen wieder. Ich lasse es zu, bin aber froh, dass nur sehr wenige Menschen auf diesem Weg gehen. Wenn ich jemanden kommen sehe, setze ich die Sonnenbrille auf, meine Versteckbrille, die ich jetzt immer in der Tasche habe. Du weißt doch, welchen Stein ich meine?

Natürlich, da haben wir einmal um Mitternacht meinen Geburtstag gefeiert, als vom Schwarzwald ein Gewitter hereinzog. Dunkle Wolkenbänke hingen schon über dem mächtigen Kirchturm der Stadt, Blitze zuckten über den ganzen Ort, ein höchst dramatischer Anblick.

Ich hatte Sorge, dass Sturm und Regen mir die geplante Überraschung verderben würden. Am Nachmittag hatte ich eine kleine Flasche Sekt und zwei Gläser hinter dem Stein versteckt. Unsere abendliche Joggingrunde führte uns immer dort vorbei, das Timing stimmte in etwa, weil ich das Lauftempo wegen der näherkommenden Blitze und des grollenden Donners trotz keuchender Lungen anzog.

Und ich war hellauf begeistert, dass du plötzlich so ein Tempo draufhattest, führte es auf das regelmäßige Training zurück. Pustekuchen! Jedenfalls gelang der Coup. Unter einem schaurig schwarzen Himmel stießen wir auf dein neues Lebensjahr an. Das Gewitter brach erst los, als wir schon wieder im Haus waren.

An diese besondere Geburtstagsfeier habe ich mich später immer wieder gern erinnert.

Im Laufe der Zeit wird so ein Ort, dessen Anblick beim ersten Wiedersehen wie Feuer brennt, immer weniger Schmerzen bereiten, habe ich gelesen, bis er eines Tages sich verwandelt in einen solchen der liebevollen Erinnerung, an dem ich mit einem Lächeln im Gesicht stehen werde. Noch kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen.

Aber da ist schon etwas Wahres dran: Gegen Ende des Jahres werde ich wirklich erfahren haben, dass ich mich dort oben hinstellen und zu dir sagen kann: Hör mal, mein Lieber, jetzt ist Schluss mit der ständigen Heulerei. Ich will nicht mehr. Jedenfalls nicht immer wieder.

Ja, so werde ich mit dir reden. Später.

Die Tage vergehen.

Anfangs glaubte ich, jeder einzelne würde wie ein Mühlstein an meinem Hals hängen. Ich messe sie von deinem Todestag an und wundere mich, dass immer wieder ein Morgen anfängt, ein Tag vergeht, der Abend kommt und die Nacht mich zu einem neuen Morgen trägt.

Die Tage vergehen.

Die Zeit ohne dich wächst unaufhörlich, reiht einsame Stunden aneinander und ist nicht auszubremsen. Die Renovierungen in der Wohnung gehen weiter. Die Dachfenster werden ausgetauscht, die Platten auf der Terrasse erneuert. Der Frühling steht, noch zögernd, hinter Wald und Feld und schickt als Vorhut heftige Windböen über Terrasse und Pflanzkübel. Sie rütteln an den Jalousien, an allem, was nicht festgezurrt ist. Noch sind mir die Geräusche um mein neues, altes Zuhause fremd, zum Beispiel das Heranrauschen der S-Bahn bei entsprechender Windrichtung; noch halten die bekannten aus vergangenen Jahren meine Ohren besetzt, zum Beispiel das endlose Rauschen der Autobahn. Die Zeit wird sie vertreiben und neue zu gewohnten werden lassen.

Die Tage vergehen.

Ich schreibe in mein Tagebuch und spüre, dass es mir guttut, Gedanken und Gefühle aufzuschreiben. Wenn ich sie dem Papier anvertraue, wird mir leichter ums Herz. Irgendwann fangen die Buchstaben vor meinen Augen trotzdem an, in Tränen zu schwimmen; ich schalte den Laptop aus. Nichts geht mehr.

Die Tage vergehen.

Ich habe mir das lokale Blättchen gekauft und gesehen, dass es sehr viele Vereine mit zahlreichen Veranstaltungen im Ort gibt, von Sportvereinen bis zu kulturellen Einrichtungen. Die Woche hat sieben Tage, die ich unbedingt mit einigen Terminen bestücken muss, um mich von mir und meiner Trauer abzulenken.

„Sie müssen unter die Leute gehen“, hat der Arzt gesagt, als ich ihn nach einer Kur fragte, „gehen Sie in einen Sportverein oder Ähnliches, das ist jetzt das Richtige für Sie.“

Also Sportverein. Ich suche mir Termine für eine wöchentliche Gymnastik- und eine Yogastunde heraus. Sport ist gut. Zwei Termine in meinem Kalender. Der Anfang ist gemacht. Ich starre auf die eingetragenen Tage und Uhrzeiten, als ob ein Lottogewinn dastünde. Wie wichtig solche banalen Dinge werden können! Jeder Termin wird zu einem Pfosten in meinem neuen Leben, an den ich mich klammern kann. Im Laufe der kommenden Wochen werden noch mehr feste Zeiten dazukommen.

Unsere gemeinsamen Termine gibt es nun nicht mehr: Kein Tanzclub, kein Konzert-oder Kinobesuch zu zweit. Im letzten halben Jahr deines Lebens führten uns Termine zum Hausarzt, zum Röntgenfacharzt, ins Krankenhaus und zurück nach Hause. Nach ein paar ruhigen Wochen begann der Kreislauf von vorne. Bis das Krankenhaus zu deinem ungewollten und endgültigen Zuhause wurde. Zu unserem. Oft fuhr ich nur zum Schlafen zurück in die Wohnung.

„Komm doch zu uns in den Literaturkreis“, sagt eine Bekannte zu mir, die ich von früher kenne und die ich zufällig auf der Straße treffe. Bücher zu lesen ist Bestandteil meines Lebens von Kindheit an, über sie zu diskutieren in einem Kreis Interessierter hört sich gut an. Ich nehme die Einladung an, so gesellt sich ein Literaturkreis, also etwas für den Geist, zu Gymnastik- und Yogastunde. Ich bin sicher, dass du das gut findest.

Die Woche erhält wieder Struktur, sobald sich erste Wiederholungen einstellen, es zur Gewohnheit wird, montags hier- und dienstags dorthin zu gehen. Wie schnell ich mich daran gewöhnt habe, wie dankbar ich bin, dass um mein neues Leben ein Rahmen sichtbar wird, der das Herausfallen aus der Welt verhindert. Das Gefühl Geborgenheit schlägt die ersten, zarten Wurzeln, wenn ich mit anderen an einem Tisch sitze oder im großen Kreis auf Gymnastik- bzw. Yogamatten. Ein Teil in einem größeren Ganzen zu sein, wird für mich überlebenswichtig.

Der Kontakt zu ehemaligen Kolleginnen war fast ganz eingeschlafen. Klar, wir zwei waren uns die meiste Zeit genug und hatten darüber hinaus unsere gemeinsamen Hobbys. Jetzt verspüre ich das Bedürfnis, mit diesen Frauen zu reden, zu schauen, wie sie ihr Leben meistern, denn verstorbene Partner gibt es auch hier.

Also rufe ich an. Die Vertrautheit aus langen Berufsjahren stellt sich schnell wieder ein. Aus dem ersten Telefongespräch werden viele, wird eine Kaffeestunde, aus der einen viele im Laufe des Jahres. Aus dem anfänglichen „Wie geht es dir?“ kommen wir schnell weg zu wichtigeren Dingen; so ganz nebenbei erhalte ich Antworten zu den wirklich bedeutenden Fragen: „Wie hast du die ersten Tage und Wochen nach dem Tod deines Mannes überstanden? Wer oder was hat dir am meisten geholfen?“

Wie gut tut es zu hören, wie andere mit den bisher ungekannten Problemen und besonders mit dem noch ungewohnten Alleinsein fertig werden; im regen Austausch über Wochen und Monate zu erfahren, wie sie ihr Leben organisieren und dabei auf so manche gute Idee für die Überwindung eigener Schwierigkeiten zu stoßen; mitzufühlen, wenn Krankheiten und Schmerzen sie plagen, und die gibt es im Laufe der Zeit nicht zu knapp. Und dankbar anzunehmen, dass sie ehrliches Mitgefühl zeigen und besonders in diesen ersten Monaten bereit sind, meine Tränen zu ertragen.

Bis zum Ende des Jahres würde sich eine feste Frühstücks- und Geburtstagsrunde etabliert haben, die gerade am Anfang meines Weges aus der Trauer in ein neues Leben so wichtig für mich war und bis heute wichtig geblieben ist.

Keine Sorge, ich habe dich trotz der Termine nicht vergessen. Jede Woche wandere ich hinaus zu deinem Grab, gehe durch Wiesen und Felder, manchmal unten am Fluss entlang, manchmal weiter oben auf der Höhe, genieße die frische Luft und halte nach Vögeln Ausschau.

Sag mal, erinnerst du dich an die Plattform, auf die man hinaufsteigen und von der aus man Wasservögel auf einem kleinen See beobachten konnte?

Ja, natürlich. Dort haben wir oft für eine Verschnaufpause angehalten, wenn wir auf einer Radtour waren. Erholsam war es, die Tiere eine Weile zu beobachten und die Stille zu genießen.

Stell dir vor, die Vögel sind verschwunden, der See ist ausgetrocknet, der Ausguck verwahrlost. So traurig ist das. Vieles, was einmal eine Bedeutung in unserem Leben hatte, ist fort, vergangen. Bevor du mir Theatralik vorhältst, bin ich lieber still. Aber schade ist es schon.

Sonntagsfrühstück.

Du weißt, was ich meine: der besonders hübsch gedeckte Tisch mit allem, was du so gerne mochtest. Nie vergaß ich, das Radio mit klassischem Konzert einzuschalten, in meinen Augen war diese Musik der rechte Rahmen für den Sonntagsgenuss. Manchmal stand ein Glas Sekt neben der Kaffeetasse. Frühstücken und plaudern – wie haben wir diese Zweisamkeit genossen.

Dann hast du oft aus deiner Kindheit und Jugend erzählt. Unglaublich, was ihr Jungen alles so angestellt habt. Von Straßengangs und heftigen Prügeleien war die Rede. Kann man sich das bei dir vorstellen? Und vom Schwimmen im Rhein.

Wenn die großen Schleppkähne den Rhein heraufkamen, haben wir uns ins Wasser gestürzt, sind auf sie zu geschwommen, haben uns an der Bordwand festgekrallt und ein ganzes Stück mitziehen lassen, obwohl das streng verboten war. Und irgendwann mussten wir dann loslassen, ans Ufer schwimmen und den ganzen Weg zurücklaufen, barfuß. Das war dann heftig. Den Eltern haben wir natürlich nichts davon erzählt.

Von den Tieffliegern im letzten Kriegsjahr hast du mir immer wieder berichtet und von gefundener und aufgehobener Munition, mir, die ich damals ein sehr braves Mädchen war. So waren die Zeiten, als der Krieg gerade zu Ende ging.

Alles vorbei, bis auf die Musik. Die schalte ich auch bei meinem Eine FrauSonntagmorgenfrühstück ein. Klassische Musik beruhigt mich, vielleicht, weil sie schon viele Jahre alt ist und Kontinuität vermittelt, ein Gefühl von Unzerstörbarkeit in meinem zerstörten Leben. Sie verbreitet Ruhe und Harmonie da, wo in diesen Tagen weder das eine noch das andere ist. Gefühle, die ich doch so bitter nötig habe.

Auf der Fensterbank neben meinem Tisch liegt ein Päckchen Taschentücher. Feuchte Augen statt zärtlicher Worte, Saft statt Sekt, neben dem Teller mit schnell gerichteten Broten und der Tasse Kaffee Buch und Brille statt deiner streichelnden Hand. Es schmeckt nicht.

Das Geheimrezept für den Sonntagmorgen habe ich noch nicht gefunden. Überhaupt die Wochenenden.

Die sind gekennzeichnet mit dem Wörtchen „kein“. Es klebt an ihnen wie das Etikett am neuen Kleid. Kein Sportverein, keine Yogastunde, kein Shopping, kein Arztbesuch und kein Frisör. Keine Einkäufe in Supermärkten, in denen unter der Woche das Leben wuselt. Wenn die letzten Kunden ihre Einkäufe in den Autos verstaut, die Händler auf dem Wochenmarkt ihre Stände abgebaut und den Boden sauber geputzt haben, wenn Geschäftsleute ihre Türen abschließen und ihre Rollos herunterlassen, wenn nur noch ein Reinigungsfahrzeug seine einsamen Runden dreht, erstirbt das Leben in den Straßen und vor den Häusern schnell. Menschen ziehen sich in ihre Privatheit zurück, zu ihren sportlichen und familiären Unternehmungen. Und ich?

Auch Kinder und Enkel wollen ihr Familienwochenende haben, ich kann mich nicht ständig selbst einladen oder an ihre Aktivitäten anhängen.

Also erledige ich sonntags notwendige Schreib- und Aufräumarbeiten, lese in meinen Büchern, lackiere die Fingernägel, wasche Wäsche und repariere Notwendiges. Wenn ich zu solchen handwerklichen Tätigkeiten überhaupt in der Lage bin. Wenn nicht, muss ich mir überlegen, wen ich um Hilfe bitten kann. Und das wird von nun an öfters der Fall sein. Zu den handwerklichen Alleskönnern gehöre ich nun wirklich nicht, wie du weißt. Viel mehr als das Einschrauben einer Glühbirne war nie.

Eine feste Partnerbeziehung bringt Abhängigkeiten hervor. Die Arbeiten sind zwischen den Partnern aufgeteilt. Was ich nicht kann, machst du, was du nicht kannst, tue ich. Keine Notwendigkeit, etwas vom Geschäft des anderen zu lernen. So ist es seit ewigen Zeiten. Und jetzt? Alle Notwendigkeiten liegen zu hundert Prozent bei mir. Da siehst du, was du mir eingebrockt hast.

Wochenenden können kritisch sein, besonders bei Schlechtwetter, wenn kaum ein Spaziergang möglich ist. Ich muss vermeiden, dass die Samstags-oder Sonntagsstunden gähnend in einer Ecke hocken und mich gelangweilt anstarren. Also lege ich mir schon ein oder zwei Tage vorher ein Programm zurecht, das mich durch das Wochenende trägt.

Und sehne mich nach den Wochenenden mit dir.

Inzwischen habe ich gelernt, alleine ins Café zu gehen, auch in die Pizzeria. Aber in ein „richtiges“ Restaurant traue ich mich alleine noch nicht, dahin, wo am Samstagabend die Pärchen sitzen bei einem Glas Wein, Familien einen Geburtstag feiern oder eine Gruppe Freundinnen tratscht. Ich frage mich, warum Alleinbleibende, in der Mehrzahl Frauen, sagen wir mal im fortgeschrittenen Alter ab sechzig, sich häufig so zurückziehen und nicht mehr ausgehen; ich bin beileibe nicht die Einzige, wie ich im Laufe der Wochen und Monate erfahre. Gibt nur der Mann uns Frauen die nötige Sicherheit im Auftreten? Nicht nur ich war es gewohnt, dass der Herr vor der Dame das Lokal betritt und sie so gegen unter Umständen lästige Blicke abschirmt. Jetzt stehe ich sozusagen „nackt“ da.

Auch scheint es so, dass wir zurückbleibenden Frauen der älteren Generation einen Teil unseres Selbst im Laufe einer Partnerschaft irgendwo ganz hinten im Kleiderschrank versteckt oder in die unterste Schublade des Schreibtisches gestopft haben; unbewusst, um der Harmonie des gemeinsamen Lebens willen. Haben wir nicht gelernt, einen Schritt hinter den Mann zurückzutreten? So war es doch üblich durch viele Jahrhunderte, unsere Mütter und Großmütter haben es uns genauso gelehrt. Und was nun, wenn der Herr des Hauses nicht mehr da ist? Zurücktreten ist nicht mehr. Im Gegenteil: Gefordert ist der Schritt nach vorn.

So wie ihn die Frauen getan haben, die aus der Jahrhunderte alten Rolle als Hausmutter ausbrachen, Mädchen und Frauen den Zugang zu Gymnasien, Universitäten und Wahlurnen erkämpften und so tradierte Rollenbilder hinter sich ließen. Noch nie ist mir so deutlich geworden wie in diesen Wochen, welchem Widerstand sich die Frauen damals entgegengestellt haben. Und wie ist es heute? In unserer Gesellschaft sind die Einstellungen gegenüber Ehe und Beziehungen zwar liberaler, aber der soziale Druck, einen männlichen Partner haben zu müssen, schwebt um Singlefrauen wie ein Pesthauch.

In den kommenden Wochen und Monaten meines neuen Singledaseins wird mir immer klarer, meine seelischen Fäuste ballen zu müssen. Ich sehe dich nicken und höre dich sagen, dass ich es lernen werde, in nahezu Allem die alleinige Entscheiderin zu sein; sein zu müssen, ob ich will oder nicht. Ich sage dir: ich will.

Ich werde Frauen treffen, die diesen Weg seit Jahren allein gehen, die gelernt haben, ihn gerne zu gehen und mir aus voller Überzeugung seine Vorteile darlegen werden.

„Du kannst über deine Zeit frei verfügen“, erklärte mir eine alleinstehende – wie ich dieses Wort hasse! - Sportfreundin voller Überzeugung, „dein Geld ausgeben, wie du willst, dich treffen, mit wem du willst, musst niemandem gegenüber dein Handeln rechtfertigen. Du lebst einfach stressfreier. Genial, nicht wahr?“

Strahlende Blicke, ein Lächeln in den Mundwinkeln. Noch kann ich das nicht so recht glauben. Ob das wirklich so stimmt?

Du zuckst mit den Schultern.

Jetzt also die Trauer hinter der Wohnungstür eingesperrt und hinein ins Sternelokal - oder eine Preisklasse drunter. Geschworen habe ich mir, Selbstmitleid nur innerhalb meiner Wohnung zuzulassen. Das Leben hält mir täglich den Spiegel vor: Schau hinein, neben dir ist niemand, du bist alleine. Akzeptiere das endlich.

Also werde ich um einen Einzelplatz an der Sonne des Lebens kämpfen. Soll ich samstags und sonntags in der Wohnung sitzen und trauern? Zum Friedhof gehen und trauern? Alleine wandern und trauern? Fernsehen und trauern?

Nein, nein und nochmals nein. Jedenfalls nicht immer. Das siehst du doch sicher ein, das würdest du nicht wollen. Und somit ist klar: Ein Wochen-end-Alternativprogramm muss her.

Immer kommt der Tag ganz plötzlich oder der blaue Elefant

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