Читать книгу Kaspar - Die Reise nach Feuerland - Dan Gronie - Страница 7
Großvater Joe
ОглавлениеSebastian wurde aus seinem tiefen Traum herausgerissen, als der Wecker neben ihm auf dem Nachttisch Musik spielte. Träge raffte er sich auf und stellte ihn leise fluchend aus. Dann ließ er seinen Kopf ins Kissen fallen und schloss die Augen.
Das war vielleicht ein ungewöhnlicher Traum, ging es ihm durch den Kopf. Ich habe von einem König und einem Zauberer geträumt, der zu mir sagte, dass ich die neuen Siedler erlösen soll, wenn er scheitern sollte. Sebastian atmete tief ein. Eigenartig, der Traum wirkte so echt – ich glaube noch, den Geruch des Königs in der Nase zu haben – ein Bad hätte ihm sicherlich nicht schaden können, dachte er weiter und öffnete dabei die Augen. Sebastian ließ den Blick im Zimmer umherschweifen, so als ob er jemanden suchen würde.
Dann warf er mit Schwung die Decke zurück, so dass sie vom Bett rutschte und zu Boden fiel. Als er aufstand und zum Schreibtisch ging, gähnte er laut und versuchte sich an den ganzen Traum zu erinnern. Die Rollläden hätte er besser unten gelassen, denn als er aus dem Fenster blickte, sah es verdammt trübe aus. Er setzte sich auf den Bürostuhl, schnappte sich einen Stift und schrieb den seltsamen Traum auf ein leeres Blatt Papier.
Gähnend ging Sebastian ins Badezimmer. Heute – an diesem ganz besonderen Tag, an dem Sebastian und seine Freunde zu Großvater Joe fahren würden – wollte er sich gründlich waschen; dafür nahm er Mutters besondere Seife und Vaters Lieblingsduschgel, denn an diesem Morgen wollte er keinen Rüffel von seinem Vater erhalten und sich von ihm anhören müssen, dass er sich wieder einmal einer Katzenwäsche unterzogen hätte.
Pah! Da wirst du gleich aber Augen machen und staunen, Vater, dachte Sebastian und drückte auf die Tube Duschgel und war fest davon überzeugt, dass er gleich ganz besonders gut riechen würde.
***
»Wo ist Vater?«, fragte Sebastian seine Mutter, als er freudestrahlend die Küche betrat und sich an den Tisch setzte.
»Die Zeitung holen«, antwortete Rebecca gelassen und Sebastian grinste sie freudig an.
»Und, wo ist mein Bruder?«
»Er hat schon gefrühstückt.«
Sebastian atmete laut aus und sagte: »Klasse, dann sind wir alleine – nur du und ich – kein Vater und kein Bruder«, sagte er, »niemand, der mir heute Morgen auf die Nerven gehen kann – das ist gut so«, nickte er zufrieden.
»Sei nicht so hart zu deinem Vater«, ermahnte Rebecca ihn, »und auch nicht zu deinem Bruder«, sie sah Sebastian in die strahlend blauen Augen. »Dein Vater hat es im Augenblick auf der Arbeit sehr schwer. Früher war er ...«
Sebastian winkte ab. »Ist schon gut Mutter. Wir sollten zusammen essen und nicht über meinen Vater und meinen Bruder sprechen. Ich weiß ja, dass Vater ...« Sebastian fand nicht die richtigen Worte.
»Dein Vater ist wirklich kein schlechter Mensch, Sebastian.« Rebecca ging zum Teekessel, der auf dem Herd stand und füllte die Teekanne mit heißem Wasser auf.
»Du möchtest bestimmt eine Milch?«, fragte sie.
»Gerne, Mutter.«
»Da hast du heute aber gründlich geduscht«, schnupperte Rebecca, als sie Sebastian Milch ins Glas goss.
»Ja, Mutter«, sagte Sebastian stolz.
»Ich hoffe, du hast nicht das ganze Duschgel aufgebraucht«, lächelte sie.
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Wie ich an dir rieche, hast du auch meine Seife benutzt.«
Sebastian nickte, und ihm ging durch den Kopf, dass er das Badezimmer noch aufräumen musste.
»Freust du dich schon auf den Urlaub bei Großvater?«, lenkte Rebecca auf ein anderes Thema.
»Und wie«, kam es wie aus der Pistole geschossen aus Sebastian heraus, »ich kann es kaum noch abwarten. Dann brauche ich eine Woche lang Vater und Bruder nicht zu sehen.«
Rebecca sah bedrückt aus.
»Entschuldigung, Mutter«, sagte Sebastian und senkte den Blick, »ich hab' das nicht so gemeint.«
»Ist schon gut, Sebastian, ich kann dich ja verstehen.« Sie ging zum Toaster und nahm zwei fertige Toasts heraus, die sie auf einen Teller legte und Sebastian reichte.
»Danke, Mutter.«
Sebastian schmierte zwei Zentimeter dick die Erdbeermarmelade auf einen Toast und auf den anderen Nutella. Dann biss er ein großes Stück von dem Erdbeertoast ab. Trank einen Schluck Milch dazu und fragte mit vollem Mund: »Ist Vater schon lange fort?«
»Er müsste eigentlich jeden Augenblick zurückkommen.«
»Er hat doch nicht vergessen, dass er mich und meine Freunde heute zu Großvater fahren wollte?«, fragte Sebastian vorsichtig.
Rebecca lächelte sanft.
»Nein, das hat er nicht«, antwortete sie.
»Gut«, nickte Sebastian und nahm einen zweiten Bissen zu sich.
Das Haustürschloss knackte und Vater William kam herein. Als er sich mit: »Guten Morgen Sebastian«, an den Frühstückstisch setzte und die Zeitung aufschlug, fragte Sebastian: »Wann fahren wir los?«
»RUHE!«, brüllte William laut.
Rebecca reichte ihrem Mann eine Tasse Tee.
»Wenn deine Freunde da sind, wird dein Vater euch fahren«, sagte Rebecca.
Sebastian nickt zufrieden und biss in das Nutellatoast.
»Ahm – Vater – kann ich deine Taschenlampe haben? Ahm – meine ist mir eben hingefallen«, fragte Sebastian ganz vorsichtig.
»Nein«, sagte William scharf und sah Sebastian über den Rand der Zeitung an. »Wieso sollte ich sie dir geben? Damit du sie auch noch fallen lässt – dummer Junge. Und jetzt sei still, ich will meine Zeitung in Ruhe lesen!«
»Lass deinen Vater jetzt in Ruhe, Sebastian«, ging Rebecca dazwischen und füllte Sebastians Milchglas auf.
»Es steht nur dummes Zeug in der Zeitung«, brummte William.
Sebastian verzog missmutig das Gesicht.
»Warum liest du sie denn?«, fragte Sebastian vorwitzig.
William hob den Blick.
Sebastian schluckte.
»Es ist noch eine alte Taschenlampe im Keller. Die kannst du haben«, schlug Rebecca vor.
»Danke, Mutter.«
Sebastian hatte inzwischen das Nutellatoast aufgegessen und sah mit bedrückter Miene, wie sein Bruder in die Küche kam.
»Ey Mann, Brüderchen Tohuwabohu, was hast du da oben bloß wieder angestellt?«
William legte die Zeitung beiseite.
»Was gibt es denn, Manuel?«, wandte er sich seinem Sohn zu.
»Sebastian hat zwei Handtücher benutzt, die jetzt auf dem Boden herumliegen, und Mutters Seife liegt in der Dusche auf dem Boden. Sie ist total aufgeweicht – ach, ja, die Fliesen im Bad sind auch ein wenig nass geworden«, Manuel holte Luft und fuhr fort, »und die Zahnpastatube sieht aus, als hätte sich ein Elefant darauf gesetzt.«
Williams Blick bohrte sich wie ein Dolch tief in Sebastian hinein, noch bevor William etwas sagen konnte, kam ihm Sebastian zuvor: »Vater, du hast mir selbst gesagt, ich solle mich morgens richtig waschen, das habe ich getan – und die Zähne putzen sollte ich auch«, Sebastian sprach so schnell, dass sein Vater nichts anderes übrig blieb, als seinem Sohn zuzuhören, »das habe ich auch getan, Vater. Ich habe nur auf das gehört, was du mir immer wieder gesagt hast, Vater. Und außerdem übertreibt mein Bruder mal wieder. Die Fliesen sind gar nicht nass geworden, und die Zahnpastatube habe ich nicht zerdrückt, das stimmt nicht.«
»Bist du nun endlich fertig, mein Sohn?«, sagte William, seine Stimme klang dabei gefährlich ruhig.
»Die Handtücher muss ich noch wegräumen und die Seife ist mir hingefallen. Ich habe vergessen, sie aufzuheben, das werde ...«
»Schweig endlich!«, brüllte William. »Und du denkst jetzt bestimmt: Dafür hat Sebastian doch keine Strafe verdient«, wandte er sich Rebecca zu. »Du denkst bestimmt, dass dein Sohn für die Unordnung im Bad eine plausible Erklärung hat. Soll ich deinen Sohn dafür vielleicht auch noch belohnen?« William wartete kurz auf eine Antwort. »Dazu fällt dir wohl nichts ein, nicht wahr? Dein Sohn muss bestraft werden, und ich weiß auch schon, wie ich das tun ...«
Rebecca schnippte mit den Fingern und ihre Augen waren ganz schmal auf William gerichtet. »Falls du das schon vergessen hast, mein lieber Mann, Sebastian ist unser Sohn und nichts wirst du tun«, Rebecca stand in der Küche wie ein Fels in der Brandung, als sie weiterfuhr: »Bestrafen ist das Einzige, was dir dazu einfällt – natürlich, was kann dir auch sonst bloß einfallen«, sie fuchtelte mit den Fingern vor Williams Gesicht herum. »Sebastian und seine Freunde werden Großvater Joe besuchen«, Rebecca atmete tief ein, und ihr Blick erinnerte Sebastian an die zahlreichen Bilder von Kriegerinnen, die in Fantasy-Foren zu finden waren, »und du wirst sie dorthin fahren«, betonte Rebecca scharf, dann wandte sie sich Sebastian zu. »Und du, Sebastian, siehst zu, dass das Badezimmer wieder in Ordnung kommt, bevor du zu Großvater fährst!«
Sebastian nickte. »Ja, Mutter.«
»Also, worauf wartest du, Sebastian? Ab, nach oben mit dir!«, sagte sie, und Sebastian verschwand auf der Stelle.
»Und was ist mit der aufgeweichten Seife?«, hörte Sebastian seinen Bruder fragen.
»Wir haben reichlich Seife im Haus«, antwortete Rebecca kochend vor Wut.
»Und die Zahnpastatube?« Manuel ließ nicht locker.
»Warum, Manuel?«, fragte Rebecca. »Warum tust du das?«
Sebastian lauschte im Treppenhaus. »Na, warte, Bruder, dafür werde ich mich rächen, die Tube habe ich nämlich nicht zerdrückt.«
»Was denn, Mutter?«, fragte Manuel.
»Du tust alles, was notwendig ist, damit Sebastian von seinem Vater eine Strafe erhält. Wieso tust du das nur, Manuel?«
Manuel schwieg.
»Ich gehe hoch zu Sebastian und sehe mir mal an, was er wirklich angestellt hat«, sagte Rebecca. »Sebastians Freunde werden gleich kommen, also trink deinen Tee und ließ die Zeitung, aber vergiss nicht die Tür zu öffnen, wenn es klingelt!«, fuhr sie William an.
»Du lässt Sebastian zu viel durchgehen«, sagte William mit Nachdruck.
»Nein, das tue ich nicht«, antwortete Rebecca. »Normalerweise hätte ich ihn ja auch bestraft, aber nicht heute, das wäre falsch!«
Rebecca verließ die Küche.
»Ja, ich habe gewonnen«, jubelte Sebastian leise und sah zu, dass er schnell ins Badezimmer kam.
***
Sebastian stand mit seinem Gepäck oben im Flur und wartete auf seine Mutter, die in sein Zimmer gegangen war, um zu sehen, ob er alles aufgeräumt hatte, so wie er es ihr gestern Abend versprochen hatte.
Sebastian hörte die Türklingel und Juana war die Erste die kam.
»Guten Tag, Herr Addams«, sagte sie höflich, als William die Tür öffnete.
»Sebastian kommt gleich herunter. Er muss oben noch aufräumen«, erklärte William. »Du kannst schon mal ins Wohnzimmer gehen. Das Gepäck kannst du hier neben der Garderobe abstellen.«
»Möchtest du etwas zu trinken?«, fragte William.
»Ja, einen Orangensaft, bitte.«
William verschwand in der Küche.
»Sebastian hat das ganze Badezimmer verwüstet«, schimpfte Manuel, »oben sieht es aus, als ob ein Elefant sich ausgetobt hätte.«
Sebastian ärgerte sich, dass sein Bruder mal wieder total übertreiben und dass er ausgerechnet zu Juana so etwas sagen musste. Dass Juana darüber schmunzelte, konnte er ja nicht sehen.
»Na, warte, Brüderchen, so viele Lügen über mich zu erzählen, das zahl ich dir heim«, flüsterte Sebastian.
Juana ging ins Wohnzimmer. Manuel eilte zu seinem Vater in die Küche. Es klingelte wieder und Lars trudelte ein.
»Hallo, Herr Addams«, sagte er.
»Hallo, Lars«, begrüßte William ihn. »Du kannst dein Gepäck dort neben Juanas Tasche abstellen. Möchtest du auch einen Orangensaft?«
»Gerne, Herr Addams«, sagte Lars.
»Du kannst ins Wohnzimmer gehen. Juana ist auch schon da. Ich bringe euch dann den Saft.«
Sebastian schnippte ungeduldig mit den Fingern.
»Ist gut, Sebastian, du kannst nach unten gehen«, sagte Rebecca, als sie aus Sebastians Zimmertür trat.
Sebastian rannte die Treppe hinunter und stellte seine beiden Taschen neben die von Juana und Lars. Als Sebastian ins Wohnzimmer trat, sah er, wie Juana vor dem Bücherregal stand und Lars im Sessel saß und einen Orangensaft schlürfte. Nachdem sich die Freunde begrüßt hatten, fragte Sebastian vorsichtig: »Wo ist denn mein Vater?«
»Er wollte ein Geschenk für deinen Großvater einpacken und es schon mal in den Wagen legen«, antwortete Juana.
»Wo bleibt denn Niko?«, fragte Sebastian ungeduldig und blickte kurz zum Kaminsims, auf dem eine Uhr stand. »Er ist wieder zu spät«, fluchte er.
»Na ja, du kennst doch Niko«, sagte Lars und winkte ab, »der sitzt bestimmt noch am Frühstückstisch und stopft sich voll.«
Sebastian blickte aus dem Fenster.
»Scheiß Wetter, was?«, bekam er von Lars zu hören.
»Lars! Bitte!«, ermahnte Juana ihn.
»'tschuldigung, gnädige Frau«, lächelte Lars Juana an. »Ich meinte, das Wetter sieht nicht besonders gut aus«, Lars hob die Nase empor und alberte herum: »Der Himmel ist wolkenverhangen und es sieht nach Regen aus, gnädige Frau.«
»Lass den Blödsinn, Lars«, fauchte Juana.
»Ja, schon gut, Juana, will heute keinen Ärger mit dir bekommen«, winkte Lars ab.
Der Himmel hing voller dunkler Wolken, die, wie es aussah, nur darauf warteten sich zu entladen, um die Erde mit Wasser zu überschwemmen. Kein einziger Sonnenstrahl drang durch die dichten Wolken und es wehte ein kalter Wind.
»Morgen soll das Wetter aber besser werden«, wandte Juana ein.
»Hoffentlich«, sagte Sebastian. »Verregnete Sommerferien wären nämlich blöde.«
Die Haustür stand weit offen, deshalb konnte Niko hereinspazieren, und er brüllte, als er ins Wohnzimmer trat: »Hallo, Freunde! Auf geht's in ein Ferienabenteuer.«
»Mensch, Scheiße, Niko«, fluchte Lars, der regelrecht in sich zusammenfuhr. »Ich hab mich vielleicht erschrocken.«
Sebastian und Juana erging es nicht anderes.
»Verdammt«, fluchte auch Juana.
»Schön dich zu sehen, Niko«, lächelte Sebastian.
»Na, wenigstens einer der sich freut, mich zu sehen«, brummte Niko.
Niko setzte die Tasche ab und schwang sich in den Sessel neben Lars. »Gemütlich«, sagte er und fasste mit beiden Händen auf die Armlehnen. »Captain James Kirk an Lieutenant Sulu, hören sie mich?«, sagte Niko im hektischen Ton und wandte sich Sebastian zu. »Lieutenant Sulu, bitte melden Sie sich, die Lage ist sehr ernst«, wiederholte Niko.
»Commander Scott, hören Sie mich?«, fragte Niko und sah zu Lars.
»Ja, hier ist Scotty, Captain, ich höre Sie klar und deutlich.«
»Wissen Sie, wo Lieutenant Sulu ist, Scotty?«
»Er arbeitet im Maschinenraum am Fluxkompensator«, sagte Lars mit verstellter Stimme.
Juana zog die Augenbrauen hoch.
»Fluxkompensator?«, sagte sie mit lehrerhaftem Blick. »Hast du da nicht etwas verwechselt, Lars? Ein Raumschiff fliegt mit Warpantrieb«, klärte sie ihn auf.
Niko verzog mürrisch die Mundwinkel.
»Ist doch völlig egal, Juana. Sei locker, es sind Ferien, und außerdem ist es doch nur ein Spiel«, wandte Niko ein.
Juana zuckte nur mit den Schultern.
»Ja, hier Lieutenant Sulu, ich höre Sie Captain«, grinste Sebastian, und Niko fuhr mit der rechten Hand über die Armlehne, so als ob er einige Regler am einstellen wäre.
»Tagchen, Mr. Addams«, schreckte Niko hoch und sprang mit einem Satz aus dem Sessel.
»Guten Morgen, Captain James Tiberius Kirk«, empfing William ihn, und dies war seit langer Zeit das erste Mal, das Sebastian seinen Vater lächeln sah.
»So, können wir los, Lieutenant Sulu?«, fragte William an seinen Sohn gewandt.
»Ja, Vater«, nickte Sebastian und fügte schnell hinzu: »Wir sind dann soweit.«
Juana stellte das Buch ins Regal zurück, Lars trank sein Glas aus, und Niko schnappte sich seine Tasche.
Sebastians Vater blickte hinüber zu Lars und sagte im ernsten Ton: »Commander Scotty, Sie können mir bei der Warp-Maschine helfen, es muss noch etwas Treibstoff nachgefüllt werden.«
»Jawohl, Sir«, grinste Lars.
Sebastian stand startklar im Flur. William hatte schon die Tür geöffnet, als er sich Sebastian zuwandte und ihn fragte: »Was ist los, Sohn? Hast du keine Lust mehr zu Großvater zu fahren?«
»Doch natürlich«, antwortete Sebastian verstört darüber, dass sein Vater gute Laune zu haben schien, »aber ich muss mich noch von Mutter verabschieden.«
Rebecca kam die Treppe herunter und blieb vor Sebastian stehen.
»Ich hab dich lieb, Mom«, sagte er.
Rebecca schloss ihn in die Arme und gab ihm einen Kuss.
»Ich dich auch, Sebastian. Ich wünsche dir und deinen Freunden viel Spaß in den Ferien«, sagte sie, »aber denke daran, dein Großvater ist schon zweiundsiebzig Jahre!«, ergänzte sie.
Sebastian nickte. »Wir werden artig sein, Mutter!«
»Die Jungs werden sich schon benehmen, Frau Addams«, kam es von Juana, »dafür werde ich schon sorgen!«
»Gut«, lächelte Rebecca, »dann bis bald, Sebastian.«
Endlich war es soweit. Sebastian und seine Freunde saßen im Van und warteten darauf, dass William endlich den Wagen startete. Als sie losfuhren, fielen die ersten Regentropfen vom Himmel herunter.
Eine Stunde Autofahrt lag vor ihnen.
***
William lenkte den Wagen durch den Stadtverkehr und nahm schließlich die Schnellstraße, die in nördlicher Richtung von London wegführte. In der Ferne blitzte es und Sekunden danach folgte ein gewaltiger Donner. Der Regen nahm zu.
»Falls das Wetter sich nicht bessert, Kinder, dann legen wir bei der nächsten Möglichkeit eine Pause ein«, schlug William vor.
Die Scheibenwischer liefen auf Höchstleistung, um die Wassermassen von der Windschutzscheibe zu beseitigen.
»Hier, Sebastian, nimm das Handy und ruf deine Mutter an! Bei diesem Wetter macht sie sich bestimmt schon sorgen.«
William wandte sich kurz Sebastian zu, der rechts auf dem Rücksitz neben Juana saß, und reichte ihm das Handy.
»Willst du ein Stück Schokolade, Juana?«, fragte Niko, der hinter Juana saß.
»Nein, danke.«
»Toll, so ein Van, man hat sooo vieeel Platz hier drin«, schwärmte Lars, wandte sich nach links Niko zu und nahm ihm das Stück Schokolade aus der Hand. »Danke«, sagte er kurz und stopfte sich die Schokolade schnell in den Mund.
William verließ die Schnellstraße und nahm die Landstraße, lenkte den Wagen durch eine tiefe Talsenke und bog auf der nächsten Höhe rechts ab. Die Baumkronen bewegten sich im heftigen Wind hin und her. Der starke Regen hatte zum Glück etwas nachgelassen.
Sebastian sah sich um, hinter ihnen tauchte ein Kleinbus auf, der Gas gab und bei dem Sauwetter zum Überholen ansetzte. Als der Kleinbus vorbeifuhr, schimpfte William lautstark: »Verdammter Idiot!«, und trat leicht auf die Bremsen. »So ein Bestusster ...« William schwieg.
Niko lachte, und Lars hob wutschnaubend die Hand: »Blöder-überheblicher-schwachsinniger-Sonntagsfahrer!«
»Also, Kinder«, fing William an, »es tut mir leid, das hätte ich eben nicht sagen sollen.«
»Sie hatten doch recht, Herr Addams«, sagte Niko, »bei so einem Wetter überholt man doch nicht.«
»Und das auch noch in einer leichten Kurve«, schimpfte Juana.
William verließ die Landstraße und bog in eine schmale Straße ein. In der Ferne tauchten die ersten Häuser auf. Durch das schlechte Wetter brannte in vielen Häusern Licht.
William lenkte den Wagen am Ortseingangsschild vorbei und schon bald passierten sie die ersten Häuser. Eine ältere Frau trat aus der Haustür heraus, an der Leine führte sie einen kleinen Hund.
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, was du jetzt sagen willst«, kam ihm Niko zuvor.
»Sei lieber still, Niko!«, ermahnte Juana ihn.
Niko zuckte mit den Schultern und brach noch ein Stück Schokolade von der Tafel ab. »Dann eben nicht«, sagte er kauend.
Dann bog William in eine Seitenstraße ein und endlich tauchte das Herrenhaus von Sebastians Großvater auf. Das rostige Gitter der großen Toreinfahrt stand weit offen. William lenkte den Wagen durch die Einfahrt und fuhr im Schritttempo die schmale Schotterstraße entlang, die direkt zum Haus führte. Der Regen hatte fast aufgehört.
»Super cooles Haus«, schwärmte Niko immer wieder, wenn er das alte Herrenhaus sah, das noch aus dem vorigen Jahrhundert stammte.
»Ja, es ist wunderschön«, sagte William, »mein Vater hatte es extra für meine Mutter gekauft.«
»Er muss viel Kohle haben«, stellte Niko fest.
»Ja, das hat er. Ihm gehörte eine Kleiderfabrik«, erklärte William.
»Warum haben sie nicht dort gearbeitet?«, fragte Lars.
»Hey, Lars!«, sagte Juana.
»Ist schon gut, Juana«, kam es von William, »ich habe mich damals nicht sonderlich gut mit meinem Vater verstanden. Außerdem wollte ich studieren und hatte eigene Pläne für meine Zukunft. Na ja, so ist das im Leben. Es läuft nicht immer alles wie man es plant. Mein Vater hatte die Fabrik verkauft, als er in den Ruhestand ging. Damals ging es mir auch sehr gut, als ich noch eine Stelle als Ingenieur hatte.«
Sebastian hatte in diesem Moment Mitleid mit seinem Vater und erinnerte sich, wie sein Vater den Job verloren hatte und danach lange Zeit zu Hause gewesen war, bevor er endlich eine neue Stelle als Vertriebsmitarbeiter ergattern konnte. Die Firma, bei der sein Vater nun angestellt war, produzierte Staubsauger – die besten der Welt, sagte sein Vater immer dann, wenn er oder sein Bruder ihn nach seiner Arbeit fragten.
Sebastian blickte träumerisch aus dem Seitenfenster, auf die zehn mächtigen Buchen, die kreisförmig aus dem Boden wuchsen, und bei diesem Wetter auf ihn wirkten wie Ungetüme aus einer fernen Urzeit.
Es regnete jetzt nicht mehr. Die schweren Wolken lagen noch immer wie eine graue Decke über dem Himmel.
Die fünf kreisrunden, bunten Blumenbeete sahen etwas verwüstet aus. Sie erinnerten Sebastian daran, wie er immer am frühen Morgen aussah – mit unfrisiertem Haar.
Sebastians Blick fiel auf die Holzhütte, in der Großvater Gartengeräte, alte Möbel und sämtliches Zeug, das im Haus nicht mehr gebraucht wurde, verstaut hatte.
»Da ist ja unser Hauptquartier«, klopfte Niko Sebastian auf die Schulter und deutete auf die Holzhütte.
William parkte den Wagen unmittelbar vor dem Haus. Großvater stand mit seiner Pfeife unter dem Vordach vor der Haustür, das rechts und links von zwei runden, weißen Marmorsäulen gestützt wurde, und wartete bereits ungeduldig auf seinen Besuch.
»Hallo, Vater.« William ging auf ihn zu und umarmte ihn kurz.
»Hallo, mein Sohn«, sagte Großvater Joe, und seine Augen hatten etwas kindlich leuchtendes an sich, als er Sebastian und seine Freunde sah.
»Hier, das ist für dich, Joe.« William übergab ihm ein kleines Päckchen.
»Danke, mein Sohn.«
William schüttelte den Kopf. »Das Haus ist viel zu groß für dich, Vater. Warum ziehst du nicht in die Stadt?«, sagte er.
Großvater Joe verzog mürrisch das Gesicht. »Was soll ich in der Stadt? Hier ist mein Zuhause«, winkte er ab, »hier bin ich mit meiner Frau zusammen hingezogen und hier werde ich auch sterben«, brummte er, »wir sollten ins Haus gehen«, schlug Großvater vor, und sein Gesicht hellte sich wieder auf, als er Sebastian ansah.
»Es sind die vielen schönen Erinnerungen, die mich mit diesem Haus verbinden, William, das musst du verstehen. Ich habe hier schöne Dinge mit deiner Mutter erlebt – natürlich auch weniger schöne Dinge«, lächelte Großvater in sich hinein und ging voraus, direkt ins Wohnzimmer. »Ich werde meinen Lebensabend hier verbringen, William, und nichts auf der Welt kann mich davon umstimmen!«
»Ist schon gut, Vater. Ich will mich nicht mit dir streiten«, gab William nach.
»Das ist gut so, William«, sagte Großvater Joe lächelnd, »du würdest eh den Kürzeren ziehen.« Er zwinkerte Sebastian zu und zog an seiner Pfeife, die einen angenehm süßlichen Geruch im Raum verbreitete.
Großvater deutete auf den schweren Esstisch, der vor dem großen Fenster stand, durch das man einen herrlichen Blick auf die Terrasse und den Garten hatte.
»Ich habe eine Kanne Tee vorbereitet«, sagte Großvater, »und für euch, Kinder, habe ich Limonade gemacht.«
»Prima«, jubelte Niko, »deine Limonade ist nämlich super«, und schon hatte Niko sich auf einen der schweren Holzstühle niedergelassen.
»Niko!«, ermahnte Juana ihn mit einem strengen Blick. »Du hast wirklich kein Benehmen!«
»Setzt euch!«, sagte Großvater und legte die Pfeife beiseite. »Ich gehe und hole den Tee und die Limonade.«
»Warte, Vater, ich helfe dir.«
Großvater Joe und William gingen zusammen in die Küche.
»Geben Sie mir den Krug, Herr Addams«, sagte Juana, als William wieder zurückkam.
Juana schenkte die Limonade der Reihe nach ein, während Großvater die Teetassen auffüllte, bevor er das Päckchen von seinem Sohn öffnete.
»Danke dir, William«, freute sich Großvater Joe über das Geschenk, »das ist mein Lieblingstabak«, sagte er und stellte die Tabakdose auf den Tisch.
Niko griff in die Schüssel, die bis zum Rand mit Süßigkeiten gefüllt war. »Lecker«, schwärmte er, als er in einen Schokoladenriegel biss.
Lars schlürfte Limonade und Juana wollte einen Tee.
Im Nu war eine Stunde verflogen und Großvater Joe fragte: »Ich weiß, es ist schon etwas später geworden, aber möchtest du nicht zum Mittagessen bleiben, William?«
Sebastian fuhr erschrocken zusammen, als er die Frage von Großvater hörte. Doch zu seinem Glück sagte William: »Nein, danke, Joe, aber ich muss noch etwas für den Garten besorgen und will pünktlich zum Tee zu Hause sein.«
Sebastian atmete erleichtert auf.
»Aber, wenn ich Sebastian und seine Freunde wieder abholen komme, bringe ich Rebecca mit und wir können dann ja gemeinsam zu Abend essen«, schlug William vor.
»Das wäre schön«, sagte Großvater Joe und trank einen Schluck Tee. »Manuel kommt doch auch mit?«, fragte Großvater Joe. »Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen.«
»Natürlich«, antwortete William und trank die Tasse aus. »So, jetzt muss ich aber fahren. Das Wetter sieht ja wieder besser aus.«
Die Wolkendecke riss an einigen Stellen auf und blauer Himmel kam zum Vorschein. Sonnenstrahlen fielen durch das große Fenster auf den Esstisch und legten einen hellen Lichtschein über den Boden, der aussah wie ein glänzender Teppich.
William schritt über den Lichtschein zur Tür. Großvater und die Kinder folgten ihm, in den breiten Flur, bis zur Haustür.
»Schade, dass du schon gehen musst«, sagte Großvater Joe und umarmte seinen Sohn zum Abschied.
»Bis bald, Vater«, sagte William und ließ ihn los.
Sebastian stand da wie versteinert und blickte zu seinem Vater auf. »Auf wiedersehen, Vater«, sagte er.
»Auf wiedersehen, mein Sohn.« Williams Blick wirkte unbeholfen.
William drehte Sebastian den Rücken zu und ging zum Wagen.
»Grüß Mutter von mir«, rief Sebastian ihm nach.
William wandte sich um.
»Ja, das werde ich tun.« Dann, aus heiterem Himmel, sagte William in einem schroffen Ton: »Und denk dran, Sebastian! Benimm dich bei deinem Großvater, sonst komme ich dich vorzeitig holen und es gibt Stubenarrest, für den Rest der Ferien!« Dann stieg William in den Wagen und fuhr die Schotterstraße zurück zum Tor.
»Hmmm«, kam es von Großvater Joe, der neben Sebastian stand. »Hast du Streit mit deinem Vater?«
»Ach, ja, das ist so eine Sache mit ihm und mir«, stotterte Sebastian. »In letzter Zeit habe ich dauernd Streit mit ihm«, gab Sebastian zu.
»Na, das wird sich bestimmt wieder legen«, wollte Großvater Joe ihn beruhigen und legte ihm dabei die Hand auf die Schulter. »Jetzt hast du erst einmal Ferien«, sagte Großvater freundlich. »Kommt, wir holen uns neue Limonade und Süßigkeiten aus der Küche und setzen uns auf die Terrasse. Was haltet ihr davon?«
»Klasse«, kam es von Niko. »Ich liebe Süßigkeiten vor dem Mittagessen.«
»Das sieht man dir an«, sagte Lars und streckte seinen Bauch heraus.
»Na, wenn schon, Lars. Das ist mir so was von egal!«, schnauzte Niko. »Ehrlich, es ist mir völlig egal, Lars Storchbein.«
***
Am frühen Nachmittag schien die Sonne häufiger und es war bereits angenehm warm geworden. Sebastian saß auf dem dunklen Holzboden der Terrasse und ließ seinen Blick über den Garten schweifen, dann sah er nach links, zu dem turmähnlichen Anbau, wo sich Großvaters Schreibzimmer befand.
Niko griff in die Schüssel Süßigkeiten, die Großvater Joe wieder bis zum Rand aufgefüllt hatte.
»Mensch, Niko, du hast doch heute Mittag schon ein ganzes Rind verdrückt. Lass mir noch etwas von den Süßigkeiten übrig!«, hänselte Lars ihn.
»Für dich ist noch genug da, Storchbein!«, giftete Niko ihn an.
»Ihr wollt euch doch nicht streiten?«, ermahnte Großvater Joe die beiden.
»Ach, ne, ...«, sagte Lars.
»Das ist doch kein Streit«, winkte Niko ab. »Wir sind die besten Freunde.«
Großvater Joe lächelte zufrieden. »Dann ist es ja gut.« Er zündete sich eine Lesepfeife an.
»Das ist ja eine außergewöhnliche Pfeife«, bemerkte Juana.
»Ja, in der Tat, das ist sie wirklich«, sagte Großvater Joe und tat geheimnisvoll, »sie hat einmal meinem Großvater gehört«, betonte er, »und er hat sie wiederum von einem König geschenkt bekommen.«
»Von einem König?«, fragte Lars verblüfft.
»Ja«, sagte Großvater Joe nickend, nahm einen sanften Zug und blies den Qualm langsam aus, »aber das ist eine andere Geschichte, die ich euch später einmal erzählen werde.«
»Bist du sicher, dass die Pfeife von deinem Großvater ist?«, fragte Sebastian.
»Ja«, nickte Großvater. »Warum?«
Sebastian zuckte mit den Schultern.
»Vom wem sollte sie sonst sein, wenn nicht von meinem Großvater?«, überlegte Joe.
Sebastian schwieg.
Großvater griff mit der linken Hand nach dem dicken Buch, das rechts von ihm auf dem Holzboden lag. »Jetzt möchte ich euch eine Geschichte aus diesem geheimen Buch vorlesen«, hauchte er.
Großvater Joe rauchte seine Pfeife und blickte dabei in die Runde. Er betrachtete sich für einen kurzen Moment den langen Stiel der Pfeife und legte sie dann bedächtig beiseite, nahm das Buch in beide Hände und schlug den ledernen Einband auf, auf dessen Mitte eine Sonne und Sterne zu erkennen waren, darüber befand sich eine seltsame goldene Inschrift. Sebastian, der neben seinem Großvater saß, wagte einen Blick auf die handgeschriebenen Seiten.
»Ich möchte euch nun die Geschichte von der goldenen Kugel vorlesen«, sagte er, »die mein Großvater einmal geschrieben hat.«
Sebastian horchte erwartungsvoll wie auch seine Freunde. Doch Großvater Joe ließ sich Zeit und griff noch einmal nach seiner Pfeife. Sebastian grübelte über die Worte seines Großvaters nach. War das Buch wirklich von seinem Ururgroßvater?
Großvater Joe räusperte sich.
»Also, dann will ich euch mal die Geschichte vorlesen: Von Tag zu Tag häuften sich die Berichte über schwarzmagische Zauberer, die sich in der Hauptstadt Arasin, das im Königreich Nebra lag, versammelten. Der Himmel hing ...«, las er mit ruhiger Stimme vor. Sebastian und seine Freunde saßen stillschweigend da und horchten gespannt, als Großvater Joe mit der Geschichte fortfuhr: »... voller dunkler Wolken, die sich wie eine große Glocke über das Königreich Nebra gelegt hatten. Kein einziger Sonnenstrahl drang an diesem Morgen durch die dichte Wolkendecke, und es wehte ein verdammt eisiger Wind, der aus östlicher Richtung auf die Stadt traf. Der Winter kündigte sich in diesem Jahr früher an. Das Südtor stand weit offen. Die Türme, die sich rechts und links des Tores befanden, waren von jeweils zwei Wachen besetzt. Regungslos blickten sie nach Süden, wo die ersten Schneeflocken das Land in eine weiße Landschaft verwandelten. Hoch auf der mächtigen Stadtmauer beugte sich ein alter, weißbärtiger Mann über die Brüstung, gehüllt in einen braunen Umhang, stand er da und blickte ebenfalls nach Süden. Der Schnee interessierte ihn nicht – er schien auf etwas oder jemanden zu warten.«
»War ihm nicht kalt, bei diesem miesen Wetter?«, fragte Lars.
»Tschsch ...«, zischte Juana.
»Ich kann ja wohl mal fragen«, bekam sie von Lars zu hören.
»Nein, ihm war nicht sonderlich kalt, denn er war ein weißmagischer Zauberer und hatte mit einem Zauber vorgesorgt, dass er – na ja, sagen wir mal, er musste kaum frieren«, erklärte Großvater Joe und las die Geschichte weiter vor.
»Der Zauberer zeigte ein freudiges Lächeln, als er vier Fremde entdeckte, die auf das Südtor zukamen. Die vom Wind zerzausten weißen Haare, strich er sich aus dem Gesicht.«
Großvater schlug eine Seite um und trank das Glas Limonade aus, bevor er weiter aus dem Buch vorlas: »Kaspar Addams und seine drei Freunde verließen gerade einen lichten Laubwald und näherten sich den Toren von Arasin ...«
»Wieso taucht denn der Name meines Ururgroßvaters in dieser Geschichte auf?«, fragte Sebastian erstaunt. »Soll er etwa in Arasin gewesen sein?«
Großvater Joe nickte.
»Ja, in der Tat, er war dort gewesen, Sebastian«, bestätigte Großvater.
»Wie ist er denn dorthin gekommen?«, wollte Juana wissen.
»Kaspar und seine Freunde haben eine magische Karte besessen, mit der sie in die Andere-Welt reisen konnten«, erklärte Großvater Joe.
»Ach, ja«, zweifelte Lars.
Großvater Joe nickte wieder.
Sebastian und Juana wechselten skeptische Blicke. Mein Großvater denkt wohl, wir sind noch kleine Kinder, denen man so eine Geschichte als wahr aufschwatzen kann, dachte Sebastian und fand die Äußerungen seines Großvaters äußerst peinlich. Was mochten seine Freunde bloß von seinem Großvater denken?
Niko schob sich einen Schokoladenriegel in den Mund und sprach: »Ist ja weit herumgekommen, Ihr Großvater.« Niko kaute und sagte dann: »Ach, kommt, Leute«, sprach Niko seine Freunde an. »Seid mal was lockerer und hört einfach zu.«
»Ich glaube, die ...«, fing Lars an, und Niko winkte ab: »Hör doch einfach zu, Lars! Wir kämpfen ja auch gegen Drachen und Orks und spielen den Teufelslord.«
Lars schwieg.
»Wie geht es denn weiter?«, sprach Niko Großvater Joe an.
»Die Geschichte ist wirklich wahr«, bestätigte Großvater Joe und las weiter: »Der Wind blies nun stürmisch und trieb Laub hinter Kaspar und seinen Freunden her, und Kaspar schien es plötzlich so, als ob der Wind eine Melodie mit sich tragen würde. Kaspar sah eine Gestalt, die über die Brüstung lugte und ihm zuwinkte. Kaspar wusste zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, dass es der Zauberer war, der ihn da so freudig begrüßte. Plötzlich blieb Kaspar stehen. Er hörte eine zarte, weibliche Stimme, die seine Freunde nicht wahrnahmen. Sie flüsterte ihm zu: Die Begegnung mit dem weißmagischen Zauberer und dem König von Nebra steht dir und deinen Freunden eines Tages bevor. Doch zuerst müssen du und deine Freunde ein anderes Abenteuer bestehen. Folge den Spuren des Bären, um zu finden, was spätere Generationen von dir begehren.«
Niko schob sich einen weiteren Schokoladenriegel in den Mund.
»Man, schmatz nicht so laut!«, schimpfte Lars, und auch Juana blickte Niko angewidert an.
»Ihr stellt euch vielleicht an«, knurrte Niko.
»Was sollte Kaspar denn finden?«, fragte Sebastian.
»Wenn ihr wissen wollt, wie die Geschichte weitergeht, dann hört zu, Kinder«, sagte Großvater Joe und las weiter: »Dann erklang ein leiser Chorgesang, hinter ihnen im Wald. Ein schwerer Donner unterbrach die harmonische Melodie und der Gesang verstummte abrupt. Kaspar fasste den Entschluss, nicht nach Nebra zu gehen, sondern zurück in den Wald. Die Dunkelheit des Waldes verschluckte sie wie der Schlund eines riesigen Drachen. Noch bevor der weißmagische Zauberer Kaspar vor den dunklen Gestalten warnen konnte, waren Kaspar und seine Freunde im Wald verschwunden. Etwa vor vier Monden waren erste Gerüchte über die dunklen Gestalten aufgetaucht, die Reisende in den Wäldern auflauern sollten. Die unheimlichen Dunkel-Wesen, wie sie die Bewohner von Arasin nannten, seien wie Schatten – dunkler als die Nacht, mit langen Fingernägeln, so scharf wie die Schneidfläche einer Sense. Gegen dieses nächtliche Grauen konnte auch die Armee des Königs von Nebra nichts ausrichten. Und nun, da es langsam dunkel wurde, würde es nicht lange dauern, bis Kaspar und seine Freunde den Dunkel-Wesen in die Hände fallen würden.«
Großvater Joe blätterte eine Seite um und sah Sebastian an, dann wanderte sein Blick der Reihe nach umher. Keiner sagte ein Wort und so fuhr Großvater Joe fort: »Niemand reiste mehr gerne nach Sonnenuntergang durch den Wald, der früher einmal sicher gewesen war. Als Kaspar zurück blickte, huschte ein Schatten an einem Baum vorbei – das Laub wurde sofort welk und fiel zu Boden. Furcht befiel jetzt nicht nur Pepino, der eh immer etwas ängstlich war, sondern auch Kaspar, Leo und Jonna. Fast schon wollte Kaspar nach Arasin umkehren, da die Dämmerung ihnen langsam die Sicht nahm. Doch als in der Ferne ein brauner Bär zu sehen war, der zwischen zwei weißen Felsbrocken verschwand, beschloss Kaspar ihm zu folgen. Hinter ihnen tauchten in Scharen die geheimnisvollen Dunkel-Wesen auf, die mit ihren langen Fingernägel an den Baumrinden entlang schabten. Kaspar und seine Freunde rannten um ihr Leben, gejagt von den Dunkel-Wesen, die bestimmt keine guten Absichten verfolgten, denn jeder Baum, den sie berührten verlor auf der Stelle sein Laub. Kaspar und seine Freunde erreichten die beiden weißen Felsbrocken und aus der Höhle, die sich rechts in ein Felsmassiv bohrte, drang ein lautes Brummen heraus. Leo, der immer einen kleinen Rucksack mit allen möglichen Dingen bei sich trug, kramte eine Taschenlampe hervor und gab sie Kaspar, der in die Höhle hinein leuchtete und mutig vorausging. Kaspar wischte sich mit dem Handrücken die Wassertropfen aus dem Gesicht, die von der Decke fielen, und folgte dem Gang, an dessen glatten Wänden bunte Zeichnungen verschiedener bekannter und unbekannter Tierarten zu finden waren. Ein Bild fiel Kaspar ins Auge, das die Dunkel-Wesen vor einem Höhleneingang darstellte. Sie wurden durch ein grelles Licht vom Betreten der Höhle abgehalten. Und so war es auch, die Dunkel-Wesen versammelten sich vor dem Höhleneingang, jedoch folgten sie ihnen nicht. Als die Höhle sich in zwei Gänge aufteilte, folgte Kaspar dem Gang, in dem er ein sonderbares Schriftzeichen an der Höhlenwand entdeckte. Kaspars schmale Lippen verzogen sich zu einem freudigen Lächeln, als sie einen runden Höhlenraum betraten. Sechs brennende Fackeln leuchteten das Innere aus – Kaspar und seine Freunde rätselten, wer die Fackeln angezündet hatte – Freund oder Feind. Hier, in diesem Raum lag ein Geheimnis verborgen, davon war Kaspar fest überzeugt, als er von Fackel zu Fackel schritt, verfolgt von den Blicken seiner Freunde. Jonna entdeckte auf der Höhlenwand eine verblasste Zeichnung, die Kaspar an eine Kugel erinnerte. Als Kaspar die Hand auf das Bild legte, fiel in der Mitte der Höhle der Boden in sich zusammen und ein kleines Loch entstand, in dem eine eigroße, goldene Kugel lag, auf der sich die Lichtscheine der sechs Fackeln widerspiegelten und das Wort Feuerland in flammender Schrift zu lesen war. Als Kaspar die Kugel nahm, erlosch die Schrift. Und so fanden Kaspar und seine Freunde ihren ersten Schatz in der Anderen-Welt.«
Großvater Joe schlug das Buch zu.
»Wow, was für eine tolle Geschichte«, kam es von Niko.
»Was ist Feuerland?«, fragte Juana.
»Es ist ein gefährliches Land in der Anderen-Welt. Das aber ist eine andere Geschichte. Ich könnte sie euch morgen vorlesen, wenn ihr sie hören wollt«, antwortete Großvater Joe.
»Ja, prima«, johlte Lars.
»Ich hätte da eine tolle Idee für ein neues Fantasy-Rollenspiel: Die vier besten Freunde reisen nach Feuerland, um dort magisch gefährliche Abenteuer zu erleben«, sagte Niko so voller Begeisterung, dass er die Wort fast verschluckte.
»Viel zu langer Titel«, schüttelte Lars den Kopf. »Wie wär's mit: Die Reise nach Feuerland?«
»Von mir aus, mein Freund«, sagte Niko, »dann spielen wir: Die Reise nach Feuerland.«
»Ja, die Geschichte war wirklich gut«, nickte Sebastian seinem Großvater zu, jedoch konnte Sebastian sich nicht vorstellen, dass die Geschichte der Wahrheit entsprechen sollte.
»Haben denn Kaspar und seine Freunde die goldene Kugel mitgenommen?«, wollte Juana wissen und in ihrer Stimme lag ein misstrauischer Unterton verborgen.
»Natürlich! Kaspar hat die Kugel an sich genommen«, sagte Großvater Joe und legte das Buch beiseite. »Du glaubst doch etwa nicht, dass ich euch anschwindeln würde, Juana.«
Juana schüttelte den Kopf. »Nein, das wollte ich damit nicht sagen – ehrlich.«
»Ist schon gut, Juana.« Großvater Joe griff in die Tasche seiner Strickjacke. »Hier ist die goldene Kugel«, sagte er und überreichte sie Sebastian. »Sie gehört von nun an dir, Sebastian.«
Sebastian nahm sie wortlos entgegen.
»Leider habe ich die magische Karte von meinem Großvater nie gefunden, von der im Buch so oft die Rede war.«
Gemächlich erhob sich Großvater Joe und verschwand im Haus, um das wertvolle Buch zurück in sein Schreibzimmer zu bringen.
»Wie sollte mein Großvater denn auch etwas finden, dass nicht existiert«, sagte Sebastian an Juana gewandt.
Juana rückte ein Stück näher an Sebastian. »Die Kugel ist wunderschön«, sagte sie und ging nicht weiter auf Sebastians Bemerkung ein. »Aber sie könnte auch in irgendeiner Goldschmiede angefertigt worden sein.«
»Ja, das vermute ich auch«, sagte Sebastian, »aber mein Großvater würde mich doch niemals anlügen«, wechselte Sebastian seine Meinung, um seinen Großvater ein wenig in Schutz zu nehmen.
»Sag niemals nie«, antwortete Niko und versuchte dabei erwachsen zu klingen.
Sebastian lachte wie auch Lars und Juana.
»Nein, Großvater hat mich nicht angelogen«, sagte Sebastian überzeugt. »Niemals«, ergänzte er mit fester Stimme.
»Das glaubst du doch jetzt wohl selber nicht«, warf Lars ihm an den Kopf.
Juana verzog zweifelnd das Gesicht und ließ ihren Blick über die goldene Kugel gleiten, während sie sich eine Strähne aus der Stirn strich.
Großvater Joe kehrte zurück.
»Was haltet ihr davon, wenn wir Drachenjäger spielen?«, fragte Niko.
»Super«, bestätigte Lars schnell.
»Ja, dazu hätte ich auch Lust«, nickte Juana.
»Dann geht schon mal, ich habe noch etwas mit Sebastian zu besprechen«, sagte Großvater Joe.
Sebastian atmete tief durch.
»Was willst du denn von mir, Großvater?«, fragte Sebastian zurückhaltend.
»Komm, setz dich neben mich, Sebastian«, sagte Großvater, als er sich auf den Boden niederließ.
Es war bereits spät am Nachmittag und die dunklen Wolken waren gänzlich verschwunden.
Sebastian warf einen kurzen Blick hinüber zu seinen Freunden, die nahe bei der Holzhütte kreisförmig beisammenstanden und vermutlich diskutierten, welche Szene sie vom Drachenjäger spielen sollten.
»Also, Sebastian«, fing Großvater an, »was ist los mit dir? Du wirkst so traurig.«
»Nichts, Großvater.«
»Du kannst mir nichts vormachen, Sebastian, dafür kenne ich dich schon zu lange«, rügte Großvater ihn. »Ist es wegen deinem Vater?«
Sebastian schaute zu Boden.
»Also, wegen deinem Vater«, stellte Großvater Joe fest. »Mir ist es ja nicht entgangen, wie ihr euch heute verabschiedet habt«, erklärte Großvater, »sieh mich an, Sebastian!«
Sebastian hob den Blick.
»Ich habe recht, stimmt's, Sebastian?«, sagte Großvater.
Sebastian nickte schweigend.
»Worüber habt ihr euch denn gestritten?«, wollte Großvater wissen.
»Wir streiten uns dauernd«, fing Sebastian an, und dann sagte er mit finsterer Miene: »Immerzu muss ich lernen und wenn ich im Garten spielen will, verbietet mir mein Vater das – meistens. Süßigkeiten gibt es nur an Feiertagen – und die sind selten, wie du sicherlich weißt, Großvater. Wenn ich Löcher im Garten grabe, bekomme ich Stubenarrest von meinem Vater aufgebrummt.«
»Löcher im Garten hat nicht jeder gern, Sebastian«, lächelte Großvater, »aber das ist natürlich keine Entschuldigung dafür, dass dein Vater dir Stubenarrest gibt, wenn du sie gräbst«, versuchte er ernst zu bleiben.
»Das Schlimmste ist jedoch, dass mein Vater dauernd etwas an mir auszusetzen hat. Meinem Bruder lässt er alles durchgehen. Ich habe das Gefühl, dass er ihn mehr liebt als mich. Wenn mein Bruder mal etwas anstellt, sagt mein Vater nichts – mir dagegen droht er mit Stubenarrest. Meinem Bruder hört er immer aufmerksam zu – zu mir sagt er immer bloß: RUHE!«, erzählte Sebastian mit trauriger Stimme.
Sebastian und Großvater sahen sich für einen Moment schweigsam an.
»Lass den Kopf nicht hängen, Sebastian. Das kriegen wir schon wieder hin – dass mit deinem Vater und dir«, sagte Großvater und legte ihm kurz den Arm auf die Schulter. »Ganz bestimmt kriegen wir das wieder hin, Sebastian, du wirst sehen.«
Sebastian wandte den Blick von Großvater ab. Er sah zu, wie seine Freunde spielten. Niko war mit wenigen Schritten wieder bei Lars und hielt ihn mit einem Stock in Schach, der ein Schwert darstellen sollte. Noch hatte Niko sich zurückgehalten, doch nun trat er einen Schritt vor und zückte sein Schwert, dass er quer über dem Rücken trug.
»Willst du mit deinen Freunden spielen?«, fragte Großvater.
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Ich habe doch die besten Freunde der Welt«, fing Sebastian an. »Oder siehst du das anders, Großvater?«
»Es gibt nichts, was ich an deinen Freunden auszusetzen hätte.«
»Ehrlich nicht?«
»Nein. Wie kommst du denn darauf, Sebastian? Hat dein Vater etwa ...«
»Nicht mein Vater«, unterbrach Sebastian, »aber Herr Henry Titus.«
»Dein Mathelehrer?«, stutzte Großvater.
Sebastian nickte.
»Was hat er denn zu dir gesagt?«
»Er meinte, dass Niko und Lars kein guter Umgang für mich wären, und ihm ist rätselhaft, warum Juana sich mit den beiden abgibt. Dann hat Herr Titus noch etwas gesagt, aber ich habe ihm nicht weiter zugehört.«
»Ich glaube, da sollte deine Mutter mal ein Wörtchen mit Herrn Titus reden«, schüttelte Großvater den Kopf. »Das geht ja nicht, dass Herr Titus dir so etwas sagt.«
Sebastian schüttete sein Herz weiter aus, und Großvater Joe hörte ihm geduldig zu.
»Ich finde, dass Niko ein guter Freund ist, Großvater. Er hat immer gute Sprüche auf Lager, über die alle lachen müssen – na ja, manchmal sind sie etwas derbe, das muss ich zugeben, Großvater, und besonders deftige Sprüche lässt er los, wenn er sich über Herrn Titus lustig macht. Ob er Niko deswegen nicht leiden kann?«, Sebastian holte kurz Luft, bevor er fortfuhr: »Aber auf Niko kann man sich immer verlassen, und wenn eine Situation brenzlig wird, lässt er einen nicht im Stich. Was meinst du dazu, Großvater?«
Großvater hob die Schultern.
»Also, meiner Meinung nach ist Niko ganz in Ordnung. Er ist ein bisschen wüst und redselig, und seine Sprüche sind manchmal etwas ausgefallen«, lächelte Großvater, »aber das ist noch lange kein Grund, dass er ein schlechter Umgang für dich wäre. Und warum, denkst du, hat Herr Titus etwas gegen Lars?«
»Das weiß ich auch nicht, Großvater. Lars und Niko albern oft zusammen herum – vielleicht ist es das, was den Lehrer stört? Aber Lars tut keiner Fliege etwas zu Leide, und das im wahrsten Sinne des Wortes«, schmunzelte Sebastian.
Großvater horchte.
»Niko ärgert sich oft über die dämlichen Fliegen, wenn sie im Sommer um seinen Kopf herum surren. Dann schlägt er nach ihnen, und Lars tritt dazwischen und schimpft Niko lautstark aus, dass er die armen Dinger in Ruhe lassen soll.«
Großvater lächelte wieder.
Sebastian kratzte sich am Kinn und war überzeugt, dass Lars ein wirklich guter Freund war.
»Lars ist völlig in Ordnung, Sebastian«, bestätigte Großvater ihm.
Sebastian sah kurz zu Juana, bevor er zu Großvater sagte: »Der Lehrer ist sehr angetan von Juanas außergewöhnlicher Begabung. Sie ist aufgeweckt, ehrgeizig und überaus klug. Sie ist die Lieblingsschülerin von Herrn Titus, und deswegen, vermute ich, mag er es nicht, wenn sie sich mit Niko und Lars abgibt.«
»Denk mal nicht so viel darüber nach, was der Lehrer zu dir gesagt hat, Sebastian. Ich denke, er liegt völlig falsch mit seinen Behauptungen«, erklärte Großvater.
»Herr Titus ist ein fieser und hinterhältiger Mensch, und er ist launisch und eingebildet – er weiß doch überhaupt nicht, was Freunde sind«, schimpfte Sebastian.
»Es sind Ferien, Sebastian. Denk nicht an Herrn Titus, sondern spiel lieber mit deinen Freunden«, sagte Großvater.
»Und in der Schule habe ich oft Ärger mit dem blöden Victor Bainbridge«, seufzte Sebastian. »Ach, Großvater, ich wünschte, ich könnte mein Leben neu beginnen.«
»Sebastian, Sebastian«, sagte Großvater, »über all die Dinge solltest du dir nicht so viele Gedanken machen«, schüttelte er den Kopf und fuhr behutsam fort: »Und was deinen Vater betrifft, Sebastian, er ist kein schlechter Mensch. Er hat im Augenblick so einiges um die Ohren. Er wird schon wieder zur Vernunft kommen.« Großvater nahm eine kurze Pfeife zu Hand und stopfte sie mit dem Tabak, den er von seinem Sohn geschenkt bekommen hatte. »Aber ich werde mit deinem Vater mal über die Dinge reden, die er dir antut.« Großvater zündete mit einem langen Streichholz die Pfeife an.
»Ehrlich«, kam es geradewegs von Sebastian heraus.
Großvater nickte und zog an der Pfeife.
»Ja«, sagte er nickend, »wenn dein Vater dich abholen kommt, rede ich mit ihm.«
»Danke, Großvater.«
»Das mache ich gerne für dich, Sebastian.«
Großvater zog wieder an der Pfeife.
»Aber du musst mir dafür etwas versprechen, ...«
»Was denn, Großvater?«, unterbrach Sebastian.
»... dass du – solange du hier bei mir in Ferien bist – nicht an deinen Vater oder an Herrn Titus denkst.«
»Darauf kannst du dich verlassen, Großvater.«
Großvater hob den Blick, als Juana laut brüllte.
»Sie spielt einen Drachen«, erklärte Sebastian.
»Das muss aber ein gewaltiger Drache sein«, lächelte Großvater.
»In der Schule bin ich für die anderen ein Loser«, erklärte Sebastian.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Wie gesagt, mit Victor Bainbridge und seiner Gang liege ich oft im Streit. Mit ihnen kann ich es nicht aufnehmen.«
»Deswegen bist du doch noch lange kein Loser«, sagte Großvater auf Sebastians deprimierten Blick hin. »Du hast gute Freunde, auf die du dich stets verlassen kannst Das ist viel mehr Wert, als irgendwelche Nichtsnutze in einer Keilerei besiegen zu wollen.«
»Das schon, Großvater, aber ...«
»Glaube mir, Sebastian«, unterbrach Großvater ihn, »das ist sehr viel mehr Wert.«
Sebastian horchte, als Großvater an der Pfeife zog.
»Mit Victor wirst du eines Tages auch noch fertig werden«, war Großvater überzeugt.
»Victor ist zu stark für mich, Großvater.«
»Das glaube ich nicht, Sebastian«, sagte Großvater und beugte sich ein Stück vor, »du bist klug und flink – Stärke hat nicht unbedingt etwas mit Kraft zu tun, Sebastian. Und jetzt kein Wort mehr über diesem Victor – genieße die Ferien, Sebastian.«
»Wenn ich doch nur neu anfangen könnte – in der Schule, meine ich, dann ...«
»Warum willst du neu anfangen, Sebastian?«
Sebastian schwieg.
»Es ist nie zu spät, um sich zu ändern. Jeder Mensch hat sein Schicksal in der eigenen Hand – du auch, Sebastian. Du kannst deine Sterne neu ordnen, glaube mir.«
»Aber wie?«
»Du musst es nur ganz fest wollen, Sebastian, dann wird dir das auch gelingen.«
Sebastian blickte erschrocken auf, als Lars einen entsetzlich lauten Schrei abließ.
»Niko hat ihn mit dem Schwert erwischt«, lachte Sebastian.
»Hoffentlich hat er sich nicht weh getan.« Großvater blickte erschrocken, als Lars zu Boden fiel.
»Ach, nein, Großvater, Lars stirbt immer so laut.«
Großvater zog an der Pfeife.
»Ich merke schon, du willst jetzt zu deinen Freunden«, sagte Großvater. »Na, geh schon, wir reden ein anderes mal weiter.«
Sebastian ging, dann wandte er sich noch einmal seinem Großvater zu und sagte: »Das ich mein Schicksal selbst in der Hand habe und die Sterne neu ordnen kann, das gefällt mir, Großvater.«
Sebastian rannte zu seinen Freunden.