Читать книгу Ganz klar Tanja - Dana Wolf - Страница 3
ОглавлениеEs war Hochsommer, als Tanja Bernhardt ihren kleinen fränkischen Bio-Bauernhof verließ und in die Berghoff-Klinik reiste. Ganze drei Wochen wollte sie auf Reha an der Mosel verbringen. Und zwar ohne ihren Freund Florian.
Tanjas wartungsgestauter Opel Corsa fuhr sie pannenfrei durch das wellige Mittelfranken, die Eichen- und Buchenwälder des Spessarts sowie die ersten Ausläufer der Mainmetropole. Als sie das Hilton am Frankfurter Airport passierte, hatte sie bereits mehr als die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt. Kurz hinter Simmern erreichte sie die Hunsrückhöhenstraße. Der Kleinwagen schlängelte sich durch die bewaldete, von kahlen Kuppen unterbrochene Hügellandschaft. Die Landschaft atmete Geschichte. In regelmäßigen Abständen tauchten Burgruinen, keltische Hügelgräber und Reste ehemaliger römischer Militäranlagen auf. Tanja hatte keinen Blick dafür. Ihr Gemüt fühlte sich wie Watte an, die Welt war wie hinter Glas. Sie folgte den Schildern in Richtung Moseltal, bis sie kurz hinter Büdlich an einem Anstieg mit qualmendem Motor zum Stehen kam.
Sie sparte es sich, zu fluchen, schlug stattdessen ein paarmal mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Das Navi hatte sie hergeführt, doch wo solche Orte wie Ruwer oder Hermeskeil lagen, wusste sie beim besten Willen nicht. Wenigstens regnete es nicht. Und selbst wenn, bei diesen Temperaturen hätte eine kleine Dusche auch nicht geschadet.
Tanja schaute sich um. In Richtung Westen – laut Navi – war die Sicht durch eine nahe Linkskurve versperrt. In östlicher Richtung lagen nur kleine Dörfer, die kaum diesen Namen verdienten. Sie wusste nicht, wie viele dieser Ortschaften sie schon passiert hatte, seit sie die Autobahn verlassen hatte. An eine Autowerkstatt oder eine Tankstelle konnte sie sich nicht erinnern. Sie löste die Motorhaubenverriegelung, schnappte sich eine kleine Flasche Mineralwasser vom Beifahrersitz und stieg aus. Vorsichtig öffnete sie die Haube. Weißer Qualm schlug ihr entgegen. Keine Chance, nach dem Kühlwasser zu gucken. Sie nahm einen Schluck und fischte ihr Smartphone aus der Mittelkonsole. Kein Netz. Typisch, dachte sie, erst hat man kein Glück, und dann kommt auch noch Pech dazu! Sie machte ein paar Schritte in Richtung Anhöhe. Im Rücken ein Motorgeräusch, das sich schnell näherte. Sie wandte sich um und sah einen dunkelgrünen Sportwagen im Tiefflug auf sich zu rasen. Sie wich zurück aufs unkrautbewachsene Bankett. Das Cabrio hielt direkt neben ihr.
„Probleme?“
Die Stimme gehörte einem Anfang- bis Mittfünfziger mit ergrautem Kurzhaar und Sechstage-Bart. Tanja musterte ihn.
„Können Sie mich vielleicht bis in die nächste Werkstatt mitnehmen?“
Er wies auf seinen Beifahrersitz, auf dem sich lederne Reisetaschen türmten.
„Sorry, Lady, da werden Sie wohl laufen müssen.“
Tanja musterte ihn noch immer, diesmal ungläubig.
„Könnten Sie dann vielleicht mal nach dem Wagen schauen?“
Er schaute zu ihrem Kleinwagen rüber. Der Qualm hatte sich mittlerweile verzogen, die Kühlerhaube stand offen.
„Seh ich aus wie ein Automechaniker?“
Boah! Was für ein arroganter Typ, dachte sie und stemmte die Hände in die Hüften.
„Schade, dass man sich gutes Benehmen nicht kaufen kann“, sagte sie mit Blick auf seinen Sportwagen, „sonst hätten Sie sicher welches.“
Für einen kurzen Augenblick war er sprachlos. Dann hob er eine Augenbraue.
„Touché! Aber wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf: Wenn Sie das nächste Mal verreisen, dann nehmen Sie lieber die Bahn – und lassen Ihren motorisierten Einkaufswagen in der Garage.“
Noch bevor Tanja etwas entgegnen konnte, drehten die Räder des Cabrios auf der staubtrockenen Erde durch und warfen eine Staubfontaine in die Sommerluft. Tanja wandte sich ab, um nicht getroffen zu werden. Mit offenem Mund starrte sie dem Wagen hinterher. Das war genau das, was heute noch gefehlt hatte! Sie hoffte, dass dieser Tag genug Gemeinheiten für sie bereitgehalten hatte. Sie sollte sich täuschen ......
*
„Vielen, vielen Dank nochmal!“
Tanja lehnte sich in die noch offene Beifahrertür.
„Sehr gern!“
Die junge Frau, die sie bis hierher mitgenommen hatte, warf ihr einen aufmunternden Blick zu.
„Alles Gute für die Reha! Und toi toi toi für den Wagen!“
Tanja warf die Tür ins Schloss. Die Frau ließ sie vor Willy’s Autohofallein zurück, einer kleinen Klitsche mit Bürocontainer, einigen älteren Gebrauchtwagen auf Kies sowie einer offenstehenden Garage mit Hebebühne. Tanja war froh, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben. Da sie in der Garage niemanden antraf, betrat sie den Bürocontainer. Es roch nach Kunstleder und kaltem Zigarettenrauch, den ein Ventilator gleichmäßig in dem kleinen Raum verteilte. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand hingen vergilbte Urkunden in billigen Rahmen. Neben einem Schlüsselbrett türmten sich verbeulte Autokennzeichen. Hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Brillenträger mit Polyesterhemd und Taxifahrerweste, vermutlich aus dem gleichen Kunstleder wie das Sofa für die Kunden. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mit seinem Papierkram fertig war und Tanja Beachtung schenkte.
„Ja, bitte?“
Tanja schilderte ihre Autopanne. Sie beschrieb vage, wo ihr Wagen liegengeblieben war.
„Das muss kurz vor Niederlützingen sein“, murmelte er, öffnete das Containerfenster und rief seinen Kollegen zu sich. Der Kollege war nicht mal halb so alt wie er, wahrscheinlich sein Azubi. Er reichte ihm den Schlüssel für den Abschleppwagen aus dem Fenster, gefolgt von dem Hinweis, sich zu beeilen.
„Ist gleich Feierabend!“, erklärte er. Und zu Tanja:„Das wird heute nix mehr.“
Ohne weitere Erklärungen vertiefte er sich erneut in seine Arbeit. Als er bemerkte, dass Tanja noch immer in der Tür stand, griff er zum Telefon.
„Wo soll’s denn hingehen? Ich ruf Ihnen ´n Taxi.“
„Berghoff-Klinik, Konz“, entgegnete sie knapp.
„Kenn ich. Ist nicht weit.“
„Und mein Wagen?“
„Einen Moment, bitte.“
Offenbar war die Taxizentrale am anderen Ende. Er bestellte einen Wagen und legte das Telefon zurück auf den Schreibtisch.
„Kommt gleich.“
„Und mein Auto?“
Tanja war noch immer etwas irritiert durch seine lakonische Art.
„Guck ich mir morgen an.“
„Okaaayyyy“, machte sie fragend und fischte einen gelben Notizzettel vom Schreibtisch, um ihre Telefonnummer darauf zu notieren.
„Sie können mich ja anrufen.“
„Mach ich“, entgegnete der Brillenträger, ohne zu ihr aufzusehen. Tanja legte ihm den Zettel auf den Tisch und verabschiedete sich. Draußen war es nur unwesentlich kühler als in dem stickigen Bürocontainer. Kein Wunder, war es doch wieder mal ein Jahrhundertsommer.
Tanja ließ ihren Blick über die umliegenden Hügel schweifen. Sie dachte an Florian, der in letzter Zeit einiges hatte ertragen müssen: ihre Launen, ihre Gereiztheit, auch ihre Niedergeschlagenheit. Das hatte alles damit begonnen, dass vor ungefähr einem halben Jahr ihre Mutter verstorben war, mit gerade mal einundsechzig. Ein tragischer Unfall. Oder besser gesagt, die tragischen Folgen eines Unfalls, den sie nicht mal selbst verschuldet hatte. Sie war mit ihrem E-Bike auf dem Rückweg vom Einkaufen gewesen, als ihr ein Kleintransporter die Vorfahrt genommen hatte. Sie hatte im letzten Moment ausweichen können, war aber mit dem Kopf auf die Bordsteinkante gestürzt. Die Ärzte hatten sie nach einer Nacht im Krankenhaus mit einer leichten Gehirnerschütterung entlassen. Keine zwei Wochen später war sie dann mit einem Aneurysma in der Notaufnahme gelandet. Die anschließende OP hatte sie dann nicht überlebt .... Ein schwerer Schlag für Tanja, der sie komplett aus der Bahn geworfen hatte. Nach dem ersten Schock und der ersten Trauer begann erst ihre eigentliche Bewährungsprobe; immerhin hatte Maria Bernhardt einen guten Teil der Arbeiten auf dem Bio-Hof übernommen, namentlich den Bürokram und den Vertrieb. Tanja merkte schmerzlich, dass sie an allen Ecken und Enden fehlte. Als Mensch, als Mutter, als Unterstützung im Betrieb. Ganz klar: Tanja wusste natürlich, was ihre Mutter geleistet hatte. Und jetzt, wo sie ihre Aufgaben zusätzlich übernehmen musste, stieß sie an ihre Grenzen. Spätestens jetzt spürte sie, was es hieß, selbständig zu sein: selbst und vor allem: ständig.
Zwölf-Stunden-Tage, den Samstag natürlich mitgerechnet. Sonntags dann immer öfter Streit mit Florian. Ihr Privatleben geriet zusehends unter die Räder. Ein Teufelskreis. Statt Kraft aus ihrer Beziehung zu schöpfen, kosteten sie die Streitigkeiten mit Florian Energie, die sie gar nicht mehr hatte. Eine Lösung war auch nicht in Sicht. Der Hofladen lief nicht gut genug, um noch zusätzliches Personal einzustellen. Doch so wie bisher konnte es auch nicht weitergehen, denn bald zeigten sich bei Tanja die ersten Symptome: Schlafstörungen, Phasen der depressiven Verstimmung, Magenschmerzen. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Auf jede kleine Äußerung ihres Freundes reagierte sie gereizt. Er tat ihr leid, doch sie konnte nichts dagegen tun. Sie merkte selbst, dass von der alten, humorvollen, witzigen, lebens- und abenteuerlustigen Tanja nicht mehr viel übrig war. Doch ihr fehlte die Kraft, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Eines Tages war sie bei der Zucchini-Ernte zusammengebrochen. Kreislaufkollaps. Zum Glück hatte Florian sie wenig später gefunden und zum Arzt gebracht. Der brauchte nicht lange, um seine Diagnose zu stellen: Burnout. Nichts ging mehr, rien ne va plus. Nach einigen zusätzlichen Untersuchungen hatte er Tanja vor die Wahl gestellt: Entweder so weitermachen wie bisher und den endgültigen Zusammenbruch riskieren oder aber eine Pause einlegen, durchatmen, den Kopf frei kriegen. Und vor allem, neue Kraft schöpfen. Tanja war die Wahl nicht schwergefallen, und so stand sie jetzt in der Hitze des Nachmittags vor Willys Autohof und wartete auf das Taxi, das sie in die Berghoff-Klinik bringen würde.
*
Die Sonne brannte noch immer erbarmungslos vom Himmel, als die beigefarbene Mercedes-B-Klasse vor dem ehemaligen Kloster hielt, welches die Klinik beherbergte. Zuvor hatte sich der Wagen einige Kehren aus dem Moseltal hinaufgeschraubt. Das hätte der alte Kleinwagen sowieso nicht mehr geschafft, dachte Tanja, als sie ihr Reisegepäck in Empfang nahm, welches ihr der Taxifahrer aus dem Kofferraum reichte. Nachdem er abgefahren war, blieb sie einen Moment lang vor der Fassade des Gebäudes stehen. Ein langgestreckter, mehrstöckiger Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert, der vor lauter Balkonen irgendwie porös wirkte. Tanja fragte sich, ob die Balkone irgendeinem medizinischen Zweck dienten. Vielleicht war ja die „Höhenluft“ oberhalb des Flusses Teil der Therapie. Wie dem auch sei, sie würde es herausfinden. Mit ihren beiden Reisetaschen in den Händen betrat sie die Klinik, deren Haupteingang sich hinter einem Torbogen verbarg.
Die Lobby erinnerte an ein Hotel aus vergangenen Tagen. Einzig die Rezeption sah aus wie in jeder gewöhnlichen Hausarztpraxis: Ein moderner Empfangstresen aus halbtransparentem opalweißem Acrylglas, der Sauberkeit und Sterilität vermittelte.
Hinter dem Tresen herrschte ein Kommen und Gehen von medizinischen Angestellten in weißen Kitteln.
„Tanja Bernhardt“, sagte Tanja und stellte ihre Taschen ab.
Es dauerte einen Moment, bis eine junge Angestellte Notiz von ihr nahm.
„Haben Sie Ihre Versichertenkarte dabei?“
Tanja kramte in ihrer Handtasche, fand ihr Portemonnaie und reichte der jungen Frau die Karte. Wortlos tippte die Tanjas Daten in den Computer.
„Bitte nehmen Sie noch einen Moment Platz“, sagte die junge Dame und wies in Richtung einer Sitzgruppe neben dem Haupteingang.
„Frau Doktor Arendt wird sich gleich um Sie kümmern.“
Tanja nahm ihre Karte in Empfang und bückte sich, um ihr Gepäck mitzunehmen. Als sie sich wieder aufrichtete und sich umdrehte, stieß sie frontal mit einem ergrauten Bestager zusammen, der bei dem Zusammenstoß unglücklicherweise seinen Coffee-to-go über Tanjas T-Shirt kippte. Glücklicherweise war der Kaffee nicht mehr heiß.
„Haben Sie keine Augen im Kopf?“, blaffte der Typ mit dem Sechstage-Bart. Erst jetzt erkannte Tanja ihn wieder.
„Sie sind das?! Hätte ich mir ja denken können! Erst eine Dame am Straßenrand stehen lassen und ihr dann noch Kaffee übers T-Shirt kippen!“
„Dame?“, konterte er. „Ich sehe hier keine Dame!“
„Boah!“
Tanja wurde es zu viel.
„Von Egoisten wie Ihnen war ja nichts anderes zu erwarten. Wahrscheinlich sind Sie irgend so ein kinder- und skrupelloser Unternehmer, der nicht weiß, wohin mit seinem Geld, sich selbst für den Größten hält und nichts Besseres zu tun hat, als seiner Umwelt auf die Nerven zu gehen.“
Einen Moment lang war er sprachlos. Der Moment dauerte nicht lange.
„Und Sie? Ich tippe mal: Frustrierte Alleinerziehende mit chronischer Erschöpfung und aktueller Sinnkrise. Dazu eine Portion Kurzsichtigkeit.“
Er blickte auf ihr kaffeebeflecktes T-Shirt.
„Steht Ihnen aber gar nicht mal schlecht.“
Er konnte einen Anflug von Schadenfreude nicht verbergen, was Tanja nur noch mehr verärgerte. Sein hämisches Grinsen, bevor er sich abwandte und ging, ließ sie mit offenem Mund zurück.
Mann, was für ein Kotzbrocken, dachte sie und unternahm den erfolglosen Versuch, sich den Kaffee mit einem Taschentuch vom Shirt zu wischen. Just in dem Moment hörte sie jemanden ihren Namen rufen.
„Frau Bernhardt?“
Tanja drehte sich um und blickte in die professionell-freundlichen Augen von Frau Doktor Sarah Arendt. Die Medizinerin musterte das Ergebnis des kleinen Missgeschicks, dessen Zeuge sie geworden war.
„Na, da haben Sie ja gleich den richtigen Eindruck von Herrn van Buuren bekommen.“
„Was? Ach so, ja. Ein richtig sympathischer Zeitgenosse“, entgegnete sie mit ironischem Unterton.
„Setzen Sie ihn einfach auf Ihre Ignorieren-Liste“, empfahl Dr. Arendt.
„Das wird schwierig werden.”
Dr. Arendt schaute sie fragend an.
“Na, ich schätze mal, diese Klinik ist nicht groß genug für uns beide. Zumindest nicht so groß, dass wir uns aus dem Weg gehen könnten.”
“Tja, da haben Sie auch wieder recht ....”
Die Ärztin schien nicht weiter über den Patienten van Buuren sprechen zu wollen. Sie wechselte lieber das Thema.
“Kommen Sie, gehen wir in mein Sprechzimmer.”
Die beiden Frauen machten sich auf den Weg. Tanja hatte den Reinigungsversuch aufgegeben, sie folgte Dr. Arendt durch die Gänge, die einen ganz eigenen Charme verströmten. Anstelle weißer Raufaser gab es blassgrüne Ranken auf Prägetapete, zur Decke hin abgeschlossen mit einem eierschalenfarbenen Palmettenfries. In den Nischen zwischen den Ärztezimmern im Erdgeschoss standen bronzene Plastiken, Frauenfiguren mit Gewändern aus stilisiertem Obst, Frauenfiguren mit Gewändern aus Efeu sowie Fabelwesen und Chimären in verschlungenen Posen.
Am Ende des Ganges, im hinteren Bereich des Westflügels, blieb Dr. Arendt stehen.
“Da wären wir”, sagte sie, öffnete die Tür zu ihrem Sprechzimmer und bat Tanja herein.
“Nehmen Sie Platz, Frau Bernhardt.”
Tanja setzte sich auf einen modernen Schwingstuhl mit Netzrücken und Chromgestell. Sie sah sich um. Offenbar waren alle Bereiche, die medizinischen Zwecken dienten, schlicht und sachlich gehalten. Typische Wartezimmermöblierung, dachte sie, während Dr. Arendt etwas in ihren PC eingab.
“Einen kleinen Moment noch”, entschuldigte sie sich.
Tanja blickte hinaus. Unter den ebenerdigen Arkaden flanierten Patienten. Keiner unter ihnen wirkte irgendwie krank, höchstens etwas blass. Untypisch blass für die Jahreszeit. Tanja sah weder Rollatoren noch sonstige Gehhilfen, weder Rollstühle noch Senioren mit Wolldecken auf Bänken. Auch stand niemand mit Infusionsbeutel in der Raucherecke. Das sah alles nicht nach Klinik aus, eher nach Gesundheitstourismus. Nichts erinnerte an Krankheit, denn die Krankheit, die hier behandelt wurde, sah man nicht. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Ein ausdrucksloses Gesicht, ein niedergeschlagener Blick, ein langsamer Gang, eine zusammengesunkene Körperhaltung, eine leise Stimme -, nichts Besonderes und doch alarmierend. Für die Patienten der Berghoff-Klinik viel mehr als eine vorübergehende Verstimmung.
“So.”
Dr. Arendt war soweit.
“Ich druck’s Ihnen mal aus.”
Tanja machte ein fragendes Gesicht, während die Medizinerin den Drucker ansteuerte, einige A4-Blätter in Farbe entnahm und sie Tanja überreichte.
“Ihr Therapieplan”, erklärte sie, “wenn Sie möchten, gehen wir das mal zusammen durch.”
Dr. Arendts Stimme war warm, freundlich, vertrauenerweckend. Tanja nickte.
“Gern.”
Sie überflog den ersten Teil mit der Überschrift Progressive Muskelentspannung. Sie blieb an Worten wie Schlafstörungen, Rückenschmerzen und Schwitzen hängen und fühlte sich ertappt. Als ob das etwas Verbotenes wäre! Sie las weiter, verstand aber wenig. Sarah Arendt erläuterte: “Die Muskelrelaxation ist nur einer der Bausteine unserer Therapie. Da Ihre Spannungszustände bereits zu körperlichen Beschwerden geführt haben, werden wir zunächst mit einigen Entspannungsübungen beginnen.”
Die Ärztin warf einen Blick in Tanjas digitale Krankenakte.
“Nervöse Gereiztheit, Verstimmung, Unausgeglichenheit ……”, las sie, “das sind alles Symptome, die sich auch körperlich niederschlagen.”
“Gereiztheit”, wiederholte Tanja, “da bin ich ja offensichtlich nicht die Einzige hier.”
Dr. Arendt verstand sofort, worauf - beziehungsweise auf wen - sie anspielte.
“Tom van Buuren”, sagte sie, “ein besonders hartnäckiger Fall, zugegeben. Aber Sie müssen das rein medizinisch sehen.”
“Sie meinen, er ist eigentlich ein ganz lieber Kerl, und nur der Stress hat ihn zum Kotzbrocken gemacht?”
Die Ärztin lächelte.
“So ähnlich, ja.”
“Na, dann besteht ja noch Hoffnung.”
Sie erschrak. Hatte sie das wirklich gesagt? Was ging sie dieser Typ an? Abgesehen davon, dass er ihr Vater hätte sein können, war er einfach das, was er war - ganz egal, ob krank oder nicht: Ein Unsympath, wie er im Buche stand. Also warum auch nur einen weiteren Gedanken an diesen van Buuren verschwenden? Sie wandte sich wieder ihrem Therapieplan zu, während Dr. Arendt mit ihren Erläuterungen fortfuhr.
“Morgen früh geht es dann mit Radfahren weiter. Ganz unspektakulär. Reduziert das Stresslevel. Danach Fango.”
Sie sprang zu einem weiteren Punkt auf der Liste.
“Yoga“, las sie, „genauer gesagt: Aerial Yoga. Wahlweise Freiluftyoga. Je nachdem, ob Sie lieber schwerelos an einem Elastikband hängen oder ob Sie es lieber etwas … äh, bodenständiger mögen.”
Die Medizinerin freute sich über ihre eigene Formulierung und präzisierte ihre Ausführungen.
“Sie müssen wieder lernen, richtig zu atmen. Richtiges Atmen ist der Schlüssel zur Entspannung. Richtiges Atmen bringt Sauerstoff in jede Zelle des Körpers und sorgt für neue Energie. Wenn Sie nicht richtig atmen lernen, bleibt Yoga nur eine einfache Turnübung.”
Tanja hing an ihren Lippen. Die einzigen Turnübungen, die sie kannte, nannten sich Grünkohlernte und Apfelpflücken. Und diese beiden Disziplinen waren alles andere als ein Zuckerschlecken.
Dr. Arendt ging den Behandlungsplan bis zum Ende durch. Nach Yoga folgte Autogenes Training, dann wieder Körpertherapie, Fango und Outdoor-Yoga. Danach begann der Zyklus von vorn. Sämtliche Therapieschritte würden von Patientengesprächen begleitet, erfuhr sie. Die Ärztin schloss mit dem Hinweis, dass, falls indiziert, ebenfalls Gesprächs- und Verhaltenstherapien angeboten würden. Auch eine Bastelgruppe könne sie empfehlen. Dann sah sie zur Uhr.
“Schon so spät!”, erschrak sie. “Ich denke, wir haben auch alles besprochen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in der Berghoff-Klinik!”
Sie erhob sich, begleitete Tanja zur Tür und gab ihr noch ihre Karte mit auf den Weg.
“Meine Sprechzeiten, für den Fall, dass Sie irgendwelche Fragen haben.”
Sie drehte sich um, als ihr noch etwas einfiel.
“Ach so, Sie haben Zimmer 28, zweiter Stock, Ostflügel. Chipkarte steckt.”
“Danke, Frau Doktor.”
Tanja steckte die Visitenkarte ein und machte sich auf den Rückweg zum Empfang. Von dort aus führten Fahrstühle und die geschwungene Haupttreppe in die oberen Stockwerke. Tanja sah zur Uhr. Fürs Abendessen war es noch nicht zu spät. Doch sie hatte keinen Hunger, obwohl sie seit heute Mittag fast nichts gegessen hatte, nur einen kleinen Salat in einer Autobahnraststätte kurz vor Wiesbaden. Appetitlosigkeit, dachte sie, auch eines dieser Symptome. Nie hätte sie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde, dass sie einmal so sehr die Kontrolle über ihr Leben verlieren würde. Sie, die Macherin, die keine halben Sachen mochte, sondern immer hundert Prozent gab, wenn sie etwas anpackte. Sie, die Weltverbesserin, die unerschütterlich an ihrem ganz persönlichen kleinen Beitrag arbeitete. Sie, die Ökobäuerin, die keinen Plan B hatte, sondern nur eine einzige Vision: Die Erde zu einem besseren Platz zu machen. Sie, die Idealistin! Ja, sie wusste, dass sie dafür oft belächelt wurde, doch so war sie halt. Ganz einfach, ganz ehrlich, ganz authentisch. Ganz klar: Tanja ...
*
Der Wecker klingelte früh. Tanja war daran gewöhnt, doch sie konnte sich vorstellen, dass das nicht jedermanns Geschmack war. Der Aufenthalt hier war eben doch etwas anderes als Urlaub, die Tage waren durchgeplant, der medizinische Terminkalender war voll. Tanja schlüpfte in ihren Morgenmantel und verschwand im Bad. Das Zimmer nahm den Belle Epoque - Stil des Entrées auf. Vereinzelt eingefügte Dekorationselemente sorgten für Modernität; ein interessanter Kontrast, der Wohlfühlatmosphäre erzeugte. Versteckte LED-Leisten sorgten zudem für eine behagliche Stimmung. Entspannung pur, was das Ambiente betraf.
Tanja stand unter der Dusche. Deswegen hörte sie nicht, dass ihr Telefon klingelte. Erst, als sie in Jogger Pants und gemustertem Tank Top ihre Nachrichten checkte, sah sie, dass Florian angerufen hatte. Sie fuhr sich mit dem Frotteehandtuch durch ihr blondes Haar mit den rasierten Seiten und tippte auf Antworten. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis ihr Freund dran war.
“Hi, ich bin’s”, begrüßte sie ihn nüchtern, “du hast angerufen.”
“Ja, richtig”, sagte Florian beunruhigt, “wo steckst du denn?”
“Wo ich stecke? Ist das dein Ernst?”
Kurze Pause seitens Florian.
“Äh, ja.”
“Also hast du vergessen, dass ich die nächsten Wochen in der Reha bin?”
“Keineswegs. Aber ich dachte, du fährst erst am Wochenende.”
“So, so, du dachtest”, giftete sie vorwurfsvoll, “wahrscheinlich hast du mir mal wieder nicht zugehört.
“Was soll das denn jetzt?”
Florian gelang es nicht, cool zu bleiben, obwohl er ihre Launen in der letzten Zeit nur zu genau kannte.
“Wahrscheinlich hast du nur vergessen, es mir zu sagen. Kein Wunder bei deinem Zustand.”
“Soll das jetzt ein Vorwurf sein? Na, wie schön, dass ich einen so verständnisvollen Freund habe!”
“Kein Grund, zynisch zu werden”, entgegnete Florian, “gib doch einfach zu, dass du noch sauer bist wegen des Provadons?”
Er spielte auf ein Insektizid an, das er ohne ihr Wissen ausgebracht hatte, um sie etwas zu entlasten, denn der biologische Obst- und Gemüseanbau war ungleich arbeitsintensiver. Leider hatte sie das Mittel entdeckt und ihn zur Rede gestellt. Sie war völlig außer sich gewesen. Seine Beteuerungen, er habe es ja nur für sie getan, hatte sie nicht gelten lassen.
Verrat bleibt Verrat, hatte sie gesagt, egal, ob aus Liebe oder nicht. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie über diesen Vertrauensbruch hinweggekommen war. Immerhin wusste Florian ganz genau, wie wichtig ihr ihre Ideale waren.
“Du hast Mist gebaut, ja”, sagte sie, “einen Riesen-Mist. Aber wenn ich jetzt sauer bin, dann allein deswegen, weil du mir einfach nicht zuhörst!”
Florian wusste, dass jedes weitere Wort zu dem Thema ihren Streit nur verschärfen würde. Also ließ er es. Die Stille zwischen ihnen war bedrückend.
“Darf ich dich wenigstens anrufen?”, wollte Florian wissen.
“Du, ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich will einfach mal eine Weile für mich sein. Einfach mal neue Kraft schöpfen. Außerdem weißt du ja, was der Arzt gesagt hat.”
Erneutes Schweigen.
“Flo? Bist du noch dran?”
Keine Antwort.
“Flo?”
Dann eben nicht, dachte sie und tippte auf Beenden. Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie. In den letzten Wochen hatten sie sich immer mehr entfremdet. Schon vor dieser Insektizid-Geschichte waren sie immer öfter aneinandergeraten. Nicht, dass sie sich auseinandergelebt hätten, aber dass sie als Paar auch noch gemeinsam ein Geschäft betrieben, machte die Sache nicht einfacher. Meistens gelang es ihnen, Berufliches und Privates zu trennen, schwer genug, wenn das Geschäft gleichzeitig das Leben war. Spätestens, als sich die ersten Erschöpfungssymptome bei Tanja bemerkbar gemacht hatten, hatte sie es jedoch - aus ihrer Sicht - immer mehr mit einem verständnislosen Florian zu tun. Mit einem Florian, der nicht wusste, wie er mit ihr umzugehen hatte. So hatte sie sich schließlich noch mehr in die Arbeit gestürzt - ein Teufelskreis. Eines Tages war dann der Zusammenbruch im Zucchini-Feld gekommen. Und letztendlich die Überweisung in die Berghoff-Klinik.
Tanja packte ein paar persönliche Dinge in ihre Sporttasche, ihr Smartphone, die Chipkarte, eine Wasserflasche, ein Shirt zum Wechseln, ein paar Kleinigkeiten. Dazu schnappte sie sich ihre Isomatte. Direkt nach dem Frühstück stand Progressive Muskelentspannung auf dem Programm. Sie fühlte frischen Elan, trotz - oder vielleicht gerade wegen - der Misstöne am Telefon. Auch der Appetit war zurückgekehrt, und so steuerte sie im Frühstücksraum geradewegs auf das Buffet zu, schnappte sich ein Tablett und häufte allerlei gesunde Dinge darauf an: einen Magermilchjoghurt, ein Schälchen mit Haferflocken, eines mit Leinsamen, ein weiteres mit Sonnenblumenkernen. Dazu etwas Obst, ein Glas Orangensaft, ein regionales Dinkelgebäck, dessen Namen sie noch nie gehört hatte. Sie ließ ihren Blick durch den nur zur Hälfte gefüllten Saal gleiten. Der lichtdurchflutete und von Säulen eingefasste Frühstückssaal mit seinen hohen Wänden und der historistischen Deckenmalerei strahlte adeligen Glanz aus. Nur die Patienten wollten sich nicht so ganz ins gediegene Interieur einfügen: Gestresste Manager mittleren Alters in liebloser Reha-Fitnesscenter-Bekleidung saßen zwischen smarten Start-Uppern und mausgrauen Büro-Angestellten im Freizeitdress. Sie alle vereinte das gleiche Schicksal, sie waren leer und ausgebrannt.
Tanja entschied sich für einen Tisch mit Blick nach draußen. Sie setzte sich und widerstand dem Impuls, ihr Smartphone hervorzuholen und nebenbei zu whatsappen. Stattdessen rührte sie sämtliche Zutaten für ihr Bircher Müsli zusammen und konzentrierte sich aufs Frühstück.
Und beobachtete ihre Mitpatienten, die sie im Laufe ihres Aufenthalts sicherlich noch besser kennenlernen würde. Die aschblonde Vierzigerin mit dem Pferdeschwanz zum Beispiel. Die saß ebenfalls allein an ihrem Tisch. Sie hatte eine sportliche Figur, trug ein Langarm-Shirt zu einer Fleece-Sporthose mit Kordelschnürung. Tanja versuchte zu erraten, wie ihr Leben wohl aussah. Verheiratet, zwei Kinder? Würde passen. Beruf? Irgendwas mit Verantwortung und Öffentlichkeit? Irgendwas mit Außenwirkung? So, wie sie dasaß, wirkte sie jedenfalls so, als rechne sie damit, beobachtet zu werden. Als könne sie sich nicht fallen lassen. Möglicherweise ein Grund für ihren Aufenthalt in Konz?
Tanja schob sich einen Löffel Müsli in den Mund und sah sich weiter um. Am anderen Ende des Panoramafensters frühstückte eine Gruppe Männer und Frauen ungefähr gleichen Alters. Sie wirkten sehr vertraut, redeten und gestikulierten. Fast wie ein Kollegenkreis in der Pause eines Meetings. Eine Clique ehemaliger Kommilitonen, die sich in ihrem ersten Job in irgendeinem E-Commerce-Start-Up überfordert hatte? Möglich. Tanja brach ihre Grübeleien ab und erlag der Versuchung, auf den Benachrichtigungston ihres Messengers zu reagieren.
Nachricht von Flo:
Du warst plötzlich weg. Bist du sauer? Grübel-Emoji.
Sie: Verbindung war weg. Bin nicht sauer. Brauche Zeit für mich. Melde mich. Kein Emoji.
Er: Das muss ich dann wohl akzeptieren. Traurig-Emoji.
Sie: keine Reaktion. Stattdessen: Biss in das regionale Dinkelgebäck.
Er: Tanja?
Sie: Ja?
Er: Vermisst du mich wenigstens ein bisschen? Grübel-Emoji.(Florian war nicht besonders einfallsreich bei der Emoji-Wahl.)
Sie: keine Reaktion. Der nächste Löffel Müsli. Sie steckte das Telefon zurück in ihre Tasche, nicht ohne vorher die Uhrzeit gecheckt zu haben. Acht Uhr fünfzehn. In einer Viertelstunde begann ihre erste Behandlung. Sie leerte die Müsli-Schale, stürzte den Orangensaft hinunter, brachte das Tablett zur Geschirrrückgabe und begab sich in Raum 09 im Ostflügel, unweit ihres eigenen Zimmers. Punkt acht Uhr fünfunddreißig betrat sie den linoleumbelegten Übungsraum, in dem sich bereits ein gutes Dutzend Mitpatienten befand. Darunter ein schon bekanntes Gesicht, dessen Name sich ihr wider Willen eingeprägt hatte: Tom van Buuren …
*
Zwölf Augenpaare begutachteten den Neuankömmling. Zwölf Augenpaare starrten Tanja vorwurfsvoll an. Zwölf Augenpaare verrieten leichten Missmut.
“Entschuldigung”, sagte sie leise.
“Kein Problem”, sagte die Therapeutin und wies ihr einen Platz zu, auf dem sie ihre Isomatte entrollen konnte. Ausgerechnet neben ihm!
“Das war ja klar!”, kommentierte Tom ihr Zuspätkommen.
“Bitte?”
“Na, mit dem Liegenbleiben haben Sie ja Erfahrung”, höhnte er.
Sie verdrehte die Augen. Bevor sie sich fasste, um seine Bemerkung zu kontern, erfüllte die Stimme der Therapeutin den Raum.
“So, dann können wir beginnen”, eröffnete Frau Dr. Behringer die Sitzung. Anschließend erklärte sie die erste Übung. “Zum Warmwerden und Sensibilisieren”, sagte sie.
Die Übung hieß Wetterkarte und war eine Partnerübung. Eine Partnerübung mit dem Nachbarn. Und das bedeutete für Tanja: Eine Partnerübung mit dem Ekel Tom! Sie schaffte es gerade so, ihren Unmut darüber zu verbergen, befolgte aber Frau Dr. Behringers Anweisungen. Sie legte sich bäuchlings auf ihre Isomatte. Tom van Buuren kniete sich neben sie. Er verschränkte die Hände, um seine Finger zu lockern, dann fuhr er mit dem Zeigefinger seiner Rechten über Tanjas Rücken. Sie zuckte etwas zusammen. Was er da machte, war nicht unangenehm, ganz und gar nicht, doch alles in ihr wollte, dass es unangenehm war. Sie machte einen genervten Zischlaut, als van Buuren mit vier Fingern gleichzeitig über ihren Rücken strich. Er wiederholte diese schnelle Bewegung mehrfach.
“Und?”, fragte er schließlich. “Wie wird das Wetter morgen?”
“Hmmm …”, machte sie und bemerkte gleichzeitig, wie albern sie das alles fand. Sie sprang auf und rollte die Isomatte ein.
“Hab ich was falsch gemacht?”, fragte Tom van Buuren amüsiert. Die anderen Teilnehmer beäugten die beiden bereits. Tanja ging nicht darauf ein, sein schmieriges Lächeln nervte sie sowieso.
“Entschuldigung”, sagte sie in Richtung Dr. Behringer, “aber ich glaube, das ist hier nichts für mich.”
Die Therapeutin machte große Augen. Doch noch bevor sie nachfragen konnte, war Tanja verschwunden. Die Tür fiel knallend hinter ihr zu -, Abgang einer ausgebrannten Biobäuerin im Stile einer zickigen Popdiva.
Tanja machte ein paar ziellose Schritte. Im Wartebereich vor dem Pool ließ sie sich in einen Freischwinger fallen und stellte ihr Gepäck auf den freien Stuhl nebenan. Sie atmete tief durch. Wenn sie noch rauchen würde, wäre das jetzt der Moment für eine Zigarette gewesen. Stattdessen kramte sie einen Apfel vom Frühstücksbüffet aus ihrer Sporttasche und biss hinein. Ihr Blick fiel auf die Milchglastür. Poolbereich stand auf einem Kunststoffschild. Darunter die Öffnungszeiten und der Hinweis: Bitte nur mit Bademantel betreten.
Na toll, dachte Tanja. Aber im Grunde war es ihr egal. Sie zog ihre Sandalen aus, ließ sie an der linken Hand baumeln und betrat den Poolbereich. Ein paar ältere Herrschaften übten sich in Aqua-Jogging. Zumindest sah es so aus. Am Beckenrand gab ein Fitnesstrainer Anweisungen, ein junger Mann mit Tattoos auf der Innenseite der Unterarme und kurzrasiertem Haar. Hier fühlte sich Tanja genauso fehl am Platz wie zuvor im Entspannungskursus. Trotzdem nahm sie sich eine freie Liege und beobachtete die Senioren beim Aquafitness. Die Gruppe war gerade dabei, bunte Schaumstoff-Nudeln über dem Kopf zu einem umgedrehten U zu biegen und rhythmisch hin und her zu bewegen, als der Trainer auf Tanja zu kam.
“Das ist nicht dein Kursus, was?”, fragte er rhetorisch.
Sie sparte sich die Antwort.
“Macht nichts”, setzte er nach, “Du kannst einfach einsteigen. Kein Problem! Umkleiden sind da hinten.”
“Danke.”
Tanja winkte ab. Ob er die Rentner auch einfach duzte? Bevor er lästig werden konnte, gesellte sich ein untersetzter Mitpatient mit Glatze und Zwirbelbart zu ihr. Mit einem leichten Stöhnen hievte er sich in die Nachbarliege.
“Ich bin Peter”, stellte er sich vor, während sich der Trainer schon wieder der Gruppe zugewandt hatte.
Und eins, und zwei hörte man im Hintergrund.
“Tanja”, sagte Tanja.
“Neu hier?”
“Erster Tag”, sagte sie, während sie ihn skeptisch musterte. Normalerweise hatte sie ein feines Gespür für ihre Mitmenschen, doch bei Peter war das anders. War er der nette Onkel, der einfach nur Smalltalk machen wollte und Anschluss suchte? Oder war er der sprichwörtlich nette Onkel, der allein deswegen Smalltalk machte, um sie rumzukriegen?
“Burnout?”, wollte Peter wissen.
Sie nickte.
“Und selbst?”
Er machte ein Gesicht, das Ratlosigkeit ausdrücken sollte.
“Ich sag mal so, leichte allgemeine Behagensminderung.”
“Verstehe”, sagte sie, ”zu viel Arbeit.”
“Oder zu viel Weißwein.”
“So?”
“Ja. Aber nicht, was Sie jetzt denken. Von Berufs wegen quasi. Ich bin Winzer.”
“Und was, glauben Sie, habe ich gedacht?”
“Dass ich ein Problem mit Alkohol habe?”
“Und? Haben Sie?”
Peter schmunzelte.
“Grund genug hätte ich”, sagte er, “nach allem, was passiert ist.”
Tanja hob die Brauen, wartete, bis er unaufgefordert fortfuhr.
“Ich will Sie nicht mit juristischem Zeug langweilen ...”, sagte er betont sachlich, wechselte dann aber schnell in einen süffisanten Tonfall: “Es sei denn, Sie möchten, dass ich es Ihnen bei einem Kaffee erkläre.”
Tanja überlegte kurz.
“Warum sollte ich mit Ihnen einen Kaffee trinken gehen?”, fragte sie trocken.
Peter konterte anzüglich: “Weil Sie so aussehen, als hätten Sie nur auf mich gewartet.”
“Wenn Sie meinen …”
Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste erst nicht, ob sie’s mit Humor nehmen sollte oder ihm wegen seines Macho-Gehabes einen Spruch reindrücken sollte.
Tanja entschied sich, nicht weiter darauf einzugehen. Sie wandte sich ab und betrachtete die Fitnessgruppe im Wasser. Sie spürte seinen Blick, der auf ihrem Profil verharrte. Jetzt spürte sie am eigenen Leibe, was Peter unter Behagensminderung verstand.
Und drei, und vier!, rief der Trainer. Die Gruppe hatte die Aqua-Nudeln gegen pinkfarbene Hanteln eingetauscht, ebenfalls aus Schaumstoff. Die Senioren machten damit langsame Bewegungen, die aussahen, als wollten sie auf der Wasseroberfläche einen Pizzateig ausrollen. Entgegen dem Anschein war das wohl einigermaßen anstrengend. Tanja schaute eine Weile zu, Peter saß schweigend neben ihr. Sie sah es überhaupt nicht ein, sich von ihm aus dem Poolbereich vertreiben zu lassen. Doch Peter blieb hartnäckig.
“Im Ernst”, setzte er schließlich an, “haben Sie Lust, mit mir zu Mittag zu essen?”
Aha, dachte Tanja, jetzt, da er sieht, dass seine Taktik nicht aufgeht, versucht er, seine dreiste Anmache als Witz hinzustellen. Wie durchschaubar Typen doch sind!
“Weiß noch nicht …”, ging sie spaßeshalber drauf ein, “obwohl … Ein anderes Mal vielleicht.”
Sie erhob sich und warf dem verdutzten Peter noch einen ungalanten Blick zu, bevor sie sich dann doch auf den Weg machte.
“Wer genießen will, muss warten können”, foppte sie ihn noch, ohne seine Reaktion abzuwarten.. Ihren ersten Tag in der Klinik hatte sie sich anders vorgestellt. Das war schon ein seltsamer Ort.
Und ausgerechnet hier sollte sie sich von ihrer emotionalen Erschöpfung erholen? Wie dem auch sei, für den morgigen Tag nahm sie sich vor, sich strikt an ihren Therapieplan zu halten. Und sich von nichts - und vor allem von niemandem - ablenken zu lassen.
Den Nachmittag verbrachte sie damit, die Gegend zu erkunden und einen Spaziergang durch den Klinikpark zu unternehmen, eine etwa zwanzig Hektar große Grünanlage mit Rosenhügeln, Gartenhöfen und einem kleinen Weiher. Richtung Osten gab es dichten Baumbestand, Richtung Westen einen Panoramablick auf die Saar kurz vor ihrer Mündung in die Mosel. Tanja hatte den Nachmittag für sich gebraucht. Sie hatte weder mit Flo gechattet noch hatte sie einen einzigen weiteren Gedanken an die plumpen Annäherungsversuche von diesem Peter verschwendet. Ihr Nervenkostüm war zwar noch immer dünn, ihr Kopf aber einigermaßen klar.
*
Um Punkt zehn Uhr vormittags sollte die Radtour beginnen. Im Fitness-Outfit und mit einer kleinen Plastik-Wasserflasche in der Hand stand Tanja vor dem Klinikgebäude und beäugte ihre Mitradler. Beinahe alle trugen Radoutfit: Enge bunte Polyestershirts und kurze schwarze Hosen mit Sitzpolster. Eine Ausnahme bildete Peter. An seinem adipösen Oberkörper flatterte ein weites, ausgewaschenes Baumwoll-T-Shirt.Tanja erkannte auch die Frau vom Frühstücksbüffet wieder, die Aschblonde mit dem Pferdeschwanz. Außerdem am Start: Ein paar junge Leute, an denen die Kleidung einigermaßen authentisch aussah, sowie … Tom van Buuren. Er hatte Tanja längst erspäht und ersparte ihr nicht den ersten blöden Spruch des Tages: “Vielleicht haben Sie ja auf zwei Rädern mehr Glück als auf vier.”
“Sehr witzig”, konterte sie.
Das kleine Geplänkel fand sein Ende, kaum dass es begonnen hatte, denn aus dem Gebäude kam ein durchtrainierter, gebräunter und gut gelaunter junger Mann, der ebenfalls das Duzen pflegte.
“Guten Morgen”, begrüßte er die Gruppe, “mein Name ist Philipp. Ich bin euer Bike-Guide. In den nächsten Stunden werden wir gemeinsam ein paar Höhenmeter sammeln.”
Er blickte in erwartungsvolle Gesichter. Hätte er gesagt: In den nächsten zwei Stunden werden wir uns über steile Hunsrück-Straßen quälen, hätte er vermutlich in andere Mienen geblickt.
“Das wird keine Spazierfahrt”, präzisierte er, “wir wollen uns nicht die schöne Gegend anschauen. Was wir wollen, ist: Stress abbauen. Und das geht beim Radfahren besonders gut. Warum? Weil Verspannungen und Stresshormone nur dann abgebaut werden, wenn wir uns anstrengen. Weil die angestaute Anspannung nur dadurch abgebaut werden kann, dass unser Körper Endorphine und Serotonin ausschüttet und dadurch die Stresshormone in uns neutralisiert. Das ganze Geheimnis lautet also: Bewegung, Bewegung und nochmals Bewegung!”
Aus seinem Munde klang das fast wie eine Drohung, obwohl er sich doch so sehr bemühte, wie ein Motivationstrainer zu wirken.
“Hier drüben stehen eure Räder.”
Er zeigte in Richtung eines kleinen Pavillons, der als Raddepot und Werkstatt diente, und bat die Gruppe, ihm zu folgen. Wie edle Rennpferde in ihren Boxen standen in dem Pavillon schwarze Carbon-Schönheiten in verschiedenen Größen nebeneinander aufgereiht.
“UD-Carbon, Endurance-Geometrie, 22-Gang-Schaltung, Hydraulik-Disc mit 160er-Scheiben, sub-8-Kilo”, fachsimpelte er, “und damit es nicht zu anstrengend wird: Alle Räder haben eine 32er-Kassette montiert.”
Seine Ausführungen schienen wenig zu beeindrucken. Für die meisten handelte es sich schlicht um Fahrräder. Und die Vorfreude stieg -, trotz Philipps einleitender Worte. Einzig Peter stiegen bei dem Gedanken an Höhenmeter ein paar Schweißperlen auf die Stirn.
Philipp machte sich daran, jedem sein Rad zuzuweisen und ein paar kleinere Korrekturen vorzunehmen. Hier musste die Sattelhöhe verstellt werden, dort war der Lenker zu hoch oder zu niedrig. Außerdem verteilte er Helme an diejenigen, die “oben ohne” gekommen waren. Als die Gruppe schließlich startbereit war, setzte sich Philipp an die Spitze des kleinen Pelotons, und gemeinsam radelten sie die ersten flachen Kilometer an der Saar entlang …
Orte wie Kanzem, Wiltingen und Biebelhausen waren schnell passiert. Auf diesen wenigen Kilometern hatten sich bereits kleine Grüppchen gebildet. Philipp fuhr mit den jüngsten Teilnehmern voran, um den Weg zu weisen. Direkt dahinter befand sich Peter, obwohl er nicht gerade zu den Schnellsten gehörte. Hätte er sich allerdings ganz hinten eingereiht, hätte er möglicherweise den Anschluss verloren. Hinter Peter fuhr Tom. Ganz allein. Er trat betont lässig in die Pedale, nahm zeitweise die Hände vom Lenker und machte auf Radprofi. Das war seine Art zu zeigen, dass er sich unterfordert fühlte. Oder dass er einfach nur angeben wollte. Tanja registrierte sein Gehabe und blieb zusammen mit der Aschblonden, die sich als Laura Zeh vorgestellt hatte, ein paar Meter hinter ihm.
Auf dem Marktplatz von Saarburg angekommen, machte die Gruppe halt.
“Was? Schon?”, wunderte sich Laura, die einen fitten und sportlichen Eindruck machte.
Philipp rief alle zusammen, um sich nach dem Befinden zu erkundigen und die Möglichkeit einer kleinen Kaffeepause vorzuschlagen. Der Marktplatz von Saarburg lud geradezu zum Verweilen ein. Allerdings hatte sich Philipp einen schlechten Ort für ihren Stopp ausgesucht, denn in wenigen Metern Entfernung rauschte ein mächtiger Wasserfall durch das Städtchen. So waren seine Worte kaum zu verstehen. Eine kurze Abstimmung ergab, dass niemand eine Pause einlegen wollte. Selbst Peter, der sich mit hochrotem Kopf eine Flasche Wasser ins Gesicht schüttete, verneinte. Und so begann der hügelige Teil ihrer Tour, hinüber ins Moseltal auf der anderen Seite. Tanja und Laura fuhren noch immer Seite an Seite.
“Du bist gut in Form”, bemerkte Tanja.
“Du meinst, für mein Alter?”, scherzte sie.
“Nee, bestimmt nicht!”
Tanja spürte bereits nach so kurzer Zeit, dass sich ihre Laune besserte und sie Lust auf eine kleine Konversation bekam.
“Ich meine, dass das hier bestimmt nicht deine erste Tour mit dem Rennrad ist.”
“Stimmt”, bestätigte Laura, “sobald es meine Zeit erlaubt, sitze ich im Sattel. Es könnte trotzdem mehr sein. Aber als Politikerin hat man ja immer einen vollen Terminkalender.”
“Kann ich mir vorstellen.”
Tanjas Atmung ging bereits schneller, während Laura noch kaum angestrengt wirkte.
“Stelle ich mir schwierig vor”, presste Tanja hervor.
“Schwierig?”
“Na ja, heutzutage Politik zu machen.”
“Ja, das kann man wohl sagen. Einen gewissen Idealismus braucht man schon, um den Job zu machen.”
“Das kenn ich.”
Beim Thema Idealismus fiel ihr Florian ein, doch sie schob den Gedanken schnell wieder beiseite. Florian schien gerade nicht in ihr Leben zu passen.
“Schau dir Peter an”, sagte Laura und kam auf das Thema Radsport zurück, “hält sich für unwiderstehlich, aber macht schon bei der ersten Anstrengung schlapp.”
Da sich die beiden in einem Anstieg befanden und sich Tom im Wiegetritt in die Spitzengruppe abgesetzt hatte, fuhr Peter direkt vor ihnen. Als er seinen Namen hörte, drehte er sich direkt um, nicht ohne den Lenker zu verreißen und eine gefährliche Schlangenlinie zu fahren. Zum Glück waren auf diesem Teilstück kaum Autos unterwegs.
“Peter? Alles klar bei dir?”
Laura blickte in zusammengekniffene Augen. Das war nicht die Anstrengung, sondern die Sonnencreme, die Peter von der Stirn, zusammen mit dem Schweiß, in die Augen lief.
“Ich dachte, ich hätte meinen Namen gehört.”
“Wir haben uns gerade gefragt, ob die Tour nicht etwas zu anstrengend für dich ist”, wand sich Laura.
“Für mich doch nicht!”, keuchte Peter offenkundig wahrheitswidrig. “Ich bin nur etwas zu schnell in den Berg reingegangen.”
“Wow! Wo hast du denn das Radsportvokabular her?”, wollte Laura wissen.
“Irgendwo aufgeschnappt …”
“Und wen willst du damit beeindrucken?”
Peter schnappte nach Luft. Sein Atem ging immer schneller. Er warf Tanja ein Lächeln zu; ein Lächeln, das charmant wirken sollte, aber eher gequält aussah.
“Lass gut sein, Peter”, half ihm Laura aus der akuten Formschwäche, presste ihre flache Rechte gegen Peters Rücken und schob ihn ein wenig an.
“Komm!”, rief sie Tanja zu, “lass uns mal schauen, ob wir den Angebern da vorn nicht mal zeigen können, was eine Attacke ist.”
Während des Überholvorgangs schob sie Peter ein paar Meter bergan, dann zog sie mit ihrer Begleitung davon. Tanja musste kämpfen, doch Lauras motivierende Art beflügelte sie. Sie blieb dran, ihr Puls raste wie verrückt. Und als sie die kleine Anhöhe erreicht hatte, bemerkte sie etwas ganz Erstaunliches: trotz ihrer körperlichen Erschöpfung fühlte sie sich frei und unbeschwert, so leicht, wie schon lange nicht mehr. Philipp hatte recht gehabt. Je mehr sie sich verausgabte, desto ausgeglichener fühlte sie sich. Der Alltag schien verschwunden. Was blieb, war das Stechen in den Lungen, ihr überhitzter Kopf, der zu platzen drohte, der Schmerz in den Beinen. Alles in allem ein guter Tausch, wie sie fand.
“Kurze Pause?”, fragte Laura und machte sich bereit, ihre Schuhe aus den Pedalen zu klicken.
“Meinetwegen nicht”, log Tanja. Sie griff nach ihrer Trinkflasche und sah hinab ins Moseltal. Nach ein paar flachen Metern schien eine rasende Abfahrt zu beginnen.
Die beiden Frauen rollten gemächlich der Abwärtsserpentine entgegen, Laura voran.
Schließlich stürzten sie sich wagemutig das 15%-Gefälle hinunter. Tanja bemühte sich, die Körperhaltung ihrer Mitfahrerin nachzuahmen. Sie ging aus dem Sattel und beugte ihren Oberkörper tief über den Lenker. Überrascht stellte sie fest, dass Radfahren nicht nur in den Beinen schmerzte …
An der ersten Kreuzung im Tal wartete Phillip mit den anderen. Tanja musste kräftig in die Bremsen greifen, um rechtzeitig zum Stehen zu kommen. Beinahe hätte sie Toms Hinterrad touchiert. Der betrachtete sie mit einer Mischung aus Arroganz und Macho-Gehabe.
“Hatte ich Ihnen nicht geraten, die Bahn zu nehmen?”, ätzte er. “Auf der Schiene wären Sie wenigstens keine Gefahr für andere!”
Tanja starrte ihn fassungslos an. Auf seine Gemeinheiten war sie nicht vorbereitet. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Ihre Augen wurden feucht, was aber nicht am Fahrtwind lag. Er bemerkte es nicht. Sie stieg wieder in den Sattel und fuhr an den anderen vorbei. Philipp schaute ihr verdutzt hinterher, unternahm aber nichts. Einzig Tom sah, dass er wohl zu weit gegangen war und setzte ihr hinterher. Er brauchte nicht lange, bis er sie eingeholt hatte. Er lotste sie auf einen Parkplatz abseits der Hauptstraße und bremste sie schließlich mehr oder weniger elegant aus, sodass beide zum Stehen kamen.
“Was habe ich Ihnen eigentlich getan?”, fragte Tanja weinerlich.
Die Frage schien ihn zu überraschen, so wie ihn überhaupt die leisen Töne zu überraschen schienen.
“Sie mir?”
Tanja sah ihn zum ersten Mal verlegen. Er bemühte sich, schlagfertig zu sein, es wollte ihm allerdings nicht gelingen.
“Nichts … also, ich meine ……”, stotterte er, fand aber umgehend zu seiner Rolle zurück.
“Jetzt seien Sie doch nicht so empfindlich! Was kann ich dafür, dass Ihre Nerven nicht die besten sind?”
“Das fragen Sie jetzt aber nicht im Ernst!”
Tanja war den Tränen nahe. Doch Tom blieb Tom, wie sie ihn kennengelernt hatte.
“Wissen Sie, was ich mich frage? Ich frage mich, wie frustriert man sein muss, um bei dem kleinsten blöden Spruch so dünnhäutig zu reagieren! Vielleicht hatte ich ja recht mit meiner Vermutung: Ihr Mann hat Sie mit ´nem kleinen Hosenscheißer allein gelassen … Verstehen könnt ich’s!”
Tanja schluckte.
“Was wissen Sie schon von meinem Leben? Was geht es Sie überhaupt an?”
Ihre Fragen beantwortete sie selbst: “Genau, nichts und nochmal nichts! Also halten Sie sich endlich aus meinen Angelegenheiten raus! Gehen Sie doch einfach ins Kino, wenn Ihnen langweilig ist und Sie kein eigenes Leben haben!”
Ihre Worten verfehlten ihre Wirkung nicht. Noch bevor Tom etwas erwidern konnte, schwang sie sich aufs Rad und trat in die Pedale, der Sonne entgegen. Zu ihrer Rechten die Weinberge der Obermosel, zu ihrer Linken das luxemburgische Flussufer. Die nächste Ortschaft: Wellen. Tanja gab Gas, sie stellte sich vor, das Ortsschild sei die Ziellinie. Ihr Herz raste, ihre Hände umklammerten den Lenker, ihr Blick ging starr geradeaus. Völlig erschöpft ließ sie den Freilauf surren, kaum hatte sie den Ort erreicht. Vor einer Bäckerei stellte sie das Rad ab und ließ sich in einen Rattansessel fallen. Sie war am Ende ihrer Kräfte, aber glücklich. Die letzten Kilometer hatten Toms Sticheleien vergessen lassen. Tanja blickte auf den Fluss, der friedlich dahinschlängelte. Ein warmer Wind streichelte ihre Haut und ließ den Schweiß trocknen. Blätter raschelten leise im Wind, Sonnenreflexe tanzten auf der Wasseroberfläche. Ein perfekter Moment, dachte Tanja. Der erste seit ihrer Ankunft ….
*
Tanja ging in ihrem seidenen Morgenmantel hinüber zum Fenster und ließ frische Luft ins Zimmer. Sie fühlte sich gut, abgesehen vom Muskelkater in den Beinen und den leichten Verspannungen im Rücken und im Nacken. Am liebsten wäre sie gleich wieder aufs Rad gestiegen, doch ihr Therapieplan sah etwas anderes vor: Die verschobene Fangotherapie, dann - am Nachmittag - Aerial Yoga.
An Tag drei ihres Aufenthalts begann sich schon so etwas wie Routine einzustellen. Ihre Tasche lag fertig gepackt neben der Garderobe. Tanja beeilte sich im Bad, um noch rechtzeitig zum Frühstück zu kommen. Ihr Appetit war immerhin schon zurückgekehrt. Vielleicht lag es aber auch nur an der gestrigen ungewohnten Anstrengung. Auf dem Weg zum Frühstücksraum passierte sie das Entree. Dort saß Peter in einem Ledersessel und war in die Lektüre einer Zeitschrift vertieft. Tanja hatte weder Zeit noch Lust auf ein Gespräch und hoffte, er würde sie nicht bemerken. Doch zu spät. Er hatte sie bereits auf dem Radar.
“Hallo, Tanja”, grüßte er, “guten Morgen!”
Sie wollte nicht unhöflich sein.
“Hallo, Peter! Wie geht’s Ihnen heute? Haben Sie die Radtour gut überstanden?”
“Ich schon”, erwiderte er, “aber wo sind Sie denn abgeblieben?”
“Ich …”, haspelte sie, “ich wollte einfach einen Moment allein sein …”
“Verstehe. Radfahren als Meditation.”
Er zwinkerte ihr zu.
“So ähnlich. Jedenfalls fand ich die Zusammensetzung der Gruppe eher … suboptimal.”
“Na, ich hoffe doch, es lag nicht an mir. Obwohl, verstehen könnte ich’s schon. Uns trennen ja nicht nur einige Jahre, sondern mindestens ebenso viele Kilo.”
Er lächelte.
“Keine Sorge, Peter”, beschwichtigte sie, “an Ihnen lag es bestimmt nicht.”
“Dann lassen Sie mich raten. Das Suboptimum fährt einen Sportwagen, trägt Sechs-Tage-Bart und hört auf den Namen Tom, richtig?”
“Richtig.”
Kurze Pause. Er musterte sie von oben bis unten.
“Wenn ich mir Sie beide so vorstelle … Sie passen wirklich nicht zusammen. Eine junge, moderne und attraktive Frau - und dann dieser …” - er suchte nach dem richtigen Wort - “… dieser Parvenu, der locker Ihr Vater sein könnte!”
Kurze Gesprächspause. Tanja fühlte sich trotz seiner Schmeicheleien unwohl - oder vielleicht gerade wegen seiner Schmeicheleien. Oder gab es etwa noch einen anderen Grund für ihr Unbehagen? Wenn sie tief in sich hineinhorchte, merkte sie, dass sie Peters Versuch, Tom vor ihr schlecht zu machen, einigermaßen ärgerte. Augenblicklich erschrak sie über dieses unbewusste Eingeständnis. Noch bevor sich ihre Gefühle in Widersprüche verstricken konnten, riss Peter sie aus ihren Grübeleien.
“Hab ich etwas Falsches gesagt?”, fragte er naiv. Tanja widerstand dem Impuls, seinen Ausführungen zu widersprechen. Peter setzte noch eins drauf: “Abgesehen vom Alter, Sie und dieser Tom, das passt einfach nicht!”
Tanjas Widerspruchsgeist war geweckt.
“So? Und wieso nicht?”
“Ist doch klar”, erklärte Peter, “Sie beide leben in ganz verschiedenen Welten.”
Seine Küchenphilosophie begann, ihr auf die Nerven zu gehen.
“Erstens”, konterte sie, “woher wollen Sie das wissen? Und zweitens, selbst wenn, schon mal was von Romeo und Julia gehört? Tristan und Isolde? Tony und Maria, Harold und Maude?”
Noch bevor sie merkte, dass sie sich um Kopf und Kragen redete und drauf und dran war, ihr nicht vorhandenes Interesse an Tom zu rechtfertigen, korrigierte sie sich. Schließlich musste sie auch weiter zur Fangotherapie.
“Und außerdem: Ganz abgesehen davon, dass ich schon einen Freund habe, bin ich bestimmt nicht hier, weil ich Anschluss suche … Aber warum erzähl ich Ihnen das eigentlich alles?”
Sie sah nach der Uhrzeit. Just in dem Moment erreichte sie ein Anruf. Eine unbekannte Nummer.
“Tanja Bernhardt”, meldete sie sich.
Es folgte: “Aha, gut … Okay, verstehe … Bis gleich.”
Die Autowerkstatt war dran. Der Typ von Willy’s Autohof hatte ihren Wagen repariert. Sie müsse ihn allerdings heute noch abholen.
Tanja checkte ihren Behandlungsplan und musste feststellen, dass sie es in der Mittagspause kaum schaffen würde. Dann lieber Fango ausfallen lassen, sagte sie sich. Denn Yoga wollte sie auf gar keinen Fall verpassen.
Sie verabschiedete sich kurz von Peter und ging Richtung Haupteingang. Am Empfang deponierte sie ihre Tasche. Gerade als sie sich umdrehte, um vor dem Gebäude nach einem Taxi Ausschau zu halten, stieß sie erneut mit Tom zusammen. Diesmal hatte er wenigstens keinen Kaffeebecher in der Hand. Stattdessen glotzte er auf sein Handy-Display.
“Ups!”, machte er, als er ihren Ellbogen in seinen Rippen spürte. Einigermaßen groß war sein Erstaunen.
“Glauben Sie an Zufälle?”, fragte er. “Falls nicht, dann hätte Gott auf jeden Fall einen sehr schlechten Humor.”
“Oder er hätte zu viele Schmonzetten geguckt”, entgegnete Tanja gereizt. “Ich hab’s jedenfalls eilig. Wenn Sie mich also freundlicherweise vorbei lassen würden …”
Sie standen sich noch immer nur wenige Zentimeter voneinander entfernt gegenüber. Dieser Moment schien sie beide gleichermaßen zu lähmen.
“Aber natürlich”, sagte Tom schließlich. “Wo müssen Sie denn hin?”
Tanja war nicht darauf vorbereitet, aus seinem Munde etwas anderes als Spitzfindigkeiten oder Provokationen zu hören.
“In die Autowerkstatt”, erklärte sie.
Auch jetzt kein Seitenhieb auf ihren alten Corsa. Stattdessen: “Kommen Sie, ich fahr Sie. Dann sind wir pünktlich zum Yoga zurück.”
Tanja staunte nicht schlecht.
“Wir?”
“Ja, klar. Aerial Yoga. Entspannen in der Schwerelosigkeit. Tolle Sache!”
Ihr langgezogenes Okaaayyyy drückte Verwunderung aus. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet.
“Damit haben Sie jetzt nicht gerechnet, was?”
“Stimmt”, sagte sie betreten. Und tatsächlich, dass er Gefallen an der Therapie fand, hätte sie nicht vermutet. Eher schon, dass er nichts und niemanden wirklich ernst nahm.
“Okay, dann sollten wir uns tatsächlich beeilen,” sagte er, “mein Wagen steht gleich hier vorn.”
Und leicht ironisch fügte er hinzu: “Und diesmal hab ich kein Gepäck auf dem Beifahrersitz.”
Tanja rang sich ein Lächeln ab.
“Um so besser.”
Zügigen Schrittes gingen die beiden zu Toms Cabrio hinüber, das direkt vor dem Haupteingang geparkt war. Tom öffnete ihr sogar die Beifahrertür. Dann sprang er hinters Steuer, streifte sich altmodische fingerlose Lederhandschuhe über, aktivierte eine Playlist und startete den Motor, der dumpf und satt zu dröhnen begann.
Aus den Lautsprechern kam Popmusik.
“Ich bin übrigens Tom”, sagte Tom.
“Ich weiß”, sagte Tanja.
Tom stutzte.
“Eilt mein Ruf mir etwa voraus?”
“Könnte man so sagen”, entgegnete Tanja und stellte sich ihrerseits vor.
“Wir hatten ja nicht gerade den besten Start”, sagte er und lenkte das Cabrio forsch durch die kleine Gemeinde.
“Was halten Sie davon, wenn wir noch mal von vorn beginnen? Diesmal ohne Kaffee.”
Er zwinkerte ihr zu.
“Abgemacht?”
“Abgemacht!”
Tanja spürte den Wind in ihren Haaren, als der Sportwagen über die Bundesstraße 51 parallel des Flusses preschte. Sie genoss die Fahrt und sog die warme Luft ein. Lady Gaga sang von einem gewissen Alejandro. Als der Wagen vor dem Stadtzentrum von Trier ins Hinterland abbog, sagte Tom: “Es tut mir übrigens leid.”
“Was denn?”
Tanja ließ ihren Blick weiterhin über die Ausläufer des Hunsrück schweifen.
“Na, das was ich gestern über Sie gesagt habe.”
Sie wusste genau, was er meinte, begnügte sich aber nicht mit Andeutungen.
“So? Was haben Sie denn gesagt?”
“Na, von wegen alleinerziehend und so”, erklärte er reuig, “tut mir wirklich leid. Und geht mich natürlich auch überhaupt nichts an.”
Sie nickte, sah aber immer noch in die Landschaft und würdigte ihn keines Blickes.
“Außerdem liegen Sie da ziemlich falsch”, erwiderte sie schließlich, “ich bin weder alleinerziehend noch hat sich mein Mann aus dem Staub gemacht. Genaugenommen bin ich überhaupt nicht erziehend. Und mein Mann ist auch nicht mein Mann.”
Sie merkte selbst, dass sie sich ungeschickt ausdrückte. Ein Anflug von Nervosität?
“Also, mein Mann ist mein Freund. Was ich sagen will: Wir sind nicht verheiratet. Und Kinder haben wir auch noch nicht.”
“Macht ja nichts”, kommentierte Tom, “das kann ja noch werden.”
Erstmals blickte sie zu ihm hinüber.
“Wer weiß. Im Moment haben wir eher andere Sorgen.”
Sie erschrak beinahe über ihre Offenheit.
“Wollen Sie drüber reden?”
Tanja ließ einige Zeit verstreichen. Die Straße führte an einem Hang entlang, im Tal ein kleiner Nebenfluss der Mosel, am Horizont die Hochflächen des Hunsrück, bestückt mit Windrädern, deren Flügel zu den Elektro-Klängen aus dem Autoradio rotierten. Tanjas Gedanken drehten frei.
“Weiß nicht,” sagte sie nach einer gefühlten Ewigkeit. Und begann dann doch, ihr Leben vor ihrem Mitpatienten auszubreiten. Das muss wohl das Kurphänomen sein, dachte sie, als sie von ihrer kleinen Landwirtschaft erzählte, vom tragischen Tod ihrer Mutter, vom Streit mit Florian … Es tat gut, sich das alles von der Seele zu reden. Sich einem Fremden anzuvertrauen.
Als sie fertig war, tauchte bereits das Firmenschild der Autowerkstatt am Straßenrand auf.
“Jetzt wissen Sie alles über mich, ich aber nichts über Sie”, schloss sie, als Tom das Cabrio auf den Kiesplatz steuerte.
“Tja”, machte er und stellte den Motor ab. Tanja wartete, doch er ging nicht weiter darauf ein.
Stattdessen ein kurzes: “Da wären wir.”
Sie blickte ihn noch einen Moment lang an, etwas verwundert darüber, dass er ihre Lebensgeschichte nicht mit einer Silbe kommentierte. Andererseits: Sollte sie ihm nicht eher dankbar sein, dass er einfach nur zuhörte? Tanja begann zu träumen. Ihre Gedanken schweiften in gefährliche Gefilde ab, bis seine Stimme sie in die Gegenwart zurückholte.