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1. KAPITEL HYOJU

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Es lag wohl am schwülwarmen Wetter dieses Frühsommertages, jedenfalls bildete sich sofort Kondenswasser an der Soju-Flasche, die frisch aus dem Kühlschrank kam. Ich saß unter dem großen Sonnenschirm eines 24-Stunden-Ladens und betrachtete gedankenverloren die winzigen Wassertröpfchen, die von der Flasche auf den Tisch perlten. Langsam schenkte ich den koreanischen Schnaps in einen Pappbecher ein, den ich gratis zur Flasche Soju erhalten hatte. Er verlor bereits seine Form und erfüllte seine Funktion nur noch halbwegs, obwohl ich ihn erst zum dritten Mal füllte. Ich trank den Becher in einem Zug leer. Lauwarm schmeckte der Alkohol besonders süß. Ich biss in das dreieckige Gimbap, getrockneter Purpurtang mit einer Reisfüllung, aber das stellte sich als nicht so einfach heraus, weil der Reis zu einer festen Masse zusammengeklebt war. Ich kaute geräuschvoll. Auf der Packung stand »Gimbap mit mariniertem Rindfleisch«, aber es war mehr Rettich drin als Fleisch. Ich fühlte mich über den Tisch gezogen und dachte, dass mir dieses Gefühl erspart geblieben wäre, wenn auf der Packung »Gimbap mit Rettich« gestanden hätte.

Ich wedelte mit einer Hand in der Luft herum, um die Tauben zu verscheuchen, die sich um den riesigen Sonnenschirm versammelten, und füllte den Pappbecher mit dem Rest der Flasche. Dann lehnte ich mich in dem Plastikstuhl zurück, schlug die Beine übereinander und schaute mich um. Im Park waren viele Berufstätige, die sich nach dem Mittagessen einen kleinen Spaziergang gönnten. Zu dieser Zeit war der 24-Stunden-Laden nicht unbedingt ein geeigneter Ort, an dem eine junge Frau bereits am Mittag allein Soju trinken sollte, aber darauf Rücksicht zu nehmen konnte ich mir in meiner jetzigen Situation und in meinem momentanen mentalen und körperlichen Zustand nicht leisten. Mir fiel ein dunkelroter Fleck auf meiner Anzughose auf; gleichzeitig nahm ich wieder den Geruch von Blut wahr, den ich dank des Alkoholaromas wie auf magische Weise kurz vergessen hatte. Der Blutgeruch stieg aus dem Inneren meiner Nase auf, und mir wurde übel. Ich schob das Stück Taschentuch, das ich mir in die Nase gesteckt hatte, noch etwas tiefer hinein.

Ausgerechnet in dem Moment, als der Job-Interviewer meinte, ich könne zum Schluss ergänzend noch etwas sagen, wenn ich möchte, kam Blut aus meiner Nase geschossen, und ich blieb stumm. Das Blut floss, als hätte man einen Wasserhahn aufgedreht. Der Interviewer erschrak heftiger als ich selbst und erhob sich. Eilig kam er mit ein paar Taschentüchern zurück, überreichte sie mir und vermied sogar Blickkontakt aus Rücksicht auf meine Verlegenheit. Doch das Blut aus meiner Nase, so undankbar war ich, spritzte sogar auf sein weißes Hemd. Fast wie Ketchup, der unerwartet mit einem Plopp aus der fast leeren Plastikflasche herausschießt, wenn man sie schüttelte und drückte. Der Interviewer sagte zwar, es sei kein Problem, aber seinem Gesichtsausdruck nach stimmte es sicher nicht. Schließlich verließ ich fluchtartig den Raum, in dem das Bewerbungsgespräch stattgefunden hatte, und hinterließ dort als einzigen bleibenden Eindruck Blutflecken auf dem Teppichboden.

Bei jedem Schritt gaben die Absätze meiner alten Schuhe ein metallisches Klacken von sich, das absolut nervtötend war. Also zog ich die Schuhe aus. Die Absätze waren abgetragen, und die Nägel schauten heraus. Hätte ich gewusst, was für eine Blamage mich heute beim Bewerbungsgespräch erwartete, hätte ich mit dem Fahrgeld hierher lieber die Absätze meiner Schuhe erneuern lassen.

Nasenbluten, mein Gott, sozusagen kurz vor dem erfolgreichen Abschluss eines Bewerbungsgesprächs … dabei hatte ich diesmal so ein gutes Gefühl gehabt!

In den letzten zwei Monaten blutete ich öfter aus der Nase, völlig unabhängig von Ort und Zeit und mitunter so heftig, dass mir schwindlig wurde. Es geschah meist wie bei einem Dammbruch ohne Vorwarnung. Wenn die Blutung einmal angefangen hatte, konnte sie eine oder zwei Stunden lang andauern, und danach waren ich und meine Umgebung wie in Blut getaucht. Ich war deswegen auch zum Arzt gegangen und hatte mich untersuchen lassen, aber er konnte keine Anomalie feststellen. Er sagte nur, dass mein Nasenbluten mit einem geschwächten Immunsystem zusammenhängen könne; deshalb solle ich darauf achten, keinen Stress zu haben. Außerdem solle ich mich um die Nasenschleimhaut kümmern, damit sie nicht zu trocken werde. Wie es der Arzt empfohlen hatte, schlief ich eine Weile mit einer feuchten Mundmaske und hing ein nasses Handtuch im Zimmer auf, doch die Besserung blieb aus. Eigentlich war auch nichts anderes zu erwarten gewesen. Denn genau wie beim Blut, das einfach so aus meiner Nase strömte, sah meine Situation generell nicht so aus, als würde sie sich in baldiger Zukunft irgendwie verbessern.

Vor drei Monaten hatte Dongwoo mich verlassen. Mit ihm war ich zwei Jahre und sieben Monate zusammen gewesen. Kurze Zeit später verlor ich meinen Job, den ich drei Jahre lang hatte. Jedes Mal war es eine einseitige, grausame Mitteilung, aber unter der Trennung von Dongwoo litt ich besonders schlimm.

Ein Polizist, der sich auf den ersten Blick in die Fahrkartenverkäuferin am Busbahnhof verliebte. So hatte unsere Beziehung angefangen. Dongwoo patrouillierte jeden Tag zur selben Uhrzeit am Busbahnhof und schob mir immer wieder mal etwas zu essen oder eine Kinokarte unter der Acrylscheibe des Schalters hindurch. Oder einen Zettel zusammen mit einem Haarband, das aus verschiedenfarbigen geflochtenen Fäden bestand. Aber ich nahm nie etwas von ihm an. Seine makellose Uniform duftete nach Seife, seine Finger waren grazil, und seine Fingernägel glänzten stets sauber. All das trug dazu bei, dass er mir noch weniger gefiel. Myeongsook, meine Kollegin, schlug vor, dass ich ihm doch mal eine Chance geben solle, aber ich lehnte ihn immer ab, weil er auf mich den Eindruck machte, dass er irgendwie ein allglatter Typ war.

An einem Tag, da sich das Jahr allmählich seinem Ende näherte, änderte sich jedoch die Beziehung zwischen diesen beiden Menschen, die niemals zusammenzukommen schienen.

An jenem Tag schrie mich ein Mann im mittleren Alter an. Er war völlig betrunken, beschimpfte mich, fluchte, spuckte und schlug gegen die Acrylscheibe vor mir. Er machte einen gewaltigen Lärm und wurde schließlich handgreiflich gegen den Sicherheitsdienst, der herbeigeeilt war. In diesem Moment tauchte Dongwoo auf. Seine Bewegungen waren flink, sein Blick wirkte entschlossen. Rasch trennte er den aufgeregten Störenfried vom Sicherheitsdienst, drehte ihm mit Leichtigkeit den Arm auf den Rücken und drückte ihn dann blitzschnell zu Boden. Sein Kollege kam hinzu und legte dem Mann Handschellen an; damit war die Lage unter Kontrolle. Dongwoo hob seine Kappe auf, die auf den Boden gefallen war, setzte sie wieder auf und kam zu mir. Lächelnd holte er eine Tafel Schokolade aus seiner Hosentasche und schob sie unter der Schalterscheibe hindurch. »Oh, sie ist zerbrochen«, sagte er zu sich selbst und kratzte sich dabei an der Wange, die eine Schramme zierte.

»Ich bin großartig, Hyoju, oder?« fragte er mich und grinste schlitzohrig. Sein Atem ging heiß.

»Sie bluten an der Wange«, sagte ich zu ihm, hob eine Hand und richtete sie auf die betreffende Stelle.

»Tatsächlich? Oh ja, stimmt«, sagte er und schaute sich sein Gesicht in der Acrylscheibe an. Im nächsten Moment rief ihn sein Kollege.

»Ich muss zur Wache und die Wunde versorgen. Ich geh dann mal, Hyoju«, sagte Dongwoo, hob die Augenbrauen an und verschwand lächelnd mit seinem Kollegen durch den Busterminal.

Ich schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, und legte die zerbrochene Schokolade in meine Schublade. Erst danach spürte ich, wie mein Herz hämmerte, ohne dass ich mir dessen gewahr gewesen war. Am nächsten Tag kam Dongwoo wie immer zu mir und schob eine Kinokarte unter der Schalterscheibe durch. Als ich die Karte wortlos nahm und in die Schublade meines Schreibtisches legte, strahlte Dongwoo so glücklich wie noch nie zuvor.

An jenem Abend betrachtete ich zum ersten Mal Dongwoo etwas genauer von hinten. Er stand vor der großen gläsernen Eingangstür des Busbahnhofs und wartete auf mich. Seine grazilen Hände waren stets ein wenig in Bewegung, und sein Atem verteilte sich in kleinen Wölkchen. In der kalten Winterluft und unter den Neonlichtern der Straße stach Dongwoo leuchtend heraus. Ich ging lautlos zu ihm, stellte mich neben ihn und atmete einmal tief die Winterluft ein und aus. Als mein heißer Atem die kalte Luft zur Seite schob und sich in Wölkchen verteilte, schaute er mich an und hob wie zu einem zaghaften Gruß eine Schulter an. Sein Blick ruhte für eine Weile auf mir, seine Pupillen zitterten leicht. Vor Verlegenheit? Oder vor Aufregung? Er holte aus seiner Manteltasche einen Becher mit heißem Kaffee heraus, reichte ihn mir und atmete einmal tief in die kalte Luft aus, so wie ich es gerade getan hatte. Zusammen schauten wir uns einen Film an, tranken anschließend in einer japanischen Kneipe warmen Sake zu Tataki und liefen bis zur U-Bahn-Station. Es war sehr kalt. Als ich, ohne es zu wollen, mit den Zähnen klapperte und die Schultern zusammenzog, nutzte Dongwoo das als Vorwand und ergriff sanft meine Hand. Seit jenem Tag waren wir wie selbstverständlich ein Liebespaar.

Dongwoo war wie der Sonnenschein im Frühling, ein überaus fürsorglicher Mann. Er zog mich weiter in die Mitte des Regenschirms, obwohl auf seine Schulter der Regen prasselte, und er sagte mir, dass er immer für mich da sei und dass ich mit all meinen Sorgen und Nöten zu ihm kommen könnte. Wie aus Gewohnheit redete er oft von unserer gemeinsamen Zukunft, und jedes Mal lächelte ich lediglich bei seinen Worten. Und genau ein Jahr, nachdem wir zum ersten Mal zusammen ausgegangen waren, machte er mir in aller Form einen Heiratsantrag. Als er diese ernsthafte Frage stellte, erkannte ich an seinem Gesichtsausdruck, dass ich diesmal nicht mit einem Lächeln davonkommen würde. Es war ein Moment, von dem ich unzählige Male geträumt hatte, dennoch konnte ich den Mund nicht aufbekommen. Obwohl ich wusste, dass dieser Moment irgendwann eintreten würde, der Moment, in dem ich nicht mehr ausweichen konnte, hatte ich enorme Angst davor, was Dongwoo dazu sagen würde, wenn ich ihm jene Sache erzählte. Schließlich musste ich akzeptieren, dass ich es nicht länger hinauszögern konnte. Dies war der Moment, da ich es ihm erzählen musste.

»In Wirklichkeit habe ich …«, fing ich an, hielt inne und zog unbewusst die Lippen nach innen.

»Ja, was hast du?«

»Ich habe … keine Eltern.«

Eigenartigerweise schwitzte ich, obwohl ich nur kurz den Mund aufgemacht hatte und meine Lippen und meine Zunge wirklich das einzige waren, was ich bewegt hatte. Dongwoo wurde still. Es schien, als hätte er aufgehört zu atmen, und sogleich zitterten seine Pupillen kaum merklich. Er vermochte nicht zu lächeln. Als ob ich ihm leidtäte, streichelte er meinen Kopf und umarmte mich dann wortlos. Es dauerte eine gute Weile, bis er wieder lächelte, ich aber konnte es immer noch nicht.

Seit jenem Tag lächelte Dongwoo mich genau wie sonst an und nahm mich auch liebevoll in die Arme. Allerdings versank er immer öfter apathisch in Gedanken. Intuitiv nahm ich wahr, dass eine Abkühlung in unserer Beziehung eingetreten war. Er fing an, bestimmte Themen nicht mehr anzuschneiden, und vermied das Wort Heirat.

Ich gab mir alle Mühe, eine Erklärung zu finden. Wahrscheinlich musste er über verschiedene Dinge nachdenken, weil eine Hochzeit keine Angelegenheit war, die nur ihn und mich anging. Wahrscheinlich befand er sich gerade in einer Phase, die von ihm große Anstrengungen verlangte, aber am Ende würde er doch alles gut lösen. Ich bemühte mich wirklich, so zu denken, und brachte großes Verständnis für ihn auf. Trotzdem wurde mein Herz immer unruhiger. Die Möglichkeit, dass ich Dongwoo verlieren könnte, jagte mir Angst ein, und sie verwandelte sich allmählich in eine Obsession. Ich sehnte mich sehr häufig nach der Bestätigung seiner Liebe und bettelte regelrecht um sie, indem ich auf ihn stieg, obwohl er mich vorher zurückgewiesen hatte mit der Begründung, er sei erschöpft. Kleinigkeiten, die er gedankenlos ausführte, frustrierten mich, und ich fühlte mich mehr und mehr vernachlässigt. Allmählich wurde ich physisch und mental immer schwächer und leerer. Ich nahm wahr, dass Dongwoo meiner überdrüssig wurde, dennoch handelte ich wie ein ruheloser Hund, der seinen Schwanz zwischen die Hinterläufe klemmt. Ich wusste sehr gut, dass ich das lassen sollte, aber ich konnte einfach nicht damit aufhören.

Über ein Jahr nach seinem Antrag, an einem Tag im März, der nichts mit einem Frühlingstag gemein hatte, sagte Dongwoo mir schließlich vor einer bitteren Tasse Kaffee Lebewohl. Er meinte, dass ich für ihn eine Belastung sei und er es sehr schwer mit mir habe. Ich versuchte, ihn festzuhalten, und versprach ihm, dass ich mich ändern wolle und ihm in Zukunft nicht mehr zur Last fallen würde. Doch letztlich musste ich die Tatsache hinnehmen, dass ich versuchte, den Brunnen abzudecken, nachdem das Kind schon hineingefallen war. Dongwoo, der seinen Kaffee unangerührt stehen ließ und mich verständnislos anstarrte, hatte mich längst verlassen.

Jedes Mal, wenn ich den Temperaturunterschied in einer Liebesbeziehung spürte, sehnte ich mich hartnäckig und verbissen nach Liebe; ich wollte die Temperatur meines Partners mit der meinen in Übereinstimmung bringen. Doch dieses Bestreben führte ausnahmslos zur Trennung: sowohl bei meiner erste Liebe Jaejun, mit dem ich während meiner Zeit an einem Community College fast zwei Jahre lang zusammen war, als auch bei meiner zweite Liebe Seongyun, der als Verkäufer in einem Handyladen gearbeitet hatte. Beide hatten mich wegen meines krankhaften Liebesbedürfnisses verlassen. Aber Dongwoo war für mich ein ganz besonderer Mensch. Mit ihm hatte ich mir zum ersten Mal im Leben eine Zukunft ausgemalt, die zwar noch vage war, aber schon bald hätte Realität werden können. Die Zeit, in der mir eine wunderschöne Zukunft möglich schien, war jedoch nur kurz und löste sich am Ende auf wie ein Luftschloss; und die Liebe ging zu Ende, als ob in meinem Leben nichts anderes mehr für mich vorgesehen wäre.

Die Zeit direkt nach der Trennung war entsetzlich. Mir war heiß, als ob ich in Brand gesteckt worden wäre. Endlose Gedanken kamen hoch, quälten mich und raubten mir vollkommen den Schlaf. Die emotionalen Höhen und Tiefen ließen mich sogar ernsthaft befürchten, dass ich allmählich verrückt würde, wenn das so weitergehen sollte. Den ganzen Tag hämmerte mein so Herz heftig, dass ich nicht normal atmen konnte. Unter diesen Umständen war es nur eine Frage der Zeit, bis ich auch in der Arbeit kleinere und größere Fehler machte, und ich musste dafür böse Blicke meiner Vorgesetzten, Frau Cha, ertragen. Jene Tage dauerten an, und schließlich passierte es: Ein Fahrgast, der sich in der Fahrtroute geirrt hatte und mit dem falschen Bus gefahren war, veranstaltete einen Tumult. Er fluchte lauthals über mich, gebrauchte entsetzliche Worte, die ich selbst niemals in den Mund genommen hätte. Wie ein Nashorn drückte er seinen Kopf gegen die Acrylscheibe des Schalters, schob eine Hand durch die Schalteröffnung und packte mich am Kragen. Ich wurde von ihm hin und her geschüttelt, und seine endlosen Flüche prasselten ohne Unterlass auf mich nieder. Um uns herum bildete sich eine Traube aus Schaulustigen; sie standen da wie Mannequins, den Blick auf uns gerichtet, raunten und flüsterten sich Worte zu. Mein Herz schlug so erbarmungslos, als ob es gleich ausbrennen würde. Die Umgebungsgeräusche verschwanden, in meinem Kopf verspürte ich nur noch ein scharfes Ohrensausen. In dem Moment, als mein Bewusstsein langsam schwand, befreite ich mich, trat ein paar Schritte zurück, streckte meine Hand nach dem Mülleimer aus, der neben mir stand, hob ihn hoch und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen den Mann. Mit einem lauten Krachen fiel der Mülleimer auf meinen Schreibtisch. Ich hatte den Mülleimer exakt dorthin geschleudert, wo der Mann stand, aber ich verletzte ihn nicht, sondern zerstörte nur die gläserne Auflage meines Schreibtisches, auf die der Mülleimer fiel, nachdem er von der Acrylscheibe abgeprallt war.

Ich hatte doch mit dem Mülleimer den Mann getroffen! Auch wenn zwischen ihm und mir die Acrylscheibe war, musste ich den Mann doch genau getroffen haben! Doch er war unverletzt und starrte mich bloß mit offenem Mund an. Im Warteraum des Busbahnhofs hallte mein heftiges Keuchen wider. Immer wenn sich meine Brust mit heißem Atem füllte, nahm das scharfe Ohrensausen zu, wurde lauter und brachte meinen Kopf zum Dröhnen. Ich hörte das Raunen der Menschen, die mich beobachteten, nicht mehr. In diesem Augenblick traf mein Blick den von Dongwoo, der hinter dem Mann stand und mich fixierte. Sein erstarrter Blick, in dem weder Mitgefühl noch Bedauern und auch kein Erstaunen zu erkennen war, war einzig und allein auf mich gerichtet. In diesem Moment wurde vor mir alles schwarz, und Sekunden später begann meine Nase, heftig zu bluten. Wie ein Wasserfall strömte das Blut heraus; als ich das wahrnahm, verlor ich sogleich das Bewusstsein.

Nach diesem Vorfall wurde ich gefeuert. Wegen Unhöflichkeit. Allerdings wusste ich bis heute nicht, wer wem gegenüber unhöflich gewesen sein sollte.

Ich zog meine Schuhe, die ich ausgezogen hatte, wieder an. Dann leerte ich den Pappbecher mit dem Rest Soju und erhob mich aus dem Plastikstuhl. All die Menschen, die noch zahlreicher geworden waren, und die Tauben, die sich um den Riesensonnenschirm versammelten, brachten mich in Verlegenheit. Ich konnte nicht länger hier sitzen bleiben. Der Boden bewegte sich unter meinen Füßen. Vielleicht hatte ich das lauwarme Soju zu hastig getrunken. Das metallische Klacken bei meinen torkelnden Schritten nervte mich. Die Platanen im Park wiegten sich langsam im schwülen hochsommerlichen Wind. Ich bildete mir ein, dass alle Menschen, die hier auf Bänken saßen und gelassen eine Tasse Kaffee genossen, nur auf meine Schuhe schauten, die das metallische Geräusch verursachten. Bei jedem Klicken wurde ich rot, dennoch senkte ich nicht meinen Kopf. Ich verließ den Park. Die starke Hitze brachte die Luft über der vierspurigen Fahrbahn zum Flimmern. Autos, die auf Grün warteten, bewegten sich langsam und mit gedämpftem Motorengeräusch voran. Ich begann, ohne Ziel loszulaufen.

Vor den Hochhäusern auf beiden Seiten der Straße herrschte reger Verkehr. Menschen gingen hinein, andere kamen her aus. Menschen, die ein Getränk in der Hand hielten, betraten ein Gebäude; Menschen, die einen großen Briefumschlag in der Hand hielten, kamen aus einem Hochhaus heraus. Durch die Fenster eines Gebäudes sah ich Computer auf den Schreibtischen. Weiße Hemden, helle Anzüge. Alle sahen blendend aus, nur ich hatte Schuhe an, die Metallgeräusche von sich gaben, und lief so durch die Straßen.

Ich fuhr mit dem Bus und stieg in der Nähe meiner Wohnung aus. Die Sonne, die gerade noch erbarmungslos geschienen hatte, versank allmählich hinter dem Horizont. Ich stand auf dem Asphalt, der die Hitze des Tages in sich gespeichert hatte, und schaute zum violetten Himmel hinauf. Dabei kam ich mir wie eine Spielzeugfigur in einer Schneekugel vor. Eine Spielzeugfigur, die stets auf ihrem Platz bleibt, wie sehr sie sich auch bewegen mag.

Ich überquerte den kurzen Zebrastreifen. »Ich muss nur bis zur Ecke laufen, dann bin ich praktisch zu Hause«, dachte ich und mit diesem Gedanken zog ich meine unbequemen Schuhe aus und trug sie in der Hand. Meine Zehen, die fest zusammengedrückt worden waren, genossen die plötzliche Freiheit und fühlten sich wesentlich wohler. Ich hatte nur noch ein paar Schritte bis zur Wohnung, da stach mir der Briefkasten ins Auge, der zum Platzen mit Postsendungen gefüllt war. Es schien mehr geworden zu sein, seitdem ich am Morgen aus dem Haus gegangen war. Ich nahm die gesamten Postsendungen heraus, die kurz davor waren, aus dem Schlitz zu quellen. »Was bringt es, diese Rechnungen in die Wohnung mitzunehmen, wenn ich sie ohnehin nicht bezahlen kann«, dachte ich zwar, aber der Briefträger würde sonst weitere Rechnungen schlichtweg auf den Briefkasten legen, wenn ich ihn nicht endlich leeren würde. Obwohl ich in den Händen bloß Rechnungen und ein Paar Schuhe trug, aus deren Absätzen die Nagelköpfe herausschauten, fühlten sich meine Arme immer schwerer an, während ich langsam die Treppen zur Wohnung hochstieg.

In der Wohnung brannte kein Licht. Es war auch keine Wärme vorhanden. Obwohl sich die Wohnung noch nicht von der tagsüber eingedrungenen Hitze abgekühlt hatte, herrschte in allen Ecken des Raums eine unverkennbare Kühle, die typisch für eine Wohnung war, in der jemand allein lebte. Ich legte die Post auf den Esstisch, zog den verschwitzten Hosenanzug aus und ging unter die Dusche. Als ich aus dem Bad kam, drang ein Windstoß durch das halb geöffnete Fenster herein. Auch heute würde todsicher der Abend eintreten. Das nasse Haar mit der Hand rubbelnd, setzte ich mich auf den Stuhl am Esstisch. Mein Blick fiel auf die ungeöffneten Rechnungen, gleichzeitig hatte machte sich ein drückendes Gefühl im Brustbereich breit. Wenn ich die Rechnungen bis zum nächsten Monat nicht begleichen konnte, würde ich die letzte Mahnung erhalten und in fettgedruckter roter Schrift lesen: Ab sofort stellen wir die Lieferung von Strom, Gas und Wasser ein.

Aus dem Kühlschrank holte ich eine Flasche Soju und füllte damit ein Wasserglas voll. Es war so groß, dass genau die Hälfte der Flasche hineinpasste. Davon nahm ich einen großen Schluck, und bevor der Alkoholgeschmack vollständig aus dem Mund verschwunden war, gönnte ich mir einen weiteren Schluck Soju. In der Magengrube fühlte ich deshalb stechende Schmerzen, aber das kümmerte mich kaum. Nachdem ich den letzten großen Schluck genommen und damit das Glas vollständig geleert hatte, begann mein Kopf dumpf zu kreisen, und das Ohrensausen begann.

Die Decke fing an, sich langsam zu bewegen. Ich stand vom Stuhl auf und fiel kraftlos ins Bett. Mit trockenen Augen schaute ich zu der sich drehenden Decke hinauf. Ich horchte auf meinen lauten Herzschlag, der nicht von meinem Herzen zu stammen schien. Ich war betrunken. Dennoch konnte ich nicht einschlafen. Meine Finger suchten mein Handy und drückten wie selbstverständlich Dongwoos Nummer.

Tatsächlich hatte ich ihn nach der Trennung ein paar Mal angerufen. Einmal als der Morgen dämmerte, ich völlig betrunken war und einfach nicht einschlafen konnte; ein anderes Mal vor seiner Wohnung; und noch einmal, woran ich mich allerdings nicht erinnern konnte, zumindest tauchte seine Telefonnummer in der Liste der ausgehenden Anrufe auf. Nie wieder, nie wieder. Nach dem Anruf bereute ich es jedes Mal zutiefst und schwor, ihn nie wieder anzurufen. Aber diesen Schwur brach ich stets aufs Neue. Es klingelte sieben Mal, bis Dongwoo sich meldete. Hatte er es sich siebenmal überlegt, ob er rangehen soll?

»Hallo.«

Ich antwortete nicht und lauschte nur seiner Stimme. Auch er sagte nichts und konzentrierte sich nur auf mich am Telefon. Die Zeit verging, wir lauschten lediglich dem Atmen, erfühlten die Existenz des anderen am Telefon.

»Schlaf mit mir, nur das.«

Auf meine Worte erwiderte Dongwoo nichts.

»Schlaf mit mir, nur das. Ohne ein Liebespaar zu sein«, sagte ich noch einmal.

»Lass uns endlich Schluss machen, Hyoju.«

»Möchtest du das nicht?«

»Hyoju.«

Dongwoo sprach erneut meinen Namen aus. Seine Stimme klang liebevoll, aber sein Ton war entschieden. Keiner sagte mehr ein Wort. Ich hoffte, dass unser Gespräch weitergehen würde, aber das ging es nicht.

»Dongwoo.«

»Ja?«

»Was habe ich dir gegenüber so falsch gemacht?«

Meine Augen taten mir weh. Ich fürchtete, dass mir gleich Tränen über die Wangen laufen würden, daher hielt ich den Mund offen und bewegte meine Zunge.

»Es hat nur sein Ende gefunden, weil es keine weitere Geschichte mehr zu erzählen gab. Du hast nichts falsch gemacht«, sagte er.

Ich sah so klar und deutlich die Geschichte, die er und ich uns bis in alle Ewigkeit zu erzählen hätten; doch er sagte, dass es keine Geschichte mehr gab, die weitererzählt werden könnte.

»Lass es uns bitte nur einen Monat lang noch mal versuchen.«

»Es tut mir leid«, sagte er, darauf folgte ein langes Seufzen.

Ich biss mir auf die Lippe, meine Finger zitterten entsetzlich. Schließlich beendete ich vor Dongwoo das Telefongespräch. Ich krümmte mich im Liegen. Mein Herz hämmerte. Ich schloss die Augen, konnte jedoch nicht einschlafen. Aufgrund des Alkohols schlug mein Herz mittlerweile noch heftiger und schneller. Das Schlagen war anfangs nur im Herzen zu spüren, irgendwann dehnte es sich bis in den Kopf aus. Auch in meiner Handfläche, in der noch mein Handy lag, spürte ich, wie mein Herz zu hämmern begann. Mein Handy klingelte nicht. Bis zum Tagesanbruch blieb es stumm, und genau deswegen wachte ich ständig auf und schlief schlecht.

Das Vibrieren meines Handys weckte mich. Ich blickte aufs Display, um den Anrufer auszumachen. Es war nicht Dongwoo. Ich atmete einmal tief ein und aus und las noch einmal die Nummer des Anrufers. Sie war mir vollkommen unbekannt. Will vielleicht die Firma, bei der ich gestern ein Vorstellungsgespräch hatte, über mein Nasenbluten hinwegsehen, weil sie dringend eine Buchhalterin braucht? Eine leise Hoffnung keimte in mir auf, und ich nahm den Anruf an.

»Hallo.«

»Hallo.«

Es war ein Mann in ziemlich hohem Alter. Im Hintergrund hörte ich die Stimmen vieler Menschen.

»Ja, was möchten Sie, bitte?«

»Ist das der Anschluss von Frau Hyoju Seo?«

»Ja.«

»Oh, sehr gut. Äh, also Ihre Großmutter mütterlicherseits ist gestern gestorben.«

»Was?«

»Ihre Großmutter ist gestorben.«

Großmutter? Ich verstand nicht, wovon der Mann am Telefon redete. Ich setzte mich auf und fragte ihn: »Wer sind Sie?«

»Ich bin der Gemeindevorsteher hier.«

»Ich glaube, dass Sie falsch verbunden sind.«

»Sind Sie nicht Frau Hyoju Seo? 29 Jahre alt. Ihr Vater heißt Jeonghoon Seo und Ihre Mutter Nanhee Kim.«

»Ja, das stimmt schon, aber …«

»Dann bin ich richtig bei Ihnen. Ich schicke Ihnen jetzt die Anschrift Ihrer Großmutter.«

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe keine Großmutter.«

Ich saß am Bettrand und starrte auf den Boden, der sich vor mir bewegte.

»Sie hatten eine Großmutter, davon haben Sie nur nichts gewusst.«

»Hören Sie auf, das ist nicht witzig.« Mein Ton war unfreundlich, streng. Ich war genervt, weil ich sehr schlecht geschlafen hatte, und der Alkohol von letzter Nacht war auch nicht unschuldig daran.

»Glauben Sie, dass ich nichts Besseres zu tun habe? Die Trauerfeier soll bald stattfinden, und dafür braucht man den Haupttrauernden, die Angehörigen«, sagte der Mann, der sich als der Gemeindevorsteher vorgestellt hatte. Er gab nicht nach.

Bis heute wusste ich nicht einmal, dass ich eine Großmutter hatte, und nun wollte man, dass ich die Haupttrauernde auf ihrer Trauerfeier gab. Meine Stimme wurde tiefer, bevor ich mich versah: »Hören Sie mir mal bitte gut zu. Sagen wir mal, dass Sie recht haben und es sich um meine Großmutter handelt. Dennoch habe ich auf keinen Fall vor, für jemanden, den ich nie gesehen habe, die Rolle der Haupttrauernden zu übernehmen.«

Der Mann blieb kurz still. Dann fragte er mich: »Was soll ich dann mit der anderen Sache machen?«

»Womit?«

»Ihre Großmutter hat Ihnen ein Erbe hinterlassen.«

»Was?«

»Ein Erbe, das Erbe meine ich.«

Das Wort »Erbe« drang tief in mein Ohr ein. Ich hielt den Mund, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte.

»Hallo? Sind Sie noch dran?«

»Ja, ich bin noch dran.«

Nicht die Nachricht über den Tod einer Blutsverwandten, von der ich nichts gewusst hatte, sondern das Erbe, das diese Blutsverwandte mir anscheinend hinterlassen hatte, ließ mich am ganzen Körper zusammenschrecken. Aus Angst, dass der Mann am Telefon meine veränderte Einstellung bemerken könnte, hielt ich den Atem an.

»Ich sende Ihnen auf jeden Fall die Adresse. Und das Erbe ist ohnehin eine Angelegenheit, die ich nicht willkürlich regeln kann.« Der Mann klang beleidigt und beendete unverzüglich das Gespräch.

Daraufhin erhielt ich eine SMS mit der besagten Adresse. Ich betrachtete sie lange, nahm eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und trank sie gierig zur Hälfte leer. Danach fühlte ich mich, als ob mein Kopf etwas klarer würde. Der strenge Soju-Geruch blieb irgendwo weit hinten im Gaumen. Das Fenster stand offen, von draußen hörte ich eine Stimme über einen Lautsprecher, die defekte Geräte wie Waschmaschinen, Computer, Klimaanlagen und Fernseher ankaufen wollte. Langsam dahinrollende Reifen, ein ratternder Motor. Wie die lärmenden Geräusche von draußen dröhnte es auch in meinem Kopf, den allerlei Gedanken durchzogen.

Seit 22 Jahren lebte ich alleine. Ohne jegliche familiäre Unterstützung hatte ich mein Leben gemeistert; ich musste Vorurteile über mich ergehen lassen und auf vieles verzichten. Dafür lernte ich, die Zähne zusammenzubeißen und mich irgendwie durchzuschlagen. Und jetzt wollte man, dass ich die Haupttrauernde auf der Trauerfeier für meine Großmutter spielte, die ich nie kennengelernt hatte. Selbstverständlich hatte ich überhaupt keine Lust, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich hatte keine Großmutter, folglich gab es auch keinen Grund, mich für ihre Trauerfeier verantwortlich zu fühlen. Der Tod einer alten Frau, die ich nicht kannte, interessierte mich kein bisschen.

Aber das »Erbe«! Dieses Wort ließ mich am ganzen Körper zusammenzucken, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Wie erbärmlich! Anscheinend war der Spruch nicht aus der Luft gegriffen, dass man seinen Stolz sowie alles andere verliert, wenn man zu lange unter Geldnot leidet. Ich kämmte mir mit der Hand durch das Haar, steckte es hinter die Ohren und setzte mich vor den Kühlschrank. Ob Erbe oder nicht, im Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass ich von diesem entsetzlichen Kater befreit wurde.

Plötzlich klopfte es heftig an der Tür. »Frau Seo«, rief eine Frauenstimme nach mir.

Dieses kräftige Klopfen unterbrach auf einen Schlag meine Gedanken, die sich im Kreis zu drehen schienen. Ich hielt den Atem an, saß vor dem Kühlschrank und nahm mir vor, in dieser Pose so lange zu verharren, bis die Person, die mich sprechen wollte, verschwunden war. Noch einmal wurde kräftig an der Tür geklopft, und die Stimme meldete sich erneut: »Frau Seo.« Das wiederholte sich mehrmals, aber ich erwiderte nichts. Die Person, die mich um diese Zeit aufsuchen wollte, konnte nur die Vermieterin sein. Endlich wurde es still vor der Tür, und ich hörte, dass jemand die Treppen hochstieg. Erst danach atmete ich wieder aus, nachdem ich lange die Luft angehalten hatte.

Ich konnte die Miete für diesen Monat nicht bezahlen. Eine glaubwürdige Ausrede hatte ich mir noch nicht einfallen lassen. Wenigstens hätte ich den Mülleimer nicht geworfen, wenn ich gewusst hätte, dass ich mich dann in dieser Lage befinden würde. Dann wäre es auch nicht nötig gewesen, mich wie eine Maus zu verhalten, die sich in einem Loch versteckt, um sich vor der Katze zu retten. Ich lief auf Zehenspitzen, weil die Vermieterin möglicherweise noch vor der Tür stand und horchte, ob ich nicht doch zu Hause sei. Ich setzte mich auf den Bettrand und schaute zum Fenster hinaus.

Als ich gekündigt worden war, hatte ich gedacht, dass es so besser sei. Denn ich war nicht stark genug, Dongwoo jeden Tag zu begegnen, der immer um dieselbe Zeit im Warteraum des Busbahnhofs auftauchte; außerdem konnte ich auch keine Sekunde mehr ertragen, wie meine Vorgesetzte mich hemmungslos kritisierte, wenn ich irgendeinen Fehler gemacht hatte. Ich war der Meinung, dass ich Dongwoo vergessen könnte, wenn ich ihn nicht mehr jeden Tag sah, und ich hoffte auch, schnell wieder eine neue Arbeitsstelle zu finden. Ich könnte mit dem Arbeitslosengeld ein paar Monate mehr oder weniger problemlos überbrücken, bis ich einen neuen Job antreten würde. Alles ließe sich ohne große Schwierigkeiten lösen, dachte ich. Aber die Realität belehrte mich eines Besseren. Da ich Dongwoo nicht mehr sehen konnte, verlangte mein Herz umso mehr nach ihm, und ich machte mich endlos lächerlich vor ihm. Und das Arbeitslosengeld durfte ich nicht einmal beantragen, weil die Kündigung eigenverschuldet war. Was eine neue Arbeitsstelle betraf, so musste ich leidvoll feststellen, dass es ganz und gar keine so leichte Angelegenheit war, wie ich es mir vorgestellte hatte. Es war fast unmöglich, denn ich wurde äußerst selten zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Und wenn ich endlich mal eine Einladung bekam, wurde sie durch Nasenbluten vermasselt, gegen das ich zwei- bis dreimal pro Woche zu kämpfen hatte. Ein Monat verging und dann noch ein Monat, und ich wurde immer weiter in die Ecke getrieben. Ich musste mir eingestehen, dass ich zu nichts in der Lage war, und die Enttäuschung über meine Unfähigkeit und die damit einhergehende Selbstverachtung wuchsen immer weiter an.

Auf einmal wurde mir ein bisschen schwindlig, und fast gleichzeitig fiel ein blutiger Klumpen auf das Bett. Ein glitschiges Stück Blut. Rasch richtete ich den Kopf nach unten, hielt mir mit einer Hand die Nase zu und stand vom Bett auf. Dann drückte ich mir das weiße Handtuch, das über dem Stuhl am Esstisch hing, gegen die Nase. Es wurde schnell rot. Wegen des starken Nasenblutens wurde mir noch schwindliger, und der Kater rief Schüttelfrost hervor. Als das Bluten nachließ, stopfte ich den Fetzen eines Papiertaschentuchs in die Nase und legte mich zusammengerollt ins Bett. Erschöpft schloss ich die Augen, atmete durch den Mund tief ein und aus. Das Zimmer drehte sich.

Als ich wieder aufwachte, bildete das Licht der orangefarbenen Straßenlaterne einen länglichen Streifen in meinem Zimmer. Das bedeutete, dass ich einen halben Tag lang ohnmächtig gewesen war. Das Kopfkissen hatte durch das getrocknete Blut dunkelrote Flecken. Ich zog den Kopfkissenbezug ab, warf ihn in den Wäschekorb, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Entgegen meiner Überzeugung, dass noch Mineralwasser vorrätig sein müsste, war im Kühlschrank weder Wasser noch irgendetwas Essbares zu finden. Mein Magen knurrte laut, und bei jedem Knurren spürte ich einen stechenden Schmerz im Bauch. Mein Geldbeutel war diesen Monat längst leer. Ich öffnete mein Sparschwein. In seinem Bauch fanden sich 84.680 Won, gerade genug, um sich ein bis zwei Wochen mit Lebensmitteln zu versorgen. Ich nahm nur die Tausender heraus, steckte sie in meine Hosentasche, schlich ganz leise aus der Wohnung und ging zum 24-Stunden-Laden in der Nähe meiner Wohnung. Ich kaufte eine 1,5-Liter-Flasche Mineralwasser und ein dreieckiges Gimbap und verließ den Laden wieder. Die Plastiktüte, in der sich mein Einkauf befand, hörte sich genauso leer an wie mein Magen. Die Gasse war erfüllt von allerlei Gerüchen, die von der Zubereitung des Abendessens in den verschiedenen Häusern herrührten. Aus einer Tüte mit frittierten Hähnchen, die ein neben mir laufender Mann trug, stieg der Duft von Pfeffer auf, und aus dem Fenster eines Einfamilienhauses wehte mir der Geruch von Fisch entgegen, der in einer Pfanne gebraten wurde. Länger als zehn Jahre wohnte ich hier, aber mein Herz litt immer noch, wenn ich um diese Zeit, zu der man normalerweise das Abendessen zubereitete, durch die Gasse lief und Essen roch.

Als ich noch im Waisenhaus lebte, tobte ich mit den Nachbarskindern manchmal bis zum frühen Abend auf dem Spielplatz herum. An solchen Tagen kam eine Mutter nach der anderen zum Spielplatz, um ihr Kind abzuholen. Es gab Kinder, die ihren Müttern zuwinkten, wenn sie sie sahen, und zu ihnen rannten, während andere sich weigerten, nach Hause zu gehen, weil sie weiterspielen wollten. Einige bekamen deshalb von ihrer Mutter einen Klaps auf den Po, aber niemand, absolut niemand holte mich ab. Ich blieb immer bis zuletzt auf dem Spielplatz. Und sobald ich dann ganz allein auf der Schaukel saß, wurde der Spielplatz von einem Moment auf den anderen mit dem Duft vieler verschiedener Abendessen überzogen. Auf dem Weg zurück zum Waisenhaus stellte ich mir vor, wie ich in eines der Häuser hineinging, aus dem das warme Licht in die Gasse strahlte und der verführerische Geruch von gebratenem Fisch herausströmte.

Das leise Geräusch der Plastiktüte hallte im Treppenhaus wider. Ich drückte hastig die Geheimnummer meiner Wohnungstür, um meiner Vermieterin nicht zu begegnen, aber sie kam schon die Treppen hinunter.

»Frau Seo.«

»Hallo, wie geht’s Ihnen«, grüßte ich sie möglichst unauffällig und in total unschuldigem Tonfall.

»Die Miete ist noch nicht eingegangen.«

»Oh, das stimmt. Tut mir leid, das habe ich vergessen«, sagte ich frivol und geschickt. Meine Vermieterin schien mir zu glauben.

»Ach ja, dann bitte ich Sie, das bis morgen zu erledigen.«

»Alles klar.«

Ich sah, wie die Vermieterin die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg, und betrat meine eigene. Ich trank das Wasser, das ich gekauft hatte, und nahm das Gimbap aus der Plastikverpackung. Seit Kurzem gab es zu meinen Mahlzeiten das Essen, das ich im 24-Stunden-Laden kaufte. Damit hatte ich aus der Idee heraus angefangen, dass ich bei meinem momentanen Lebensunterhalt möglichst sparsam sein sollte. Mit der Zeit stellte ich jedoch fest, dass es aus verschiedenen Gründen sehr bequem war, sich so zu ernähren, da beispielsweise kein Abwasch anfiel. Dennoch hatte ich irgendwie Mitleid mit mir, weil das dreieckige Gimbap, das ich in der Hand hielt, mir meine reale Lage noch deutlicher vor Augen führte, die langsam ins Extreme abdriftete.

Mittlerweile steckte ich vollständig im Schlamassel. Naja, vielleicht hatte ich von Anfang an daringesteckt. Ich holte die Flasche Soju, die von gestern noch übrig geblieben war, und füllte damit ein Glas. Auf dem Esstisch waren eine 1,5-Liter-Flasche Mineralwasser, die Plastikverpackung vom Gimbap sowie die ungeöffneten Rechnungen chaotisch verteilt – ein Bild, symbolisch für meinen ungerechtfertigten Stolz.

Ungerechtfertigter Stolz. Für die Verwendung des Wortes »ungerechtfertigt« war hier genau der richtige Ort. Ich wollte meinen Stolz bewahren, obwohl ich im wahrsten Sinne des Wortes am Boden lag. Ich war sprachlos. Der Stolz war doch von Anfang an das Eigentum reicher Menschen; keine Ahnung, was die alte Frau mir hinterlassen hatte, aber wenn sie mir etwas geben wollte, gab es keinen vernünftigen Grund, dieses Erbe einfach abzulehnen. Und die Rolle der Haupttrauernden konnte ich bestimmt auch spielen. Haupttrauernde, was soll’s. Der Stolz, den man sich im Schlamassel bewahrt, konnte nur weiter von Schlamassel bedeckt bleiben. Wenn es hieß, dass man Stolz nicht habe, wenn man ihn haben will, und dass man ihn habe, wenn man ihn ablege, dann sollte ich ihn ablegen – das wäre das Richtige, dachte ich.

Ich leerte das Glas, in das die halbe Flasche Soju eingeschenkt war, in ein paar Schlucken aus und steckte den Rest des Gimbaps in den Mund. Na gut, dachte ich, dann fahr ich einfach mal hin in das Dorf meiner Großmutter. Eigentlich sprach nichts dagegen.

Der Wald der verlorenen Schatten

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