Читать книгу The key - Sammelband - Dani Merati - Страница 4
2. Veränderungen müssen her
ОглавлениеDas fröhliche Geschnatter des Morgenmoderators reißt mich aus einem unruhigen Schlaf. Unwillkürlich taste ich zur Seite, doch meine Hand greift ins Leere. Sengender Schmerz ergreift mich und wie jeden Morgen presse ich die Lider fest zusammen, wünsche mich an einen anderen Ort, aber meine Sehnsucht verhallt ungehört. Die Realität bleibt.
Andreas ist weg. Er ist gegangen. Nach mehr als einem Jahrzehnt. Seufzend drehe ich mich auf den Rücken, öffne ergeben die Augen und schaue blinzelnd an die weiß gestrichene Zimmerdecke. Kahl. Trostlos. Nichtssagend. Diese Decke spiegelt perfekt meine momentane Gefühlslage wider.
Automatisch stehe ich auf, schlurfe ins Bad, von dort in die Küche und zurück ins Schlafzimmer. Die Bewegungen sind genau abgestimmt, weder zu viele noch zu wenige. Ich funktioniere. Mechanisch schlüpfe ich in passende Kleidung, gehe in den Flur, wo mein Rucksack wie jeden Tag auf mich wartet. Ich greife danach, öffne die Wohnungstür, ziehe sie zu und schließe ab.
Der Weg durchs Treppenhaus ist wie immer ein Spießrutenlauf. Da sich die Arbeitszeiten der Mieter in unserem Haus sehr gleichen, ist um 7 Uhr morgens schon die Hölle los. Ich ignoriere die mitleidigen Blicke, das Sticheln und die wohlwollenden Ratschläge. Sie verstehen es nicht und mir fehlt die Lust, es zu erklären.
Draußen vor dem Hauseingang führt mich der erste Weg zu den Briefkästen. Auch wie jeden Morgen. Ich weiß, dass keine Post drin liegen wird, denn ich habe ja bereits gestern Abend nach der Arbeit hineingesehen. Doch es ist ebenso ein festes Ritual geworden wie der Blick zum Parkplatz vor dem vierstöckigen Wohnhaus, in dem ich lebe. Sein roter Golf ist nirgendwo zu sehen, der Platz von einem fremden Wagen belegt.
Ich schüttel den Kopf, weiß, dass ich mir etwas vormache. Mein Verhalten kann ich dennoch nicht ändern und so trotte ich zum Fahrradständer, nachdem ich mich vergewisserte, dass mein Briefkasten tatsächlich leer ist. Wieder einmal. Oder immer noch.
Ich schwinge mich auf meinen Drahtesel, trete kräftig in die Pedale. Den Weg in die Innenstadt schaffe ich so in unter zehn Minuten und pünktlich um Viertel nach sieben erreiche ich das Zentrum. Ich springe vor dem Drogeriemarkt, in dem ich als stellvertretender Filialleiter arbeite, vom Fahrrad, schiebe es unter das Vordach neben dem Lagereingang. Nachdem ich abgeschlossen habe, trotte ich zum Haupteingang. Auch heute Morgen bin ich nicht der Erste. Angelika, eine füllige Mittfünfzigerin, erwartet mich mit einem breiten Lächeln.
„Moin, Jan. Auch schon da?“ Früher hat mich dieses Begrüßungsritual regelmäßig zum Lachen gebracht, denn Angie und ich sind die einzigen überpünktlichen Deppen im Team. Selbst unsere Chefin Sophie kommt häufig auf den letzten Drücker. Egal wie mies es mir ging, meine Kollegin schaffte es immer, meine Laune zu heben. Vor Andreas. Oder präziser gesagt: bevor Andreas gegangen ist.
Nun reicht es gerade mal für ein winziges Zucken meiner Mundwinkel. Angelika ignoriert meine Deprilaune und versorgt mich munter mit dem neuesten Klatsch unserer Kollegen. Innerlich rolle ich mit den Augen über das Mitteilungsbedürfnis mancher Frauen, aber da Angie gewisse Grenzen nicht überschreitet, höre ich mir die endlosen Geschichten immer wieder geduldig an. Passiert ja sonst nichts Aufregendes in meinem Leben.
Mann, das ist echt ein Armutszeugnis. Bin ich ohne meine bessere Hälfte wirklich so nutzlos? Kann ich nur existieren, wenn ich ihn - oder einen anderen Partner - an meiner Seite weiß? Das ist einfach erbärmlich.
Nachdem ich das Licht angeschaltet habe, schlurfe ich ins Büro während Angelika bereits in unseren Aufenthaltsraum eilt und erst mal einen Pott morgendlichen Muntermacher aufsetzt. Ich fahre den PC hoch, füttere den Drucker schon mal mit Papier und plumpse dann in den Bürostuhl. Ich checke zunächst die Mails, markiere die wichtigen Bekanntmachungen für später und drucke schließlich die Preisänderungen aus.
Das Gerät rattert munter drauflos und ich schnuppere angetan, als das betörende Aroma von frisch gebrühtem Kaffee mein Riechorgan anregend stimuliert. Da werde ich doch gleich fideler. Ich springe auf und stoße an der Tür beinahe mit Angelika zusammen, die mir einen dampfenden Becher unter die Nase hält. „Hier Chef. Für deine Lebensgeister.“ „Du bist echt ein Goldstück, Angie“, seufze ich zufrieden und inhaliere den köstlichen Duft.
„Jaja, ich weiß. Was würdest du nur ohne mich machen?“ Das Schellen an der Tür enthebt mich einer Antwort. Meine Kollegin grinst schief und schnappt sich meinen Schlüsselbund, den ich nachlässig auf den Schreibtisch geworfen habe. „Ich geh‘ schon. Mann oh Mann, es geschehen doch noch Wunder. Unsere Schönheitskönigin ist ausnahmsweise pünktlich.“
Sie watschelt von dannen und ich muss unwillkürlich grinsen. Sabine, eine unserer acht Aushilfen, hat vor zwei Jahren mal eine Misswahl der regionalen Tageszeitung gewonnen und ist jetzt fest überzeugt, als internationales Model durchzustarten. Daran feilt sie fleißig - wie auch an ihren Nägeln in jeder freien Minute. Ach was soll’s. Jedem das seine. Solange meine Mädels sich bei ihren Aufgaben sputen und fehlerlos arbeiten, ist mir ihre Freizeitgestaltung schnuppe. Grinsend gehe ich in die Anmeldungsmatrix für die Kassen, schalte Sabine frei und öffne den Tresor. Auf in den Kampf.
***
Lustlos schiebe ich den Einkaufswagen durch die jetzt am späten Nachmittag leeren Reihen des Supermarkts und werfe ebenso desinteressiert wahllos die Lebensmittel in mein Gefährt. Mein Speiseplan lässt in den letzten Wochen zu wünschen übrig. Ständig Fertiggerichte oder der Lieferservice sind nicht das Gelbe vom Ei. Früher habe ich gerne für Andreas gekocht, es war eine richtige Leidenschaft, aber für mich alleine fehlt mir der Antrieb. Wozu sollte es auch gut sein?
Ich werfe einen Blick in den Wagen. Sieht aus, als hätte ich alles und so trotte ich Richtung Kasse. „Moin Jan. Mal wieder Großeinkauf?“, fragt Anja mit einem Zwinkern. Ich lächle müde und nicke nur höflich. Muss ja nicht jeden gleich mit meiner schlechten Laune vor den Kopf stoßen. Und Anja ist ein netter Mensch und so was wie eine Freundin.
Ich bin mit ihr zur Schule gegangen und wir waren als Kinder Nachbarn. Jetzt lebt sie mit ihrem Mann und zwei Gören einen Ort weiter und kommt nur zweimal die Woche für ihren Minijob hierher zurück. Ab und zu treffen wir uns mal zusammen mit den anderen aus unserem Jahrgang, die ebenfalls hier im Kaff hängen geblieben sind. Oft zum Grillen im Sommer oder auch mal für einen Spieleabend im Winter. Viel verbindet uns nicht mehr. Ich bin nicht böse drum. Meine Kumpel von damals sind alle verheiratet, die meisten bereits mit Nachwuchs. Andreas und ich waren immer ein wenig Außen vor, obwohl es hätte schlimmer kommen können. Nach unserem gemeinsamen Outing im vorletzten Schuljahr gab es kaum Wirbel, keine Mobbingattacken oder sonstige Anfeindungen. Man nahm es zur Kenntnis und dann wurde es weitestgehend ignoriert.
Seufzend verstaue ich meine Einkäufe in den Rucksack, winke Anja zum Abschied und bringe den Wagen zurück. Egal, wen ich treffe oder woran ich auch vorbeikomme, ich muss unweigerlich an meinen Lebensgefährten denken, na ja Exlebensgefährte ist es jetzt wohl. Es ist nicht so, dass mich Freunde oder Bekannte auf ihn ansprechen, niemand käme auf die Idee, aber es gibt eben kein Ereignis in meinem Leben, das nicht mit Andreas verbunden ist.
Wir kennen uns seit dem Sandkasten, waren praktisch schon da an der Hüfte festgewachsen und wurden scherzhaft die siamesischen Zwillinge genannt. Der erste Kuss, das erste Mal. Das erlebten wir alles gemeinsam - miteinander. Zehn Jahre waren wir glücklich. Zumindest glaubte ich das. Die Abschiedszeilen des mir wichtigsten Menschen belehrten mich eines Besseren.
‚Lieber Jan, es tut mir leid, aber ich bin am Ende. Ich brauche mehr, als du mir gibst. Die Schuld liegt nicht bei dir, es ist einfach nur eine Tatsache. Ich bin auf der Suche nach etwas, das ich nicht benennen kann. Vielleicht finde ich es eines Tages, vielleicht nicht. Ich wollte dich nie verletzen und glaube mir, wenn ich dir versichere, dass du immer mein bester Freund sein wirst. Eines Tages werden wir uns wiedersehen und ich hoffe, dass wir uns dann in die Augen sehen können. Ich wünsche dir nur das Beste, denn das ist es, was du verdienst. Leb wohl. Dein Andreas.‘
Ich verdiene also nur das Beste. Spöttisch schnaube ich und schwinge mich auf meinen Drahtesel. Entspannt radel ich nach Hause, spüre jedoch rasch, wie die Wut wieder in mir hochschwappt. Das Beste. Dass ich nicht lache. Nach einem anstrengenden Arbeitstag in die gemeinsame Wohnung zu kommen und sie leer und verlassen vorzufinden ist Andreas‘ Vorstellung dieses Besten gewesen. Alle seine Sachen waren weg. Kleidung, persönliche Dinge, sogar jedes Foto hat er mitgenommen oder vom Computer gelöscht. Nur die zusammen angeschafften Möbel hat er stehen gelassen. Sie sind somit das Einzige, das mich an unsere Zeit dort erinnert. Den Rest hat er ausgelöscht, unsere Vergangenheit einfach ausradiert als sei sie bedeutungslos.
Zuhause parke ich mein Fahrrad im Hof und flitze die Außentreppe hoch, den Eingangsflur absichtlich vermeidend. Für heute hab ich ausreichend Selbstbemitleidungsstunden auf dem Konto. Ich muss sie nicht noch aufstocken, in dem ich den Briefkasten checke. Samstagmorgen ist früh genug.
In der stillen Wohnung verstaue ich die Einkäufe, springe unter die Dusche, schiebe ein Fertiggericht in die Mikrowelle, das ich vor der Glotze in mich hineinschaufle. Lustlos zappe ich durch die Kanäle, bleibe an der Wiederholung einer amerikanischen Krimiserie hängen und lasse mich über die Abgründe der Menschheit aufklären. Ich lache freudlos, schlurfe in die Küche, um das Geschirr zu spülen. Für die Untiefen der menschlichen Seele brauche ich kein Fernsehen. Die Erkenntnisse darüber bekam ich live und in Farbe nach Andreas‘ Abgang serviert.
Ich gehe noch mal ins Bad, danach lege ich mich hin. Es ist erst kurz vor neun, doch mein Elan für Freizeitbeschäftigung geht Richtung null. Schlafen klingt da wie die bessere Alternative. Es liegt ein langes freies Wochenende vor mir, vor dem mir jetzt schon graut. Andreas und ich gehörten zwar nicht unbedingt zur Fraktion der Freizeitjunkies, aber selbst wenn wir nur auf der Couch rumhingen, zumindest waren wir zusammen. Aufgewühlt wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Es bringt nichts. Mein Gehirn produziert Erinnerungen im Sekundentakt, hämmert mir meine Blödheit nachdrücklich ein.
Denn in winzigen klaren Momenten, wo ich es schaffe meinen verletzten Stolz beiseitezuschieben, ich ernsthaft nachdenke, weiß ich, warum mein Mann mich verlassen hat. Wir sind nie wirklich Partner gewesen, kein Liebespaar, wie es in Büchern beschrieben wird - mit rosa Herzchen, die man überall hinmalt. Okay, Scherz beiseite, das muss auch nicht sein. Andreas und ich waren beste Freunde, so eng miteinander verbunden, dass wir die Sätze des anderen beendeten, weil wir immer die Gedanken unseres Gegenübers kannten. Nur bei unseren Gefühlen hatten wir wohl die Scheuklappen auf. Romantik existierte für uns nicht und Sex? Eher lästige Pflicht als Kür. Eine mechanische Übung zum Druckabbau. Wir brachten keinen Vulkan zum Explodieren, bei uns reichte es nicht mal zum Anzünden einer Kerze.
Und dennoch: Ich vermisse ihn. Er gehörte so lange zu meinem Leben, ist untrennbar mit den wichtigsten Meilensteinen verbunden, sodass sein Verlust eine klaffende Wunde hinterlassen hat. Eine Wunde, die auch sechs Monate später unverändert blutet und keine Anzeichen von Heilung zeigt. Denn bei allem Verständnis, warum er gegangen ist - die Art und Weise, wie er es getan hat, sich weggeschlichen wie ein Dieb in der Nacht, das kann ich ihm nicht verzeihen. Das unentwegte Grübeln erschöpft mich schließlich doch und ich drifte ins Traumland.
***
Samstagmorgen bin ich wie gerädert. Die Nacht war unheimlich ereignisreich, lebhafte Szenarien, was ich alles mit meinem Ex anstellen würde, wenn ich ihn denn mal in die Finger bekäme. Schnaufend trotte ich ins Bad. Eine heiße Dusche und eine Tasse schwarzer Kaffee später fühle ich mich zwar längst nicht ganz der Lebendfraktion zugehörig, aber der Pegel zeigt nach oben. Halleluja!
Ich beschließe, mal wieder etwas für die Fitness zu tun und schlüpfe in Joggingklamotten. Die Sonne lacht vom Himmel, es ist noch angenehm kühl, also perfekt für ein bisschen Outdoorsport. Beschwingt tänzel ich die Treppen hinunter, ignoriere entschlossen die Briefkästen und strecke draußen erst mal mein Gesicht den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen. Dann laufe ich los.
Eine Stunde später bin ich verschwitzt und außer Puste, hab meine Energie wohl etwas überschätzt. Ist mir aber egal, denn ich fühle mich energiegeladener und zuversichtlicher als in den letzten Wochen. Endlich sehe ich einen kleinen Silberstreifen am Horizont, wo bis gestern nur unheildrohende Wolken hingen. Deshalb fällt es mir auch relativ leicht, den Briefkasten zu öffnen und die Post herauszunehmen. Der schmerzhafte Stich der Enttäuschung bleibt diesmal aus, als es wieder nur Rechnungen und Werbung sind. Ein schlichter weißer Umschlag nur mit meinem Namen beschriftet lässt mein dummes Herz dann doch unvernünftig loshämmern. Hastig reiße ich den Brief auf, mir rutscht eine Visitenkarte in die Hände. Mehr steckt nicht in dem Briefumschlag drin. Verwirrt drehe ich die Karte hin und her, lese die Aufschrift.
‚The key‘. Ein exklusives Gay-Resort in einem märchenhaften Schloss an der wildromantischen Küste Cornwalls, wo wir Ihre Sehnsüchte und Träume erfüllen. Vergessen Sie, wer Sie im Alltag sind und seien Sie, wer Sie sein möchten. Lassen Sie sich verzaubern und verbringen Sie einen unvergesslichen Urlaub in unserem Hause.
Verwirrt starre ich auf die bronzefarbenen Buchstaben, auf das Logo mit einem altmodischen Schlüssel. Soll das eine neue Art von Werbung sein? Oder ein dummer Scherz? Hm, es ist eine Internetadresse angegeben, ich könnte theoretisch mal nachschauen, was dahintersteckt. Ach Quatsch, das werde ich nicht tun. Wer weiß, was dahinter steckt. Es schadet nicht, vorsichtig zu sein.
Oben in der Wohnung werfe ich die Karte jedoch nicht weg, lege sie mit der anderen Post im Flur auf die Ablage. Wieso ich sie nicht sofort entsorge? Keinen Schimmer, vielleicht bin ich ein Narr. Egal jetzt erst mal eine ausgiebige heiße Dusche und dann mal schauen, was ich mit meinem freien Wochenende anfange. Die Zeit des Verkriechens ist jedenfalls vorbei. Heute ist Tag eins meines neuen Lebens. Ich schüttel über mich selbst den Kopf, aber was soll’s. Wenn dieses Mantra hilft, nehme ich, was ich kriegen kann.
***
Nachdem mich die Visitenkarte den ganzen Tag gefoppt hat, wie sie da so unschuldig herumlag, knicke ich am Abend ein. Die Neugier siegt und es ist ja nichts dabei, mal im Netz zu googeln. Irritiert schaue ich auf die Website und noch mal auf die Karte. ‚The key’ ist tatsächlich ein Hotel. Ein umgebautes Schloss in Cornwall genauer gesagt. Ziemlich ansprechend sogar. Ich bin ein riesiger Großbritannienfan und besonders die romantischen Küstengebiete Cornwalls haben es mir angetan. Ich ziehe eine Grimasse. Da ist schon wieder dieses Wort. Romantik. Das ist doch wie verhext heute. Zuerst meine Erkenntnis, wieso Andreas und ich keine Chance hatten, es zu schaffen und jetzt das.
Ich scrolle die Seite hinunter, sehe mir die Bilder des elisabethanischen Herrenhauses, der prachtvollen Gärten und des mehrere Quadratkilometer großen Labyrinths an. Hm. Da kann man bestimmt drin verloren gehen. Ich lehne mich grübelnd zurück. Vielleicht ist ein Urlaub genau das Richtige für mich. Tapetenwechsel. Ich möchte schließlich endlich nach vorne schauen. Schon will ich mir die Preisinformationen ansehen, da fällt mein Blick auf den Umschlag, in dem die Karte steckte.
Nachdenklich drehe ihn in meinen Händen herum. Ein schlichtes weißes Kuvert, hochwertiges Papier ohne Zweifel, aber nur ein Briefumschlag. Ein Umschlag, der einfach so in meinen Briefkasten geworfen wurde. Nur mein Vorname steht drauf, handgeschrieben, ohne Absender, Firmenlogo und natürlich fehlt der Poststempel. Wieso sollte ein gediegenes Hotel in England, auf so eine Weise Werbung machen und einem Unbekannten in einem Kaff in Brandenburg, Deutschland eine Visitenkarte ihres Resorts zukommen lassen? Noch dazu, da sie eine spezielle Klientel ansprechen. Ich bin zwar hier im Ort geoutet, aber ansonsten ... Das ist ziemlich seltsam.
Ich betrachte die Schrift, kann sie jedoch spontan niemandem zuordnen, den ich kenne. Von Andreas ist der Brief jedenfalls nicht, er hat im Gegensatz zu den eleganten, fast zierlichen Buchstaben eine Sauklaue. Könnte von einer Frau geschrieben sein. Angelika? Nein, sie schreibt ausladender, kühner. Dann also vielleicht wirklich Werbung, aber auf diese Weise? Ein Reiseprospekt verschickt durch irgendeine Marketingfirma, ja okay, doch ein anonymer Brief ohne Anschreiben? Sehr merkwürdig. Sogar unheimlich. Und nach reiflicher Überlegung definitiv nichts für mich. Ich möchte zwar mein Leben wieder in die Hand nehmen, einiges ändern und nicht weiter Trübsal blasen, deshalb muss ich jedoch nicht gleich leichtsinnig werden.
Ich verlasse die Seite, checke rasch meine Mails und schalte dann ab. Umschlag und Visitenkarte landen im Papierkorb neben dem Schreibtisch. So Problem gelöst. Ich wandere ins Wohnzimmer, um obligatorisch wieder die Mattscheibe anzuschalten, entscheide mich aber spontan um. Neuer Anfang, Jan!
Im Flur schlüpfe ich in meine Sneakers, schnappe mir Schlüssel und Geldbörse und gehe noch mal nach draußen. Es ist ein lauer Sommerabend, perfekt für einen entspannten Spaziergang. Hm, ich könnte auch auf ein Bier bei Mattes vorbeischauen. Die kleine Kneipe nur zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt ist unsere Stammkneipe und unser Wirt ein Pfundskerl. Argh, verdammt! Schon wieder dieses ‚uns‘. Hier im Dorf gibt es keinen Ort, der nicht mit Andreas verbunden ist. Diese Erkenntnis verpasst meiner hochgesprudelten Euphorie einen empfindlichen Dämpfer.
Ohne bewusst zu entscheiden, tragen mich meine Füße zügig zurück nach Hause. Es bringt nichts, mit aller Gewalt mein Sozialleben auf Vordermann zu bringen, wenn mich ein Geist aus der Vergangenheit dauernd heimsucht. Ich brauche tatsächlich einen Tapetenwechsel. Theoretisch bräuchte ich sogar mehr als das. Einen Neuanfang, am besten in einer anderen Stadt, wo mich keiner kennt. Neue Wohnung, neuer Job. Neue Freunde. Aber dafür bin ich wohl nicht abenteuerlustig genug. Zudem ist so ein Großstadtleben wahrlich nicht mein Traum. Unser 5000-Seelen-Dorf reicht mir völlig. Bin halt ein bodenständiger Typ, nicht unbedingt offen für tief greifende Veränderungen.
Ändern muss sich jedoch etwas. Ich möchte definitiv einen Neuanfang, eine Chance auf ein kleines bisschen Glück, nicht nur wie ein Roboter die Tage überstehen. Und ein Urlaub ist ein guter Anfang. Mit neuem Elan nehme ich gleich zwei Stufen auf einmal, pfeife sogar ein Liedchen, das mir einfach so in den Sinn kommt. Ich grinse. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinkriege.
In der Wohnung gehe ich zielstrebig ins Büro, fische die Visitenkarte aus dem Papierkorb und fahre den PC hoch. Ich plumpse in meinen Bürostuhl, trommle ungeduldig mit den Fingern, bis die Seite lädt. Okay, schnelles Internet ist hier bei uns noch Wunschdenken. Ein Pluspunkt für eine größere Stadt.
Ah, da ist es ja. Ich scrolle zum Ende der Website, wo ein Infoformular bereitsteht. Ich lade es herunter, drucke es mir sofort aus. Dann schaue ich direkt mal nach, was mich der Spaß in etwa kosten würde. Oh ha, ziemlich happig. Hm, das sind englische Pfund, Mist, ich hab den Kurs nicht auf dem Schirm. Na ja, später. Eine Woche in Cornwall wird mich schon nicht ins Armenhaus bringen. Der Drucker rattert munter vor sich hin, spuckt Blatt um Blatt aus. Mann, das hört ja gar nicht mehr auf. Haben die einen Roman geschrieben oder was?
Ich stehe auf, tapse in die Küche, hole mir ein Bier, dann nehme ich den ausgedruckten Stapel ins Wohnzimmer mit, plumpse auf die Couch und lege die Beine hoch. Interessiert beginne ich zu lesen, wobei mir schon nach wenigen Zeilen beinahe die Augen aus den Höhlen springen. Was ist das denn jetzt? Tausend Fragezeichen erscheinen in Neonlettern und ich schaue vorsichtshalber noch mal auf das Deckblatt.
Okay, das ist die Anzeige eines 5-Sterne-Hotels in Cornwall, England. Keine Anwerbung als Callboy. Und doch geht mir genau das durch den Kopf, als ich den Fragebogen durchblättere. Fragen, wie aktiv oder passiv gehören noch der harmlosen Sorte an. Hastig setze ich mein Bier an, nehme einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Danach lege ich das auszufüllende Formular erst mal beiseite und lese in aller Ruhe das Konzept von ‚The key‘.
Nach ungefähr einer halben Stunde lasse ich die Broschüre sinken. Ich muss zugeben, ich bin mehr als beeindruckt. ‚The key‘ ist selbstverständlich kein Bordell, Liebeshotel scheint mir die passende Bezeichnung zu sein. Nachdenklich trinke ich mein Bier. Mein Blick wandert durchs Wohnzimmer, erfasst die vertraute Umgebung. Andreas mag die offensichtlichen Erinnerungsstücke alle mitgenommen haben, doch jedes Möbel, ja selbst die Wände und der Fußboden, stecken voller Geschichten über unser Leben, unsere Beziehung. Es ist wirklich an der Zeit, dass ich mich neu orientiere. Mutiger werde. Ein Aufenthalt in einem Liebeshotel in Cornwall scheint mir da ein geeigneter Anfang zu sein. Auf neutralem Boden, fernab der Heimat, erste Gehversuche in eine neue Richtung zu unternehmen, kommt mir immer verlockender vor.
Entschlossen schnappe ich mir den Fragebogen, lese ihn diesmal in aller Ruhe durch, ehe ich ihn gewissenhaft von A - Z ausfülle. Meine roten Ohren und heißen Wangen blende ich aus. Ist ja keiner hier, der was mitkriegt. Über die Angabe eines Pseudonyms grübel ich eine ganze Weile, entscheide mich dann einfach für ‚John‘. Es kommt meinem Realnamen nahe genug, sodass ich mich damit hoffentlich wohlfühle, wenn man mich so anspricht. Danach rufe ich die Nummer auf dem Anmeldeformular an und werde mit einer Heather Sinclair verbunden, die mir die weiteren Details erklärt. Diskretion und absolute Anonymität sind sowohl für die Gäste als auch die Angestellten von ‚The key‘ von höchster Priorität.
Ein Expresskurier wird Montagmorgen die Anmeldung abholen und ihr zuschicken. Der Fragebogen, mein Wunschkatalog sozusagen, wird dann mit anderen Einsendungen ausgewertet, ein passender Begleiter gesucht und danach verschiedene Termine genannt, zu denen ich anreisen kann. Nach der Zuweisung der jeweiligen Partner werden die Formulare vernichtet, versichert mir Heather, wie ich sie nennen soll, sehr glaubhaft.
Natürlich erklärt sie mir auch, dass die Paarung unverbindlich ist und jeder individuell entscheidet, wie er die Woche gestalten will. Sex sei eine Sache, die man untereinander ausmache und keinesfalls obligatorisch, was mich ehrlich gesagt gleichermaßen erleichtert und enttäuscht. Denn trotz einer mehr als zehnjährigen Beziehung fühle ich mich auf sexuellem Terrain irgendwie unbeholfen. Es war ja nie großes Feuerwerk zwischen Andreas und mir. Wenn bei einem anderen Mann ebenfalls keine Funken sprühen, dann stünde zumindest eindeutig fest, dass ich Schuld am Scheitern unserer Liebe bin. Ein ernüchternder Gedanke.
Ach verdammt, ich male mir schon wieder alles in den düstersten Farben aus. Damit ist jetzt Schluss. Ich verabschiede mich von Heather, suche ein passendes Kuvert für den Fragebogen und fülle rasch die Anmeldedaten aus. Sämtliche Papiere schiebe ich in den Umschlag und klebe ihn zu, ehe ich es mir anders überlege. Noch die Adresse drauf und fertig.
Danach bin ich aufgekratzt und gleichzeitig voller Panik. Hab ich gerade wirklich eine Art Liebesurlaub gebucht, den ich mit einem ausgesuchten Sexpartner verbringen soll? Okay, das ist übertrieben, Sex wird ja nicht vorausgesetzt. Aber trotzdem ...
Matt plumpse ich zurück auf die Couch. Oh Mann, ich bin total übergeschnappt! Einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, Heather zurückzurufen, die ganze Sache abzublasen, dafür bin ich jedoch zu feige. Hm, ich könnte einfach Montagfrüh den Kurier wieder wegschicken und ... Nein! Ich werde nichts dergleichen tun. Schließlich will ich doch einen Neuanfang. Dieser Urlaub ist so ... eine Art Testlauf. Eine Generalprobe. Ich muss herausfinden, ob es ein Leben ohne Andreas für mich gibt. Und wenn ich dabei auch noch rausfinde, was falsch gelaufen ist, stehen meine Chancen gut, ein wenig Glück zu finden.