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Kapitel 2
ОглавлениеKöln, 6. August 2014
Jochen Weber fuhr auf den überfüllten Parkplatz der Bar, die er seit zehn Jahren betrieb und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Die Autos standen bereits bis auf die Straße und den Stellplätzen der anderen Geschäfte. Er fuhr zur hinteren Seite, setzte sich in die letzte verfügbare Parklücke der Angestelltenparkplätze. Seinen Platz. Der, der immer frei blieb. Vor dem Parkplatz thronte ein riesiges Schild, das Torsten entworfen hatte, nachdem der Laden angezogen hatte.
Wenn ihr hier trinken wollt, parkt nicht hier! (Es sei denn, ihr arbeitet hier.) In diesem Fall allerdings, Trinken während der Arbeit nicht gestattet!
Über die Jahre hatte sich diese Lücke zu seinem Platz entwickelt, keiner seiner Angestellten wagte es dort zu parken. Für einige Minuten blieb er im Auto sitzen, starrte abwechselnd zwischen der Bar und den Leuten, die dort hineilten hin und her. Die Hintertür schwang kurz auf und Nguyen, einer seiner Kellner trat mit mehreren Müllsäcken in den Händen heraus. Jo seufzte und öffnete die Autotür, entschlossen es hinter sich zu bringen. Als er sich dem Gebäude näherte, sah er auf seine Uhr und bereute es sofort.
Das beschädigte Schmuckstück war das, welches Torsten am Abend des Unfalls getragen hatte, die Nacht in der er gestorben war. Jo musste unwillkürlich lächeln, als er das Wort „Spielzeit“ las, das dort prangte. Er glaubte die neckende Stimme seines Mannes zu hören, der ihn milde maßregelte, ihn daran erinnerte, dass ein überfüllter Parkplatz eine volle Bar mit sich brachte. Das bedeutete, ein Bombengeschäft und es gäbe nichts Besseres als das! Besonders um 21.30 Uhr an einem Mittwoch, noch ziemlich früh und das Wochenende noch lange hin.
Jo blinzelte seine Tränen zurück und winkte seinem Angestellten zu, der jetzt an einer Wand lehnte und in sein Handy sprach. Der Junge grüßte zurück und Jo zog die Tür mit dem „Nur Personal“ Schild auf. Im Vorbeigehen warf er einen Blick auf das Logo der Bar, „OJ’s“. Das hatte im vergangenen Jahrzehnt für einige Lacher gesorgt, weil die meisten Gäste annahmen, es stünde für die Abkürzung des englischen Wortes Orangensaft und das in einer Bar, wo hauptsächlich Alkoholisches ausgeschenkt wurde. Jo hatte das immer so stehen lassen.
Es war ihm ziemlich schnuppe, was die Leute über den Namen dachten. Eigentlich hatten die Buchstaben für Oliver und Jo gestanden, seinem ersten Liebhaber und ihm, aber jetzt diente es nur noch als Erinnerung. Eine Ermahnung, sich nicht mit ungeouteten Männern einzulassen, egal ob romantisch oder beruflich. Da die Initialen umgedreht seinen Spitznamen ergaben, hatte er sich nie die Mühe gemacht, sich etwas anderes auszudenken.
Oliver hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor sie überhaupt eröffnet hatten. Er hatte ihren Traum weggeworfen und eine reiche Hotelerbin geheiratet, sich ins gemachte Nest gesetzt. Das hatte ihm auf einen Schlag alles verschafft, was er immer gewollt hatte: Macht und Reichtum! Jos Liebe und sein einfacher Wunschtraum von einer erfolgreichen kleinen Bar hatten damit nicht konkurrieren können.
Jo schob die bitteren Gedanken beiseite und suchte sich seinen Weg durch die Ladezone. Am Rande registrierte er das Chaos, bevor er die eigentliche Bar betrat, wo er von den tanzenden Männern fast erschlagen wurde. Beweise seines Erfolgs stießen ihn von allen Seiten an, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte.
Beinahe sofort bemerkte ihn sein Chefbarkeeper Diego, ein dunkelhäutiger Endzwanziger, dessen Mutter aus der Dominikanischen Republik stammte und grinste. Er winkte und bedeutete Jo hinter den Tresen zu kommen, wo er beschäftigt war, Drinks auszugeben und zu der ohrenbetäubenden Musik zu tanzen. Nur zögernd folgte Jo der Aufforderung. Er hatte gehofft, unbemerkt in sein Büro schleichen zu können, aber nun? Diego zu ignorieren war keine Option. Er war ein guter Freund und hervorragender Geschäftsmann und Jo brauchte ihn zu sehr, um eins davon zu riskieren.
„Hallo, Chef! Bist du zum Spielen hier oder kommst du, um mich zu überprüfen?“ Diego zwinkerte, die weißen Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht und die Rastalocken flogen wild hin und her. Jo konnte nicht anders als zurückgrinsen.
„Gott allein weiß, dass dieser Ort auseinanderfallen würde, wenn man dich nicht im Auge behält. Keine Ahnung, warum ich dich behalte.“ Er erwiderte Diegos Zwinkern, während er automatisch in die Rolle eines Barkeepers fiel, Bestellungen annahm und Drinks mixte.
Jo hatte Diego vor vier Jahren eingestellt und er war schnell zu einer unschätzbaren Kraft geworden, besonders als Torsten gestorben war. Als Jo zusammengebrochen war, hatte er das Zepter in die Hand genommen, beinahe jeden Aspekt des Geschäfts gemanagt. Jo hatte ihn daraufhin offiziell zum Geschäftsführer befördert und seitdem lief der Laden wie von selbst oder besser, er lief durch Diego. Alles, was Jo noch tun musste, war an den markierten Linien zu unterschreiben, damit die Rechnungen und Gehälter bezahlt wurden.
Irgendwann musste er allerdings wieder anfangen sich in die Bar einzubringen oder komplett aussteigen, denn die Regelung war für keinen fair. Diese Bar war sein Traum und die Früchte von viel schweißtreibender Arbeit über ein Jahrzehnt lang. Der Gedanke, dass aufzugeben, verursachte ihm ebenso Bauchschmerzen wie der Lärm und die vielen Menschen um ihn herum.
Trotz der vertrauten Routine wurde er nach einigen Minuten bereits nervös, er fühlte sich unter so vielen Leuten nicht mehr wohl. Einst hatte er davon gelebt, aber jetzt legte es seine Nerven blank und er war kurz vorm Überschnappen. Besonders mit der Schuld, die ihn zusätzlich niederzwang. Als Torsten gestorben war, hatte Jo jegliches Interesse an allem verloren, besonders dem „OJ’s“. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, zuzumachen, nachdem die Bar beinahe durch Vernachlässigung den Bach heruntergegangen wäre.
Diego zu befördern war der letzte Ausweg gewesen und dieser hatte es bewundernswert geschafft, wieder Leben in den Laden zu bringen. Er schuldete dem anderen Mann viel mehr als nur Dankbarkeit für jeden Tag, den er hier blieb und die Bar am Laufen hielt, weil Jo das nicht mehr konnte.
Sich in der Bar umsehend, glaubte Jo in jeder Ecke seinen Mann zu sehen, immer außerhalb seiner Reichweite. Die Erinnerungen waren überall und auch nach beinahe zwei Jahren zu schmerzhaft, um sich ihnen komplett zu stellen. Um sich abzulenken, griff er nach einem Lappen unter der Kasse und wischte über den Tresen. Diego beobachtete ihn eine Weile, doch Jo weigerte sich, seinem Blick zu begegnen. Es gab keine Flecken auf der Theke, aber er konnte nicht aufhören. Er musste zumindest die Illusion von Beschäftigung aufrechterhalten.
Diego schenkte einige Biere aus, dann kam er zu Jo hinüber. Eine dunkle Hand legte sich auf seine, stoppte seine Bewegungen. „Bist du okay, Chef?“
Jo nickte, rückte vom Tresen ab und gab Diego ein flüchtiges Lächeln. „Ja, alles klar. Hab‘ nur gerade ziemlich viel im Kopf. Ich dachte, ich komm‘ vorbei, um mir die neuesten Zahlen anzusehen, die Rechnungen zu begleichen, mal schauen, wie viel Kapital wir flüssig hätten. Ich denke darüber nach, den Boden der Bühne zu erneuern, vielleicht auch eine Erweiterung. Wir hatten schon ewig keine Live-Auftritte mehr und es gibt eine Menge toller lokaler Bands, die wir buchen könnten. Müssen uns etwas einfallen lassen, um den Laden interessant zu halten.“ „Das wäre ein guter Start. Die Bühne ist viel zu lange leer gewesen.“
Diego schüttelte seinen Kopf, gab zwei weitere Drinks aus, bevor er sich zu Jo umdrehte. „Du solltest wirklich darüber nachdenken, die Bar auszubauen. Am Wochenende erreichen wir regelmäßig unser Limit und müssen sogar Leute wegschicken. Die Seitenwand auf der linken Seite könnte raus, damit hätten wir doppelt so viel Platz. Wir könnten eine zweite Bar auf der anderen Seite aufstellen, mit einem so richtig offenen Grundriss, wo man von einem Ende zum anderen sehen kann.“ Diegos Augen schimmerten vor Aufregung, als er die Möglichkeiten aufzählte.
Jos Kehle verengte sich und er dachte an die Zeit zurück, als er noch diese Leidenschaft für das Geschäft gehabt hatte und zahlreiche Hoffnungen für die Zukunft. Torsten und er hatten dieselben Pläne einige Monate vor dem Unfall diskutiert. Die Aussicht erfüllte ihn jetzt mit Furcht und Erschöpfung anstelle der Aufregung, die er bei seinem Geschäftsführer sah. „Wie gesagt, ich denke darüber nach, aber ich glaube, ich werde alt, müde.“
Diego schnalzte missbilligend mit der Zunge. Er kam auf Jo zu, die Hände in die Hüften gestützt, mit einer grimmigen Miene. „Wie kommst du darauf, dass du alt bist? Müde bist du, weil du dich selbst runterziehst und dir die Schuld für etwas gibst, dass du gar nicht kontrollieren konntest. Torsten hat dich geliebt und er würde nicht wollen, dass du ihm ewig nachtrauerst. Vor allen Dingen würde er nicht wollen, dass du deinen Traum, deine Existenz aufgibst. Es sind beinahe zwei Jahre, Jo. Lass los. Warum gehst du nicht da raus auf die Tanzfläche, suchst dir einen Freund für eine Nacht, hast ein wenig Spaß?“
Jo biss seine Zähne zusammen und sah über die Bar hinweg auf die Tanzfläche, wo sich heute hauptsächlich junges Publikum zu den beschwingten Rhythmen austobte. „Du gehst zu weit, Diego. Es mögen beinahe zwei Jahre sein, aber Torsten und ich kannten uns dreißig, sechs davon waren wir ein Paar. Ich bin fünfunddreißig! Ich weiß, dass ich noch nicht tot bin und ich weiß auch, dass ich als guter Fang angesehen werden kann. Doch ich suche nicht irgendeinen blutjungen Kerl für einen schnellen Fick. Ich suche überhaupt nicht, klar? Lass es gut sein.“
So rasch, wie der Ausbruch gekommen war, verschwand sein Zorn wieder. Er fühlte sich ausgelaugt und beschämt. Diego hatte ihm nur helfen wollen und er hatte eigentlich auch recht. Obwohl Jo sich nicht einmal vorstellen konnte, wieder auszugehen, er musste öfters raus seinem Schneckenhaus, wieder Spaß haben, sonst würde er komplett in Depressionen versinken. Er hatte bloß keine Ahnung mehr, wie das ging. Schwer schluckend wandte er sich von der verletzten Miene Diegos ab.
„Es tut mir leid. Was ich gesagt habe, war daneben.“ Jo warf den Lappen in einen Korb hinter sich und verließ den Tresen. Über die Schulter warf er dem anderen Mann ein entschuldigendes Lächeln zu, bevor er sich rasch in sein Büro zurückzog.
An seinem Schreibtisch starrte Jo zornig auf den Packen von drei Tagen Post, die darauf wartete, sortiert zu werden. Mit einem resignierten Seufzen arbeitete er sich durch Rechnungen und Werbebriefe. Er hasste Büroarbeit, aber sie musste getan werden und es auf jemand anderen abzuwälzen war undenkbar. Wenn auch nichts anderes, zumindest die Buchhaltung lag noch in seiner Verantwortung.
Endlich das Ende des Stapels erreichend, gefroren seine Hände über einem großen, rosafarbenen Briefumschlag. Als er das verdammte Ding anhob, zitterten seine Finger und ein schneller Blick auf den Absender bestätigte seine Befürchtungen. Der Brief war von Oliver und Bettina Marquardt.
In seinem Kopf begann es zu hämmern und es bildeten sich sogar Tränen in seinen Augen. Was hatte er getan, um so grausam an sein erstes gebrochenes Herz erinnert zu werden? Er versuchte, die schmerzhaften Erinnerungen abzublocken und riss den Umschlag entschlossen auf. Beinahe hätte er laut gelacht, als eine fast identische Karte wie damals hinausfiel.
‚Nach zehn Jahren erneuern Oliver und Bettina Marquardt ihr Ehegelübde ...‘
Zehn Jahre. Oliver war jetzt bereits seit einem Jahrzehnt verheiratet. Verdammt, irgendwie kam ihm das alles unreal vor. Er liebte Oliver nicht mehr, doch er war nie in der Lage gewesen, komplett loszulassen. Die Bitterkeit darüber, wie ihre Beziehung geendet hatte, verfolgte ihn weiterhin. Auf seine zitternden Hände starrend, realisierte er, dass er damit abschließen musste und sein Herz wurde von Schuld überflutet. Er hatte sechs Jahre lang einen wundervollen Mann geliebt, der diese Gefühle erwidert hatte, aber all die Zeit hatte ein winziger Teil von ihm an dem Wunschtraum festgehalten, den er mit Oliver geteilt hatte.
Verflucht noch mal, sein Traum hatte sich erfüllt, nur eben mit Torsten und nicht mit seinem Ex. Er hätte etwas tun müssen, um seinem Mann zu zeigen, wie sehr er ihn schätzte, öffentlich anerkennen, welch große Rolle er in seinem Leben eingenommen hatte. Den Namen der Bar ändern, als Oliver abgehauen war. Torstens Einfluss war überall sichtbar, in der Deko, bei der Musik, die sie spielten, aber Olivers verdammter Stempel hing immer noch über der Tür.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Überlegungen und er sah hoch, als Diego das Büro betrat. Er kam langsam hinein, betrachtete ihn einen Moment schweigend. „Du bist schon lange hier drin. Ist alles Okay, Chef?“
Jo umfasste die Einladung in seiner Hand fester, wusste nicht, was er seinem Freund antworten sollte. Der Barkeeper streckte seine Hand aus, berührte ihn und griff dann nach der Karte. „Darf ich?“
Er nickte und Diego nahm die Einladung in seine Hand. Jo faltete seine Hände zusammen und studierte sie, während sein Freund die Karte las. Er schnaubte und Jo riss seinen Kopf hoch, überrascht, als er Diego grinsen sah. „Was ist so lustig?“
Der Barkeeper schüttelte seinen Kopf und wedelte mit der Einladung vor ihm herum. „Das ist perfekt! Genau das, was du brauchst. Ein Tapetenwechsel. Das sind Freunde von dir, richtig? Ein Schlosshotel in der Nähe von Berlin. Perfekt, um zu entspannen, ein wenig Frieden zu finden.“
Der Ausdruck auf Diegos Gesicht war triumphierend und Jo musste lächeln. Sein Freund hatte keine Ahnung, wer Oliver war, kannte die Vergangenheit nicht und verstand somit auch nicht, was er da vorschlug, aber Jo musste zugeben, dass er recht hatte. Er brauchte einen Tapetenwechsel und das war die perfekte Gelegenheit. Er brauchte nicht nur Urlaub, er musste endlich mit diesem Lebensabschnitt abschließen.
Wenn er Oliver mit seiner Ehefrau zusammen sah, immer noch glücklich nach einem Jahrzehnt, vielleicht half ihm das dann, ihre gescheiterte Beziehung endlich abzuhaken. Vielleicht fand er danach einen Weg seine erste Liebe zu begraben und den Schatten zu vertreiben, der über seinem Leben lag.
Jo nahm Diego die Karte wieder ab und hob eine Augenbraue. Studierte den jüngeren Mann, als er seine Optionen abwägte. „Nun, ich wäre mindestens eine Woche weg. Denkst du, du kannst diesen Laden so lange allein am Laufen halten?“
Sein Barkeeper sprang vom Schreibtisch und stieß die Faust in die Luft. Die Rastalocken wirbelten wild hin und her, als er einen Freudentanz aufführte. Jo schüttelte schmunzelnd den Kopf. War er auch mal so sorglos gewesen? Schließlich beruhigte sich der jüngere Mann. Er beugte sich über den Tisch, sah Jo ernst an. „Ich halte diese Bar zusammen, solange du es brauchst, Chef. Komm‘ wieder auf die Beine.“
Jo sah noch einmal auf die Einladung und nickte dabei entschlossen. Die Reise würde ihm guttun und vielleicht gab sie ihm endlich den Frieden, den er so verzweifelt suchte. Seine Affäre mit Oliver hatte mit einer Hochzeit geendet, und obwohl er es zu diesem Zeitpunkt nicht realisiert hatte, seine Beziehung zu Torsten war genau an diesem Tag geboren worden.
Jo wollte diese Augenblicke noch einmal einfangen, sie sortieren. Er wollte in der Lage sein, Oliver zu gratulieren und danach würde er den Club aufsuchen, wo er und Torsten ihren ersten betrunkenen Kuss geteilt hatten. Er sah Diego an. „In Ordnung, ich fahre.“ Sein Freund grinste und klopfte ihm auf die Schulter. „Du wirst es nicht bereuen, du wirst sehen.“ Jo erwiderte sein Lächeln und zuckte mit den Achseln. „Das will ich doch hoffen.“