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Robert Schneider
ОглавлениеRobert Schneider lag in seinem Bett. Die Arme hinter seinem Kopf verschränkt, die Beine übereinander geschlagen und starrte nachdenklich an die Decke, wo zwei Fliegen, unendliche Kreise um die Deckenlampe flogen und dabei scheinbar nie müde wurden.
Was ihm dabei wie ein stumpfsinniger Zeitvertreib vorkam, schien für die beiden Insekten, eine besondere Bedeutung zu haben. Denn mittlerweile zogen sie bereits, seit gut zehn Minuten, diese gleichbleibenden Kreise und das, mit einer derart bewundernswerten Präzision, das sie unterbewusst seine Gedanken fesselten, während er langsam wach wurde.
Durch das halb geöffnete Fenster, drang der Lärm der Straße ins Zimmer und die frühen Sonnenstrahlen, fingen langsam an, den Raum mit einem hellen Licht zu erfüllen, durch das sich selbst die Fliegen gestört fühlten. Denn plötzlich, stoppte abrupt eine von ihnen an der Decke.
Mit ihren kleinen Beinen, hakte sie sich an der Tapete fest und saß bewegungslos an einem Punkt. Ihr summender Flügelschlag war verstummt. Die zweite Fliege, flog unterdessen weiter um die Lampe herum.
Draußen donnerte ein Laster, die abschüssige Straße hinunter. Seine Bremsen quietschten und das Gepolter der Räder, die langsam zum Stillstand kamen, übertönte plötzlich die übrigen Geräusche der Straße, die durch das geöffnete Fenster herein flogen. Dann hatte der Laster gestoppt und Robert aus seinen Gedanken geholt.
Obwohl er jetzt schon fast vier Monate, in diesem heruntergekommenen Stadtteil wohnte, hatte er sich bis heute nicht an den Straßenlärm gewöhnen können. Er war 34 Jahre alt, etwa 1,78 m groß, trug kurzes, blondes Haar. Hatte eine sportliche Statur und war es gewohnt, etwas ländlicher zu wohnen. Ohne viel Verkehr. Mit mehr Abstand, zu den benachbarten Menschen. In einem Haus, an einem kleinen Bach und dahinter beginnt der Wald.
Aber das war jetzt vorbei.
Ebenso wie es mit seiner Ehe vorbei war, und dem Job.
Jetzt war alles weg!
Erst die Frau, dann die Kinder, und zuletzt die Arbeit.
Naja, das Haus nicht zu vergessen!
Aber wer erinnerte sich schon daran. Steine, Holz, Beton. Stille Zeugen einer Vergangenheit, in der so viele Erinnerungen steckten, dass ihm erst nach und nach klar geworden war, wie sehr er dieses Haus geliebt hatte.
Und seinen Job?
Er hatte ihn nicht wegen seiner Erinnerungen verloren.
Zu viele Unregelmäßigkeiten am Arbeitsplatz, hatte sein Chef als Begründung in die Kündigung geschrieben.
Was hatte er denn gedacht, wie er sein Leben in den Griff bekommen sollte?
Erst hatte ihn seine Frau verlassen, was zu einem zweijährigen Scheidungskrieg geführt hatte. Dann hatte er das Haus verloren. Die Kinder waren zu seiner Frau gezogen und als wäre das noch nicht genug gewesen, hatte man in der Bank, einem jüngeren die Position gegeben, die man eigentlich ihm hätte anbieten müssen.
Damals hatte er diese Entscheidung nicht verstanden. Jetzt war ihm alles klar. So wie es in seiner Kündigung stand.
Unregelmäßigkeiten!
Die fadenscheinige Begründung dafür, dass man ihn loswerden wollte. Einfach und schnell.
Vergiss es!
Es machte keinen Sinn mehr, darüber nachzugrübeln, was man hätte anders machen können.
Es war vorbei.
Jetzt war es wichtig, dass er wieder auf die Beine kam.
Die Wohnung hier, war der erste Schritt. Auch wenn sie nicht gerade seinen Vorstellungen entsprach. Was für den Schnitt der Wohnung, ebenso galt, wie für die Einrichtung. Aber es war ein Anfang. Weg von all dem alten Mist, mit den unzähligen Erinnerungen, an ein Leben, das es nicht mehr gab. Nie mehr geben würde!
Jeder Neuanfang ist schwer und mit vierunddreißig, standen ihm schließlich noch alle Türen offen. Aus diesem Grund, besaß die Wohnung auch mehr eine symbolische Bedeutung.
Sie verhalf ihm dabei, einen gewissen Abstand, zwischen seinem alten und dem neuen Leben zu schaffen und langsam von den Erinnerungen wegzukommen.
Darum spielte es kaum eine Rolle, wie sie geschnitten war, oder wo sie lag!
Zwei Zimmer. Eine Küche und ein Bad.
Das war alles.
Im Wohnzimmer standen, sein alter Schreibtisch, mit einem Stuhl, das Zweisitzer-Sofa aus braunem Nappaleder, das er aus seinem Haus mitgenommen hatte. Hatte mitnehmen dürfen, und ein kleiner Tisch.
An der anderen Wand, ein Regal mit TV und einer kleinen Stereoanlage. Daneben ein Stapel Kisten, mit Überresten seines alten Lebens, die er irgendwann auspacken würde.
Irgendwann!
Nicht heute!
Er war noch nicht so weit, die alten Sachen zu sortieren. Zu viele Erinnerungen hingen an den Gegenständen und die Wunden, die sie hinterlassen hatten, waren noch zu frisch.
Im Schlafzimmer standen ein altes Bett, ein breiter, wuchtiger Schrank aus dunklem Holz und ein Nachttisch.
Die Vorhänge hatte er in beiden Zimmern so aufgeteilt, dass sie seinem Geschmack entsprachen, auch wenn sie nicht wirklich zusammenpassten.
Was jetzt noch fehlte, war ein Job.
Aber bloß nicht wieder in einer Bank.
Irgendetwas anderes!
Er richtete sich auf. Stützte sich an der Bettkante ab, als wolle er aufstehen, hielt jedoch inne.
Nur noch nach vorne sehen, dachte er und erhob sich schließlich.
Er ging hinüber zum Bad und kam wenige Minuten später wieder zurück, um sich erneut hinzulegen.
Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass es ohne eine vernünftige Arbeit, keinen Sinn gab, den Tag schon derart früh am Morgen zu beginnen.
Zur selben Zeit schleppte Donald Herb seine 155 Kilogramm die Straße hinauf, wobei er leise vor sich hin fluchte.
Wie an jedem Tag, trug er die abgewetzte Jeans. Die abgelaufenen Turnschuhe und die Socken, bei denen man, Gott sei Dank, die Löcher nicht sehen konnte, weil sie zusammen mit seinen Füßen, in den ausgetretenen Schuhen steckten.
Don, wie ihn seine Freunde nannten, griff in die Tasche, seiner abgenutzten grünen Jacke und fühlte den Geldschein in seinen Händen, den er dort, wie einen Schatz hütete. Er genoss es, dass kleine Stück Papier zwischen seinen Fingern zu massieren und dabei zu wissen, dass es ihm gehörte.
Dabei kämpfte er sich, immer weiter, die ansteigende Straße hinauf. Schnaufte wie eine alternde Dampflok und musste schließlich anhalten, um einen Moment ausruhen. Bevor er die für ihn, viel zu steile Straße, weiter hinauf gehen konnte.
Donald wirkte mit seinem ungepflegten Äußeren, dem fahlen braunen Haar und seinem übergewichtigen Körper, unsympathisch und genau das war er auch. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch, durch die unzähligen kleinen Blutäderchen, die sein Gesicht durchzogen und die deutlich machten, dass er ein Alkoholproblem besaß.
Alles zusammengenommen, sorgte dafür, dass die meisten Menschen gebührenden Abstand zu ihm hielten und ihn nur mit kurzen, abfälligen Blicken straften.
Aber das war nicht immer so!
Früher war Donald ein übler Schläger gewesen. War mit seiner Gang durch die Stadt gezogen und hatte es allen gezeigt.
Doch die Zeiten waren lange vorbei.
Jetzt war er vierzig und am Ende.
Herzprobleme!
Alkoholprobleme!
Die Leber war halb kaputt und die Knochen, spielten bei seinem Gewicht, auch nicht mehr richtig mit.
Alles was er noch besaß, waren die Jungs vom Kiosk, mit denen er sich jeden Tag traf und denen er berichten konnte, was für ein toller Kerl er früher gewesen war.
Er wusste, dass sie nur mit einem Ohr zuhörten, wenn er davon erzählte, was er früher alles angestellt hatte, und ihm war auch klar, dass man sich heute kaum noch vorstellen konnte, was er früher für ein toller Typ gewesen war. Aber das spielte für ihn keine Rolle und ändern, konnte er daran sowieso nichts.
Er hatte gelernt, damit zu leben und sich damit abgefunden.
Irgendwann kommt für jeden der Tag, an dem es nicht mehr weiter geht. Der Tag, an dem man sich auf dem Höhepunkt seines Lebens befindet und von da an geht es nur noch bergab.
Wie auf einer Rutsche, wenn man die oberste Stufe erreicht hat und die beschissene silberne Wanne hinunter blickt, die irgendwo weiter vorne im Sand endet. Oder wenn man bei der Achterbahn, den höchsten Punkt erreicht hat und kapiert, dass es von hier aus, zwar hin und wieder auch mal etwas bergauf geht, doch der größte Teil der Strecke, führt bergab und irgendwann endet man ganz unten.
Für Donald lag dieser Moment schon weit zurück.
Manchmal fragte er sich, wann dieser Zeitpunkt gewesen war?
Er wusste es nicht.
Schließlich hatte er nie etwas Richtiges gelernt und wäre heute auch kaum noch in der Lage, einem geregelten Job nachzugehen. Selbst wenn er es wirklich gewollt hätte.
Seine tollen Tage waren vorbei und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann musste er sich eingestehen, dass er heute zu denen gehörte, über die er früher gelacht hatte. Eine Selbsterkenntnis, die nicht nur schmerzte, sondern auch den bitteren Beigeschmack besaß, dass es nie mehr besser werden würde.
Was war in seinem Leben nur schief gelaufen, fragte er sich, während er schwer atmend, auf dem Gehweg stand und gegen das Schwindelgefühl in seinem Kopf ankämpfte, das ihn jeden Moment aus dem Gleichgewicht warf.
Noch vor knapp zehn Jahren, wäre er an der Bank, auf der er jetzt täglich saß, vorbei gegangen und hätte die Gruppe aufgemischt, bis sie schreiend nach Hause gerannt wären. Heute war er froh, wenn er überhaupt dort ankam!
»Scheiß Leben«, fluchte er leise vor sich hin.
»Scheiß Pumpe«
Dabei fuhr er sich mit der linken Hand, über seine linke Brusthälfte, so als wollte er seinen Herzschlag fühlen.
Kaum mehr vierzig Meter waren es, die ihn noch von dem kleinen Kiosk trennten, an dem er jeden Tag stand und doch, schien es für sein Gewicht, eine unendliche Entfernung zu sein.
Jochen Müller, der lange, schmale im Team, saß auf der Bank, die gegenüber dem Kiosk stand und sah kurz die Straße hinunter, wo Don stand.
Er steckte sich rasch eine Zigarette an und winkte ihm zu.
Don erwiderte seinen Gruß, mit der gleichen Geste und kam zu ihm hinauf.
Es dauerte einige Minuten. Doch dann hatte er es endlich geschafft und sein Körper plumpste entkräftet auf die Bank.
»Es ist immer dasselbe«, sagte Don schnaufend, während er sich zu Jochen drehte, der in derselben Sekunde, seine Schachtel Zigaretten in der Jacke verschwinden ließ, um sie vor Don in Sicherheit zu bringen.
»Immer wenn du glaubst, es wird besser, dann kommt so ein Arzt daher und sagt dir, dass du mit der Trinkerei aufhören musst.«
Jochen sah zu Don, zog an seiner Zigarette, beobachtete dabei, wie die Glut aufleuchtete und fragte dann: »Du stirbst mir hier aber jetzt nicht weg, oder? So wie du schnaufst!« Dabei wurde sein Blick seltsam neugierig und glitt an Dons fettleibigem Körper entlang.
»Nein, nein!«, winkte Don ab. »Erst die letzte Woche habe ich gemerkt, dass es mir wieder besser geht! Die Schmerzen im Magen meine ich! Und gestern, erzählt mir dann der Arzt, eigentlich müsste es mir viel schlechter gehen….«
Don setzte sich aufrecht hin, steckte sich ebenfalls eine Zigarette an, während er weiter erzählte und dabei nach Luft rang.
»Und ich sage noch zu ihm, Herr Doktor, mir geht es besser! Die Schmerzen sind weg, bis gestern Abend. Da hatte ich sie wieder.«
Don sah seinen Freund an, als erwarte er von ihm ein Wort des Mitgefühls. Doch Jochen warf ihm nur einen kurzen, uninteressierten Blick zu. Er hatte gelernt, dass Don, so früh am Morgen, mächtig viel Blödsinn erzählen konnte und dass es besser war, ihm einfach nur zuzuhören.
Um nicht weiter Dons Ausführungen zuhören zu müssen, stand er auf.
Die Kontur seiner schlaksigen Gestalt, zeichnete sich im Licht der Sonne ab, die hinter ihm stand und die verbeulten Knie seiner Jeans, hingen über seinen Kniescheiben, wie zwei übergroße Höcker.
Er war auch einer von denen, die schon seit Jahren jeden Morgen hierher kamen. Wie der Rest der Gruppe. So hatte sich im Laufe der Zeit, ein kleiner Club gebildet, der sich jeden Tag vor dem Kiosk traf.
Hier saßen sie den ganzen Tag und redeten. Schlugen die Zeit tot und versuchten sich mit ihrem Geschwätz, gegenseitig zu überbieten.
Man holte die Zeitung, Getränke und manchmal brachte sogar einer von den Jungs Brötchen mit.
Jochen und Erik, die beiden hatten den Club gegründet. Irgendwie waren sie so etwas wie die Präsidenten dieser Bank!
Der Vorstand!
Erik hatte damals Getränke ausgefahren, bis er schließlich seinen Job verlor und einen Häuserblock weiter eingezogen war. Der typische Abstieg in dieser Stadt. Denn fast jeder ohne Job in dieser Stadt, landet früher oder später hier am Berg. So wie man diesen Stadtteil nannte.
Dann war da noch Jake, ein Amerikaner, der jahrelang auf dem Bau gearbeitet hatte, bis er es mit der Bandscheibe bekommen hatte und arbeitslos geworden war. Er hatte damals gesagt, sie hätten ihn nur auf Dauer beurlaubt. Aber die Wahrheit war, dass sie ihn gefeuert hatten.
Stephan und Don, die beiden waren zuletzt hinzugekommen.
Don war keine Arbeit gewöhnt. Es gab kaum ein T-Shirt, das seinen Bauch ganz verdeckte und wenn er sich bückte, dann rutschte seine Hose soweit hinunter, dass seine Unterhose zum Vorschein kam. Einmal hatte er sich gebückt und seine Unterhose war mit hinunter gerutscht. Zuerst hatte er es überhaupt nicht bemerkt, aber dann, als ihm klar geworden war, warum ihn die Leute so anstarrten, und seine Freunde über ihn lachten, war er rot geworden und den ganzen Tag über verschwunden.
Bis heute hat noch keiner aus ihm heraus bekommen, wohin er damals gegangen war.
Angeblich gab es da ein Mädchen!
Wenn man Dons Worten Glauben schenken konnte, war sie hinter ihm her, wie der Teufel.
Stephan war dann noch der letzte im Club.
Ein notorischer Faulenzer!
Seine Eltern hatten all die Jahre für ihn gesorgt. Doch vor einem Jahr, waren beide verunglückt und Stephan war von da an, auf sich alleine gestellt. Das bisschen Vermögen, das seine Eltern hinterlassen hatten, ging für die Beerdigung drauf und den Rest, hatte er versoffen.
Angeblich aus Trauer!
Doch jeder wusste, dass sich Stephan einen Dreck um seine Eltern geschert hatte. Aber niemand hätte sich je getraut, ihm das ins Gesicht zu sagen. Dem zwei Meter großen Kerl, mit dem muskulösen Körper.
Jochen stand immer noch da, griff sich mit einem Mal, mit den Händen, hinter den Kopf und reckte sich dabei.
Miriam Müller lief schnell an den beiden Männern vorbei, die Straße hinauf, bis sie vor der Tagesstätte ankam und wartete. Dabei warf sie hin und wieder einen heimlichen Blick hinunter, zu den beiden Männern. Wobei sie es peinlichst vermied, dass es ihrem kleinen Sohn auffiel.
Der Junge stand neben seiner Mutter und wartete.
Miriam hasste diese Männer.
Jeden Tag saßen sie dort vor dem Kiosk und im Winter, saßen sie in der Kneipe, am anderen Ende des Häuserblocks. Egal wo sie sich aufhielten, sie pöbelten nur die Leute an.
Genau solche Gestalten waren dafür verantwortlich, dass diese Wohngegend immer mehr in Verruf kam.
Einmal hatte sie einer dieser Kerle angesprochen. Ob sie etwas Kleingeld habe. Miriam hatte so getan, als hätte sie es nicht gehört. Aber der Mann hatte nicht locker gelassen, bis sie ihm einen finsteren Blick zugeworfen hatte und energisch »NEIN« gerufen hatte.
Gestört schien ihn das aber nicht zu haben, denn schon am nächsten Tag, hatte er sie wieder angesprochen. Entweder war er permanent besoffen gewesen, oder einfach nur dreist. Denn was hatte er denn erwartet, welche Antwort sie ihm geben würde.
Jedenfalls war sie von da an, fast zwei Wochen lang, einen Umweg gegangen. Auch wenn sie deswegen früher hatte aufstehen müssen.
Die Kerle machten ihr Angst. Es war schon schlimm genug, dass man in der Fußgängerzone weiter unten, immer wieder mit solchen Gestalten konfrontiert wurde. Aber hier, im Wohngebiet, hatten sie wirklich nichts zu suchen.
Verärgert warf sie den beiden ihre Blicke entgegen, als wollte sie sie damit strafen und wartete schweigend.
Robert stand hinter seinem Wohnzimmerfenster und beugte sich etwas weiter vor, um die Straße besser einsehen zu können.
Er hatte es mittlerweile geschafft aufzustehen.
Nicht zuletzt auch deswegen, weil der Lärmpegel, in der Straße, immer weiter anstieg.
Eigentlich sollte man erwarten können, dass es in einer Seitenstraße ruhiger zuging. Nicht zuletzt auch deswegen, weil es nur eine Fahrspur, in der Mitte der Straße gab und diese, zu beiden Seiten, von einem breiten Gehweg eingefasst war. Diese Gehwege waren, jeder für sich genommen, breiter als die Fahrspur und boten somit ausreichend Platz, für Bänke und Häuservorbauten.
Parken konnte man nur in einigen, wenigen Seitentaschen. Ansonsten wurde die Fahrbahn durch Gusspfosten begrenzt. Damit niemand außerhalb der Parkbuchten, seinen Wagen abstellen konnte.
Verkehrsberuhigter Ausbau, nannte die Stadt so etwas.
Doch es hatte nicht viel gebracht. Die Straße war immer noch stark befahren. Schließlich war sie die kürzeste Verbindung, von der Vorstadt, hinunter ins Zentrum.
Zwar musste man dazu in Kauf nehmen, das man hier auf rangierende Fahrzeuge stieß, die sich durch die engen Einfahrten aus den Hinterhöfen quälten und nur mit viel Rangierarbeit, zwischen den Gusspfosten, in die einspurige Fahrbahn fahren konnten. Aber der weite Bogen, über den Ring, mit seinen unzähligen Ampeln, führte zu wesentlich längeren Fahrzeiten.
Eine Tatsache, die Robert erst bemerkt hatte, nachdem er den Mietvertrag unterschrieben hatte.
In der Wohnung gegenüber ging das Licht an und hinter dem Vorhang, lief eine Frau hin und her.
Robert konnte ihre schemenhafte Gestalt beobachten.
Er sah sie fast jeden Morgen nervös auf und ab laufen. Sie schien eine sehr hektische, junge Frau zu sein, so schnell wie sie sich bewegte. Außerdem schien sie recht zerstreut zu sein, denn meistens lief sie hinter den Fenstern entlang und machte dann abrupt kehrt, so als habe sie etwas Wichtiges vergessen.
Heute war sie aber ziemlich spät dran.
Dann wurde das Licht wieder gelöscht.
Schon fertig, fragte sich Robert.
Nein, das Licht ging wieder an.
Warum schaltete sie das Licht überhaupt ein, fragte er sich dabei. Schließlich war es draußen hell.
Er ließ die Frage unbeantwortet stehen und wendete seinen Blick ab. Ließ ihn hinunter, auf die Straße schweifen.
Ein dritter Mann kam zu den beiden anderen an die Bank, die etwas weiter oben, auf der gegenüberliegenden Gehwegseite, stand.
Robert konnte sie von seinem Fenster aus einsehen und er hatte bereits nach wenigen Tagen bemerkt, dass es immer die gleichen Männer waren, die sich dort einfanden. Um an dieser Bank, den Tag zu verbringen. Dabei hoffte er, eines Tages nicht selbst so zu werden. Auch wenn er hin und wieder das Gefühl verspürte, sich im Moment, in einer ähnlichen Lage zu befinden.
Der dritte Mann begrüßte die beiden anderen, mit einer eigenwilligen Handgeste, die seine Kumpane gekonnt erwiderten.
Robert kannte den Mann.
Schließlich hing auch er jeden Tag hier herum!
Er war Australier, oder Amerikaner. Zumindest ließ sein Akzent darauf schließen.
Sogleich schienen sie alle drei ins Gespräch zu kommen.
Was die sich wohl jeden Tag zu erzählen hatten, dachte Robert und grinste.
Soweit wollte er auf gar keinen Fall absinken!
Schließlich wendete er sich gelangweilt von der Szenerie ab.
Ohne Frage handelte es sich um Blut, das dort an der Wand hing.
Wieder einmal!
Mark kannte den Geruch und auch die Farbe, denn er hatte schon zu viele solcher Flecken entfernt.
Viel zu viele!
Es war Eile geboten, wenn er den Fleck ganz wegschrubben wollte. Immer wieder reckte er sich, um auch an die oberen Stellen heranzukommen, wobei er zwischendurch den Schrubber zum widerholten Mal, in den Eimer mit Wasser eintauchen musste, um das Blut aufzuweichen.
In schmalen Rinnsalen, lief das Rot die Wand hinunter und in die Mitte des Hinterhofes, um unauffällig im Gully zu verschwinden.
Der kleine Mann, Anfang vierzig, mit struppigem, braunem Haar und dem blauen Overall, entfernte den Fleck, soweit es ihm möglich war, von der Wand.
Dann stand er wartend bei dem Rinnsal und beobachtete, wie die wässrige, rote Substanz, von der Wand aus, durch den Hof und zum Abfluss floss, bis das meiste darin verschwunden war.
Die Arbeit als Hausmeister, sollte eigentlich nur für den Übergang sein, aber jetzt waren es schon gut zehn Jahre und auch wenn er sich über Vieles ärgerte, machte er sie gerne.
Mark wusste, dass sie ihn alle für verrückt hielten.
Die ganze Straße glaubte das!
Seit dem Tag, an dem er die toten Ratten im Keller, versehentlich für ein Kind gehalten hatte.
Ein ganzer Haufen hatte da in der Ecke gelegen. Wer immer sie dorthin gebracht hatte, musste etwas Schreckliches vorgehabt haben, oder man wollte ihm einfach nur einen Streich spielen.
Und er war voll darauf reingefallen!
Wie immer hatte er alles wegräumen müssen.
Auch damals hatte er diesen Geruch in der Nase gehabt, so wie jetzt und die unzähligen Male davor, an denen er die Flecken entfernt hatte. Einen ekelhaft beißenden Geruch, der nach Fleisch, frischem Blut und etwas, das er bis jetzt noch nicht herausgefunden hatte, stank. Es wurde überdeckt, von den übrigen Gerüchen und biss sich dennoch, mit jedem Atemzug, tief in seine Nase.
Mark beeilte sich, tauchte den Schrubber nochmals in klares Wasser. Dann rieb er, so fest er konnte, über die Wand.
So fest, dass der Stiel des Schrubbers anfing, sich zu verbiegen, wenn er die Wand hinunter fuhr.
Es würde kaum länger als zehn Minuten dauern und wenn die Sonne, den Rest eingetrocknet hatte, dann war nur noch ein brauner Schleier, an der Hauswand zu sehen.
Einer von Vielen.
Doch das war nicht das eigentliche Problem.
Schließlich stand hier fest, dass es jemand auf die Hausverwaltung abgesehen hatte und früher oder später, würde er den Schuldigen finden.
Es war nur eine Frage der Zeit.
Die Ratten.
Die Blutflecken.
Der Gestank.
Alles deutete darauf hin, dass hier jemand ein mieses Spiel trieb.
Letztes Jahr, hatte die Verwaltung, diesen Metzger vor die Tür gesetzt.
Mark hatte das gefreut.
Dieser Kerl hatte schon von weitem gestunken!
Dabei roch er nicht nach Fleisch, was man, auf Grund seines Berufes, hätte vermuten können. Sondern nach seinen körpereigenen Düften, die er mit einem einfachen Bad, oder einen schnellen Dusche, durchaus hätte vertreiben können.
Wie auch immer, der Typ hatte einen Grund sauer zu sein. Schließlich hatte man ihm, wegen seines aggressiven Verhaltens, die Wohnung gekündigt.
Zweimal hatte er Kinder geschlagen, die ihm zu nahe gekommen waren und ihn, auf seine körpereigene Duftwolke, in der er ständig schwebte, angesprochen hatten. Dabei hatten sie sich ihm gegenüber, nicht gerade respektvoll geäußert.
Kinder eben!
Die Eltern hatten daraufhin die Hausverwaltung alarmiert und beim zweiten Mal, hatte er die Kündigung im Briefkasten gehabt.
An Blut, kam so einer doch ohne Probleme ran.
Während der kleine Mann sich weiter reckte, um den Fleck an der Wand zu entfernen, kam eine zweite Frau zu Miriam Müller an die Tagesstätte, die Miriam nur flüchtig kannte. Wortlos standen die beiden Frauen, mit ihren Söhnen da und warteten. Wobei sie beide, die Männer vor dem Kiosk beobachteten.
In der Zwischenzeit hatte sich deren Zahl auf drei erhöht und der dritte Mann, war jener, der Miriam damals angesprochen hatte. Er hatte diesen merkwürdigen Dialekt. War Amerikaner oder so ähnlich.
Die Männer unterhielten sich lautstark und Robert, der wieder hinter dem Fenster seines Wohnzimmers stand, konnte ihr lautes Gespräch fast mithören.
Es waren mehr als nur Wortfetzen, die bis zu ihm hinauf drangen und sein Interesse weckten. Wobei er neugierig, noch etwas näher, an das Fenster heran trat.
Während er so dastand und versuchte, dem Gespräch zu folgen, fiel ihm etwas Merkwürdiges auf. Dabei war es weniger merkwürdig, als vielmehr ungewöhnlich.
Die Antennen, auf dem Dach gegenüber!
Sie waren alle abgebrochen.
Robert ging zu dem anderen Fenster im Zimmer hinüber, welches sich in der oberen Zimmerhälfte, auf gleicher Front befand, um sich die Sache noch genauer ansehen zu können.
Sie waren alle abgebrochen!
Umgeknickt!
Wie wirr durcheinander geworfene Stäbe, lagen die Antennen auf dem Dach.
Obwohl es weder gestürmt, noch stark geregnet hatte.
Nachdenklich stand er da und versuchte den Ursprung dieses Phänomens zu ergründen, doch er musste passen.
Schließlich wandte er sich ab und versuchte wieder dem Gespräch auf der Bank zu folgen. Doch es war still geworden.
Die Aufregung, die die Männer auf der Bank angestachelt hatte und die sie selbst ins Leben gerufen hatten, war versiegt. Sie wurde mit einigen Bieren herunter gespült, wo sie unwiederbringlich verschwand.
Mark hatte es in der Zwischenzeit geschafft und nur noch ein schmales Rinnsal, das zum Gully hin lief und eine nasse, etwas dunklere Fläche an der Wand, zeugten noch von dem Fleck.
Wie er es vermutet hatte.
Gedanken versunken, verfolgte er den Lauf der roten Flüssigkeit, wie sie langsam im Gully verschwand.
Er hatte es verstanden.
Der Fleck war nicht wie die anderen!
Dieser hier nicht!
Es war einfach zu viel Blut gewesen und außerdem, hatte sich der Fleck zu weit oben an der Wand befunden.
Damals, als der Hund von Baders, die Katze hier im Hof tot gebissen hatte, war es fast genauso gewesen.
Aber nur fast!
Der Hund hatte das arme Tier, quer durch den kleinen Hof gehetzt, bis dem Vieh plötzlich klar geworden war, dass es von hier aus keinen Ausweg mehr gab und nachdem das Tor zugefallen war, hatte in dem engen Hof ein wilder Überlebenskampf gewütet, den die Katze nur hatte verlieren können.
Später hatte überall Blut geklebt. Aber dennoch war es anders gewesen.
Das Blut?
Nein!
Mark erschrak plötzlich über seine eigenen Gedanken.
Die Höhe, in der es an der Wand geklebt hatte.
Damals waren es mehr Spritzer gewesen. Lang und horizontal verteilt.
Wie Streifen!
Dieser Fleck hier sah anders aus. So als wäre er von oben gekommen.
Mark sah an den Häuserfronten hoch, die den kleinen Hinterhof zu zwei Seiten einschlossen.
Fünf Etagen hoch!
Auf der anderen Seite, stand die rückseitige Mauer der Garage des Nebenhauses und gegenüber, befand sich eine fensterlose Hausrückwand.
Wenn wirklich ein Tier vom Dach gefallen wäre, dann hätte der Fleck auf dem Boden sein müssen und nicht an der Wand. Es sei denn, jemand hatte etwas hochgehoben und dabei gegen die Wand geworfen, sodass sich beim Aufprall, dieser längliche, nach unten hin schmaler werdende Verlauf gebildet hätte.
Ein Tier kam dafür nicht in Frage!
Nicht für diesen Fleck.
Mark entschloss sich dazu, die Geschichte für sich zu behalten und als auch noch das letzte bisschen Blut, im Gully verschwunden war, verschwand er mit Eimer und Schrubber vom Hof.
Alle nannten sie nur Miss Patter. Sie war die Leiterin der Kindertagesstätte, die sich am oberen Ende der Straße befand.
Den Namen hatte sie bekommen, weil sie sich schon immer für Amerika interessierte und fast jede freie Minute ihrer Zeit, mit Büchern oder Filmen über dieses Land verbrachte.
Als sie an diesem Morgen, mit ihrer braunen Hochfrisur und den abgetragenen Turnschuhen, vor dem Kinderhort eintraf, standen dort schon einige Frauen.
Unter ihnen auch Miriam Müller, die sie besonders gut kannte.
Rasch schloss sie die Tür auf und bat alle hinein.
Als schließlich alle im Hauseingang verschwunden waren, trat sie selbst auch ein und bat Miriam, mittels einer hastigen Handgeste, zu sich, in den vorderen Raum und sagte sogleich: »Haben sie das von der kleinen Tanja gehört?«
Miriam, die ihren Sohn von der Hand ließ und dabei zusah, wie er zu den Kleiderhaken lief, schüttelte verneinend den Kopf und noch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Miss Patter fort.
»Sie ist seit vier Tagen verschwunden und denken sie nur, es gibt immer noch kein Lebenszeichen von ihr.«
»Ist das nicht das kleine Mädchen von Stegmanns, das dieses Jahr in die Schule kommt.«
»Wenn sie kommt«, unterbrach Johanna, so Miss Patters Vorname, sie gleich. »Wenn sie kommt! Denn jetzt kommt das aller Schlimmste. Gestern Abend sind einige Fetzen von ihrer Kleidung gefunden worden. Ich habe es, von meinen Nachbarn erfahren.«
»Das ist ja furchtbar! Meinen sie, sie ist ver….«, weiter kam Miriam nicht.
»Wer weiß! Jedenfalls war Blut an der Kleidung und die Polizei untersucht das alles. Ich glaube, das ist fast so, wie im Fernsehen. Nur leider etwas trauriger. Mir macht das langsam richtig Angst. Fast jeden Tag verschwinden Menschen in dieser Stadt. Da stimmt doch etwas nicht!«
Miriam stimmte ihr in Gedanken zu und warf einen suchenden Blick zu ihrem Sohn.
Dieser hatte seine Jacke an einen der Haken gehängt und die Straßenschuhe unter das kleine Bänkchen, neben dem Spielzimmer gestellt, wo er zuvor seine Hausschuhe herausgenommen und angezogen hatte.
Dann verschwand er durch die Tür, neben der Bank, im Spielzimmer und Miriams Gedanken schweiften wieder ab.
Wenn sie sich richtig erinnerte, dann war es schon immer so. Solange sie zurückdenken konnte. Menschen verschwanden einfach.
»Wer kann denn nur dem Kind etwas getan haben?«, fragte sie leise.
Miss Patter rümpfte ihre Nase, so als würde sie angestrengt nachdenken.
»Vielleicht diese abartigen Typen. Die vor diesem Kiosk, hier in der Straße.«
Miriam schaute beiläufig durch die Scheibe, hinaus auf die Straße, dann zu Miss Patter.
»Das glaube ich nicht. Die Typen sind lästig und unangenehm. Aber ein Kind verschleppen. Oder sogar töten? Das traue ich ihnen nicht zu.«
»Es sind aber meistens die, die man am wenigsten verdächtigt! «, gab Johanna zu bedenken.
»Da pflichte ich ihnen bei, aber warum sollte einer von ihnen, so etwas Schreckliches tun?«
Sie stand nachdenklich da.
»Das sind nur Säufer!«
Miss Patter zuckte unwissend mit den Schultern. »Wirklich glauben, kann ich das auch nicht. Ich denke sowieso, dass die alle etwas plemplem sind.«
Beide Frauen grinsten.
»So wollte ich es nicht ausdrücken, aber wir denken das Gleiche. Dennoch stellt sich die Frage, wo die kleine Tanja sein könnte?«
»Tja«, damit verstummte Miss Patter und Miriam ging nach ihrem Sohn sehen, um sich von ihm zu verabschieden.
Als Robert wieder aus dem Bad kam, genehmigte er sich eine Tasse Kaffee und stellte sich wieder an eines der beiden Fenster, die zur Straße hinausgingen.
Vielleicht klang es albern, aber irgendwie bekam er immer mehr den Eindruck, dass sich die Fensterfront seiner Wohnung, in eine Art Kinoleinwand verwandelte, auf der es tagtäglich etwas Neues zu sehen gab.
Ganz im Gegensatz zu seinem alten Haus, wo der Ausblick mehr an ein Stillleben auf dem Lande erinnerte. Schließlich lag es abseits, an einer ruhigen Seitenstraße und dahinter der Wald. Unendlich viel Ruhe und noch mehr Abgeschiedenheit.
Hier hingegen, gab es immer etwas zu sehen.
Oder zu hören.
Die Straßen waren erfüllt, mit dem Leben der Menschen und wenn man nur lange genug zusah, dann konnte man sogar ein Muster in ihrem Leben erkennen. Ihr Handeln verstehen und sich einen Reim darauf machen, was noch kommen würde.
Das alles besaß eine gewisse Ähnlichkeit, mit einer Fernsehserie, die jedes Mal auf eine Fortsetzung hoffen ließ. Robert fing langsam an, Gefallen an dem zu finden, was er sah und beobachtete alles schweigend, durch seinen Vorhang.
Er verfolgte, wie ein Lastwagen die Straße hinunter fuhr und sich dabei mühsam durch die einspurige Fahrbahn drängeln musste. Hinter ihm, schlichen drei Pkws, ebenso langsam die Straße entlang, während der erste der Dreiergruppe, möglichst viel Abstand zu dem Lastwagen hielt.
Die Sonne stand jetzt über den Häusern und ihre wärmenden Strahlen, durchfluteten die Räume und sorgten für ein helles Licht an den Wänden. Der Anblick löste in Robert ein Wohlbehagen aus, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er verspürte plötzlich den unheimlichen Drang, etwas spazieren zu gehen. Sich zwischen die Menschen zu mischen und den Tag zu genießen. Alle Sorgen und Probleme zu vergessen und den Vormittag mit etwas sinnvollerem auszufüllen, als der stillen Beobachtung.
Kurz entschlossen, stellte er die Kaffeetasse in der Küche ab, zog sich an, nahm seine Jacke vom Haken und verließ die Wohnung.
Rainer Pohl war mindestens so unsympathisch, wie Donald Herb. Der große Mann, mit dem Schmierbauch und dem unangenehmen Gestank, der mit jedem Atemzug aus seinem Mund kam, war ebenso erbärmlich, wie der Geruch seiner Füße.
Vor einem Jahr, hatte man ihn aus seiner Wohnung geworfen, gleich hier oben in der Straße und von diesem Tag an, hatte er im Dreck gelebt.
Leben müssen!
Eine andere Wohnung seiner Preisklasse, hatte er nicht finden können und nach einigen Monaten der Suche, hatte er es schließlich ganz aufgegeben.
Er und Donald Herb waren früher in der gleichen Gang gewesen und wenn sie sich heute trafen, dann stachelten sie sich gegenseitig an, wie zwei Streithähne. Dabei versuchte jeder beim Anderen, mit seinem Imponiergehabe Eindruck zu schinden, so als gäbe es einen Wettbewerb für den größten Angeber.
Früher hatten sie, mit ihrem flegelhaften und primitiven Gehabe, Eindruck geschunden. Heute genügte es nur noch, um ältere Mitmenschen zu verunsichern und sie aus ihrem näheren Dunstkreis zu vertreiben. Doch bei dem Gestank, den Rainer verbreitete, war selbst das noch eine beachtliche Leistung.
Dabei schlugen sie sich jedes Mal vor Begeisterung, gegenseitig auf die Schulter, wenn es einer von ihnen wieder geschafft hatte, einer alten Frau Angst einzujagen, oder einen alten Mann in die Flucht zu schlagen.
Ihr Lieblingsplatz hierfür, war die Unterführung am Bahnhof. Hier konnte man am besten um Geld betteln und um alles andere, was man so gebrauchen konnte.
Und sie fanden für alles Mögliche Verwendung.
Aber sie liebten diesen Platz, besonders wegen der guten Akustik in der Unterführung, die ihre ohnehin lauten Organe, noch mehr verstärkte.
Hier in der Abgeschiedenheit des Tunnels, wo jeder mit einem ängstlichen Gefühl in der Magengegend unterwegs war und darauf hoffte, möglichst schnell und unbehelligt hindurch zu kommen, genügte nur ihr lautes Organ, um jeden Passanten einzuschüchtern.
Hier waren sie noch Helden.
Auch wenn ihre sonst so kaputten Leben, vollkommen verschieden waren.
Don war schließlich ein Säufer, krank und übergewichtig. Dazu hatte er nie richtig gearbeitet.
Im Gegensatz dazu hatte Rainer es geschafft, wenigstens teilweise einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen. Aber auch nur, weil ihn sein Vater durch die Metzgerlehre geprügelt hatte und das, im wahrsten Sinne des Wortes.
Siebzehn Jahre hatte er dann in der großen Metzgerei gearbeitet. Täglich im Schweineblut gestanden und sich gefragt, was wohl sonst aus seinem Leben geworden wäre?
Heute Morgen hatte das nun alles ein Ende. Denn Rainer Pohl schwamm, mit dem Kopf unter Wasser, im Fluss und trieb langsam aus der Stadt.
Dort wo früher sein Gesicht war, klaffte jetzt nur noch ein blutiges Loch und seine Bauchdecke lag noch irgendwo im Hafen. Während er selbst im Fluss dahin trieb. Der Gestank seines rohen Fleisches, seine eigenen Körperdüfte überdeckte und sein lebloser Körper, in den Wellen auf und ab wogte. Wie ein Spielzeug, das man achtlos weggeworfen hatte.
Nach einer Weile verfing sich sein linker Arm im Gestrüpp, unter einem alten, einsturzgefährdeten Steg, den schon seit Jahren niemand mehr betrat.
Er verklemmte sich zwischen der Ständerkonstruktion, direkt am Ufer, so als wollte er sich dort festklammern um der Strömung zu trotzen.
Vermutlich würde es einige Wochen dauern, bis ihn hier jemand roch.
Als Robert gegen Mittag, mit einer kleinen Einkaufstüte, wieder in seiner Wohnung eintraf, sah er, wie auf dem Dach gegenüber, ein Monteur emsig damit beschäftigt war, die beschädigten Antennen einzusammeln.
Der Mann wirkte etwas unsicher in seinen Bewegungen und vermied es peinlichst, nach unten zu schauen, während er sich vorsichtig auf dem Dach bewegte, dass zu seinem Glück, nur eine geringe Neigung besaß.
Robert beobachtete ihn von seinem Fenster aus und schüttelte schließlich den Kopf. Man sollte meinen, dass ein Monteur, mit Arbeiten auf Dächern vertraut sein müsste. Vor allen Dingen, wenn es sich dabei um einen Handwerker handelte, der mit Antennen zu tun hatte, die für gewöhnlich, immer auf Dächern montiert wurden.
Dieser allerdings, stolperte zwischen den Masten hin und her, als sei er zum ersten Mal auf einem Dach.
Nach einer Weile, wendete sich Robert gelangweilt ab und ging in die Küche, wo er die mitgebrachten Lebensmittel einräumte und sich danach etwas zu essen zubereitete.
Sein Mahl war ebenso spärlich, wie der Inhalt seines Geldbeutels und für den Bruchteil einer Minute, beneidete er den Mann auf dem Dach gegenüber, der gerade eine neue Antenne platzierte.
Er besaß schließlich eine Arbeit!
Auch wenn er sich ziemlich dämlich dabei anstellte.
Aber dann wurde sich Robert seiner Höhenangst bewusst und dem Umstand, dass er kein Mann der Praxis war und er versuchte über etwas anderes nachzudenken.
Ben Hörbig hatte man gesagt, es sei der Job seines Lebens.
Eine wirklich feine Arbeit, hatten damals seine Eltern behauptet und ihrem Sohn dabei stolz auf die Schulter geklopft, als er die Lehrstelle angeboten bekommen hatte.
Tolle Sozialleistungen, feste Arbeitszeiten und Urlaubsgeld und jetzt stand er hier auf dem Dach und konnte zusehen, wie er die Antennen wenigstens einigermaßen retten konnte.
Wenn das die Vorstellung seines Chefs und die seiner Eltern, in Bezug auf eine tolle Arbeit war, dann wusste er auch nicht mehr weiter.
Ben war mittlerweile dreiundzwanzig Jahre und hatte einen kleinen Bauchansatz, den der blaue Overall mehr betonte, als es Ben lieb war. Das war aber nicht der wahre Grund, warum er diesen Overall hasste. Schließlich hing das verdammte Ding an ihm herunter, wie ein Sack und irgendwie zehrte das enorm, an seinem Selbstbewusstsein.
Der Kerl von der Hausverwaltung hatte ihm gesagt, es dürfe fast nichts kosten und Ben hatte ihm zugesichert, dass er sein Möglichstes tun würde. Aber wenn er sich die Sache jetzt genauer betrachtete, dann war das kaum möglich.
Dass der Typ im gegenüberliegenden Haus ihm dabei zusah, störte ihn weniger, als die Tatsache, dass sein Lehrling und einziger Gehilfe, ausgerechnet heute Urlaub machen musste.
So konnte er die ganze Scheißarbeit alleine verrichten.
Fast zehn Antennen waren hier abgebrochen und das, obwohl es seit Wochen nicht mehr gestürmt hatte. Langsam kam in ihm der Verdacht auf, dass hier etwas nicht ganz stimmte!
Doch verdammt!
Was ging ihn das an.
Er turnte hier auf dem Dach herum und musste versuchen zu retten, was noch zu retten war. Das War sein Job.
Dabei könnte er sich das Genick brechen wenn er abrutschte, während die Sonne ihn, wo immer sie konnte, blendete.
Langsam und etwas unsicher, wagte er sich ein Stück weiter vor und holte eine der Antennen ein, die gerade noch an dem Antennenkabel, vom Dach hing.
Ben tastete vorsichtig nach dem Stab, denn eine ruckartige Bewegung genügte und das Kabel könnte reißen und die Antenne würde auf die Straße fallen.
Endlich hatte er es geschafft, als er auf der anderen Hausseite etwas seltsames bemerkte, das sein Interesse weckte.
Da war eine kleine Luke im Dach, genau über der Wohnung, wo ihm vor wenigen Minuten noch der Mann zugesehen hatte.
Die Luke stand weit offen und die Sonne warf ein helles Licht auf das Dach um die Luke.
Für einen Moment lang sah es so aus, als ginge eine übergroße Gestalt dahinter entlang.
Ben umfasste den kalten Stab der Antenne und robbte zurück, auf die für ihn sichere Fläche des Daches, während er das gegenüber liegende Haus, nicht aus den Augen ließ.
So als warte er auf ein Zeichen, oder eine Bewegung.
Doch nichts rührte sich.
Dabei kam sich Ben plötzlich albern vor. Er lag hier auf dem Dach, umklammerte mit seiner rechten Hand den Antennenstab, den er eben noch vor dem Absturz gerettet hatte, während er sich mit der Linken, an einer schmalen Kante im Dach festgekrallt hatte.
Genervt warf er einen letzten Blick hinüber, auf das andere Haus, so als wollte er sich davon versichern, dass man ihn von der Luke aus, nicht auch noch beobachtete, dann zog er die Antenne weiter hinauf.
Gerade als er zu der Überzeugung kam, dass seine Gestalt, nichts weiter als ein verzerrter Schatten gewesen sein könnte, der hinter der Luke entlang gewandert war, rutschte etwas hinter der Klappe durch den Raum und noch bevor Ben sicher war, dass es sich dabei um den Körper eines Kindes handeln konnte, starrten ihn aus dem düsteren Raum, zwei grelle, rote Augen an.
Dann schlug die Luke zu.
Ben setzte sich, legte den Mast zur Seite und starrte auf die hölzerne Tür der Luke.
Entweder erlaubte sich hier Jemand einen üblen Scherz mit ihm, oder dort drüben ging etwas sehr seltsames vor. Sein Puls schlug ihm plötzlich bis zum Hals und er hatte alle Mühe, die Antenne festzuhalten, während er immer noch über das seltsame Erlebnis nachdachte und dabei die Tür in der Luke anstarrte, als würde er so eine Antwort auf diese Frage finden.
Nach einer Weile, erhob er sich vorsichtig. Drehte sich um und ging einige Schritte zurück, dann schaute er nochmals hinüber.
Die Luke war immer noch verschlossen und alles schien ruhig.
Vielleicht war es ein Hund gewesen, der in dem düsteren Raum, wie ein Monster ausgesehen hatte. Oder ein Mann, der ihn ebenso erschrocken angestarrt hatte, wie er es getan hatte.
Seine Augen könnten im Sonnenlicht rot gefunkelt haben.
Und das Kind?
Ben nahm den Mast und trug ihn zu der Aufnahme im Dach.
Vielleicht eine Puppe?!
Oder vielleicht das Mädchen, dass man vermisste?
Ben hielt inne und blickte nachdenklich hinüber.
Er hatte davon in der Zeitung gelesen.
Erst gestern!
Ein sechs jähriges Mädchen.
Mit einem Ruck, setzte er die Antenne in die Vertiefung und holte einige Schrauben aus seiner Tasche.
»Verdammt!«, fluchte er leise, es war ihm egal.
Heute ging irgendwie alles schief und er hatte keine Lust, sich auch noch Ärger mit der Polizei zu holen, falls er falsch lag.
Wer war so blöd und sollte ein Mädchen dort verstecken und es ausgerechnet dann wegschaffen, wenn auf der anderen Straßenseite, jemand auf dem Dach arbeitete.
Ben stand auf und sah noch einmal hinüber. Alles schien still zu sein. Die Luke war verschlossen.
Hatte er geträumt?
Eigentlich waren es nur Schatten gewesen, die er gesehen hatte.
Es könnte alles Mögliche gewesen sein.
Plötzlich schüttelte er nervös seinen Kopf.
Was es auch immer gewesen war, es hatte sich erledigt.
Er schaute sich die Antenne an und machte sich daran, darüber nachzudenken, wie er am schnellsten einen neuen Mast hier hoch bekommen würde, damit er hier endlich fertig werden würde. Diese Straße machte ihm Angst und die Luke gegenüber, fing ebenfalls an, ihn zu ängstigen.
Man könnte sagen, es war ein gewisses Ritual, das sich täglich abspielte. Ein immer wiederkehrender Tagesablauf und das, an jedem Wochentag, und so verging auch dieser Tag, wie schon die unzähligen davor und so wie es noch viele weitere geben würde.
Gegen fünf Uhr, holten die letzten Eltern ihre Kinder im Hort ab. Und während morgens, vorwiegend Mütter ihre Kinder, in die Obhut der Erzieherinnen gegeben hatten, waren nachmittags die Väter in der Überzahl.
Gegen fünf Uhr, öffnete auch das Lokal gegenüber und die ersten Gäste, meist Männer, strömten hinein.
Während immer mehr Autos in der Straße einen Parkplatz suchten, was bei den wenigen Parktaschen, ein aussichtloses Unterfangen war.
Um 19:00 Uhr, war dann fast alles Leben in der Straße erloschen.
Die Geschäfte, der angrenzenden Passagen schlossen und auch der letzte Wagen, hatte endlich irgendwo eine Parkfläche gefunden.
Nachdem Robert sich etwas zu essen gemacht hatte, setzte er sich vor den Fernseher und sah sich irgendeinen Film, über eine Frau an, die ihr Kind verloren glaubte, bis sie es schließlich wieder fand und sie sich beide, überglücklich in die Arme fielen.
Danach gab es eine dieser Serien, deren Handlung man mit den Worten, einfach und oberflächlich, beschreiben konnte. Aber dennoch gelang es Robert nicht, einen Zusammenhang herauszufinden. Vielleicht hätte er eine der dreihundert Folgen davor sehen sollen, fragte er sich und schaltete genervt um.
Von der Straße unten, hörte er Stimmen und ein beiläufiger Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sich der Club der glorreichen fünf, vor dem Kiosk, längst aufgelöst hatte.
Das taten sie jeden Abend um acht und morgen früh, um Punkt sieben, saßen sie dann alle wieder auf ihrem Bänkchen.
Die Stimmen wurden lauter. Jetzt befanden sich die Personen, ziemlich genau auf der Höhe seines gekippten Fensters.
Drei Personen, die sich darüber uneinig waren, wohin sie gehen sollten. Es wurden die Namen von einigen Lokalen genannt, die Robert nicht kannte. Dass es sich dabei um Lokale handeln musste, schloss er daraus, weil die drei bei jedem Namen, verschiedene alkoholische Getränke aufzählten, die es dort zu geben schien. Schließlich entbrannte eine heftige Diskussion und dann entfernten sich die Stimmen.
Vermischten sich mit dem Krach, der aus dem Lautsprecher des Fernsehers drang und wurden dann plötzlich von einem anderen Lärm übertönt.
Robert stellte spontan den Ton seines Fernsehers ab und lauschte ängstlich, den dumpfen Geräuschen.
Seit über zwei Wochen ging das jetzt so und das fast immer zur gleichen Uhrzeit. Zumindest hatte er sich vor etwa zwei Wochen zum ersten Mal durch diese Geräusche gestört gefühlt und seitdem, reagierte sein Unterbewusstsein jedes Mal sofort, wenn er sie vernahm.
Schwere Schritte. Als würde Jemand auf dem Speicher entlang gehen. Hin und wieder hörte es sich sogar so an, als würden mehrere Personen auf und ab laufen.
Doch die Vorstellung war zu abwegig.
Zum einen, sah er keinen Sinn darin, warum sich eine Gruppe, durch die schmale Deckenluke, die sich über dem Treppenabsatz, vor seiner Eingangstür befand, zwängen sollte, um sich auf dem Speicher zu treffen.
Zum anderen, hätte er es gehört, wenn jemand die Deckenluke heruntergeklappt hätte. Das verdammte Ding machte einen derart unangenehmen Lärm, dass es unmöglich war, ihn in seiner Wohnung zu überhören.
Dennoch wurde seine Neugier von Nacht zu Nacht größer und verdrängte dabei jede rationale Vorstellung. Dabei drängten sich ihm die unmöglichsten Erklärungen für dieses Phänomen auf.
Rasch stand er auf und lief in den Flur.
Er schob den Vorhang etwas zur Seite und späte durch den kleinen Spion in der Tür.
Alles im Flur sah verzerrt und unnatürlich aus. Hinzu kam die Dunkelheit, die nur durch das spärlich einfallende Licht der Hoflaterne, die von unten durch die Flurfenster schien, etwas aufgehellt wurde. Doch was er sah genügte, um die geschlossene Luke in der Decke des Flurs zu erkennen.
Er lief zurück ins Wohnzimmer und lauschte.
Für einen Moment lang, war es still, dann hörte er es wieder!
Dumpfe Schläge, so als würde Jemand mit enormem Gewicht dort oben auf und ab gehen. Es waren die Schritte von mehreren Personen. Robert drehte seinen Kopf, um sein rechtes Ohr auf die Geräusche ausrichten.
Vielleicht gab es eine Verbindung vom Nachbarhaus, die hinauf, in den Bereich über seiner Wohnung führte, dachte er, während er immer noch lauschte. Das würde auch erklären, warum die Deckenluke geschlossen war, obwohl dort oben jemand entlang lief.
Soweit er wusste, waren die Keller früher miteinander verbunden gewesen. Warum sollte das beim Speicher nicht auch der Fall gewesen sein und vielleicht war es heute noch so.
Außerdem fiel ihm keine andere Erklärung ein.
Dort oben gab es nichts.
Nicht über seiner Wohnung.
Plötzlich schüttelte er den Kopf und richtete die Augen auf die Decke.
Diese Erklärung klang zu verrückt.
Die Keller waren miteinander verbunden gewesen, weil sie im zweiten Weltkrieg als Bunker gedient hatten. Bei den Dächern war das mit Sicherheit nicht so gewesen. Wer hätte sich bei einem Bombenangriff auf dem Dach versteckt?
Es musste eine andere Möglichkeit geben!
Vielleicht war dort oben überhaupt niemand und der Lärm, entstand irgendwo anders. Der ungenutzte Hohlraum unter dem Dach, könnte den Lärm doch weitertragen. So wie diese Bechertelefone, die sich seine Kinder immer gebastelt hatten. Zwei einfache Becher, mit einem Loch im Boden durch das man eine Schnur steckte. Dort oben könnte es ein Bauteil geben, das ebenso die Schallwellen übertrug, wie eine Schnur und der ganze Speicher diente als Resonanzkörper.
Für Robert schien dies im Moment die einzig vernünftige Erklärung zu sein und wenn das wirklich der Grund für diesen Lärm war, dann sollte er die Hausverwaltung über diese abendliche Lärmbelästigung informieren. Schließlich hatte er ein Recht darauf, nach acht Uhr abends seine Ruhe zu haben.
Während Robert noch darüber nachdachte, fragte er sich, ob er der Sache nicht auf den Grund gehen sollte.
Dabei ertappte er sich dabei, dass er die Entscheidung bereits längst getroffen hatte.
Er suchte nach einem Nagel, den er durch den Stiel des Besens schlagen konnte, um so einen Haken, für die Öse zu basteln, mit der man die Luke hinunter ziehen konnte. Doch so lange er auch in seiner einfachen Werkzeugkiste suchte, er fand keinen.
Dabei fiel ihm auf, dass es wieder still geworden war.
Robert stand im Flur und lauschte. Nichts rührte sich.
Nur das Flimmern des Fernsehers, der im Nebenzimmer stand, drang in den düsteren Flur und dann durchbrach der Lärm eines Autos, dass die Straße hinunter raste, die Stille in seiner Wohnung.
Von oben war nichts mehr zu hören.
Robert legte den Besen weg, ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder vor den Fernseher. Er schaltete den Ton wieder ein und schluckte kurz.
Dann verfolgte er einige Sendungen, während er unterschwellig immer noch lauschte.
Doch es blieb ruhig.
Donald Herb schleppte zu dieser Abendstunde wieder seinen Körper die Straße hinunter und obwohl es jetzt bergab ging, kam ihm der Weg fast genauso beschwerlich vor, wie heute Morgen.
Vermutlich war es die Müdigkeit, die ihm so zusetzte. Zumindest redete er sich das ein.
Er umschloss mit seinem Arm die Plastiktüte, mit den Bierflaschen, die sein letztes Geld verschlungen hatten und sah zu, dass er endlich nach Hause kam.
Er würde noch ein bisschen Fernsehen und ein paar von den Bieren kippen, dachte er und dabei langsam einschlafen.
So sah sein allabendliches Programm aus und er war froh darüber, denn so konnte er am leichtesten den Ärger vergessen, den er den ganzen Tag über zu schlucken bekam.
Dabei spielte es keine Rolle, ob es der Ärger mit den Ämtern war, die ihn nicht verstanden, oder seinen Freunden, die über ihn lachten, wenn man sie denn überhaupt als Freunde bezeichnen konnte.
Eigentlich hatten sie sich nur so zusammengefunden und ob seine Anwesenheit erwünscht war, konnte er nicht einmal mit Gewissheit sagen.
Vielleicht gehörte er ja gar nicht zum Club!
Vielleicht war er für sie nichts anderes, als so ein armes Schwein. Einer von denen, die er früher gequält hatte. Damals, als er noch ein echter Kerl gewesen war. Jetzt waren sie die echten Kerle.
Don fluchte leise vor sich hin, wobei die Erinnerung an die alten Tage, ein verschmitztes Lächeln auf sein dickes Gesicht zauberte, das aber ebenso schnell verschwand, wie es gekommen war.
Denn in seinem Innersten ärgerte er sich.
Etwas weiter unten, machte die Straße eine kleine Biegung und mit einem Mal, hatte ihn das Dunkel der Nacht, gänzlich umhüllt und er kam sich fast lächerlich vor, als er sich dabei ertappte, wie ihn ein ängstlicher Schauer überkam.
Ausgerechnet ihn, den schlimmsten Kerl der Stadt!
Nicht er sollte Angst haben, sondern die Dunkelheit!
Er warf einen verärgerten Blick nach oben und stellte fest, dass die beiden Laternen, die auf diesem Wegstück standen, nicht leuchteten.
Eine glühte schwach, die dahinter leuchtete überhaupt nicht.
Don legte eine kurze Verschnaufpause ein und stellte den Beutel ab, wobei er peinlichst genau darauf achtete, dass keine der Flaschen im Beutel umfallen konnte.
Um dies zu bewerkstelligen, legte er eine schon fast akrobatische Fingerfertigkeit an den Tag. Während er die Tüte, mit Daumen und Zeigefinger festhielt, ertastete er durch das Plastik, nacheinander die einzelnen Flaschenhälse, mit den restlichen Fingern seiner rechten Hand und stellte sie so aufrecht hin, bevor er die Tüte los ließ.
Mit seinen zittrigen Händen kramte er dann unter seiner Jacke, eine Zigarette hervor und warf das leere Päckchen achtlos hinter sich.
Gerade als er im Begriff war, die Zigarette anzuzünden, kam ein leichter Windzug auf, der ihn daran hinderte, den Tabak zu entzünden.
Es war nicht die Art von Wind, die er sonst verspürte.
Vielmehr war es so, als fächele ihm jemand Luft zu.
Eine freundliche Geste, dachte er und grinste innerlich.
Dabei stand er schweigend da und versuchte herauszufinden, woher der Windzug kam.
Suchend blickte er die Straße hinauf und hinunter, aber alles war ruhig. Der Luftzug war verschwunden und mit ihm, ein unangenehmer, fauliger Geruch, den er mit zu Don geweht hatte.
Was zur Hölle konnte so erbärmlich stinken?
Fragend stand er da.
Der Geruch war so abstoßend und ekelhaft, dass ihn fast ein Brechreiz überkam, wenn er nur daran dachte.
Alleine der Gedanke, brachte ihm diesen Geruch sofort wieder in die Nase, obwohl er ihn nur für den Bruchteil einer Minute bemerkt hatte.
Vielleicht war es der Gestank aus den Kanälen, unter der Stadt. So in etwa stellte er ihn sich vor. Dabei schaute er sich immer noch fragend um, während ihn die Dunkelheit umhüllte.
Er hasste diese verdammte Stadt mindestens genauso, wie sie ihn hasste. Warum sonst, war sein Leben so armselig verlaufen?
Nur drei Straßen weiter war er aufgewachsen.
Damals schon hatten ihn die Kinder immer nur fette Sau genannt.
Specki!
Allerdings hatten sie darauf geachtet, dass dann genügend Abstand zwischen ihm und ihnen lag, denn wenn er einen von diesen Jungs in die Finger bekommen hatte, dann kannte er keine Gnade und sie wussten das.
Heute war keiner mehr von ihnen hier.
Sie hatten es alle geschafft, von hier wegzukommen und eine vernünftige Arbeit zu finden. Don war der Einzige, dem dieses Glück versagt geblieben war. Rasch hob er seinen Beutel auf, klemmte ihn sich unter den Arm und zündete umständlich die Zigarette an.
Dann ging er weiter. Immer weiter ins Dunkel der Straße.
Er kannte die Stadt wie kein zweiter und er wusste, dass alle hinter seinem Rücken über ihn lachten. Keiner würde dies je zugeben, aber Don wusste es.
Sie lachten, weil es kaum noch ein T-Shirt oder ein anderes Kleidungsstück gab, das seinen Bauch ganz überdeckte und sie lachten, wenn er sich bückte.
Einmal hatte es einer gewagt, direkt vor Don zu lachen und auf ihn zu zeigen.
Er hatte sich den Kerl geschnappt und ihn so verprügelt, dass er drei Tage lang im Krankenhaus gewesen war.
Bei dem Gedanken daran, verzog Don seine speckigen Backen zu einem Lächeln. Eine Woche Sozialarbeit hatte ihm das eingebracht, aber das war es wert gewesen.
Donald hatte jetzt fast das Ende der Straße erreicht und vor ihm lag die Kreuzung, als er plötzlich wieder von einem Luftzug überrascht wurde.
Neugierig machte er kehrt, denn das helle Licht der Kreuzung, an der er stand, hatte seine Angst verschwinden lassen und seine Neugier geweckt.
Er lief ein Stück zurück und je weiter er ging, umso intensiver wurde der kühle Luftzug und mit ihm dieser seltsame Geruch.
Da war er wieder!
Es war ein angenehmer, sonderbarer Wind, der ihn umgab, auch wenn er einen seltsam abstoßenden Geruch mit sich trug.
Don blieb stehen und schaute sich um.
Die Straße war menschenleer und nur bei einem Haus, brannte in einem der oberen Stockwerke, noch Licht.
Beim Anblick der dunklen Häuserfronten, fühlte er plötzlich, wie ihn ein Angstschauer überkam, als er den Luftzug erneut spürte.
Stärker und kühler war er jetzt und er kam von oben.
Das angenehme Gefühl, das er eben noch erzeugt hatte, war verschwunden und der Gestank hatte zugenommen.
Don schaute hinauf und alles was er sah, war ein riesiges Maul.
Er fühlte einen beißenden Schmerz und dann wich das Leben aus seinem Körper.
Klimpernd fiel sein Beutel zu Boden. Glas zerplatzte und während eine der Flaschen den Weg entlang rollte, echote das Geräusch der rollenden Glasflasche, von den Häuserfronten zurück. Durchbrach die Stille in der Straße wie ein künstlicher Schrei.
Dann wurde es ruhig. Der Windzug verschwand und Dons toter Körper wurde mit ihm davon getragen.