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EINLEITUNG

Thema und Untersuchungsgang

Das1 Thema der vorliegenden Arbeit ist die Relevanz des Diskurses2 über fehl- und totgeborene Kinder in Deutschland. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage nach der Anerkennung einerseits des vorgeburtlichen Menschen, auch und im Besonderen im Fall seines pränatalen Todes, andererseits des Verlusts und der Trauer der betroffenen, verwaisten Eltern.

Die durch die Zeugung entstandene unauslöschliche Beziehung und die Bindung zwischen den Eltern und dem Kind, die sich während der Schwangerschaft entwickelt und gefüllt ist mit unterschiedlichen Emotionen, hinterlassen in einem gewissen Sinne eine bleibende, existenzielle Spur. Medizinische Möglichkeiten und rechtliche Rahmenbedingungen lassen den Eltern jedoch einen Handlungsspielraum hinsichtlich des Umgangs mit dem eigenen, ungeborenen Kind. So können sie dieses als „noch nicht wirklich existent“ verstehen, also noch ins Vorläufige und Unwirkliche drängen, nicht als Kind ansehen, letztlich vielleicht sogar abweisen; oder seine Existenz bejahen, das Kind als ihr Kind behandeln und annehmen. In jedem Fall werden sie aber eben auch schon vor der Geburt von diesem Kind beansprucht. Ja, sie können diese Beanspruchung gegenüber der Gesellschaft sichtbar werden lassen und sie zur Geltung bringen, schon bevor von gesellschaftlichen Institutionen zuvor festgelegte juristische und personenstandsrechtliche Kategorien erreicht und wirksam werden.

Genau diese Spannung im Blick auf die Wahrnehmung des vorgeburtlichen Menschen, die lebensweltliche Intuition in Bezug auf seine Bedeutung und die damit verbundene ethisch belangvolle Geltendmachung seiner Würde soll in dieser Arbeit beschrieben werden. Und an dieser Stelle wird bereits deutlich, dass zwei Beziehungskontexte für den Diskurs Relevanz besitzen: die Beziehung zwischen den Eltern und dem ungeborenen Kind einerseits, sowie zwischen dem Kind, auch schon in den frühsten Phasen seines Lebens, und der Gesellschaft.

Schon im Kontext der sozialistischen Gesellschaft der DDR finden sich Hinweise darauf, dass dieses gesellschaftliche Sein des vorgeburtlichen Menschen im Kontext des Nachdenkens über die „ethischen“ bzw. vielmehr die „sozialistischen“ Grundlagen der Ehrfurcht vor der Leibesfrucht mitgedacht wurde. Aber auch in den bis in die Gegenwart reichenden Diskussionen innerhalb der Gesellschaft der Bundesrepublik verdeutlich sich diese Relation als – und das ist für diese Untersuchung von besonderem Gewicht – offensichtlich notwendigerweise von sich selbst her bestehend. Sie lässt sich dabei offenbar nicht bloß auf eine biologische Realität zurückführen, sondern rekurriert auf die existenzielle Autonomie des Kindes, die wohl mit seiner physischen Existenz gegeben und untrennbar verbunden ist. Jedenfalls ist es im Sinne der hier vorgelegten Analyse genau diese Autonomie, auf die sich die Eltern der Kinder beziehen und die sie letztlich auch einklagen können wollen, um sich gegen gesellschaftliche Interessen, geburtsurkundliche Definitionsmacht, ärztliche Verfügungen, personenstandsrechtliche Abgrenzung, wissenschaftliche Forschungsinteressen usw. zu „verteidigen“.

In der Konsequenz bedeutet diese Autonomie – das versucht die hier unternommene Forschung zu zeigen – aber, dass die Gesellschaft in die Pflicht genommen werden kann, sogar wenn Eltern sich, wie bereits angedeutet, nicht für ihr Kind interessieren und es darum geht, dieses Kind bei seinem Tod in irgendeiner Form menschenwürdig zu bestatten und materiell dafür einzustehen.

Zentrum der mit dieser Beobachtung verbundenen Entfaltung des Diskurses über den vorgeburtlichen Menschen ist dabei die durch die Initiative besonders auch betroffener Eltern angestoßene Novellierung moderner Rechtsgestaltung in Deutschland. Schon die ganz konkreten Entwicklungen zum aktuellen Stand der Gesetzgebung unterschiedlicher Bereiche wie dem Personenstands- oder dem Bestattungsrecht auf Bundes- oder Landesebene spiegeln die intensive, in sich selbst begründete Dynamik der oben beschriebenen Intuition zum Status des vorgeburtlichen Menschen wider. Diese Entwicklungen werden innerhalb der Arbeit, nach einer jeweils kurzen Untersuchung der Verständnisweisen im sozialistischemmaterialistischen Umfeld der DDR und in der freiheitlich-grundrechtlichen Tradition der BRD, fokussiert. Besonders die damit einhergehenden Initiativen von Seiten selbst involvierter Eltern werden herausgearbeitet und ausführlich reflektiert.

Im Sinne der expliziten moraltheologischen Zielrichtung der vorliegenden Untersuchung muss die Arbeit nach diesem gewissermaßen ersten Schritt der Darstellung auf der konkreten-lebensweltlichen Ebene zum Status des vorgeburtlichen Menschen im weiteren Untersuchungsgang in den ausdrücklichen fachwissenschaftlichen Diskurs eintreten und ihre Einsichten in diesem Zusammenhang bewähren. Auch die theologisch-ethischen Implikationen werden spätestens an dieser Stelle identifiziert. Dabei soll und kann es nicht das Ziel sein, die geradezu unübersichtliche Vielfalt, Komplexität und Quantität der Veröffentlichungen, Forschungen und Auseinandersetzungen zu exegetischen, dogmatischen, theologiegeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen zum Status des vorgeburtlichen Menschen, zum Würde- und Personenbegriff usw. zu sichten, aufzuarbeiten und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung zu bewerten. Ein solches Unternehmen würde den Rahmen einer Dissertation schlicht sprengen und die Absicht der hier eingebrachten Forschung ist wesentlich bescheidener. Es kann nur das Ziel sein, Aspekte einzelner Fachdisziplinen, der Bibelwissenschaft, der philosophisch-ethischen und juristischen Tradition sowie der theologisch-ethischen Auseinandersetzung zu benennen, die den zuvor genannten, lebensweltlichen Einsichten des ersten Teils der Arbeit korrespondieren und sie spekulativ vertiefen. Es geht in diesem zweiten Teil also um eine Tiefenhermeneutik, welche die Erfahrungsebene in die theoretisch-systematische Reflexion hebt.

In diesem Zusammenhang wird der Einfluss der Eltern, ihre Motivation und Initiative noch einmal im Hinblick auf die Bemühungen um die Veränderungen im Diskurs untersucht. Dazu ist auch ein erneuter Blick auf die konkreten Wandlungen der praktischen und lebensweltlichen Erfahrungen zu werfen, die diesen elterlichen Einfluss verstärken. Das heißt etwa ein Blick auf die Fortschritte der medizinischen und medizinisch-technischen Möglichkeiten (Techniken der pränatalen Diagnostik und Bildgebung!) besonders im Kontext der Beziehung und Beziehungsstiftung der Eltern mit dem vorgeburtlichen Kind vor dem Hintergrund der gesetzlich existierenden, unterschiedlichen personenstandsrechtlichen Rücksichten.

Für diese Untersuchung ebenfalls wichtig erscheint schließlich die Darstellung der mit den vorangegangenen Einsichten korrespondierenden Veränderungen im Trauer- und Verlustempfinden der Eltern. Dabei werden verschiedene Aspekte fokussiert: der Widerhall der elterlichen Emotionen in ihrem näheren und erweiterten sozialen Umfeld, in den Angeboten des Internets sowie den jeweils damit verbundenen Potenzialen und Gefahren. Damit soll eine Verbindung geschaffen werden zwischen der oben benannten gleichsam „intuitiv-objektiv“ als Vorgegebenheit erlebten Würde des Kindes, auch schon in der Zeit der Schwangerschaft, und der bleibenden Verwiesenheit auf die soziale Akzeptanz der Bedeutung des vorgeburtlichen Menschen selbst nach dem möglichen intrauterinen Tod (wie auch der Trauer der Eltern gegenüber in diesem Fall). Grundlage dafür sind die zuvor beschriebene Grundintuition sowie die damit verbundenen normativen Implikationen.

Der dritte Teil der Arbeit schließt unmittelbar an die gewonnenen Einsichten an und versucht theologisch-ethische Konsequenzen für die Seelsorge an verwaisten Eltern zu formulieren. Dem muss eine Darstellung der Veränderungen besonders im beziehungsweltlichen Kontext und auf emotionaler Ebene vorangehen, um Aufgaben und Handlungsfelder zu identifizieren, wobei zunächst eher allgemeine Aspekte des seelsorglichen Gesprächs zu nennen sind, um Ansätze der spezifischen, notwendigen Begleitung zu finden. Dies bedenkend sollen drei Konkretionen besondere Berücksichtigung finden: die Konfrontation mit Schuldgefühlen und Versagensängsten, der Wunsch der Eltern nach der Taufe für ihr totes Kind sowie die Bedeutung und die Möglichkeiten einer kirchlichen Begräbnisfeier auch in frühen Stadien der Schwangerschaft. In jeder der drei Konkretionen werden direkte Bezüge zu den zuvor gewonnenen Einsichten im Kontext des Diskurses um die Anerkennung des vorgeburtlichen Menschen, insbesondere seiner Beanspruchung und Angewiesenheit den Eltern gegenüber hergestellt. Hier geht es im Besonderen auch um die Vergewisserung des Status des Kindes vor Gott durch die Eltern.

Ein vierter Punkt soll schließlich das Gesamtergebnis der Arbeit formulieren. Was ist der Mensch in seiner Entwicklungszeit, die zwischen seiner Zeugung durch die Eltern und seiner Geburt liegt: Ist er biologisch gesprochen eine heranreifende Leibesfrucht? Existenziell gesehen Ziel der Hoffnungen und Sehnsüchte der Eltern? Darin aber auch noch unwirkliche und vorläufige Projektion oder schon Partner von lebendiger Wertschätzung und dialogischer Bindung? Gesellschaftlich gesehen eine in einem zur (personenstands-)rechtlichen Erfassung hin rechtsfreien Raum sich entwickelnde unfassbare menschliche Wirklichkeit? Verpflichtet sie trotzdem seine Eltern, seine Verwandten, ja die Gesellschaft (etwa Geburtshilfe, Klinik oder auch das Friedhofswesen) auf eine Anerkennung, die mit dem moralischen Standard menschlicher Würde verbunden ist?

Die mit diesen Ausdrucksweisen aufgerufenen naturwissenschaftlichen und persönlich-existenziellen Dimensionen sowie ethischen und juristisch-normativen Horizonte eröffnen ein von der Wirklichkeit her gegebenes Spannungsfeld. Es ist Grundlage der tastenden und suchenden Diskurse, die sich im konkreten alltagsweltlichen Umgang der Eltern, in den gesellschaftlichen institutionellen juristischen und praktischen Regelungs- und Handlungsformen spiegeln. Und diese Diskurse haben eine eminente Auswirkung auf das Leben von Eltern, auf soziale Bewusstseinslagen und Reaktionsmuster.

Die Analyse möchte eine konkrete lebensweltlich angestoßene Entwicklung institutioneller Regelungsformen innerhalb Deutschlands für die ethisch-normative Ausrichtung im Umgang mit dem vorgeburtlichen Menschen untersuchen. Es geht darum, eine faktische Entwicklung in ihrer konkreten Bedeutung für das moralische Bewusstsein deutlich zu machen. Noch vor jeder voraussetzungsreichen (theologisch-)ethischen Argumentation soll damit ein existentielles Faktum als wirksames Element der Diskussion über den moralischen Status des Ungeborenen bewusst gemacht werden. Allein in dieser Bewusstmachung – nicht mehr und nicht weniger – liegt das Ziel dieser Untersuchung. Sie kann freilich zu einer (sich vielleicht vor aller weltanschaulichen Differenz aufdrängenden) mitentscheidenden Grundlage der ethischen und juristischen Auseinandersetzung in diesem so umstrittenen Feld werden.

Forschung und ausgewertete Quellen

Eine prononcierte wissenschaftlich-ethische Thematisierung der Frage nach der Anerkennung des vorgeburtlichen Menschen vor dem Hintergrund seines pränatalen Todes und der Trauer verwaister Eltern liegt bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in dieser Form noch nicht vor. Auch die Art des Vorgehens, das heißt, die elterlichen Initiativen in Verbindung mit der in der Vergangenheit geltenden Rechtsgestaltung zum Ausgangspunkt der Untersuchungen zu nehmen, ist so noch nicht in der Literatur zu finden.

Es ist dennoch durchaus sinnvoll, kurz auf die ausgewerteten Quellen und den Stand der Forschung einzugehen. Denn hinsichtlich der Quellen muss qualitativ und quantitativ differenziert werden. So ist eine klare Unterscheidung vorzunehmen zwischen Beiträgen wissenschaftlicher Fachliteratur verschiedener Bereiche (besonders der Gynäkologie und Psychologie) einerseits und nichtwissenschaftlichen Veröffentlichungen besonders von Betroffenen, etwa in Form von Erfahrungsberichten oder Ratgebern, andererseits. Bereits zu Beginn dieser Einleitung ist deutlich geworden, dass das Reflektieren besonders dieser Texte einen wichtigen Beitrag zur Forschung bilden kann, gerade um den Inhalt und die Intention der elterlichen Initiativen besser verstehen und nachvollziehen zu können. Die wissenschaftliche Literatur, auf die in dieser Arbeit eingegangen wird, ist den Fachbereichen der Bindungs-, Entwicklungs- und Trauerpsychologie, der Philosophie, den Rechtswissenschaften, der Medizin, insbesondere der Gynäkologie, der Theologie, hier im Besonderen der Bibelwissenschaften, der christlichen Sozialethik, der Pastoral- und Moraltheologie sowie der Liturgiewissenschaft entnommen. Mit Ausnahme der Quellen zur DDR sind die meisten Quellen jüngeren Datums, das heißt aus der vergangenen Dekade. Die Erfahrungsberichte und Veröffentlichungen der Initiativen und Betroffenen sind jedoch über mehrere Jahrzehnte hinweg entstanden. Hinsichtlich der Art der Quellen fällt besonders auf, dass etwa ein Drittel der Quellen Internetquellen sind. Neben diesen Quellen und der veröffentlichten Literatur wurden außerdem verschiedene Normensammlungen und Einzelnormen, Drucksachen und ungedruckte Quellen des Bundesarchivs für die Erstellung der vorliegenden Arbeit verwendet.

Im Zentrum dieser Arbeit steht eine umfassende Diskursanalyse. Neben dem vorgeburtlichen Kind, sozusagen passiver Diskurspartner, stehen dabei vor allem die betroffenen Eltern, der Staat als Gesetzgeber (für den ersten Teil dieser Arbeit muss es korrekt heißen: die beiden deutschen Staaten als Gesetzgeber), die Bundesländer als Gesetzgeber, Mediziner und die Kirchen als Akteure im Mittelpunkt der Betrachtung.

Dabei kann im Blick auf die Entwicklungsdynamik der für diese Untersuchung relevanten gesetzlichen Veränderungen eine grobe Einteilung geltend gemacht werden: Zunächst gab es in Folge gesetzlicher Neudefinitionen in der DDR, die den vorgeburtlichen verstorbenen Menschen betrafen, und der Liberalisierung der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch in der DDR wie auch in der BRD einige wenige Aufsätze von Medizinern, die sich ernsthaft mit dem Status des vorgeburtlichen Menschen beschäftigen. Hinweise auf einen öffentlichen Diskurs oder Diskursteilnehmer anderer Bereiche sind für den Raum der DDR nicht zu finden. In der Bundesrepublik der damaligen Zeit stellt sich das anders dar. Ebenfalls ausgehend von der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch aber auch der konkreten Rechtsgestaltung hinsichtlich fehl- und totgeborener Kinder etwa in Bezug auf personenstandsrechtliche Festlegungen und (fehlende) Möglichkeiten der Bestattung waren es hier vor allem die betroffenen Eltern, die sich aktiv in den Diskurs einbrachten. So gesehen kann das Einreichen der ersten Petition an den Bundestag 1988 als entscheidendes Ereignis innerhalb des hier analysierten Diskurses um die Anerkennung des vorgeburtlichen verstorbenen Menschen angesehen werden. Denn erst in der Folge haben auch andere Partizipanten aus Politik und Medizin Stellung bezogen. Wie sich der Diskurs in der Folge verändert hat und welche Auswirkungen dies hatte, wird Gegenstand der Untersuchungen sein.

Es ist offensichtlich, dass jeder Diskursteilnehmer eine ganz eigene Sprache verwendet. Innerhalb der Arbeit unterscheiden sich in dieser Hinsicht Stellungnahmen des Gesetzgebers, der Vertreter aus der Medizin und auch der Eltern mit ihrer eigenen, intuitiven nicht-wissenschaftlichen Sprache, mit der sie etwa ihre je eigene, lebensweltliche Situation schildern, eindrücklich. An dieser Stelle ist auch die Unabgeschlossenheit des Diskurses zu betonen. Medizinischer Fortschritt, von den Eltern als solche erkannte und angezeigte bleibende Insuffizienzen, Unklarheiten und nicht nachvollziehbare Differenzen in der Gesetzgebung sowie das föderale System in der Bundesrepublik Deutschland, mit dem beispielsweise eine einheitliche Personenstandsgesetzgebung, aber sechzehn unterschiedliche Bestattungsgesetzgebungen verbunden sind, legen die Tatsache des Fortdauerns des Diskurses nahe.

1 Die Rechtschreibung aller Zitate wurde der modernen Form vorsichtig angeglichen.

2 Zur Methode der Diskursanalyse vgl. in der unübersehbaren Literatur zum Thema: M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 122012; J. Angermuller / M. Nonhoff (Hg.), Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bde. Bielefeld 2014.

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