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2. Begriff und Zugang

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Im Zentrum der Analyse steht der Begriff des Massakers. Mit dieser konzeptionellen Entscheidung grenzt sich die Studie in zwei Richtungen ab. Zum einen verwirft sie die Kategorie des Terrors, die auf die wahllose Anwendung von Gewalt zum Zweck der Einschüchterung zielt.18 Durch diese implizite Vorannahme determiniert die Kategorie des Terrors bereits im Vorfeld der Untersuchung die eigentlich erst zu analysierende Motivlage und zwingt damit sämtliche Gewalthandlungen unter eine einzige Motivationsstruktur. Zum anderen setzt sich die Studie auch von der Kategorie des Genozids ab, derzufolge Ereignisse kollektiver Gewalt stets geplante und mit Absicht durchgeführte Handlungssequenzen sind.19 Durch diese Prämisse erweist sich der Begriff jedoch – wie Birthe Kundrus festgestellt hat – „als ein Hindernis […] für die Forschung“20, fordert er doch eine teleologische Perspektive ein, die für eine Analyse eher irreführend ist. Aus dem Blick geraten dabei nämlich die „Inkonsistenzen, Improvisationen und Kontingenzen“21, also jene grundlegenden Elemente kollektiver Gewalt, die wohl eher als ein Prozess begriffen werden muss, der von Zufällen ebenso geprägt wird wie von permanenten Improvisationen der Akteure.22

|13|Vor diesem Hintergrund bietet die Kategorie des Massakers zweifellos Vorteile: Sie reduziert kollektive Gewalthandlungen begrifflich nicht auf eine einzige Motivlage und sie begreift Gewaltexzesse nicht ausschließlich als zentral organisierte Handlungen, die auf langfristiger, vorausschauender Planung beruhen.23 Um das Massaker als eine spezifische Form kollektiver Gewalt von anderen Gewaltphänomenen zu unterscheiden, ist eine klärende Operationalisierung des Begriffs notwendig. Die folgenden Überlegungen zielen auf die Entwicklung eines Idealtypus des Massakers, der den Begriff so schärft, dass er für die weitere Analyse genutzt werden kann.

Das semantische Feld des Begriffs Massaker verweist – wie Peter Burschel betont hat – zunächst auf die „Welt der Schlachthöfe“24: Im Französischen bezeichnet das Wort „massacre“ ursprünglich eine Schlachtbank, an der Tiere abgeschlachtet werden.25 Hans Medick hat gezeigt, dass sich dieser semantische Bezug des Begriffs zum Abschlachten von Tieren erst im 16. Jahrhunderts gelöst hat.26 Es war die Gewalterfahrung der französischen Religionskriege, die zu einem begrifflichen Bedeutungswandel geführt hat: Nun bezog sich der Begriff des Massakers in erster Linie, aber nicht ausschließlich, auf das massenhafte Töten von Menschen, die „kollektive Vernichtung von Nichtkombattanten“27. Seither bezeichnet das Massaker eine „einseitig-extreme Form von Gewaltanwendung, in der eine relativ schutzlose Gruppe von Menschen von anderen Menschen niedergemacht und getötet wird“28. Vollzogen wird diese tödliche Gewalt dabei „von Gewalttätern, welche über Machtmittel verfügen, tödliche Gewalt anzuwenden, ohne sich dabei selbst zu gefährden“29. Aus dieser – in der Forschung weithin geteilten30 – definitorischen Bestimmung des Begriffs lassen sich zentrale Aspekte eines idealtypischen Modells des Massakers entwickeln.

Im Unterschied zum Völkermord hat das Massaker Ereignischarakter, zielt keineswegs auf die Vernichtung ganzer Gesellschaften und bleibt gebunden an |14|bestimmte Konstellationen, konkrete Räume und Zeiten.31 Massaker weisen in der Regel spezifische räumliche Strukturen auf: Sie werden durchgeführt an einem konkreten Ort, der zuvor umzingelt und mit einer Postenkette abgeriegelt wird. Das Massaker benötigt „geschlossene Orte“32, die ein Entkommen für die Opfer unmöglich machen. In diesem abgegrenzten Raum entfaltet sich die Gewalt des Massakers, ohne dabei einem charakteristischen Zeitrythmus zu folgen: Das Massaker kann sich mit großer Geschwindigkeit ereignen und zu schnellem Töten aller Opfer führen;33 es kann allerdings auch immer wieder Momente der Entschleunigung integrieren, wenn die Täter sich Zeit lassen und das Töten in die Länge ziehen34. Dabei müssen jedoch keineswegs alle Einwohner getötet werden; mitunter sind Überlebende durchaus erwünscht, die dann zu Zwangsarbeit verpflichtet oder einfach zurückgelassen werden, um von den Schrecken des Massakers berichten zu können.35

In scharfem Kontrast zur Konstellation einer Hinrichtung wird das Töten im Kontext eines Massakers nicht durch bestimmte Rituale geformt: Zwar kann ein Massaker durchaus Elemente der Ritualisierung beinhalten, etwa in Form von Erschießungskommandos, die ihre Opfer an zuvor ausgehobenen Gräben töten. Dennoch ist ein Massaker von einer Hinrichtung mit ihrem präzisen Reglement zu unterscheiden: Es ist wilder und ungezügelter, es ist ein Geschehen, in dem sich „die Leidenschaften frei entfalten können“36 und „die Kreativität der menschlichen Bestialität […] aller Fesseln entledigt“37 hat. Das Massaker stößt seine Opfer in eine Welt der Gewalt, in der alles erlaubt ist. Exzessivität und Grausamkeit sind prägende Elemente des Massakers, das die Grenzen des Erlaubten situativ eingerissen hat. Dabei zeichnet sich die Gewalt des Massakers durch große Nähe zwischen Tätern und Opfern aus: Keineswegs handelt es sich um distanziertes Töten, sondern um „face-to-face killings“, ein handgreifliches Töten und blutiges Verletzen von Angesicht zu Angesicht.38 Das Exzessive der Gewalt ist im Kontext des Massakers kein abweichendes Verhalten: Als eine Form kollektiver Gewalt vollzieht sich die Gewalt des Massakers „in Übereinstimmung mit den Verhaltensnormen eines übergeordneten Kollektivs“39. Das Massaker öffnet Schleusen und bietet Handlungsräume, in |15|denen ein Überschuß an Gewalt kollektiven Verhaltenserwartungen entspricht.40 Gleichzeitig – und eng damit verbunden – ist das Massaker öffentliche Gewalt: Es vollzieht sich nicht im Verborgenen wie die Folter; getötet wird vor aller Augen. Im Unterschied zum Pogrom ist das Massaker dabei nicht auf das Wohlwollen der Zuschauer angewiesen.41 Das Konzentrationslager wiederum verbindet mit dem Massaker eine vergleichbare „räumliche Ordnung der Gewalt“42: Während der Raum des Massakers von Truppen umzingelt ist, grenzen Stacheldrahtzäune das Konzentrationslager nach außen ab. Im Konzentrationslager jedoch ist der Exzess auf Dauer gestellt, es handelt sich um verstetigte, nicht um situative Gewalt, um den Exzess in Permanenz. Das Massaker hingegen ist ein situativer Exzess, der nicht permanent stattfindet.

In der Soziologie ist vor diesem Hintergrund eine Debatte über Fragen der Einordnung und Bewertung des Massakers geführt worden. Auf der einen Seite hat Trutz von Trotha dem Massaker einen konkreten Ort bei der Durchsetzung und Sicherung von Besatzungsherrschaft zugewiesen.43 Das Massaker erscheint hier als ein zweckgebundenes Mittel im Rahmen der Eroberung fremder Gebiete: Es soll die Überlegenheit der Eroberer blutig demonstrieren und die Grundlage für die Etablierung einer neuen Ordnung schaffen. Nach Abschluss dieses Prozesses dient das Massaker mit von Trotha der Aufrechterhaltung dieser Ordnung im Kontext von Fremdherrschaft, die im Kern immer die Herrschaft der Wenigen über die Vielen bedeutet: „Das Massaker stiftet Ordnung, weil die überwältigende Gewalt schlicht durch sich selbst überzeugt, weil es die Machtverhältnisse klärt oder zumindest zu klären versucht.“44

Auf der anderen Seite stellte Wolfgang Sofsky diese reine Zweckhaftigkeit in Frage, indem er das Massaker als unabhängig von jeglichen herrschaftlichen Zielen begriff: „Denn der Sinn der Zerstörung ist die Zerstörung selbst, nicht Neuaufbau, nicht tabula rasa für einen Neubeginn“45. In dieser Perspektive wird das Massaker zu einem „kollektiven Aktionsexzess“46, der sich aus allen „politischen, sozialen und kulturellen Bedingungszusammenhängen und Ordnungsgefügen“47 |16|herausgelöst hat: Das Ziel des Massakers, so Sofsky, sei „nicht Sieg und Macht, sondern das Blutfest, das Feuerwerk der Explosion“48. Sofsky verweist auf die Eigendynamik in der konkreten Situation des Massakers, in der sich Ausübung der Gewalt von den Gründen lösen kann, die das Massaker erst initiiert haben. Das Massaker erzeugt seine eigenen Motive und die Akteure können – frei von allen normativen Beschränkungen – ihrem Gewaltpotential die Zügel schießen lassen.

Wolfram Pyta hat auf die analytischen Fallstricke hingeweisen, die Sofskys Perspektive birgt: Sie läuft Gefahr, dass sich das Massaker „zu einer ahistorischen Kategorie verselbständigt“49, die „dem Gewaltakt eine eigene Sinnlogik“50 zuschreibt, „womit Gewalt letztlich zu einem sich selbst erzeugenden Phänomen wird, das aus sich selbst heraus eine unendliche Kette von Gewalthandlungen hervorbringt“51. Dennoch spricht nichts dagegen, beide Perspektive zusammenzubinden: So kann das Massaker sowohl in seiner Zweckhaftigkeit, seinem Bezug zu Herrschaftsinteressen, gedacht werden als auch in seiner Eigendynamik in der konkreten Praxis. Es kommt darauf an, die Massaker aus ihren politischen und kulturellen Bedingungszusammenhängen zu analysieren, sie also in ihre jeweiligen Konstellationen einzubetten und gleichzeitig ein Gespür dafür zu haben, dass die Massaker eben nicht zur Gänze in rationaler Kalkulation aufgehen, sondern – losgelöst von den eigentlichen Zielen – Elemente überschießender Gewalt in sich tragen können.

Massaker werden daher im Folgenden verstanden als örtlich gebundene, eigendynamische Gewaltexzesse, die durch extrem asymmetrische Machtrelationen geprägt sind, in ihren Bedingungen der Möglichkeit und in ihrer Legitimierungsfähigkeit jedoch in vielfacher Weise spezifisch kontextabhängig sind. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen widmet sich die vorliegende Studie der Analyse deutscher Massaker an polnischen Zivilisten. Sie greift dabei auf wegweisende Befunde der jüngeren Holocaust- und Genozidforschung zurück, die unser Verständnis der Entfaltung großflächiger Gewaltprozesse in entscheidenden Punkten erweitert haben. Es lassen sich hierbei insbesondere drei Aspekte hervorheben, die in ihrer Verknüpfung den Analyserahmen der Studie abstecken.

|17|(1) Massaker sind keine isolierten Ereignisse. Jacques Sémélin hat in seiner wegweisenden Studie zur politischen Dimension von Massakern betont, dass das Massaker als eine „Form extremer Gewalt […] im Kontext einer umfassenden Gewaltentwicklung begriffen werden [muss, D. B.], die ihr vorausgeht und mit ihr einhergeht“52. Dieser Fingerzeig Sémélins verweist darauf, dass Massaker aus einer jeweils spezifischen Konstellation entstehen, die durch „das Zusammentreffen einer politischen Geschichte, eines bestimmten kulturellen Raums und eines bestimmten internationalen Kontexts“53 geformt ist. In diesem Sinne wird es darauf ankommen, die Massaker an polnischen Zivilisten möglichst breit zu kontextualisieren. Eine Trias von übergeordneten Zusammenhängen ist von besonderer Bedeutung, um die Massaker in ein vielfach verflochtenes Setting der Gewalt zu integrieren: die Vorgeschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, die deutsche Besatzungsherrschaft als spezifische Ordnung der Gewalt und die übergreifende Entwicklung des Zweiten Weltkriegs mit ihren Frontverschiebungen und Bündniskonstellationen. Ohne Berücksichtigung dieser Strukturen ist ein tiefergehendes Verständnis der Massaker kaum möglich.

(2) Massaker sind eng verknüpft mit einer bestimmten Repräsentation der Anderen. Hier geht es um die zentrale Rolle von Feindbildern, öffentlichen Diskursen und Propaganda bei der Etablierung einer „semantischen Matrix […], die der zunehmenden Dynamik der Gewalt, welche dann zum Sprungbrett ins Massaker wird, Sinn verleiht“54. Sven Reichardt hat hierbei herausgearbeitet, dass Feindbilder Wahrnehmungsmuster sind, „die sich durch eine eindeutig abwertende Einstellung oder negative Wertladung auszeichnen“55 und in einem gesellschaftlichen Prozess geschaffen und eingeübt werden. „[A]ls Ganzheiten von Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gefühlen“, so Reichardt weiter, reduzierten Feindbilder „die Vielfalt von möglichen Weltsichten auf ein ebenso striktes wie eindimensionales Freund-Feind-Verhältnis“56. Feindbilder werden vermittelt über Propaganda und öffentliche Diskurse, die in doppelter Hinsicht für die Ausführung von Massakern relevant sind: Zum einen bieten sie die „Lektüre einer Situation an“57, sind also kein bloß abstraktes Dogma, sondern sind mit Mark Roseman als Linse zu verstehen, |18|die die Wahrnehmung und Beurteilung konkreter Situationen beeinflussen.58 Zum anderen sind sie wichtige Legitimationsspender für die „Entfesselung immer radikalerer Gewalt gegen besagten Feind“59, indem sie zu Gewalt anstacheln und ein „Klima der Straflosigkeit“60 erzeugen. Zur Analyse der Massaker an polnischen Zivilisten ist es deshalb notwendig, die spezifischen Feindbildstrukturen und ihre Propagierung im öffentlichen Raum zu erhellen, die der antipolnischen Gewalt zugrunde lagen. Von besonderer Relevanz ist dabei Sémélins Hinweis auf eine „Rhetorik der Bedrohung“, die den öffentlichen Diskurs im Vorfeld von Massakern vielfach prägt und dabei Unsicherheitsgefühle erzeugt: „Derjenige, der im Begriff ist, ein Mörder zu werden“, so Sémélin, „präsentiert sich als Opfer […], [so dass, D. B.] sein Zerstörungswerk als Vorbeugungsmaßnahme“61 erscheint. Die vorliegende Studie wird vor diesem Hintergrund die Konstruktion einer spezifischen polnischen Gewaltaffinität als zentrale Legitimationsressource für Massaker an polnischen Zivilisten einführen. Es handelt sich dabei um eine Denkfigur, in deren Zentrum die Deutschen als Opfer fremder Gewalt stehen, auf die – schützend, vorbeugend oder rächend – mit eigener Gewalt zu entgegen nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu notwendig erscheinen. Eine solche Konstruktion erlaubte es, die eigene Gewaltpraxis als defensive Reaktion auf polnischen Gewalthandlungen zu deuten.62

(3) Die konkrete Entfaltung eines Massakers kann nicht im Sinne eines top-down-Modells politischer Steuerung verstanden werden. Ein zentrales Ergebnis zahlreicher Studien zur konkreten Umsetzung des Holocaust in unterschiedlichen Räumen des deutsch besetzten Europas ist die Einsicht, dass Prozesse massenhafter Gewalt nicht stringent ablaufen und keineswegs auf einem einheitlichen Aktionsplan mit zentraler Befehlssteuerung beruhen.63 Vielmehr |19|entwickelte sich die Gewaltdynamik des Judenmords in einem dynamischen Zusammenspiel von Deutungs- und Handlungsangeboten der Zentrale und Initiativen auf regionaler und lokaler Ebene.64 Dieser Erkenntnis liegt ein spezifisches Verständnis des Handelns innerhalb hierarchischer Strukturen zugrunde: Keineswegs beruhte dies auf eindeutigen und klar formulierten Befehlen, die vor Ort eins-zu-eins umgesetzt worden wären.65 Vielmehr wurde das Handeln der Akteure durch Rahmenbefehle gesteuert, die vielfach unscharf und ambivalent waren und zumeist einen mehr oder weniger großen Auslegungsraum aufwiesen.66 Sie schufen damit – in den Worten Michael Wildts und Alf Lüdtkes – „ein Terrain der Möglichkeiten zur Gewalt“67, das die Zone erlaubter Gewaltanwendung massiv ausdehnte. In dieser Konstellation waren es die Kommandeure vor Ort, die auf Grundlage von Situationsdeutungen und spezifischen Erfahrungen diese Rahmenbefehle an die konkreten Anforderungen und Bedingungen vor Ort anpassten.68 Für diese Studie bedeuten diese Überlegungen, dass „man das Massaker zugleich ‚von oben‘ und ‚von unten‘ denken muss“69. Ein ausschließlich „hierarchischer Blick“70 auf die Zentralbehörden ist also ebenso wenig weiterführend wie eine einseitige Betrachtung der Akteure vor Ort. Nur die Verkopplung beider Ebenen ist analytisch zielführend: Die Rahmenbefehle der Führungsebene schufen Gelegenheiten, boten Legitmierungsmuster und eröffneten Angebote zur Gewaltinitiative, die vor Ort genutzt werden konnten.

Die vorliegende Studie macht diese drei Aspekte fruchtbar für eine Analyse deutscher Massaker an polnischen Zivilisten. Sie zielt dabei auf die breite Kontextualisierung der Massaker, eine Re-Konstruktion der Feindbilder und öffentlichen Diskurse und eine Auslotung des Verhältnisses von Intention und |20|Situation bei der Planung und Durchführung der Massaker. Es ist die analytische Verknüpfung dieser Aspekte, die weiterführende Einsichten verspricht.

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