Читать книгу Dør - Daniel Decker - Страница 6
DER EINZIGE BESUCHER
ОглавлениеI
Svendson hasste seinen Job. Die dreißig Kommunen des Polizeidistrikts Hordaland waren in eigene Distrikte aufgeteilt, und als Politibetjent des Nordhordland lensmannsdistrikt war er nur für kleinere Städte zuständig, von denen manche nicht einmal fünfzig Einwohner hatten. Da passierte nicht viel. Verkehrsdelikte, mal ein Diebstahl. In solchen Zeiten hasste Svendson die Langeweile. Nun aber stapfte er durch den Schnee, einige Kilometer landeinwärts des Langevatnet-Sees, und fror. Wortlos grüßte er den Kollegen, der den Ort sicherte. Als ob sich irgendwelche Schaulustigen hierhin verirren würden. Er schlug seinen Mantelkragen hoch. Der Hauch seines Atems zeichnete kurzlebige Wolken in die Luft, und beißender Brandgeruch stieg ihm in die Nase. Seine Augen begannen zu tränen und er hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. Obwohl er niemals zuvor einen solch penetranten süßlich-verbrannten Geruch wahrgenommen hatte, wusste er dennoch gleich, was es war. Hier waren Menschen gestorben, Menschen verbrannt. Svendson hasste seinen Job.
»Verkackte Hippies«, begrüßte Nordraak seinen Kollegen ohne wirklich aufzublicken.
»Was ist passiert?«
»Nur ein paar Irre, die mit bedröhnten Schädeln eingenickt sind, und dann haben ihre Patchouli-Stäbchen oder irgendeine runtergefallene Tüte den Rest erledigt. Darwin sei Dank.«
Svendson versuchte den Zynismus seines Kollegen zu ignorieren und betrachtete das abgebrannte Haus. Nordraak irrte sich. Natürlich irrte er sich. Die Hütte war nahezu komplett niedergebrannt, und die Feuerwehr hatte die größten Teile des eingestürzten Daches bereits beiseite geräumt. Übrig blieben verkohlte Pfosten, die wie faulige schwarze Zähne eines Raubtieres auf der eingeschneiten Lichtung herausragten.
Zwischen diesen Pfosten waren die verrußten Reste von Backsteinmauern zu sehen, zwischen denen die Toten inmitten ihrer verbrannten Habseligkeiten lagen. Mittig ragte nahezu unversehrt der gemauerte Kamin des Hauses hervor.
Das Offensichtlichste war wohl, dass die Leichen weder in Betten noch auf Matratzen lagen, auch sah er an den Positionen der Körper, dass sie nicht im Schlaf verbrannt sein konnten. Einige streckten die Arme aus, andere wenige schienen wie meditierend im Schneidersitz zu sitzen. Svendson wusste, dass durch Hitzestarre diejenige Gliedmaßenstellung fixiert werden konnte, welche unmittelbar vor dem Tode vorgelegen hatte. Eine Statue für die Ewigkeit des letzten Moments ihres schmerzhaften Seins. Der Anblick war bizarr, die Hitze trieb manchen der Leichen die Zungen aus den Mündern. Ruß an den Augen malten Krähenfüße, so dass Svendson oft in groteske Grimassen blickte. Verkohlt-verbrannte Instrumente lagen umher, und einige schienen sie sogar noch in ihren verkeilten Händen zu halten. Noch bizarrer war allerdings, dass in der Mitte des Raumes eine kreisrunde Fläche vom Feuer unversehrt schien. Übertroffen wurde dieses Bild nur dadurch, dass ein verbrannter halber Torso am Rand dieser Fläche lag, so als hätte eine Guillotine den Körper in der Mitte zertrennt. Nur, dass die andere Hälfte fehlte. Was für ein Irrsinn. Und die Brandentwicklung? Das kam Svendson bekannt vor. Damals bei dem Versicherungsbetrugsfall - einer, der aus der sonstigen Langeweile gerade so herausstach. Selbst eine Holzhütte hätte kein so verheerendes Feuer nähren können. Er zählte die Toten und kam auf zwölf Personen.
»Wie viele lebten hier?«, fragte Svendson Nordraak.
»Das war so ´ne Kommune von Satansanbetern oder so. So genau lässt sich das nicht sagen. Mal fünfzehn, mal zwanzig. Je nachdem wie viele gerade zum Rammeln da waren.«
Svendson dämmerte nun, dass es sich um die Dørianer handeln musste. Eine Gruppe von Leuten, die rund um Bergen für ein wenig Aufsehen sorgte. Meist traten sie in orgiastisch okkult anmutenden Shows auf. Nachdem niemand mehr Konzerte mit ihnen veranstalten wollte, tingelten sie in einem umgebauten LKW mit eigener Bühne durch die Gegend. Satanisten waren das nicht. So viel war sicher. Was sie waren oder woran sie glaubten wusste Svendson aber auch nicht. Er sah sich suchend nach dem Einsatzleiter der Feuerwehr um.
»Brandbeschleuniger?«, fragte Svendson ihn.
»Korrekt, die armen Teufel wurden mit Benzin übergossen. Welcher Irre tut sowas? Wehrlose Menschen mit Benzin übergießen …«
»Mhm, für mich sieht das nicht so aus als ob sie sich nicht hätten wehren können … eher als hätten sie sich nicht wehren wollen.«
Der Feuerwehrmann hob die Augenbrauen, sah sich den Tatort an und wusste nicht wie er hätte widersprechen können, auch wenn ihm diese Möglichkeit zuerst gänzlich absurd vorkam. Kollektiver Selbstmord? Wer würde sowas tun? Und warum? Wem würde sowas nützen? Plötzlich rief Nordraak nach Svendson. Als er sich zu ihm umdrehte, sah er, wie Nordraak eine halbnackte Person festhielt, die kichernd und bibbernd von einem Fuß auf den anderen trat.
»Wer ist das?«
»Ich glaube, das ist einer von denen, er versuchte sich hier im Wald zu verstecken.« Unsanft riss Nordraak ihn rum und zischte ihn an, »Hej, Dein Name Freundchen!«
»I-I-Ich hab’s in Sicherheit gebracht. Er w-w-wird stolz auf mich sein«, brabbelte der Halbnackte vor sich hin, und es war unklar ob er auf die Aufforderung Nordraaks reagierte, oder ob er einfach nur für sich oder irgendwen anders vor sich hin stammelte.
»Nach Deinem Namen hab ich Dich gefragt, Arschloch«, schrie Nordraak ihn an und zerrte fester an ihm. Der Namenlose zuckte kurz und drehte seinen Kopf angewidert zur Seite. Nordraak verdrehte ihm die Arme, zwang ihn auf die Knie und legte ihm Handschellen an.
»Lass gut sein. Ich mach’ das, pack ihn in den Wagen. Ich nehm’ ihn mit auf die Wache«, versuchte Svendson das Schauspiel zu beenden.
Um den gefesselten Halbnackten in den Wagen zu zwingen wandte Nordraak mehr Gewalt an als nötig. Wenigstens eine wollte er ihm noch mitgeben. Er schlug die Tür zu und spuckte in den Schnee, als hätte ihn das ganze Überwindung gekostet. Svendson sagte dazu nichts und dachte sich seinen Teil. Er kannte diese Männer im Polizeidienst, die ihre Rolle dazu ausnutzen, um sich einmal im Leben mächtig zu fühlen. Svendson hasste seinen Job.
Schweigend fuhren die beiden zur Wache. Immer wieder sah er in den Rückspiegel. Der Namenlose schien ihm erleichtert, fast schon froh. Vielleicht weil er ihm seinen gewaltgeilen Kollegen entriss? Mit funkelnden Augen blickte er durch die Wagenfenster in die Dunkelheit der Nacht. Hätte Svendson es nicht besser gewusst, hätte er schwören können, dass der Namenlose auf irgendwas reagierte. Ab und an drehte er seinen Kopf in die eine oder andere Richtung, wie es Menschen in Gesprächen mit mehreren Personen tun. Nur auf ihn reagierte er nicht.
Auf der Wache brachte Svendson ihn in sein Büro. In einem Spind hatte er noch Zivilkleidung, sie war dem Namenlosen zu groß, aber in dieser kalten Jahreszeit besser als nichts. Er gab dem Halbnackten die Kleidung, die er sich ohne Worte überzog. Der stand nun vor und zurück schaukelnd in viel zu großer Hose und Pullover in Svendsons Büro und erweckte den Eindruck eines Kindes, das seine Eltern in der Stadt verloren hatte und suchend um sich blickte. Svendson zog den Holzstuhl von seinem Schreibtisch. Der Fremde verstand die freundliche Geste und setzte sich.
»Willst Du einen Tee?«, fragte Svendson, doch der Namenlose reagierte nicht auf den Inhalt seiner Frage und stammelte wieder wirres Zeugs vor sich hin.
»I-Ich habe es in Sicherheit gebracht. Er w-w-wird stolz auf mich sein. Es war so sch-schön. Hätte ich länger hingesehen … le-leer. Freiheit. Die Lehre der Freiheit ist d-die Leere, gemessen auf der Skala des Innern.«
Er kicherte, zog die Beine an seinen Oberkörper und wippte auf seinem Stuhl vor und zurück. Offensichtlich stand er unter Schock.
»Was hast Du denn in Sicherheit gebracht?«, wollte Svendson wissen.
Der Namenlose drehte den Kopf und sah Svendson an. Oder vielmehr: Er sah direkt durch ihn hindurch und fixierte seinen Blick auf etwas, was hinter ihm stehen müsste. Svendson lief es eiskalt den Rücken runter, und kurz musste er sich vergewissern, dass wirklich niemand hinter ihm stand.
Dann öffnete der Namenlose den Mund: »Die letzte Bewegung ist ein Klang, geschaffen aus Körpern, so wie der Tanz aus Körpern geschaffen wurde. Und sie eröffnet eine neue Welt.«
Er hatte es wohl oft schon gesagt, doch das machte noch weniger Sinn für Svendson.
»Wer wird stolz auf Dich sein?«
»Der Kor-Korybant der Korybanten.«
»Was zum Teufel?«, dachte sich Svendson. »Was ist ein Korybant?«
»Wir sind es, w-w-wir sind sie … wir waren es. Doch wir sind nicht die, d-die wir scheinen.«
Das führte zu nichts. Svendson brachte den Namenlosen in eine Zelle.
»Zu Deiner eigenen Sicherheit«, sagte er noch, als er abschloss und dann nach Hause ging.
Nordraak empfing seinen Kollegen breit grinsend am nächsten Morgen. Svendson gefiel das gar nicht.
»Was ist los?«
Eigentlich wollte er es gar nicht wissen.
»Der scheiß Durchgeknallte«, begann Nordraak, »ich hab was rausbekommen. Der war sowas wie das Mädchen für alles von den Satanisten. Er nahm ihre Platten auf und organisierte ihre Auftritte. Grieg heißt er, Ole Grieg.«
»Wie hast Du das erfahren?«
Svendson bereute die Frage, als er über die Schulter von Nordraak sah, wie der nun auf Ole Grieg getaufte Namenlose aus seiner Zelle geschleppt wurde. Sein Gesicht war ein blutiger Klumpen Fleisch. Svendson hasste seinen Job. Nur seine Kollegen hasste er noch viel mehr.
»Du kannst doch nicht unseren einzigen mutmaßlichen Augenzeugen verprügeln, verdammtes Arschloch!«
Nordraak grinste, als ob ihm Svendsons Reaktion gefallen würde.
»Als ich dem Arsch das bisschen Verstand in seinen behämmerten Schädel schlug, begann er zu singen. Ohne all das wären wir noch am Anfang. Jetzt haben wir unseren Mörder, und der Fall ist schon so gut wie gelöst.«
»Hat er etwa gestanden? Unter Folter? Was für ein scheiß Beweis soll das sein?«
»Svendson, das waren verkackte Teufelsanbeter und er ist einer davon. Dazu noch nicht ganz dicht im Oberstübchen. Wen kümmert das, wie sie verreckt sind? Willst Du, dass so ein Irrer wie der frei rumläuft? Wen interessiert da schon, wie es wirklich war?«
Svendson dachte an Mütter und Väter, Freunde und Verwandte. Sie würden wissen wollen, was passiert war, oder eher warum es passiert war. Und er wusste, dass Grieg nicht gefährlich war, nicht für sich und auch nicht für andere. »Mich interessiert’s!«, sagte er, nahm seinen Mantel und verließ das Präsidium.
II
Seinen alten Job hatte Svenson gehasst. Sein neuer Job war ihm einfach nur egal. Seit einem Jahr arbeitete er nun als Wachmann in einer Konservenfabrik. Hier war er wenigstens nicht von Arschlöchern umgeben. Genau genommen hatte er während seines Dienstes kaum Kontakt zu anderen Menschen. Svendson gefiel das. Meist saß er in dem kargen Wachhäuschen auf dem unbequemen Holzstuhl und las. Jede Stunde drehte er seine Runde auf dem Firmengelände und trug dies dann in eine Liste ein.
Seit einem Jahr hatte ihn der Brand bei der Sekte nicht mehr losgelassen. Zwar kam Grieg vor Gericht, wurde aber unzurechnungsfähig erklärt und in ein Sanatorium eingewiesen. Ob er die anderen angezündet hatte, konnte nie nachgewiesen werden, und was er angeblich in Sicherheit gebracht hatte, war allen außer Svendson egal. Der Fall schien geklärt. Also stellte er selbst Nachforschungen an. Mittlerweile wusste er, was Korybanten waren und verstand, wen Grieg mit Korybant der Korybanten meinte: Niklas Andersen, den als Anführer der Dørianer. Andersen musste seiner Biographie nach weit über achtzig sein, doch er versteckte dies wie fast alle seiner Anhängerinnen und Anhänger unter dicker weißer Schminke. Svendson hatte Pantomimen noch nie gemocht, er mochte auch keine Clowns und die Fotos, die er von Andersen kannte, erinnerten ihn an sie. Nur, dass ein Clown, der niemanden zum Lachen bringen will, womöglich noch furchteinflößender war als einer, der es vergeblich versuchte. Svendson war sich sicher, dass es Andersen war, der seine Leute angezündet hatte. Vielleicht in irgendeinem vermeintlichen Ritual, und Grieg war nur sein Bauernopfer. Eine Figur in Andersens Spiel. Worin das Ziel des Spieles bestand oder ob Andersen überhaupt noch lebte, konnte er nicht klären. Unter den zwölf Toten im Haus der Sekte hatten sich auch die Überreste mehrerer älterer Männer befunden, aber es fand sich niemand, der sie eindeutig identifizieren konnte. Svendson ging davon aus, dass Andersen selbst bei dem Brand ums Leben gekommen war. Wenn auch unabsichtlich. Denn nahe dem Ausgang des Hauses fand sich die Leiche eines Greises neben der ein Kanister sowie ein silbernes Benzinfeuerzeug mit den Initialen N.A. lag. Der Korybantenführer hatte es wohl nicht rechtzeitig geschafft zu fliehen, und ihn hatte das gleiche Schicksal wie seine Jünger ereilt. Nur Grieg war übrig geblieben. Welch grausame Gerechtigkeit.
Svendson sah auf den Abreisskalender der an der Wand hing. Donnerstag. Er sah auf seine Uhr und riss ein weiteres Kalenderblatt ab und schmiss es in den kleinen Mülleimer in seinem Wachhäuschen in dem sich neben den Kalenderblättern der vergangenen Tage nichts anderes fand. Freitags war besuchte er immer Grieg in der Klinik. Um sechs Uhr morgens würde er seine Schicht beenden.
Pünktlich packte Svendson seinen Mantel und machte sich auf den Weg. Er stieg in seinen weißen Volvo und schob mit dem Unterarm den Müll vom Beifahrersitz. Leere Kaffebecher, Reste von hastigen Mahlzeiten der letzten Wochen. Mahlzeiten die für ihn Frühstück waren, für andere aber Abendessen.
Grieg war in der psychiatrischen Klinik des Neevengården Krankenhaus in Sandviken untergebracht. Svendson musste durch halb Bergen fahren um von seinem Arbeitsplatz zur Klinik zu kommen. Ihm machte das nichts. So früh am morgen war meist nichts los und der lange Weg verkürzte ihm die Wartezeit bis zur Öffnung der Klinik. Einige Straßen vor seinem Ziel hielt er und stieg aus. Svendson blinzelte der aufgehenden Sonne entgegen, die ihre Strahlen auf den Byfojrd legte. Ein kurzer Blick auf die Uhr. Kurz vor Sieben. Gähnend schloss er den Wagen ab und schlenderte in eine kleine Gasse. Magnild Nilsen öffnete gerade die Tür zu ihrem Cafe als Svendson um die Ecke bog. Freundlich hielt sie ihrem Stammgast die Türe auf.
»Morgen Ingvar«, lächelte sie ihn an und strich ihm sanft über den Arm.
»Guten Morgen Magnild«, erwiderte er müder als er wollte und musste aufpassen nicht wieder zu gähnen. Es roch nach frischen Brötchen und gemahlenen Kaffeebohnen. Svendson fühlte sich wohl und streckte sich. Magnild ging hinter den Tresen und kochte Kaffee. Es war bereits eine Routine geworden und es war gar nicht notwendig, dass Ingvar eine Bestellung aufgab. Kaffee, sehr stark, sehr schwarz.
»Besuchst Du wieder Deinen Freund?«, wollte Magnild wissen.
»Er ist nicht mein Freund, er ist…«, nun was war Grieg eigentlich? Er wusste es selbst nicht genau. Er wusste auch nicht genau warum er ihn immer wieder besuchte.
»Er ist einsam«, schloss Svendson den Satz ab ohne zu wissen, ob Grieg tatsächlich so fühlte oder ob er nicht doch der Einsame von beiden war.
Magnild goss den dampfenden Kaffee in eine große Tasse. »Hat er denn keine Familie?«
»Doch, er hat eine Frau und auch eine Tochter, aber die kommen nie zu Besuch. Sie haben schon lange keinen Kontakt mehr.«
»Das ist traurig«, sagte Magnild und reichte die heiße Tasse an Svendson. Mit einer nicht ganz unabsichtlichen Berührung strichen ihre Finger kurz über seine Hand. Svendson lächelte verlegen.
»Was gibt es denn mit Deinem Freund…«, Magnild verbesserte sich, »Deinem Nicht-Freund jede Woche so wichtiges zu bereden?«
»Nichts. Eigentlich nichts«, erwiderte Svendson, »Wir drehen uns im Kreis. Er redet überhaupt wenig. Meist reagiert er kaum auf das was ich sage. Nur wenn ich Wörter aus seinen eigenen Sätzen aufgreife, fängt er manchmal an zu erzählen. Das schränkt die Kommunikation doch arg ein.«
Svendson dachte kurz daran, dass Grieg selten klar wirkte und in diesen Momenten meist niedergeschlagen, deprimiert und noch schweigsamer als sonst war. Grieg reagierte immer seltener auf ihn. Er sah geradewegs durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht da. Oft saßen die beiden sich stumm gegenüber, doch manchmal nickte Grieg als ob er Zustimmung ausdrücken wollte, obwohl niemand etwas gesagt hatte, und manchmal schüttelte er mit dem Kopf oder wurde durch etwas aus seiner Lethargie gerissen und schien aufmerksam und wach zu sein, wo er zuvor doch träge auf den Boden starrte. Svendson kam dennoch.
»Es ist eher ein Ritual. Das Besuchen ist ein Ritual«, stellte er fest.
»Ingvar«, sagte Magnild, »Ich freue mich ja über deine wöchentlichen Besuche hier, aber ich mach mir ein wenig Sorgen um dich. Ich hab das Gefühl, dass du dich da in etwas rein steigerst. Du kümmerst dich um jemanden, den du nicht mal kennst. Du versuchst ein Problem zu lösen, das nicht mal dein eigenes ist. Ich hab’ das Gefühl, dass du dich selbst dabei vergisst.«
Svendson wusste nicht wann Magnild und er bei solch offenen Gesprächen angekommen waren. Allerdings wusste er auch nicht mit wem er sonst jemals so offen sprach. Er dachte kurz nach und wusste nicht ob Magnild vielleicht sogar Recht hatte. Warum tat er das alles? Es war als ob er auf etwas wartete. Als ob irgendwas passieren müsste. Etwas was der Nacht damals einen Sinn gab und das Unglück bei dem so viele starben erklärte.
Er besuchte Grieg, weil es niemand sonst tat und weil er den Schmerz in ihm sah. Als ob die anderen verstorbenen Dørianer abgetrennten Gliedmaßen glichen. Svendson trank von seinem Kaffee und sah auf die Uhr, die an der Wand hing. In zehn Minuten würde die Klinik öffnen.
»Ich muss los Magnild«, verabschiedete er sich und warf sich seinen Mantel über. Er war gerade zur Tür raus als er nochmal umdrehte. »Magnild, würdest du…«, er zögerte. »Also hättest Du mal Lust einen Kaffee zu trinken. Ich meine nicht hier bei Dir, sondern zusammen, woanders?«
Magnild nickte lächelnd. »Sehr gerne Ingvar.«
Für einen kurzen Moment war Svendsons Schritt leichter geworden als er zurück zu seinem weißen Volvo ging um zur Klinik zu fahren.
Am Empfang begrüßte ihn Schwester Kove. Anika Kove war vielleicht Mitte Zwanzig und wie die Besuche bei Magnild Nilsen ein Bestandteil des Rituals mit Grieg wurden, wurden die gleichförmig inhaltslosen Gespräche mit Schwester Kove zu einem unverzichtbaren Teil der Besuchs-Zeremonie.
»Morgen Schwester Kove, viele Besuche für Ole heute?«, fragte Svendson jeden Freitag woraufhin Anika Kove dann »Nein nein, nur sie. Sie sind der einzige Besucher« erwidern würde. So war es jeden Freitag das letzte Jahr über gewesen. Nur heute nicht. Heute hatte Schwester Kove eine andere Antwort.
»Tatsächlich war jemand für Herrn Grieg da. Sein Vater, ein netter älterer Herr, bestimmt schon um die neunzig.«
Svendson stockte. »Griegs Vater ist doch tot«, entgegnete Svendson mehr erschrocken als erstaunt.
»Er hatte sich ausgewiesen. Niklas Grieg. Ich hab das jetzt nicht weiter überprüft.«
Svendson rieb sich sein unrasiertes Kinn und wusste doch nichts zu sagen. Ratlos nahm er den Kugelschreiber auf dem Tresen und trug sich in die Besucherliste ein wobei er einen flüchtigen Blick auf die krakelige Unterschrift von Niklas Grieg warf. Für ihn war war das nicht die zittrige Signatur eines alten Mannes, es war eher ein in erwartungsvoller Erregung getätigtes Signum. Die Unterschrift hatte strahlte etwas feierliches aus, wie auf einem Vertrag oder einer Urkunde.
Grieg wartete schon im Besucherraum auf ihn. Er saß nur stumm da. Doch das Traurige in seinem Blick war einem selbstzufriedenen Ausdruck gewichen. War es vielleicht gar ein Lächeln, das über sein Gesicht huschte? Svendson blieb eine knappe Stunde voll Schweigsamkeit und brach dann auf. Daheim legte er sich erstmal schlafen. Es war eine lange Nacht gewesen. Kurz nach Eins riss ihn das Telefonklingeln aus seinen Träumen. Wie in Trance griff er nach dem Hörer den er erst beim zweiten Versuch zu greifen bekam.
»Ja?«, raunte er in den Apparat.
»Herr Svendson?«, fragte eine Stimme auf der anderen Seite, die er nicht einordnen konnte.
»Ja, am Apparat.«
»Herr Svendson. Ole Grieg ist aus der Klinik ausgebrochen. Vielleicht wissen sie ja… also vielleicht ist er ja zu ihnen… sie waren ja der einzige Besucher.«
Svendson schüttelte den Schlaf von sich ab. Verblasste Erinnerungen eines Traums huschten durch seine Gedanken. Irgendwo draußen rauschten Sirenen vorbei. Er wusste nichts und es kam auch niemand zu ihm.
Grieg war nur für wenige Tage verschwunden, bevor die Polizei ihn in der Nähe von Bergen aufgriff und zurück brachte. Svendson konnte nie feststellen wo er gewesen war oder was er getan hatte. Als Grieg zurück im Sanatorium war, schwieg er weiterhin.
»Was hast Du nur angestellt, Grieg?«, fragte Svendson als er ihn nach seiner Wiederkehr besuchte. Grieg drehte den Kopf und blickte zu ihm. Er sah geradewegs durch ihn hindurch, so als ob er etwas hinter Svendson stehen sehe. Über die Jahre hatte sich Svendson an den Blick gewöhnt, so dachte er zumindest. Aber dieses Mal war es anders als je zuvor. Seine Haare stellten sich auf, und etwas Bedrückendes breitete sich aus. In seinem Nacken fühlte er einen eisigen Hauch. Sein Magen zog sich zusammen, als ob von hinten eine Klaue direkt in ihn hinein griff und zudrückte. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Es war kein kalter Schauer mehr, der ihm über den Rücken lief, es war ein ganzer Gletscher, der sich auf seine Schultern legte und ihn niederdrückte. Er war sich ganz sicher, dass mittlerweile der gesamte Raum mit dieser Eiseskälte erfüllt war und hinter ihm etwas lauerte. Svendson drehte sich um und sah nichts. Er sah nur absolute Leere. Und das Nichts starrte zurück.