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Der Meteor

Donnerstag, 12. Dezember, 16:30 UhrSchweiz, Dorf Cappellen

Innerhalb weniger Tage war das Thermometer von erstaunlichen 18 auf eisige –5 Grad gefallen. Ab Mitte November war die Witterung abnormal mild gewesen. Starke Regenfälle hatten vielerorts zu Überschwemmungen geführt. Überhaupt hatte das Wetter beinahe das ganze Jahr über verrückt gespielt. Weder Meteorologie noch Bauernregeln wurden ihm Herr. Im April war es losgegangen: Der wärmste Monat seit 137 Jahren wurde gemessen. Minusgrade im Mai brachten nochmals Schnee bis in die Niederungen und verursachten massive Schäden in Obst- und Gemüseplantagen. Dann rollte eine wochenlange Hitzewelle durch den Hochsommer. Die Dürre griff mit ihrer trockenen Hand nach allem, was die Kälte überstanden hatte. Die Bauern waren gezwungen, per Hubschrauber Wasser ins Oberland und auf die Alpen fliegen zu lassen, damit Kühe und Geißen nicht verdursteten. Und was an Weizen, Gerste, Dinkel und Mais noch stand, wurde durch tornadoartige Stürme und Starkregen plattgemacht. Das Bundesamt für Landwirtschaft erhöhte notfallmäßig die Kontingente für die Einfuhr von Agrarerzeugnissen, um die Nahrungsmittelversorgung der Schweiz sicherzustellen.

Nun war der Jagisbach am Montag über sein Bett hinausgetreten. Er schoss neben der Kirche, die auf einem Hügel stand, vorbei ins Große Moos und das Wasser bildete eine ansehnliche, gefrorene Lache. Ganz zur Freude der Kinder und Jugendlichen, die im Schneegestöber Schlittschuh liefen.

Kurz bevor es Nacht wurde, tanzten die letzten Schneeflocken davon und die kalte Luft ermöglichte noch einen Blick nach Osten über die sich leicht senkende Moosebene. Bis hin zum rund sechs Kilometer entfernten Schwarzen Forst. Die verschneiten Baumwipfel des konisch aufsteigenden Wohleyberges waren knapp zu erkennen, wenn man die Augen zukniff. Trotz der tiefhängenden Wolken.

Die Dämmerung schlich heran und leerte das Eisfeld. Kirchensigrist Tobias Kupfernagel kontrollierte, dass die jungen Leute nichts liegen gelassen hatten. Mitten im Rundgang blieb er stehen, blickte zum Himmel Richtung Nordwesten, wie einer, den eine düstere Vorahnung quält. Ein Schwarm Krähen flog über ihn hinweg. Dann stieg der Kirchendiener seines Asthmas wegen langsam den Hügel hinauf in die Kirche.

Auf der Orgelempore zog der große, hagere Mann mit den eingefallenen Wangen einige Register, setzte sich gebückt an den Spieltisch, legte bedächtig seine Hände auf die Manuale und schloss die Augen. Kurz darauf hallte es durch das Mittelschiff. Spielend und singend schaute Kupfernagel zum Kirchenfenster hinaus und das Glas spiegelte seine Augen, in denen etwas Rätselhaftes lag:

»It’s time for me to break away, from what I once had been. Through the years I felt and saw like every other man. What can I become? What will I find in me? …«

Dunkel ruhte das Dorf Cappellen mit seinem Weiler Hübeli auf einem malerischen Rücken der unteren Süßwassermolasse, den urzeitliche Flüsse vor fünfundzwanzig Millionen Jahren aus mitgerissenem Geröll der Westschweizer und Savoyer Alpen gebildet hatten. Kupfernagel lauschte dem letzten verklingenden Ton. Würde auch die Erde bald so verklingen durch die Hand der Menschen, die es als ihre Aufgabe ansahen, zu herrschen und nicht zu bewahren? Die vordrängende Winternacht zündete erste Lichter an und wechselnde Schattenrisse in Fenstern zeugten von geschäftigem Treiben in den Häusern.

Donnerstag, 12. Dezember, 17:10 Uhr,Cappellen, Weiler Hübeli

Die Kälte hatte in den letzten Tagen Eisblumen auf das Küchenfenster gemalt, die Anna mit einem Lächeln betrachtete, während sie ihre Balletttasche abstellte. Ihr Zeigefinger folgte den feinen Linien.

Am Küchentisch knetete Annas Mutter, Rhea, Teig für Mailänderli. Annas Lieblingsguetzli.

Das Küchenradio spielte leise Bachs »Kleines harmonisches Labyrinth«. Rhea zog die Augenbrauen hoch, stellte den Sendersuchlauf ein und es erklang »Mascagnis Intermezzo Sinfonico«. Sie drückte den Suchlauf nochmals und als der Beat von Wham! anklopfte, drehte sie das Radio lauter. Wie jedes Jahr. Und wie jedes Jahr stimmten beide ein.

Mutter und Tochter liebten Weihnachtslieder und sie sangen »Last Christmas« mit, bis eine energische Männerstimme aus dem Radio drang:

»ACHTUNG, ACHTUNG! An alle Bewohnerinnen und Bewohner im Mittelland, ab morgen Mittag ist mit sehr heftigem Schneefall zu rechnen. Im Verlaufe des Nachmittags wird sich dieser zu einem starken Schneesturm entwickeln. Der meteorologische Wetterdienst geht davon aus, dass innerhalb kürzester Zeit weit über ein Meter Neuschnee fallen wird. Die Polizei bittet Sie deshalb, keine Fahrzeuge mehr zu benutzen, zu Hause zu bleiben und, da heftige Böen zu erwarten sind, ihr Haus zu verbarrikadieren. Der Wetterdienst wird Entwarnung geben, sobald das Unwetter weitergezogen ist.« Dann wandte sich der Radiosprecher an den bekannten Meteorologen Martino Staub:

»Eine solche Wetterlage hat es seit den Aufzeichnungen ab dem Jahr 1864 noch nie gegeben … Was erwartet uns denn da?« Staub räusperte sich:

»Nun ja, zumindest bei uns nicht. Allerdings in Deutschland Ende 1978. Und aus den Erfahrungen von damals lässt sich sagen, dass wir uns auf das Schlimmste einstellen sollten. 28 Tote gab es 1978 während des viertägigen Sturms. Ein stabiles Hochdruckgebiet, von Nordwest her kommend, trifft auf ein außergewöhnlich großes südliches Tiefdruckgebiet mit sehr feuchten, instabilen Luftmassen. Dieses wird die arktische Luft geradezu aufsaugen. Das heißt ab morgen Mittag bricht, aus Nordwesten kommend, sehr kalte Polarluft über dem Mittelland ein. Wir erwarten in den nächsten Tagen zwischen Minus 18 bis Minus 20 Grad oder mehr, lassen Sie sich also von den steigenden Temperaturen morgen Vormittag nicht täuschen … und ja, durch die rasche Abkühlung der feuchten Luft wird orkanartig Schnee vom Himmel fallen, es handelt sich um den ersten Blizzard in der Schweiz, so etwas kennt man sonst nur in Nordamerika und Skandinavien …«

Der Sprecher unterbrach ihn:

»Sie redeten vorhin von 15 cm Schnee pro Stunde. Können denn unsere Hausdächer diesen Schneemassen überhaupt standhalten?«

Der Meteorloge beruhigte den Sprecher und damit wohl auch die Hörer:

»Unsere Häuser sind grundsätzlich robust genug, um dieser Menge Schnee Herr zu werden. Natürlich gibt es immer Einzelfälle. Wichtig ist einfach, alles festbinden, genügend Nahrungsmittel einkaufen, die Fensterläden schließen und warten, bis es vorbei ist. Dann passiert niemandem etwas.« Dann fuhr er jedoch fort: »Allerdings machen uns die Wildtiere erhebliche Sorgen. Der Anfang Dezember gefallene Schnee ist beinhart gefroren. Darauf kommt jetzt der neue Schnee zum liegen. Die Tiere finden kaum noch Nahrung. Nach dem Blizzard gar nichts mehr. Morgen wollten Behörden, Tierschutz und Schulklassen eine Fütterungsaktion im Schwarzen Forst durchführen. Daraus wird nun vermutlich nichts. Aufgrund der kommenden Schneemengen dürften die Tiere komplett isoliert werden. Es bahnt sich eine Tragödie an. Viele werden wohl verhungern … Dazu kommt, dass der Wilderer noch immer umgeht, er hat den Wildbestand erheblich dezimiert, seit zwölf Monaten schießt …«

Rhea traten Tränen in die Augen, sie ging zum Radio und stellte den Sender wieder um.

»Bad Moon Rising« von Creedence Clearwater Revival erklang. Sie drehte den Programmknopf weiter und Billy Macks Song »Christmas is all around« ging gerade zu Ende. Ein neuer setzte ein. Zuerst ein Keyboard, dann Kastagnetten und schließlich Roger Hodgson, der davon erzählte, wie magisch ihm alles in seiner Jugend erschienen war.

Rhea und Annas Vater Heinrich liebten Oldies und auch Anna mochte sie, obwohl sie deutschen Hip-Hop, insbesondere die Rapperin Namika, vorzog.

Liebevoll sah sie ihre Mutter an, als sich diese die Tränen aus den Augen wischte, drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe, legte ihre Hände wie Scheuklappen um ihre Augen und versuchte, durch die Schicht von Eiskristallen in die dunkle Nacht zu sehen.

»Mam, fallen die Sternschnuppen bald vom Himmel?«

Rhea, noch immer mit grüblerischem Gesichtsausdruck, streute Mehl auf den Küchentisch und schaute zu ihrer Tochter hinüber:

»Die ersten müsstest du jetzt schon sehen, Liebes. Im Radio sagten sie, sobald es dunkel werde, hagle es Geminiden im Minutentakt.« Dann nahm sie den gelb-glänzenden Teig aus der Schüssel und begann ihn auszuwallen.

»Ich kann aber gar nichts sehen, Mama, es ist viel zu dunkel!«, ulkte Anna. Ihre Mutter schmunzelte.

»Du musst die Blumen zum Schmelzen bringen, hauch sie an, dann kannst du hindurchblicken.« Natürlich war das Anna klar. Ihre Absicht war es gewesen, ihre Mutter auf andere Gedanken zu bringen.

Die junge Frau pustete, bis sie rote Backen bekam und das aufgetaute Wasser die Fensterscheiben hinunterlief. Draußen, in der dunklen, stillen Nacht, glitzerten die Sterne mit der Schneedecke um die Wette. Selbst dem Mond war es zu kalt und es schien, als ob er sich mit den wenigen vorbeiziehenden Wolken bedecken wollte.

Angestrengt suchte Anna den Vorweihnachtshimmel ab.

Bückte sich, schaute abwechselnd durch die untersten Scheiben, stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um durch die obersten zu spähen. Nichts.

»Hab Geduld, Anna. Wenn du Geduld hast, werden sie kommen. Aber nur dann. Und denk daran, wenn du eine entdeckst, hast du einen Wunsch frei. Aber denk auch daran, mein Schatz, du darfst ihn keinem Menschen verraten. Das ist ganz wichtig. Sonst wird er nicht in Erfüllung gehen!«

»Logo, Mam«, lachte diese und zwinkerte ihrer Mutter zu. Das Auf und Ab am Fenster ging so wohl gut zehn Minuten weiter und Anna wollte schon enttäuscht aufgeben, als es weit hinten über dem Schwarzen Forst aufblitzte.

Das weißliche Licht kam aus dem Nichts und blähte sich rasend schnell auf, sodass die Wipfel der Tannen, ja der ganze Forst und die schneebedeckten Felder, hell erleuchtet wurden. Die Kugel raste auf Annas geweitete Augen zu, über das Hausdach hinweg und ihr langer, feuriger Schweif zuckte hinterher. Das Haus erzitterte ob der gewaltigen Luftmasse, die der Meteor mit sich gerissen hatte.

Jäh wurde es still und mit der einsetzenden Stille erklang das knallende Klirren einer berstenden Kugel, die vom Weihnachtsbaum gefallen war. Dann ging das Licht aus. Der Schock ließ bei Mutter und Tochter nur langsam nach. Als aber der wieder einsetzende Strom die Küchenlampe zum Leuchten brachte, huschte ein Lächeln über das Gesicht der jungen Frau und wurde zu einem Grinsen.

»Jetzt kann ich mir etwas Riesengroßes wünschen.«

Obwohl sie längst zu alt war, um daran zu glauben, dass Sternschnuppen Wünsche erfüllten, kam ihr dieser Komet doch wie ein Zeichen vor. Ihr Wunsch musste in Erfüllung gehen.

Es dauerte an diesem Abend noch eine geraume Weile, bevor sich Anna beruhigen sollte. Ihr Vater Heinrich, der erst spät von der Arbeit heimkehrte, brachte sie sogar zu Bett. Als er sie zugedeckt hatte, blieb er noch eine Weile sitzen und Anna erzählte ihm nochmals und mit Inbrunst, wie die riesige Sternschnuppe über das Haus gerast sei. Und grinsend, dass jetzt der größte Wunsch, den es je auf der Welt gegeben habe, in Erfüllung gehen werde. Aber leider könne sie ihm das Geheimnis nicht verraten. Was Heinrich durchaus verstand. Als Anna langsam die Augen zufielen, schlich Heinrich aus dem Zimmer und ließ die Türe einen Spalt offen stehen. Ganz wie in früheren Zeiten.

Anna lag noch lange wach. Wie wohl ihr Wunsch in Erfüllung gehen würde? Als Kater Django zu später Stunde zu ihr ins Bett schlich, deckte sie diesen halb zu und flüsterte ihm ihr Geheimnis ins Ohr. Und auch, dass nicht nur die eine riesige Sternschnuppe durch die Nacht gerast sei, sondern dass vielmehr eine ganze Familie, die Geminiden, jeden Dezember mit mehreren Hundert Kindern durch das All Richtung Erde flögen, um den Nachthimmel erstrahlen zu lassen. Und dass so, durch die vielen großen und kleinen erfüllten Wünsche, die Welt am Ende ein Stückchen besser würde. Anna stellte sich das gleißende, strahlende Licht der Geminidenfamilie und ihrer Sternschnuppen auf dem Weg durchs All zur Erde vor und schlief, mit dem Kater im Arm, darüber ein.

Donnerstag, 12. Dezember, 17:15 Uhr,Cappellen

Im Hospiz zur Heimat, dem einzigen Landgasthof und Hotel in Cappellen, wechselte am frühen Abend die Türe zur Gaststube von einer Hand in die andere. Kein Platz war mehr frei. Stand einer auf, um zu gehen, setzte sich gleich der nächste hin. Ganz zur Freude von Wirt und Hotelier Paul Lüthy. Es wurde allerhand diskutiert, gejammert und politisiert.

Zu reden gab insbesondere der Wilderer, der seit Monaten Tiere im Naturschutzgebiet schoss und deren Kadaver einfach im Forst liegen ließ. Man spekulierte, ob es wohl ein Auswärtiger oder einer von Cappellen sei. Kirchensigrist Tobias Kupfernagel beendete das Thema und meinte, es gebe halt solche, die das Böse gut heißen und das Gute böse, in deren Köpfen Finsternis herrsche, weil ihr Licht erloschen sei, und bestellte er sich die nächste Grüne Fee.

Heiße Köpfe verursachte dann die weitere Diskussion um die Sondierungsbohrungen der NASRA im Großen Moos, die für den nächsten Sommer angesetzt waren. Das Nationale Syndikat für die Lagerung radioaktiver Abfälle plante die Erkundung des Untergrunds zur Klärung eines potenziellen Tiefenlagers. Die Bauern sprachen von Enteignung des Ackerlandes, Sanitärinstallateur Thomaso Kessler von der Unmöglichkeit eines Lagers aufgrund wasserführender Sandsteinschichten, Elektriker Karl Borer von 3 Millionen Jahren radioaktiver Atommüll-Strahlung. Aufgrund der geologischen Probleme habe weltweit noch kein Land ein Endlager in Betrieb nehmen können. Die Gefahren sehe man an den bis Anfang der 1980er im Atlantik versenkten 115 000 Tonnen Atommüll. Die Fässer würden nun rosten und Radioaktivität ins Meer entweichen. Nur Bauer Ulrich Merck war der Meinung, er würde sein Land der NASRA zur Verfügung stellen, da liege vermutlich ein Heidengeld drin. Die Leute am Stammtisch schüttelten den Kopf. Jonas Raphael, vom Wochenblatt »Der Ruf von Cappellen«, machte eifrig Notizen. Nach einer weiteren Runde Bier kamen alle, außer Merck, zum Schluss, man müsse sich wohl oder übel mit den Grünen, welche an Ostern eine Velodemo gegen die Bohrungen planten, zusammenschließen. Der elegante Herr öffnete genau in dem Moment die Holztüre zur Gaststube, als der Meteor übers Hospiz schoss. Die Tische erzitterten. Die Biergläser kippten, als die Gäste hinauseilten und dabei den Ankömmling um ein Haar umgerannt hätten.

Nur Paul blieb an der Theke stehen. Er schätzte den Mann mit dem markanten Gesicht und dem nach hinten gekämmten, dunklen Haar auf Mitte dreißig. Italiener vermutlich. Hatte was von Cary Grant. Schick gekleidet. Der Gast trug einen schwarzen Wildledermantel mit Biberfell. Darunter einen dunkelgrauen Zweireiher. Hellblaues Hemd und blaue Seidenkrawatte. Und sogar Manschettenknöpfe. Rasch trat der Gentleman auf den Wirt hinter der Schenke zu, stellte den Aktenkoffer hin, streckte ihm die Hand entgegen und grüßte ihn in einwandfreiem Deutsch:

»Guten Abend Herr … Lüthy, nicht wahr?«

»Grüessech Herr, ehm, …« Paul schaute ins Gästebuch:

»Ist jetzt der Nachname Alfonso oder Gabriele?«

Der Mann lächelte den Wirt an und antwortete:

»Gestatten, Gabriele, Alfonso Gabriele. Italienischer Staatsbürger. Ich arbeite für die Italienische Botschaft. Im Konsulat in Bern.«

Gabriele zog den Mantel aus, legte ihn gefaltet auf einen Stuhl, mit dem Label nach oben. Breoni. Eine Marke, die für Tradition und Geschichte stehe, war Gabrieles Meinung. Männergeschichte. Der Anzug eines Mannes, sage etwas über dessen Format und Charakterstärke aus, und Breoni sei eine Botschaft an den, der sie lesen könne. Ein richtiger Mann müsse eine gelassene und zeitlose Eleganz tragen, eine, die Leadership unterstreiche. Kleider von schwulen Designern seien etwas für Frauen, Weichlinge und Homosexuelle eben. Und Jeans gehörten ins Gartenhäuschen, vorausgesetzt, man habe keinen eigenen Gärtner, auch hätten Sneakers nur etwas in der Turnhallengarderobe zu suchen.

Signore Gabriele holte seinen Diplomatenpass aus dem Koffer, legte ihn auf die Theke und eine Karte mit Goldrand darauf.

»Und hier noch meine Visitenkarte.«

Paul zog seine Brille hervor, putzte sie kurz und warf anstandshalber einen Blick darauf:

ICE Istituto colossale per il Commercio Estero

Ufficio Commerciale dell’Ambasciata d’Italia

Vicedirettore Alfonso Gabriele

Elfinstraße 14 · 2999 Berno – CH

Tel.: 0041 (0)31 170 118 99 · Fax: 0041 (0)31 250 119 47

E-Mail: Alfonso.Gabriele@ice.it

Der Wirt sah anerkennend zu Gabriele auf: »Oha, ein Direktor!«

Es war das einzige Wort, das er auf der Karte lesen konnte. »Ja, Vizedirektor der ICE. Wir sind für die internationale Entwicklung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zuständig.«

»Ja«, meinte Paul, »über Wirtschaftsbeziehungen weiß ich auch bestens Bescheid.«

Gabriele setzte ein freundliches, distanziertes Lächeln auf, ohne über den Witz nachzudenken.

Paul hatte Gabriele erwartet. Sein Koch, Sebastiano Conosciuto, hatte ihn schon vor rund einem Monat stolz informiert, dass ihn sein Cousin, ein Diplomat der italienischen Botschaft, besuchen würde.

Nachdem Paul Lüthy das Anmeldeformular ausgefüllt hatte, nahm er den Zimmerschlüssel aus dem Fach und gab ihn Gabriele.

Als er dem Italiener die Koffer in den ersten Stock hochtragen wollte, winkte dieser ab. Ihm wäre lieber, wenn er Sebastiano dieses Rezept bringen würde. Er wünsche dieses Mahl nachher als Abendessen.

Paul öffnete das gefaltete Papier. Er war erstaunt, ja irritiert. Und neugierig. Warum brachte Gabriele seinem Cousin, einem italienischen Spitzenkoch, eine deutsche Anleitung für eine italienische Mahlzeit? Paul schüttelte den Kopf, als er las:

Zutaten für eine Person

1/4 EL Olivenöl

1/2 Knoblauchzehe, klein geschnitten

2 Kleinere frische Tomaten, klein geschnitten

90 g Tomatenmark

1/2 Salsiccia, gegrillt oder gebraten und geschnitten

60 Gramm in Öl gebratene italienische Frikadellen

1/4 EL Trockener Rotwein

1/4 EL Zucker

Zubereitung

1. Das Olivenöl bei mittlerer Temperatur in einem Topf erhitzen.

2. Die Knoblauchzehen beigeben und einige Minuten dünsten (nicht anbrennen lassen).

3. Die Tomaten und Tomatenmark beigeben und 5 Minuten unter ständigem Rühren kochen.

4. Die Salsiccia und die Frikadellen hinzugeben und gut umrühren.

5. Den Rotwein und den Zucker je nach Geschmack zugeben.

6. Den Herd auf kleine bis mittlere Temperatur stellen und mindestens 20 Minuten köcheln lassen. Des Öfteren umrühren.

Paul zuckte mit den Schultern und brachte alles zu Conosciuto. Es nahm ihn Wunder, was dieser dazu sagen würde. Der kleine, glatzköpfige Koch mit der großen Nase strich die Hände an der Küchenschürze ab, die sein Bäuchlein kaschierte und warf einen Blick auf den Zettel. Dann lachte er lauthals:

»Mein Cousin hält sich wohl für Don Vito Corleone.« Dann eilte er, immer noch lachend, an den Herd zurück. »Aber das wäre eine Nummer zu groß für ihn.«

Rund um die Welt

Donnerstag, 12. Dezember, 19:35 Uhr, Russland, Moskau,Avtozavodskaya Ulitsa, Block 23, Gebäude 86

Der Prolog der Oper »La Calisto« drang aus Andrej Pushkas Büro, das sich in der hintersten Reihe einiger ehemaliger Fabrikhallen des Autowerkes Sawod imeni Stalina befand. In der Sowjetzeit hatte es ausschließlich Limousinen für die oberste Elite des Staates produziert.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Autofabrik geschlossen und die Organisation hatte sie zu Tarnzwecken aus der Konkursmasse rausgelöst. Für ein Butterbrot. Die meisten Gebäude waren abgerissen worden. Auf dem 3 Hektar großen Werkareal entstanden Büros, Wohnungen, ein Krankenhaus der GAZPROM, ein Produktionszentrum für Duschtüren, ein Kunstzentrum … In einem Gebäudetrakt hatte sich sogar der Fußballklub Torpedo Moskau eingemietet.

Nur in der Fabrikhalle Nummer 6 wurden nach wie vor klassische SIS-Limousinen hergestellt. Allerdings nur auf Bestellung. Als Verkaufsdirektor war Pushka höchstpersönlich dafür zuständig, dass die Fertigstellung des neuen präsidialen Staatswagens zum Ende des nächsten Jahres klappte. Dem Präsidenten der Russischen Föderation war es zuwider, in einem Mercedes-Benz kutschiert zu werden. Einer westlichen Karosse.

In der letzten halben Stunde hatte Pushka deswegen einige Telefonate erledigt. Natürlich hatte er gedroht. Das konnte er gut. Drohungen wahr werden lassen ebenso. Diese Fähigkeiten waren an der Russischen Militärakademie verfeinert worden. Im Tschetschenienkrieg hatte er es durch sein nicht zimperliches Vorgehen zum Obersten gebracht. Auch diesmal hatte es gefruchtet. Aus dem »Unmöglich« eines Herstellers war eine feste Zusage geworden.

Schlimmer als der Unmut des Präsidenten, sollte sich die Fertigstellung erneut verzögern, wäre der Unmut Seths, seines Vorgesetzten bei der Organisation. Dieser legte Wert auf ausgezeichnete Beziehungen zum Kreml. Ein Versagen könnte zu einer Degradierung im Ranking führen. Pushka stieß schnaubend den Atem aus der Nase. Er war Senior Vice President Asien, die Nr. 3 der Welt! Er hatte anderes zu tun, als Lappalien zu managen. Es gab Probleme mit den 30 Grjasew-Schipunow Maschinenkanonen für die angolesischen MiG-21-Kampfflieger. Verschleißerscheinungen bei den Kanonenrohren. Doch er, Andrej Pushka, hatte seine Beziehungen spielen lassen. Die eidgenössische Rüstungsanstalt HAB, die Helvetica Arma Bellica, würde dieses Problem für ihn lösen. Ihm konnte niemand etwas vormachen. Er war der Seelsorger der Waffenlobby, der Weltmeister des illegalen Waffenhandels.

Pushka dachte ans Essen. Italienisch. La Jar Grigori. Das beste Restaurant in Moskau. Eine der ersten Adressen für die 77 Milliardäre der Stadt. Natürlich auch für die 100 000 Millionäre. Mindestens einmal in der Woche war er dort. Manchmal in weiblicher Begleitung. Dann deutlich jünger und schöner als er.

Aus einem Salon erklang Zigeunermusik und es roch nach Weißem Trüffel, frischer Pasta und heißem Olivenöl, als er an diesem Abend zu seinem Tisch schritt. Italienische Woche. Pushka neigte seinen Kopf – fettige Haare fielen links und rechts des Mittelscheitels in Strähnen nach unten – und strich sich über seinen langen, krausen Vollbart. Ein vorbeieilender Kellner bekreuzigte sich verstohlen. Pushkas tiefliegende, stechenden Augen geisterten über »Il menu.« Wenn es ums Trinken und Essen ging, entschied er sich nur für das Beste. Zum Aperitif ließ sich Pushka eine Flasche Henriques & Henriques Sercial 1971 bringen.

Als die Gänge kamen, schnupperte er intensiv an jedem. Das Essen war vorzüglich.

Gerade als er das Dessert beendet hatte, setzte sich Restaurantmanager Eduard Damke an seinen Tisch und schob ihm einen Zettel zu.

»Andrej, es ist für mich immer eine Ehre und Freude, wenn du uns besuchst. Ich habe erst gestern ein außergewöhnliches Rezept aus der Schweiz erhalten. Ich dachte, du möchtest es vielleicht einmal selbst ausprobieren.«

Die unsicheren Blicke der anderen Gäste nahm Pushka unbewegt zur Kenntnis, als er das Rezept einsteckte.

Donnerstag, 12. Dezember, 18:00 Uhr,USA, New York, Brooklyn, Southwest Street

Das schmale, einstöckige und hundertjährige Haus aus rotem Backstein lag direkt neben dem Prospect Park, auf dessen Gelände im Jahre 1776 in der größten Schlacht des Unabhängigkeitskrieges Hunderte Soldaten ihr Leben gelassen hatten.

Davies Paille fragte sich zum wiederholten Mal, ob es irgendetwas geben konnte, das es wert war, das Leben anderer dafür zu opfern, wie Könige und Regierungschefs es seit Jahrtausenden taten. Das eigene Leben? Ja, es gab höhere Ziele, die das rechtfertigten. Aber das von anderen? Davies schüttelte den Kopf.

Als er sich auf seine Baumwollmatte setzte, war er gänzlich im Hier und Jetzt. Sein Körper fühlte sich wohl, Freude stieg in ihm auf und achtsam atmete er ein und aus. Er war sich seiner Augen, Ohren, seiner Nase und Zunge, überhaupt seines Körpers und seines Geistes vollkommen bewusst. Davies folgte seinem Atem tiefer hinab. Ein stiller Frieden schritt auf ihn zu, umarmte ihn. Glück und Schmerz lösten sich hinter ihm auf. Im Zustand der absoluten Leere manifestierten sich unzählige andere Wesen. Menschen, Tiere, Moose, Gräser, Steine und sogar Mineralien. Er war alle und alle waren er. Alles wurde Eins und Eins wurde Alles. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er sah die Entstehung und Zerstörung Tausender Sterne und Welten. Wie zahllose Lebewesen durch zahllose Geburten und Tode hindurchgingen. Er fühlte ihre Freuden und ihre Leiden. Ihm wurde offenbart, dass Verstehen und Liebe eins waren. Und beides zu Achtsamkeit, richtigem Denken, Reden und Handeln führte. Wesen stiegen in ihm auf, die litten, weil sie nicht wussten und verstanden, dass sie mit allen anderen verbunden und abhängig von ihnen waren. Eine Unwissenheit aus der Angst, Zweifel und Eifersucht, Überheblichkeit, aber auch Zorn und Gier entstanden.

Eine erste, spontane Erkenntnis der Wirklichkeit hatte Davies vor 150 Jahren gewonnen. Infolge einer Prüfung in einer Höhle in der Schweiz. Diese Erfahrung brachte ihm erste Ruhe. Danach vertiefte er seine Einsicht über Jahrzehnte hinweg meditativ und geduldig bis zu seiner Selbstvollendung. Bis zur totalen, beständigen Erleuchtung.

In langen Jahren kämpfte er an vielen Fronten für das Gute. Zuletzt als Rechtsanwalt. Dann gab er diesen Beruf auf. Nicht, dass ihm der Kampf für die Rechte von Diskriminierten gleichgültig geworden wäre. Nur welchen Wert hatte es, Menschen vor Gericht zu vertreten, wenn die Menschheit sich selbst durch ihre falsche Weltanschauung, ihre kriminellen Machenschaften und insbesondere durch ihren zerstörerischen Umgang mit der Erde in den Untergang führte?

Am Tag als er seine Kanzleiräume kündigte, war ein letzter Klient bei ihm aufgetaucht. Charly. New York hatte die Errichtung einer Dekompostierungsanlage als unwirtschaftlich und zu teuer abgelehnt. Obwohl von den 10 500 Tonnen Müll, die in New York täglich anfielen, rund 3200 für eine Dekompostierung geeignet waren. Charly hatte ihm erklärt, dass weltweit jährlich 1,3 Milliarden Tonnen Abfall produziert wurden, Tendenz steigend. Mehr als 40% davon wanderten auf nichtüberwachte oder illegale Deponien. Schädliche Abfallstoffe wurden ausgeschwemmt, liefen in Flüsse und Meere, versickerten im Grundwasser oder wurden vom Wind verweht. Mit Müll verstopfte Abflüsse führten zu Überschwemmungen. Und die Abfalldeponien gaben – nebst dem Treibhausgas Methan – giftige Gase wie Schwefelwasserstoff, halogenierte Kohlenwasserstoffe wie Vinylchlorid und Stickstoffmonoxid in die Atmosphäre ab, die zu Krebs und weiteren Krankheiten führten. Nur 30% des amerikanischen Mülls wurden recycelt.

Davies nahm den Fall nicht an. Er hatte genug von Kämpfen, die auf dem Papier ausgefochten wurden. Kämpfe, die sich jahrelang hinzogen und deren Siege sich letzten Endes zu oft unlautere Prozessgegner erkauften. Stattdessen ging er bei Charly in die Lehre. Er wollte etwas Praktisches gegen die Umweltzerstörung tun. Etwas Greifbares, etwas rasch Wirksames, etwas, das Hebel- und Signalwirkung hatte. – Innerhalb weniger Jahre baute Davies die größte Kompostanlage der USA auf, die ohne schweres Gerät, nur mit menschlicher Arbeitskraft und Sonnenenergie betrieben wurde. Sein langfristiges Ziel waren autarke Städte, die in engen Netzwerken kleiner kommunaler Kompostanlagen organisches Material nachhaltig rezyklierten. Nachbarn, die gemeinsam ihre Lebensmittelabfälle von Hand kompostierten. Davies war überzeugt, dass lediglich Unwissenheit um die Gefährlichkeit und Entsorgung des Abfalls zu der enormen Müllerzeugung führte. Und dass die Menschen ihr Verhalten ändern würden, wüssten sie nur über alles Bescheid. Aufklärung tue Not. Davies klärte sie auf. Natürlich war das gewissen Leuten ein Dorn im Auge. Denen, die mit der Müllentsorgung eine horrende Menge Geld verdienten. Jetzt war er derjenige, der mit Klagen überzogen wurde, wegen angeblicher Mängel im Bau, Verstößen gegen das Arbeitsrecht und anderen unhaltbaren Vorwänden.

Davies saß aufrecht auf seiner Matte, seine Bauchdecke hob und senkte sich, er atmete tief und regelmäßig. Der Strom der Lebensenergie floss durch ihn, nahm ihn mit, tiefer und tiefer hinunter, zum Wesen allen Seins. Er erkannte, dass Geburt und Sterben nur äußere Erscheinungen waren und nicht wahre Wirklichkeiten. So wie sich unaufhörlich Millionen Wellen und Tropfen auf der Oberfläche des Meeres bildeten und wieder zusammenfielen, währenddem das Meer selbst über jegliches Entstehen und Vergehen erhaben war. Dann erlosch jede Wahrnehmung, jede Vorstellung und jedes Gefühl in ihm.

Freitag, 13. Dezember, 6:15 Uhr,Cappellen, Weiler Hübeli

Der Radiowecker plärrte pünktlich los und weckte Rhea und Heinrich mit:

»I’ll be home for Christmas …«

Danach kam eine Meldung der Kantonspolizei: »Seit einigen Monaten fallen im Wildschutzgebiet Schwarzer Forst immer wieder Tiere einem Wilderer zum Opfer. Signalement des Unbekannten: Männlich, ca. 185 bis 190 cm groß, braune Haare, Drei-Tage-Bart, Brillenträger und leicht untersetzt. Der Täter fährt einen älteren gelben Kombi der Marke Opel Kadett. Vorsicht, der Täter ist aggressiv und bewaffnet. Er scheut sich nicht, in Richtung von Passanten zu schießen, falls er gestört wird. Für Hinweise setzt die Polizei eine Belohnung von 2000 Schweizer Franken aus. Meldungen auf dem Polizeiposten Cappellen oder an jeder …«

»Ich wünschte, sie würden ihn endlich erwischen«, sagte Heinrich. »So ein Saukerl.«

Doch an diesem Morgen hatte Rhea andere Sorgen als den Wilderer.

»Komm bitte heute nicht zu spät nach Hause. Es soll sehr viel Schnee geben am Nachmittag und gegen Abend.« Auch Anna nahm sie das Versprechen ab, nach der Schule ohne Umwege nach Hause zu kommen.

Die Temperatur war erstaunlicherweise über Nacht auf +7 Grad geklettert. Es hatte in den frühen Morgenstunden geschneit und der matschige Schnee lag wie Schmierseife auf der alten, noch gefrorenen Schneefläche des Gehsteigs. Anna holte Anlauf und glitt wie der Silver Surfer auf seinem Sky Board. Um ein Haar wäre sie dabei an der Schulhausecke in ihre Freundin Melanie gesegelt, die gerade aus dem Auto ihrer Mutter stieg. Gemeinsam betraten sie das Gebäude. Im Schulhausgang kreuzten sie Leon aus der Parallelklasse, der mit ein paar Kumpels diskutierte. Anna schaute ihn verstohlen an. Doch wie immer schien Leon diesen Blick zu bemerken. Auch Melanie bemerkte es und flüsterte Anna kichernd zu: »Ich habe gehört, Leon sucht eine Nachhilfe. Darin bist du ja gut. Soll ich ihn fragen?« Anna packte sie am Arm und zerrte sie an Leon vorbei. »Das lässt du schön bleiben!«

An diesem Vormittag ließ sich kein Lehrer die Gelegenheit entgehen, die riesige Sternschnuppe der letzten Nacht zum Thema des Tages zu machen. In der Doppelstunde NMG (Natur, Mensch, Gesellschaft) dozierte Herr Guggisberg:

»… die Geminiden hat man erstmals im Jahre 1880 gesichtet, sie stammen wohl von dem Asteroiden 3200 Phaeton, der auf einer elliptischen Bahn um die Sonne kreist. Der Name des Asteroids wurde vom Sohn des griechischen Gottes Helios entlehnt. Auf der 5,1 Kilometer durchmessenden Kugel kommt es gelegentlich zu Ausbrüchen, bei denen kleine Partikel frei werden, die dann durchs All fliegen und mit 122 000 km/h in die Atmosphäre eintauchen …«

Normalerweise war NMG Annas Lieblingsfach, aber nach kurzer Zeit kribbelten ihre Beine und Arme derart, dass sie kaum noch stillsitzen konnte. Die junge Frau wurde oft nervös, wenn sie länger gelernt hatte und sich dann noch auf eine komplexe Aufgabe konzentrieren musste. Ebenso wurde sie unruhig, wenn ein Lehrer den Stoff trocken vermittelte oder kontextlose Fakten ans Smartboard schmierte. Ohne Bezug zum Weltgeschehen oder zum Leben im weitesten Sinne. Für sie war tote Materie ein Gräuel. Und sinnlos.

Ihre junge Klassenlehrerin Denise Weaver griff das Thema dagegen spielerisch auf. So flogen alle Schüler in Annas Klasse als Geminiden-Familie durch das zum Weltall umfunktionierte Klassenzimmer auf das Dorf Cappellen zu. Da Anna als einzige der Klasse beinahe die gesamte Flugbahn des Kometen verfolgt hatte, durfte sie – ausstaffiert mit mehreren Knicklichtern – diese nachahmen.

Am Ende der Stunde hielt Frau Weaver sie zurück:

»Anna, der Ballettkurs fällt wegen dem Sturm aus. Reichen dir die drei Proben vor der Aufführung von Schwanensee? Wir können Odettes Solo auch extra üben.«

Anna rief sich die Figuren vor Augen. Diese Grazie, diese Leichtigkeit, die Ballett bedeutete. Es war wie Meditation, wenn sie im Tanz versank.

»Danke, aber um das Solo mache ich mir keine Sorgen. Ich finde es schwieriger, mich in Odettes Widerpart Odile hineinzuversetzen. Warum trachtet jemand danach, das Leben eines anderen zu zerstören?«

Frau Weaver lächelte.

»Du gehörst glücklicherweise zu den Menschen, die das wohl nie nachvollziehen werden können.«

Die Sternschnuppe war natürlich auch DAS Thema auf dem Pausenplatz. Es wurde spekuliert, dramatisiert und übertrieben. Vor allem die Jungs prahlten mit ihrem angeblichen Mut, wie sie rausgerannt seien und die Sternschnuppe verfolgt hätten, um das glühende Loch zu finden, das es beim Aufprall gegeben hätte, wäre der Meteor nicht plötzlich am Horizont verschwunden. Doch als Anna spöttisch nachfragte, in welcher Himmelsrichtung denn die Sternschnuppe verschwunden sei, schauten einige betreten weg und der Rest verlegen aus der Wäsche, mussten ganz plötzlich auf die Toilette oder sonst noch was Dringendes vor Ende der Pause erledigen.

Nur Hagen, der die Parallelklasse besuchte und neben Anna wohnte, blieb stehen, schaute sie trotzig an und meinte gestelzt: »Mein Vater konstatiert, das sei gar keine Sternschnuppe, sondern ein Geschoss der Armee gewesen. Das Militär habe es bei einer Übung im Schwarzen Forst abgeschossen. Aus einer geheimen Militäranlage. Sowas wie die Area 51 in den USA. Für eine Sternschnuppe sei das Objekt viel zu flach geflogen. Wenn es wirklich ein Meteorit gewesen wäre, hätte die Sternschnuppe kurz hinter dem Dorf einschlagen müssen. Mein Vater weiß da genau Bescheid, sein bester Freund ist Leutnant bei der Fliegerabwehr.«

Anna prustete: »Das glaubst du ja selbst nicht, … dein Vater hat dich auf den Arm genommen.«

Hagen wurde weiß im Gesicht.

»Du hast keine Ahnung, aber gar keine, von gar nichts hast du eine Ahnung! Ich werde es dir beweisen. Heute Nachmittag um eins. Bei der alten Scheune auf dem Feld im Großen Moos. Wenn du kein Feigling bist, kommst du. Von jemandem wie dir lasse ich mich nicht einen Lügner nennen!«

Meli wartete nach Schulschluss bereits vor dem Tor auf Anna. Es schneite nur leicht, aber es war deutlich kälter geworden. Ein zügiger Wind ging. Die beiden zogen die Kapuzen ihrer Parkas über die Köpfe und liefen rasch los.

Als sie beim Hospiz zur Heimat vorbeikamen, segelte ihnen ein Blatt Papier vor die Füße. Anna hob es auf und schaute an der Schindelfassade hoch. Im ersten Stock fluchte jemand und die rauchende Silhouette eines Mannes verschwand aus dem Fensterrahmen.

Meli lugte über ihre Schulter.

»Das ist ein Fax. Wer benutzt heute denn noch so was?« Anna zuckte die Schultern und las sich das Rezept durch, das darauf stand. Ein italienisches, wie es schien. Eine E-Mail-Adresse war von Hand hinzugefügt.

»Ich gebe es eben drinnen ab«, sagte sie, faltete das Papier und sprang die drei Stufen zum Hospiz hinauf.

Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an das dämmrige Licht in der Gaststube zu gewöhnen.

»Ich glaube, du hast da etwas, das mir gehört.«

Ein Mann in einem noblen Anzug streckte Anna lächelnd die Hand entgegen.

»Vielen Dank, dass du es für mich gerettet hast. Darf ich dich nach deinem Namen fragen?«

Trotz des freundlichen Tons beschlich Anna ein mulmiges Gefühl und schlagartig begann ihr Kopf zu schmerzen. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Anna.«

»Ein hübscher Name. Auf dem Heimweg von der Schule?« Anna nickte und wandte sich zum Gehen. An der Türe drehte sie sich noch einmal um. Der Mann sah ihr mit schmalen Augen hinterher, während er das Fax in den Händen drehte.

Auf der langen Geraden Richtung Hübeli verzichteten Anna und Melanie auf das übliche Vergnügen, mit ihren Schuhen über den neuen Schnee zu gleiten. Zu kalt war es geworden. Sie mochten deshalb ihre Hände, trotz Handschuhen, nicht aus den Manteltaschen nehmen. Anna ging der Mann aus dem Hospiz nicht aus dem Sinn. Noch nie hatte der Kontakt mit einem Menschen einen solchen Druck in ihrem Kopf ausgelöst. Dieser Italiener verkörperte etwas Unheimliches, etwas Böses, das hatte sie gespürt. Beim Verlassen der Gaststube war dann auch sofort der Kopfschmerz verschwunden. Egal, sie würde ihm nie wieder begegnen. Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken und schaute Melanie von der Seite her an.

»Stell dir vor, Meli, Hagen glaubt, dass die Sternschnuppe eine Art Bombe oder so was vom Militär gewesen sein soll. Um eins soll ich zur Scheune kommen, dann will er mit mir in den Forst und es beweisen.«

»Du gehst doch nicht etwa hin?« Melanies Augen weiteten sich und sie warf einen Blick auf die tiefgrauen Wolken, deren Bäuche beinahe die Baumwipfel streiften. »Du weißt doch, heute Nachmittag kommt dieses Monster von Schneesturm!«

»Natürlich gehe ich nicht hin. Das mit dem Treffen hat der sowieso nicht ernst gemeint. Dafür hat der zu wenig Mumm. Der war nur beleidigt.«

Melanie atmete auf.

»Der ist eh doof. Wir sehn uns morgen auf dem Schulweg, falls wir nicht eingeschneit werden.«

Wie zur Bestätigung segelten die ersten Schneeflocken vom Himmel und Anna verschwand schnell im Haus. Rhea wartete bereits auf sie.

»Hör mal, mein Schatz, ich fahre um eins ins Einkaufszentrum. Gestern ist der ganze Christbaumschmuck zerbrochen, als der Meteor über das Haus gerast ist. Willst du mit?« »Lieber nicht, ich möchte noch etwas in meinem neuen Buch lesen. Es ist spannend.«

Ihre Mutter wuschelte ihr durchs Haar und lachte.

»Wie kann man Platon spannend finden?« Dann wurde sie ernster. »Wenn der Sturm zunimmt, dann mach bitte alle Fensterläden zu und pass auf, dass Django das Haus nicht mehr verlässt, ok?«

Freitag, 11. Dezember, 0:16 Uhr, New York, Manhattan,Hyatt Herald Square, 30 West 31st Street,15. Stock, Zimmer 1502

Sie blickte den Tower des Empire State Buildings hoch. In dieser Nacht leuchteten der Metallmast und die beiden obersten, zurückversetzten Gebäudeteile nur rot. Blutrot. Rot wie die Liebe, hätte man sagen können. Sentimentaler Quatsch, hätte sie gesagt. Gefühle seien etwas für Schwächlinge und Looser. Manche Manager, die sie hinter sich gelassen hatte, waren der Ansicht, sie würde über Leichen gehen. Auch das war ihr egal. Es gab nur einen Weg. Und der führte nach oben. So auch jetzt bei der Gazzo Valde Oil & Mining Trust Company, ein Konzern, der von der Organisation gegen den Willen des früheren Managements und der Belegschaft übernommen worden war. Zehntausende verloren danach ihren Job. Einige nahmen sich ihr Leben. Sie warf ihr blondes langes Haar in den Nacken. Sie wusste, dass sie sehr gut aussah und sie achtete sorgfältig darauf, dass das so blieb. Doch das war nicht ihre einzige Waffe, wenn es darum ging, etwas zu erreichen. Ihr war jedes Mittel recht. Wirklich jedes.

Jim Morrison forderte sie aus dem anderen Hotelzimmer auf, sich anzuschauen, was wir der Welt angetan hätten.

Rivulet hob die linke Augenbraue. Sie fand Musik etwa gleich nützlich wie Stützstrümpfe. Verächtlich atmete sie aus und drückte ihren Daumen auf den Abdrucksensor ihres Smartphones. News. Das Fenster des News Tickers der Financial Times poppte auf. Headline: 137 stocks hit fresh 52-week lows on NSE. An der New Yorker Stock Exchange, der größten Wertpapierbörse der Welt, hatte sie das meiste Geld angelegt. Sie hielt nichts von gemischten Portfolios zur Risikoabsicherung. Und diesen Knick konnte sie verkraften. Trotzdem ärgerte sie sich. Sie warf das Smartphone auf einen der Koffer, die auf dem Bett lagen. Das Zimmertelefon läutete. Unwirsch nahm sie ab. Sie hatte auf etwas anderes gewartet.

»Ja, was ist?«

»Miss Rivulet, Liv Rivulet?«

»Machen Sie es kurz, um was geht es?«

Kyle, der Night Manager, antwortete höflich:

»Ich erlaube mir nur anzufragen, ob das Zimmer zu ihrer Zufriedenheit …« Der Director kam nicht weiter. Rivulet schnauzte ein »Yes« in den Hörer und hängte auf.

Ihr primäres Geschäft waren Verhandlungen. Schwierige Verhandlungen mit schwierigen Verhandlungspartnern. Die letzten Wochen waren hart gewesen. Hart für die anderen, nicht für sie. Ihr eben erledigter Auftrag, die Geschichte in Valosio, hatte für die US Administration ein befriedigendes Ende gefunden. Kein Mensch wollte und brauchte einen geschützten Naturpark. Und wegen den paar ollen Indianerrelikten auf dem verdorrten Gelände und den wenigen dort noch lebenden Indianern machte sich auch kein Mensch einen Kopf. Und dennoch regte sich Widerstand gegen die massive Verkleinerung des Nationalparks. Widerstand einer Minderheit zwar, aber einer, die dem amerikanischen Präsidenten gefährlich werden konnte, wenn man die Nörgler nicht mundtot machte. Als Erstes hatte sie einige Public-Relations-Kampagnen lanciert: Amtsmissbrauch und Landraub durch den vormaligen Präsidenten, Statements von führenden Wirtschaftsweisen zur Nicht-Schutzwürdigkeit der Altertümer. Und zum wirtschaftlichen Potenzial, zu den Bodenschätzen des Parks, der Schaffung neuer Arbeitsplätze, dem Aufschwung der Region usw. Der Protest in gewissen Bevölkerungskreisen flaute ab. Einige Indianerstämme, Hopi, Zuñi, Navajo etc., hopsten irgendwo einen Protesttanz. Weitere Demonstranten gesellten sich zu ihnen. Rivulet organisierte Gegendemonstrationen für den Präsidenten. Dann ließ sie Fake News und manipulierte Reportagen verbreiten. Bestechung der Redaktionen, Zeitungen, Radios, TV-Stationen. Umweltverbände und die Indianerstämme drohten, das amerikanische Oberhaupt vor Gericht zu ziehen. Dem war das egal, der wollte den Millionen Quadratkilometer großen Nationalpark wirtschaftlichen Interessen zugänglich machen. Das Bureau of Land Management würde den Park zerstückeln und die einzelnen Gebiete an die Öl- und Gasförderungskonzerne verpachten. Gazzo Valde würde den Löwenanteil erhalten. Und sie, Liv Rivulet, Head of Special Services, würde auch nicht zu kurz kommen. Sie lächelte zynisch. Was scherten sie heilige Indianerländer, Petroglyphen, Steindörfer, Landdenkmäler, Biodiversität, Fossilien und so ein Scheiß? Nichts. Sie hatte das Problem gelöst, auch wenn sie dazu die Hilfe einiger Partner in Anspruch hatte nehmen müssen. Es flossen Geld und Blut. Der Präsident konnte den Erlass unterzeichnen. Klage wurde nicht eingereicht. Das Weiße Haus ließ ihr seinen persönlichen Dank ausrichten. Das erfüllte sie mit einem gewissen Stolz.

Vor kurzem wurde ihr mitgeteilt, der Präsident habe ein Problem mit jemandem, der zu viel Lärm mache. Die Angelegenheit sei delikat, da es sich um eine bekannte Persönlichkeit handle. Man werde sich melden.

Ein Ping kündigte eine E-Mail auf ihrem Smartphone an. Rivulet las die kurze Zeile mit den Zahlen:

AS1.AMN2/1408/1230/1412/47.367301/8.539358/.

Dann bestellte sie einen Bellman, der ihr Gepäck in die Lobby bringen sollte. Der Fahrer der Organisation wartete bereits auf sie.

Freitag, 13. Dezember, 14:25 Uhr,Myanmar, Yangon

32 Grad. Wolkenloser Himmel. Verkniffen betrachtete der buddhistische Abt Phuu Asara des Klosters Aadhamm das Fax in seiner Hand. Es bedeutete Stress und Aufregung. Dinge, die er hasste.

Der klimatisierte Toyota kam vor dem Eingang des Kan Taw Mingalar Garden zum Stillstand. Er bedeutete seinem Chauffeur zu warten und schlenderte am See entlang. Der Pavillon auf der künstlich angelegten Insel war leer. Er würde der Erste sein. Das war gut so.

Der Park mit seinen großen Rasenflächen, Palmen, Kasuarinen, Kautschuk- und Hibiskusbäumen und den kleinen Seen war bei der einheimischen Bevölkerung beliebt. Viele lächelten ihm im Vorbeigehen zu. Ein Junge drückte ihm Geld in die Hand. Zum Zeichen, dass er das Almosen annahm, schlug er ihm mehrmals sanft mit dem Schein auf den Kopf und intonierte einen kurzen Singsang.

Er ging über die Fußgängerbrücke und setzte sich in den offenen buddhistischen Säulen-Pavillon. Der frühere, mehrstufige asiatische Pavillon hatte ihm besser gefallen. Aber im Grunde war es egal, denn aus seiner Sicht diente Religion nur einem Zweck: Um die Naiven, die an Buddha, Jesus, Mohammed oder Vishnu glaubten, um ihr Geld zu bringen.

Als der Kopf seines Amtskollegen Ihu Moneaus, Abt des Klosters Maungdaw, über dem Brückenbogen auftauchte, stand er auf und kam ihm entgegen. Asara und er umarmten sich herzlich.

Ihu führte seit Jahren einen erbarmungslosen Krieg gegen die Minderheit der Rohingya in Rakhine. Westliche Zeitungen nannten ihn »Birmas Bin Laden«. Er nutzte nicht nur Predigten und soziale Medien, um die Bevölkerung und das Militär gegen die staaten- und rechtlosen Rohingya aufzuwiegeln. Ein Bericht von Amnesty Worldwide dokumentierte eine Vielzahl von Verbrechen gegen die Muslime, die das Militär verübt hatte und hinter denen Ihu steckte: Vertreibungen, Verschleppungen, Folter, Vergewaltigungen und sexuelle Nötigung. Moscheen wurden niedergebrannt. Seit einiger Zeit verfolgte er eine neue Strategie. »Unkrautvertilger« nannte er die Droge Yaba, mit der er Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene der Rohingya süchtig machte.

Freitag, 13. Dezember, 9:08 Uhr,Cappellen, Hospiz zur Heimat

Vicedirettore Gabriele ging in seinem Zimmer hin und her. Ein dilettantischer Fehler, dass ihm das Fax aus dem Fenster geweht war. Sein Blick fiel auf die halbvolle Zigarettenschachtel. Kopfschüttelnd zerknüllte er sie und warf sie in den Mülleimer.

Er hatte versucht, mit Partner Nr. 2 der Schweiz Kontakt aufzunehmen, aber noch keine Antwort erhalten. Als er gerade seinen Laptop ausschalten wollte, kam ein Fax von Seth, dem Boss der Bosse, an. In der Mitteilung stand:

WW1.AS1.AUS1.AMN1.AMS1.AFR1.CH1.CH2.AMN2.

AS7./BC/1230/1512/46.955691/7.337825/.

Nachdem er es decodiert hatte, schaute er verblüfft auf. Jetzt musste er erst recht in Cappellen bleiben. Er ging in die Gaststube und fragte Paul Lüthy, ob er das Zimmer zwei weitere Nächte behalten könne.

Noch an der Rezeption klingelte sein Handy. Nummer 2. Er fragte als Erstes:

»Glauben Sie wirklich, dass sich das Mädchen die E-Mail-Adresse gemerkt hat?«

»Sie wissen, wie der Umgang mit solchen Problemen aussieht«, erwiderte Alfonso Gabriele, »zudem ist da ja noch das Rezept. Wer sagt, dass sie es nicht mit ihrem Handy fotografiert hat?«

»Das erscheint mir sehr unwahrscheinlich. Und es war ja nur eine temporäre Adresse, die mittlerweile nicht mehr existiert. Ich glaube, man kann mal eine Ausnahme …«

»Nein«, unterbrach ihn Gabriele in scharfem Ton, »Policies müssen eingehalten werden. Haben Sie ein Problem damit?« Nummer 2 schluckte.

»Nein, nein, durchaus nicht. Natürlich bin ich Ihrer Meinung. Ich dachte nur, man sollte nicht zu viel Aufsehen erregen. Aber Sie haben recht. Die Geschichte wird umgehend erledigt. Ich sende eine verschlüsselte E-Mail an den Jäger.«

»Gut. Geben Sie mir Bescheid. Apropos, ist der Frachtführer schon in Berno eingetroffen?«

»Er müsste eigentlich, ist es aber nicht. Das letzte ›Fracht OK‹ kam nach Überquerung der Schweizer Grenze, vom Colle del Gran San Bernardo. Ich habe ihn schon ein paar Mal zu erreichen versucht. Ergebnislos. Vielleicht wegen der prekären Wetterverhältnisse …«

Gabriele unterbrach ihn:

»Ok, bleiben Sie dran und schaffen Sie die Probelieferung her.« Dann hängte er grußlos auf.

Kurze Zeit später hatte Gabriele die finale Analyse zum Drogenmarkt Europa fertiggestellt. Die Schweiz konnte man problemlos überschwemmen. Das Marktvolumen betrug jährlich 3 Milliarden Schweizer Franken. Mit 520 Millionen Kokain war die Organisation Marktführer. Gefolgt von MDMA, auch Molly genannt. Dann Amphetamine, hergestellt von Amateuren in kleinen Laboren in Osteuropa. Die schmale Konkurrenz würde man terminieren, die Marktpenetration ein leichtes Spiel. Weder hatte die Polizei in der Schweiz die notwendigen Kapazitäten und Ressourcen, der Welle an billigen Drogen rasch und effektiv zu begegnen, noch war die Gesetzgebung besonders hart. Es war ein bombensicheres Geschäft in der Schweiz, ein 30 Milliardengeschäft in Europa.

»Wenn das mich nicht zur Nr. 1 in Europa macht …«, murmelte er im Selbstgespräch.

Freitag, 13. Dezember, 14:45 Uhr,Myanmar, Yangon

Schon der kurze Spaziergang hatte Asara Unwohlsein verursacht. Er strich sich mit der rechten Hand über seinen feisten Wanst. Die Party der letzten Nacht hatte es in sich gehabt. Die am Tage zuvor ebenso.

Als Senior Director des Goldenen Dreiecks Myanmar, Thailand, Laos konnte er sich alles leisten und alles erlauben. Sein liebster Kumpan bei seinen Exzessen war Ihu, der Vice Director. Schade nur, dass sie sich aufgrund 600 km Entfernung nur alle paar Monate treffen konnten.

Heute musste es erst einmal ums Geschäftliche gehen. Vielleicht hatten sie danach noch kurz Zeit für ein paar minderjährige, zugedröhnte Nutten aus einem seiner Bordelle.

Von seinem Boss, Andrej Pushka, hatte er im Sommer eine verschlüsselte E-Mail erhalten. Er war alles andere als zufrieden mit dem Absatz von Yaba. Das Produkt laufe, im Unterschied zu Krokodil, überhaupt nicht. Der Umsatz in sämtlichen Ostblockstaaten sei absolut ungenügend. Das Problem sei, so hatte Ihu damals eingewandt, dass die Pillen zu bitter schmeckten und deshalb von Kindern und Jugendlichen nicht so angenommen würden. Er hatte versprochen, das Experimentallabor würde eine Lösung finden. Ihu schüttete die modifizierten Pillen auf Asaras Handfläche. Sie sahen aus wie Smarties. Nicht nur der Geschmack war verändert worden, sondern man hatte der Droge zusätzlich poppige Farben verpasst. Es gäbe sie in den Geschmacksvarianten Schokolade, Orange und Erdbeere, aber man werde sie weiter ausbauen, versprach der Mönch.

Asara lobte Ihu für den Durchbruch und fuhr fort:

»Heute habe ich Anweisung bekommen, die Yaba Produktion raufzufahren. Nach der Markteinführung in der Schweiz soll ganz Europa überschwemmt werden.«

Ihu rieb sich die Hände.

»Eine erste Einführungstranche habe ich bereits via Genua spedieren lassen.«

Ein Junge trabte über die Brücke auf sie zu und blieb unschlüssig stehen, als er sie erblickte. Asara winkte ihn heran. »Wenn das nicht der nette Bub ist, der mir eben ein Almosen gegeben hat. Hier, nimm dir als Zeichen meines Dankes ein Smartie.«

Mit einem Lächeln hielt er ihm die Handfläche entgegen.

Freitag, 13. Dezember, 13:40 Uhr,Cappellen, Weiler Hübeli

Als das Handy vibrierte, war Anna gerade in »Menon«, ein Werk über den fiktiven Dialog von Platon und Menon von Pharsalos, vertieft. Großvaters Bild lachte ihr auf dem Display entgegen. Obwohl der Gymnasiallehrer seit einigen Jahren pensioniert war, betreute er noch immer umtriebig Projekte für den Verband der Schweizer Gymnasiallehrer und so kam er auch gleich zur Sache:

»Hallo Anna, alles klar?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, redete er weiter:

»Hör mal, der Verband will die Reihe ›Jugend ohne Maulkorb‹ nächstes Jahr fortsetzen. Der Vorstand möchte dich wieder dabeihaben, was meinst du?«

Anna lachte und erwiderte:

»Hallo Opa, mir geht es gut und dir?«, und gab ihm genauso wenig eine Gelegenheit zum Antworten:

»Ja, hat mir gefallen letztes Mal. Wie viele Podiumsdiskussionen sind geplant?«

»Neun in der gesamten Deutschschweiz.«

»Und die Themen?«

»Das Motto der Reihe heißt ›Der Mensch ohne Zukunft?‹. Dazu möchte der Vorstand drei Themen aufgreifen, nämlich 1. Psychologie der Weltanschauungen; 2. Ökologische Herausforderungen und Wirtschaftspolitik; 3. Arbeit und digitaler Wandel.«

Anna pfiff.

»Ganz schöne Herausforderung. Da werde ich mich gut vorbereiten.«

Großvater lachte. »Na, das hast du doch in fünf Minuten drauf.«

»Aber Opa, ich bin doch kein Wunderkind!«, protestierte Anna.

»Rhea hat mir gesagt, die würden dich direkt an der Uni nehmen.«

»Ja, schon. Aber die Schulpsychologen meinten, ohne Ritalin würde ich das nicht schaffen. Aber ehrlich gesagt, ich will mich nicht mit Medikamenten zudopen, nur damit ich das Gymnasium überspringen kann. Ich will auch keine Ausnahme sein. Alle machen das Gym. Warum ich nicht?«

Großvater lachte erneut. »Na, wegen deinem IQ.«

Er wurde ernst.

»Ich bin ganz deiner Meinung, Anna. Ich glaube auch, es ist gesünder so. Du hast Zeit genug. Das mit dem Sturm habt ihr mitbekommen?«

Anna grinste. »Ja, wenn Mam zurück ist, verbarrikadieren wir uns.«

»Dann muss ich mir ja nur Sorgen machen, dass euer Haus nach Oz geblasen wird. Also bis bald, ich melde mich.«

Als Anna aufhängte, knallte ein Schneeball gegen ihre Fensterscheibe und rutschte daran herunter.

Vor dem Haus stand Hagen, fuchtelte mit beiden Armen und rief etwas Unverständliches hoch. Anna öffnete das Fenster:

»Was willst du?«

»Ich habe auf dich gewartet, wir hatten um eins bei der Scheune abgemacht.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich komme.«

»Du bist feige! Hast Angst vor ein paar Schneeflocken.«

»Angst?«, Anna schüttelte verächtlich den Kopf. »Ich bin nicht gekommen, weil es mich null interessiert. Verstehst du? Null!«

Hagen verzog das Gesicht.

»Weißt du, mir war von Anfang an klar, dass du feige bist. Deshalb habe ich auch mit Leon um zwanzig Stutz gewettet, dass du die Hose voll hast und nicht kommen würdest.«

Das Blut wallte heiß in ihren Kopf. Ausgerechnet Leon! »Aber Leon hat gemeint: ›Die Anna steht zu ihrem Wort.‹ Der wird morgen dumm gucken, wenn ich bei ihm abkassiere.«

Annas Finger verkrampften sich im Fensterrahmen. Auf einmal war ihr schwindlig. Leon hielt etwas auf sie! Aber nur wenn sie …

Sie knallte das Fenster zu, lief die Treppe hinunter, zog sich ihren Parka über und trat in das dichte Schneetreiben.

»Dann zeig mir deine Militärbasis im Wald, du Aufschneider.«

Sternenhagel

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