Читать книгу Richtig gewaltig und gewaltig falsch - Daniel Karl Göhler - Страница 2
Von der Freiheit der Großstadt...
ОглавлениеGroße Augen machte ich, als ich die Breite der Straßen beim Überqueren anhand des Schreitens des Sekundenzeigers meiner Uhr messen konnte. Große Augen machte ich vor dem größten Restaurant, das ich jemals betreten hatte und mich plötzlich in Kambodscha zu befinden. Unauffällig bediente ich meine kleine Stabkamera um das festzuhalten, das manchmal an der Inakkuranz der Wörter scheitert. An einen der längsten Tische, die ich mir nie im Leben hatte vorstellen wollen, setzte ich mich. Meine Augen suchten aus Neugier den letzten Gast am Ende dieses Tausendbeinigen und nahmen eine kleine Figur wahr, die man wie die große Sonne am Himmel mit nur einem Finger abdecken konnte. Die Höhe der Decke sprach Bände über die ehemalige Verwendung dieser Gewölbe, in denen man einst Zeppeline zusammen montierte. Bis die große Pleite dieser Branche den Gar ausmachte. Sie stand nicht lange leer und wurde zu einem Spottpreis verkauft. Herr Chey und seine große Familie legten zusammen und machten daraus die weltgrößte Khmer-Kitchen der nördlichen Hemisphäre. Nachtisch?
Wieso einen Nachtisch? Warum ich keinen Hauptgang wolle. Wieso ich von so weit käme und dann mit dem Letzteren begänne? Es passte nicht in das Weltbild des Kellners, der meine Bestellung aufnahm, dass ein Gast einfach nur „phaem“ möchte. Die grenzwertige Nötigung, etwas „troemotrauv“ (etwas „Richtiges“) zu bestellen, war lieb gemeint, denn eigentlich hätte ich mich an all diesen Hauptgerichten laben sollen, doch mein Auftrag war ein anderer. Das Dessert, das man mir auftischte, war lächerlich groß und überhaupt verstand ich nicht, wie die herum wuselnden Kellner so viele dieser riesigen Teller zuerst zum Bersten voll und schließlich leer übereinander gestapelt zum Abwasch balancieren konnten. Am Tisch herrschte striktes Rauchgebot. Hausrecht; „Schließlich befinden wir uns Land der Freien!“, blies ein werter Herr Ringe aus Rauch gen die Deckenventilatoren, die sie niemals erreichen sollten. Zwischen den untiefigen Suppentellern – abgeleitet von „Untiefe“, was laut Duden ein anderes Wort für „große Tiefe“ ist – hatte man auf dem Tisch muldige Vorrichtungen eingearbeitet, in welchen alle zwei Meter Aschenbecher auf ihren Lohn warteten. Sie füllten sich nie, da eifrige Helfer dafür sorgten, dass sie alle zwei Minuten entlohnt wurden. Entleert. Ich erinnere mich daran, wie dieser Helfer immer wieder etwas sagte, das sich in meinen Ohren wie „Lohn“ und „Entlohnt“ anhörte, aber sicherlich etwas völlig anderes bedeutete. Die Rechnung war lächerlich klein gehalten und wirkte nahezu winzig im Vergleich zu diesem riesigen Gaumen- und Augenschmaus. Solch eine Nachspeise in all ihrer phantastischen Dekoration, befand sich in der Liga des Weltkulturerbes. „Das Auge isst man bekanntlich hier mit!“, lachte ein anderer Mann gegenüber von mir, darauf anspielend, dass ich als nüchtern wirkender Schreiberling doch bestimmt auf eben diesen exotischen Details scharf wäre. Nein, bin ich nicht. Seriöse Fressen-Presse. Böse Zungen mögen behaupten, dass die Verköstigung von Getieren aller Art auf den Hungersnöten basiert, die von der damaligen Kulturrevolution verursacht wurden. Alle und alles gleich – wortwörtlich. Alle 1,70m, alle 65 kg, alle denselben Haarschnitt und dieselbe Kleidung, alle das gleiche Essen und Trinken. Der Wahnsinn, dem nicht nur Millionen Menschenleben zum Opfer gefallen waren, hatte logischerweise kein Mitgefühl für die so mannigfaltige Küche des Landes, dass nach den Jahren der Unterdrückung aus Ruinen wieder entstanden war. „In der Stunde Null sollte die Erinnerung an die Vergangenheit für immer gelöscht werden, doch die Köstlichkeiten dieses Restaurants beweisen das Versagen dieses Planes.“ Diese Worte sollten nicht in meinem Artikel fehlen, doch wurden sie von oberster Stelle gestrichen. Aha. Geschichtliches passe nicht in das Konzept, hieß es. Aha. Informiert sei ich gut, meinte mein Gegenüber trocken und bot mir einen Schluck Wein aus einer wunderschönen Karaffe an. Kambodschanischer Rotwein? Ja, so ähnlich. Schmecke so ähnlich. Was es denn sei? Tukatonle. Tukantonle? Bis heute habe ich nicht herausfinden können, was in aller Welt das war, aber obendrauf ist es egal, denn ich bin mir sicher, dass die Gaumen unserer Leserschaft daran keine Freude haben werden und unser Kodex verbietet es uns, Lebensmittelkreationen durch den Dreck zu ziehen. Mein Dessert war unbeschreiblich köstlich. Ein Kunstwerk weit unter Wert verkauft – so hätte es auf Kambodschanisch heißen sollen, doch man hielt sich übertrieben bescheiden: ផ្អែម( süß ). Durch die große Eingangstür verließ ich das Restaurant und bemerkte, dass dieser Begriff solch einen Essenstempel nicht gerecht wurde. Essenstempel klingt zu clichéhaft, passt aber ebenso wenig wie „Restaurant“. Ich wollte ein Foto von dem noch namenlosen machen und überquerte dazu die breite Straße, dabei die zuvor berechneten Sekunden zählend. Die Distanz war nicht genug. Weitere Zentimeter musste der Sekundenzeiger wandern um das Foto zu schießen, das den gesamten Bildschirm meiner Kamera ausfüllte. Klick. Ein kleiner Klick für mich, ein großer für die Menschheit, denn es sollte später hoch geladen und prämiert werden und dem Laden zu internationaler Berühmtheit verschaffen.
Ich schrieb auf, was ich erlebt hatte. Neben den großen Attributen, notierte ich auch die großen Geschmäcker, dessen Ursprung man mir nicht immer genau erklären konnte. Ich recherchierte zum ersten Mal im Bereich Gastronomie, und wie es mit den allerersten Malen zu ist, ward mir das Anfängerglück hold. Ich telefonierte mit meinem Redakteur und sagte ihm, dass ich das Material für meinen Artikel – samt der klandestinen Fotos – fertig hätte und sie ihm noch vor Abgabetermin senden könnte. Aufgrund eines unerklärlichen Softwareproblems verzögere sich der gesamte Publikationsablauf der nächsten Auflage bis auf weiteres und ich solle mich darauf einrichten, noch einige Tage vor Ort zu bleiben und einfach „eine gute Zeit haben“ - sagte er mit dem breitesten US-amerikanischen Akzent, der jemals von einem Menschen gesprochen wurde. Gesagt, getan. Stress-frei zog ich weiter durch die schier endlosen Straßen, deren Enden tatsächlich nicht einmal mit dem Zoom der Kamera zu erkennen waren. Die Stadt war hügelig, wenn auch direkt an der Küste gelegen und in ihrem Großteil auf Meereshöhe angelegt. Einige Straße und Viertel trugen in ihren Namen den Wortteil „Hügel“ oder „Höhen“ und gleichsam gingen sie über in „Amsterdam“ und „Flatbush“ und sich somit lingual konträr gegenseitig auflösten. Trotzdem konnte ich nicht das Ende der Straße sehen, an der ich entlang lief. Der Zeiger auf meiner Uhr zeigte an, dass die große Masse der Menschen nun schon zu Mittag gegessen hatte, dennoch passierte ich unzählige kleine und größere Imbisse, in denen gemampft und geschlürft wurde.
„Die Fotos zeichnen sich durch ihre Vermittlung des Genusses aus.“ - kommentierte man später die aus meiner Hüfte heimlich hecken-geschossenen, festgehaltenen Augenblicke. Groß ist der Appetit dieser Stadt. Sie konsumiert dich so, wie du sie konsumierst. Sie macht dich fett, wenn du dich gehen lässt oder zu einem Muskelprotz, dessen Lebensinhalt den Fokus auf die körperliche Perfektion gelegt hat und ebenso süchtig ist, wie der apathische Konsument von Essen auf Rädern, der sein Apartment nicht mehr verlässt und sich vor der Stadt versteckt, während der andere seine Funktion als der ständig von der Stadt Gesehene erkoren hat. An einem Tisch sitzen sie und genießen ein Cheese-Steak. Das größte, das man vor Ort bestellen kann. Kalorien zählen nicht, sondern der Genuss. Der eine aus Gründen, die er mit niemandem teilt und sie höchsten nachts den Wänden seiner von einer Sicherheitstüren gesicherten Wohnung erzählt, der andere öffentlich zur Schau stellend, dass sein Körper diese Unmengen an Energie im Null-Komma-Nichts umsetzen kann und muss. Gainz. Gainz. Gainz. Zwei Welten an einem Tisch, vereint für den Moment, bei Rechnung getrennt und niemals auf einem gemeinsamen Nenner. Wozu auch? Die Stadt gibt jedem seine Nische. Dem Gleichheitswahn bietet sie das Gegengewicht des Individualismus, welcher weltweit immer mehr abnimmt. Auf lokaler Ebene muss er wieder vorangetrieben werden, denn „Diversität ist Stärke“ - Einheitsbrei ist nur vorübergehend eine Lösung, wenn einem der Magen knurrt und nichts anderes da ist. Diese Worte würden nicht in den Artikel passen, sagte man mir, da die Leute einfach nur über das Khmer-Kitchen lesen möchten und keinen Hunger auf Tiefgründiges hätten. Ich blieb dabei und das Ende vom Lied war die Zensur. Tja. Man hatte mich ja im Vorfeld gewarnt. Großer Mist, wenn man in seiner Meinung beschnitten wird und großer Mist, dass man hin und wieder mitmacht, da man dank des es-sich-verkneifens mit Devisen belohnt wird, die man zum Überleben braucht. Die Schere im Kopf zur Selbstzensur zahlt sich aus. Von welcher großen Wichtigkeit die Frage ist, warum wir – die Menschen – die einzigen Lebewesen auf dem Planeten sind, die für die Erhaltung ihrer Existenz bezahlen müssen (in bar, per Karte oder durch staatlich verordnete Verpfändung), schaffte es ebenfalls nicht in den Artikel über das größte Namenlose „Khmer-Kitchen“ im Land der unbegrenzten Möglichkeiten für die Träumer. Ich lief diese eine von vielen nie zu ruhende Ader der Stadt weiter und kam schließlich aus dem Betondschungel zu einer grünen Oase, die von ihrer Größe her locker eine weitere Großstadt des alten Kontinents beherbergen konnte. Zeit und Größe sind stets relativ und Vergleiche kann man nur begrenzt als Werkzeug der Verdeutlichung benutzen. Es war der größte Park innerhalb einer Großstadt, den ich jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Ein großes schwarzes viktorianisches Eisentor hieß die Menschen willkommen, die der Stadt entfliehen wollten und denen es nach Natur lechzte. Und mit einem Schritt war dies möglich. Das einzige, das an die allgegenwärtige Präsenz der modernen Großstadt erinnerte, waren die versteckten Überwachungskameras in den Wipfeln der Bäume und in den dichten Gebüschen am Rande des steinigen Weges, der hin zu einem See führte. Wie wäre es wohl in der Welt, wenn die Idee eines All-sehenden von den Menschen verinnerlicht wäre und sich nicht auf bedeutungslose Lippenbekenntnisse stützte? Bräuchte man dann all diese Augen, die einen ständig beobachten? Oder ist die größere Idee dahinter, dass der Mensch das Konzept einer all-sehenden und allwissenden Entität, die eines Tages jede einzelne Seele zu Antwort und Rede stellt, endgültig aus dem Geiste verdrängen will? Diese Agenda der ewigen Rebellion gegen das fundamentale Konzept, die stets zum Scheitern verurteilt ist, beschrieb James Weldon Johnson 1927 sehr treffend: „Your arms are too short to box with God.“ Kann der Mensch nicht anders, seitdem er die Freiheit erlangt hat? Muss er den Konflikt suchen, um sich seiner Freiheit immer wieder bewusst zu werden? Fragen wie diese kommen einem nur, wenn man seiner Zeit freien Lauf lässt. Die Gedanken wandelnd lassen, erblickte ich einen großen Apfelbaum inmitten einer von Menschenhand angelegten Aue und davor ein Schild, das einem den Zutritt verwehrte. Eine kleine Eisenschnur umrahmte weiträumig dieses Gebiet und meine Kamera hielt die vielen Menschen entlang dieser Grenze fest. Ich erwischte mich dabei, wie auch ich ein Auge für dieses Hindernis bekam und mit dem Gedanken spielte, vom Baum her wohl einen besseren Ausblick zu haben. Weitere Vorwände fielen mir ein, um das eine klitzekleine Verbot zu umgehen, bzw. zu brechen.
Die Geschichte von Adam und Eva erinnert uns daran, dass wir ein nahezu hoffnungsloser Fall sind. Beide hatten im Paradies alles, was sie zum Leben brauchten und sie hatten nur eine einzige Regel zu beachten, doch diese einzige Regel war doch eine Regel zu viel. Ich erinnere mich, das Summen des Zooms einer der Überwachungskameras zu hören. Der Ort wurde streng überwacht und jeder Verstoß gegen das Verbot wäre innert weniger Minuten geahndet worden. Sind wir nur dann „gut“, wenn es zu fürchtende Konsequenzen gibt? Und wie ist es mit der Auslegung von „gut“ und „schlecht“? Ist ein Duriam-Eintopf nun definitiv lecker oder nur etwas für harte Mägen? Ist es der Gaumen Wert, sein Leben für gedünsteten Kugelfisch aufs Spiel zu setzen? Ist es gerechtfertigt einem Galaessen im Rahmen einer Veranstaltung gegen den Hunger in der Welt beizuwohnen? All diese Gedanken machten es ebenfalls nicht in den Artikel über die kambodschanische Küche. Zurecht. Oder zu unrecht? Müssen wir immer nur das schreiben, was die Leserschaft verlangt oder sollten wir sie herausfordern zu etwas Anspruchsvollerem, das über die eigentliche Thematik hinaus geht? Denk an die politische Korrektheit! - Ach ja, der Ansatz muss stimmen. Problemlos können wir in unser Magazin eine blasphemische Karikatur einfügen, Werbung machen für die „Karriere“ im Militär oder auch mal eine Werbe schalten für ein besonders günstiges Leihmutterschaftsinstitut, doch das wir uns auf intellektuell-kritischer Basis mit dem Themen auseinandersetzen, das können wir nicht machen. - Ich habe das Geschäft nicht erfunden. Hate the game, not the player. - Friss, oder stirb? - Wenn du den Job nicht mehr willst, gibt es da draußen eine jede Menge Anwärter. - Dann fresse ich, auch wenn's fürchterlich schmeckt. - Das nenne ich Sportsgeist. Aha. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass man unmöglich so viel essen kann, wie man manchmal kotzen möchte.
Letztendlich brach ich nicht das Verbot und ließ den Baum und all die Menschen, die sich entlang seiner Grenzlinie aufhielten, hinter mich. Ich wollte nicht aus diesem Park fliegen, sondern ihn mir in seiner Fülle ansehen. Er erschien mir wie eine Oase in der Wüste. Wie etwas, das man irgendwie nicht erwartet hätte. Wie etwas, das man findet ohne gesucht zu haben. Ich kam an einem See an, auf welchem viele Ruderboote planlos hin und herfuhren. Das andere Ufer war in Sichtweite und besonders tief schien das Wasser nicht zu sein. Ich setzte mich auf den Boden, zog meine Schuhe aus und kühlte meine Füße im lauen Wasser des Sees. Die große Sonne spiegelte sich in ihm und blendete mich. Eine Stimme aus mir unbekannter Richtung sprach mich an. Sie bot mir einen Salat an. Feldsalat. Eisberg. Ruccula. Auf was auch immer ich Appetit hätte. Ich verstand es nicht. Die Stimme wurde deutlicher und bat mich, mich nicht zu ihr umzudrehen. Auf Neusprech galt das Angebot den verschiedenen Sativa-Ablegern und die Stimme erklärte, dass aufgrund der visuellen Überwachung die Wahrscheinlichkeit der Audioüberwachung... Weg war sie. Ich drehte mich um, doch da war niemand mehr. Kurz darauf erschien ein großer Uniformierter, der mich fragte, ob ich irgendetwas Verdächtiges gesehen hätte. Nein, Officer, alles im Grünen Bereich. Falls ich etwas Ungewöhnliches sehen sollte, dann sofort einen der Uniformierten darüber unterrichten. „Ungewöhnlich“ ist im Neusprech zu etwas „Verdächtigem“ geworden. Ich erinnere mich, wie ich die Ruhe genoss, nachdem diese wieder eingekehrt war. Ich hielt meine Augen verschlossen und lauschte den Geräuschen des Parks. Neben dem Plätschern des Wassers, dem Zwitschern der Vögel und dem unverständlichen Getuschel der Leute, erklang der Lärm der Stadt dumpf in weiter Ferne. Wenn man nicht wüsste, dass man eine von ungefähr Achtzehnmillionen Seelen dieser ist, könnte man meinen, die Großstadt gäbe es gar nicht und wäre nur ein unerklärliches Geräusch, das der Wind mit sich genommen hätte. Einer von Achtzehnmillionen. Neueste Erkenntnisse haben bestätigt, dass diese Anzahl an Menschen aus Westafrika im Laufe von 500 Jahren Sklaverei in die Neue Welt auf unfreiwillige Weise gebracht wurden. Diese Anspielung auf eine unangenehme Wahrheit schaffte es ebenfalls nicht in meinen Artikel. Wenn ich darauf bestanden hätte, wäre die Zahl 18 verwendet worden. Deren Konnotation wäre erstens positiver und zweitens greifbarer für die Leserschaft gewesen. Ich belehrte meinen Redaktionsleiter und erklärte ihm die mannigfaltige Bedeutung dieser Zahl mit dem Ergebnis, dass ich meine Anspielung gänzlich streichen musste, bzw. auf weitere Diskussionen verzichtete. Und nun saß ich da als einer unter achtzehnmillionen Menschen und genoss die laute Stille eines wundervollen Parks, der in einem Land steht, dass zu seinem wirtschaftlichen Reichtum durch die Ausbeutung dritter Entrechteter gekommen ist. Mein Artikel über Soul-Food wurde übrigens auch nicht in die Delikatessen-Kompilation dieses Jahres aufgenommen. Zu viel Info über die Herkunft verderbe den Appetit, hieß es lapidar aus Sicht derer, die der irrigen Idee erlegen sind, das es eine Exklusivität des Leidens gäbe.
Der Polizist riss mich aus dem Gedankenspiel des Tropfens inmitten eines 789 km² großen Ozeans. Er richtete abermals eine Frage an mich, bezüglich einer Anomalie, die ich eventuell beobachtet haben könnte. Aha. Ein weiteres, zweckentfremdetes Wort. Nein, habe ich wirklich nicht. Und zur der Stimme des Gemüsehändlers machte ich keine Angaben, denn ein Gesicht dazu hatte ich nicht. Ich kramte in meiner Tasche nach den Zigaretten. Legale Drogen sind immer noch ziemlich hipp. Stille. Als ich dann noch das dazugehörige Feuerzeug heraus kramte um vollendete Tatsachen zu schaffen, machte der Polizist von seiner Autorität Gebrauch und wies mich darauf hin, dass ich mich – im Falle eines Funkenfluges, der mit der Entzündung des Rauchgegenstandes eintreten könnte – gegen das absolute Rauchverbot in einem öffentlichen Park schuldig mache. Aha. Blumige Sprache, die der blaue Herr da an den Tag legte. Das Hausrecht hat die Großstadt und die Großstadt ist tendenziell gegen Raucher. Ich packte schön wieder alles weg, gemäß meiner guten Konditionierung, dem Illegalen zu entsagen. Dass die Definition des Illegalen aber der Willkür der Machthaber ausgeliefert ist, verstand der Mann allerdings nicht und ich hatte kein Interesse daran, diese Diskussion zu vertiefen. Schließlich befand ich mich in einem Land, in welchem man auf die pure Verdächtigung hin weg gesperrt und solange mit erweiterten Verhörmethoden behandelt wird, bis man selbst die eigene Schuld am Ozonloch einsieht und gesteht. Doch eine Frage konnte ich nicht in mir behalten: „Wie lange sind Sie schon im Dienst?“ - „Seit vierzig Jahren.“, antwortete er stolz. Und er erinnere sich an die schlimmen Zeiten, in denen man selbst um diese Uhrzeit hier große Gefahr lief, ausgeraubt zu werden. Und wie sich diese Situation kolossal verbessert hat: „Heute können Sie ruhigen Gewissens um 3 Uhr morgens die 45. runter zum Broadway laufen. Dort liefe übrigens eine Uraufführung des Stückes von Weldon Johnson. Aha. „Alles wird überwacht, zu Ihrer Sicherheit.“ Auswendig gelernt. So, oder gar nicht. Ob er die Zeiten vermisste, in denen man sorglos seinen Kaugummi ausspucken konnte, ohne dafür belangt zu werden. Leise flüsterte er, dass er immer noch seine Kaugummis, wo immer er auch wollte, ausspuckte. Klar, er befände sich ja im Land der Freien, wie es so schön heißt. Doch er korrigierte mich umgehend: „Diese Uniform gewährt mir einige Sonderrechte, da sie Recht und Ordnung repräsentiert.“ Aha. „Hoffentlich treibst du damit mal keinen Unfug.“, sagte ich ihm nicht, sondern: „Es lebe die Freiheit!“ Als er sich vertrollte, machte ich unauffällig – falls es denn noch irgendwie möglich sein sollte – ein Foto vom ihm, klischeehaft mit einer Hand am Colt und in der anderen einen für seinen Beruf verschrieenes Gebäck, welches allerdings nicht prämiert wurde. „Zum Dienen und Beschützen – Die besten Donuts für die Handlanger des Status Quo“ passe in dieser Wortwahl nicht zum Thema „Nachspeisen im Großen Apfel“. Ist die Überwachung nicht die Nachspeise der Freiheit? Steht die Staatsgewalt nicht in dieser Tradition? Ist die Parabel zwischen einem 3-Gänge-Menü und der Aufteilung von Macht innerhalb des Staates kein schmackhafter Vergleich? Nein. Es sei sogar geschmacklos. Selbst meine Annahme, dass die Erfahrung beim Dinieren durch einen ständig beobachtenden Kellner durchaus das Natürlichste der Welt verderben kann, sprenge den Rahmen und ich sollte mich auf meinen Auftrag fokussieren und nicht so viel nachdenken. Tja. Schnauze halten und malochen. Und so schrieb ich letztendlich, was mir befohlen wurde, denn mit eigenen Analysen wäre ich nicht um die Runde gekommen.
Ich erinnere mich nicht daran, dass ich als Kind jemals davon geträumt hätte, Kolumnist im Gastronomiebereich zu werden. Und hier bin nun, das Kind von einst, und lerne die Welt kennen, weil es offensichtlich viele Menschen gibt, die es lieben, über das Kulinarische in allen Herren und Frauen Ländern zu lesen (auch bei dieser Wortwahl entschied man sich gegen meinen Vorschlag, es bei der männlichen Version zu belassen). Geschmäcker zu beschreiben ist selbst mit der Verwendung von Neusprech kein Zuckerschlecken, doch ich scheine ein Händchen dafür zu haben. Dass ich dabei quasi direkt bei M.F.K. Fisher oder Zoé Valdes abkupfere, scheint keinen zu interessieren. Mögen meine Artikel die großen Schleckermäuler dieser Erde dazu animieren, sich mal an deren Ess-Literatur zu laben. Auch wenn die Leserschaft unserer Zeitschrift – die aus persönlichen Gründen hier nicht genannt werden möchte – spezifisch eingegrenzt ist, so möge sich der eine oder andere durch meine Worte inspiriert gefühlt haben, sich über das Gesagte hinaus zu informieren. Bewertungen wie: „Die Soße ist so fad und geschmacklos wie die Vorwände der Massenvernichtigungmittel für einen von langer Hand geplanten Angriffskrieg“, werden nach wie vor vom großen Hunger der Zensur verschlungen. Da ich nach wie vor meine Artikel an den Mann bringen muss ( meine politische Inkorrektheit möge man verzeihen ), zügele ich meine Zunge, schweige dort, wo ich dies nicht tun sollte, passe mich dem Zeitgeist an, denn schließlich muss ich ja auch etwas essen. Die viel gelobte Freiheit hatte schon immer ihren Preis – und so auch die hoch gepriesene Freiheit der Großstadt und der/die/das Rest im Leben ;)