Читать книгу Kinder, die im Dunkeln spielen - Daniel Kasper - Страница 10
ОглавлениеHERRN KUCKUCKS LETZTER ZAUBERTRICK
Es hieß, Herr Kuckuck könne zaubern. Doch der alte Mann ging am Stock, und wenn Stefanie abends im Bett lag, konnte sie ihn in der Dachwohnung über sich aufstampfen hören. Dann überlegte sie, warum er sich die Beine nicht gesund zauberte. Oder den Husten weg. Denn oft brach Herrn Kuckuck ein schrecklicher Husten aus dem Mund, der ihn am Treppengeländer oder am Gartenzaun Halt suchen ließ.
Auch stimmte etwas mit seinen Augen nicht: Klein wie Knöpfe, blitzten sie durch dicke Brillengläser. Wenn Stefanie ihm vom Garten aus zuwinkte, reckte er den Kopf aus dem Fenster, kniff die Augen zusammen, bis sie fast nicht mehr da waren, und wedelte mit den langen Fingern aufs Geratewohl in die Landschaft.
»Bist du das, Stefanie?«, rief er dann herab und lächelte, wenn sie bejahte.
Es war also eher unwahrscheinlich, dass er tatsächlich zaubern konnte. Leider.
Dennoch hieß es so. Ihre Eltern hatten es gesagt und die Kinder in der Nachbarschaft. Und einmal war der Postbote mit einem Paket für Herrn Kuckuck gekommen, als der nicht zu Hause gewesen war, und hatte Stefanie gefragt, die gerade auf der Treppe vor dem Haus mit Playmobil gespielt hatte, ob sie es für »den Zauberer« annehmen würde. Das hatte sie gemacht und dann den halben Tag fantasiert, welche magischen Dinge das Paket wohl enthalten mochte.
Allmählich jedoch glaubte Stefanie, dass ihr Bruder recht hatte: »Mama und Papa haben das bloß gesagt, damit du’s toll findest, hierherzuziehen. Und die Leute nennen ihn so, weil er so ein Kauz ist mit seinem Hut und dem Zwirbelbart.« Dann hatte Piet noch hinterhergeschoben: »Wenn du mich fragst: Der macht’s eh nicht mehr lange.«
Das machte sie traurig. Denn sie mochte Herrn Kuckuck. Und sie wollte, dass es Zauberer gab. Es war ihr größter Wunsch, dass es Zauberer und alles Magische wirklich gab.
Darum schloss sie an ihrem Geburtstag die Augen, holte tief Luft und blies diesen Wunsch in die Kerzen hinein, sodass sie allesamt erloschen. Alle sieben.
Gesungen hatten sie bereits: die Eltern und sechs Kinder. Selbst Piet hatte Vater zu diesem Zweck aus seinem Zimmer gezerrt, dessen Dreingabe dann ein schräges Lippenposaunen gewesen war samt Furzgeräusch zum Finale. Das Esszimmer hing voller Girlanden und Luftschlangen, bei jedem Schritt trat man Ballons beiseite, und in einem Bogen, der sich über zwei Fenster spannte, prangte in goldenen Pappbuchstaben »Happy Birthday«.
Zum Flaschendrehen nahm Stefanie die Gäste mit in ihr Zimmer. Der Flaschenhals entschied, wer ihr sein Geschenk überreichen durfte. Sie strahlte über die Geschenke und herzte jede Freundin und auch Max, den einzigen Jungen, den sie eingeladen hatte. Die Stereoanlage spielte Walt-Disney-Songs, und Pina sang so laut mit, dass Stefanie sich erst zur Tür umwandte, als sie das Händeklatschen hörte.
Mutter stand auf der Schwelle und machte ein Gesicht, das Geheimnisvolles versprach. »Es gibt noch eine besondere Überraschung. Kommt alle mit!«
Obwohl es draußen kalt war, hatten sie ein Spielen im mit Laternen geschmückten Garten geplant, sobald die Dunkelheit hereinbrach. Dafür war es jedoch zu früh, und Stefanie wunderte sich, dass die Wohnzimmertür offenstand. Dieses Zimmer sei heute tabu, hatte es geheißen.
Mit einer schwungvollen Geste lud Mutter die Kinder ein hineinzugehen.
Die Sofalandschaft war zurückgezogen worden, Fernseher und Schränkchen an die Wand verfrachtet und weitere Stühle hingestellt, sodass eine kleine Manege entstanden war, in deren Mitte der rote Fransenteppich hatte liegenbleiben dürfen.
Vater befand sich bereits im Zimmer und versuchte, Stefanies Gäste zu bändigen, die sogleich anfingen, auf den Sofakontinenten herumzutoben, sodass sie auseinanderdrifteten. Max musste wiederholt und streng ermahnt werden, bis er endlich Platz nahm und seine Tollerei zu einem nervösen Hinternrutschen zügelte.
Bald thronte Stefanie in der Sofamitte auf einigen Kissen. Vater erhob feierlich die Stimme.
»Liebe Gäste, allerliebste Stefanie …«
Er zwinkerte ihr zu, schaute dann aber auf, als Piet hereingetrottet kam und auf einen der Stühle sackte. Offensichtlich war er von Mutter erneut zur Party befohlen worden; sie stand jetzt im Türrahmen und nickte Vater zu, er könne weitermachen.
»… und auch du, mein gelangweilter Sohn«, sagte er und erntete eine Grimasse von Piet und Gelächter von den Kindern auf der Sofa-Loge.
Max blies eine Luftschlange in den Raum, die raschelnd in der Manege zu einem Knäuel zusammenfiel.
Vater schwang die Stimme abermals in die Höhe: »Wir haben weder Kosten noch Mühen gescheut …«
Stefanie fand, dass er die Sache toll machte, was immer »die Sache« sein mochte. Eine Show, klar, Papa und Mama hatten etwas einstudiert.
»… ja, es war kein Leichtes, aber als er hörte, dass Stefanie heute ihren Geburtstag feiert, da kam er angereist vom fernen Zauberzirkus.«
Aus der Diele drang ein Klopfgeräusch. Mutter war verschwunden.
»Gleich wird er bei uns sein … noch ein wenig Geduld …«
Alle Blicke gingen zur Tür hinaus, sogar Piet streckte sich, aber meinte dann: »Ist ja klar, wer das ist: Mama hat sich verkleidet.«
Doch das hatte sie nicht. Auf Socken erschien sie fast geräuschlos und trug ein Lächeln zur Schau, das ein wenig verrutscht war. Stumm formte sie »er kommt« mit den Lippen.
Durch Stefanies Kopf ging ein Trommelwirbel, und das Wort Zauberzirkus beschwor Bilder herauf von kaltglühenden Sternen im Manegenhimmel.
Schritte näherten sich, begleitet von dem Klopfen, das jenseits der Türschwelle plötzlich ausblieb.
Ein Luftballon tanzte herein.
»Und hier ist er …«, sagte Vater geheimnisvoll; Mutter machte eine Präsentiergeste wie im Werbefernsehen, »… angereist von weither: Valentin Kuckuck, der Zauberer.«
Der Mann, der um die Ecke bog, schien zu klein für diese Großes verheißende Ansage. Er trug einen zerknitterten Anzug und versteckte das Gesicht hinter einem schwarzen Hut.
Manchem Kind entwich das vor Spannung angehaltene Lachen stoßweise aus der Kehle. Piet ließ ein Grunzen hören.
Als Herr Kuckuck jedoch den Hut wegnahm, verkümmerte jedes Lachen. Auch Stefanie wusste nicht, wohin mit der Freude, die in ihr gewachsen war.
Das geschminkte Gesicht hatte etwas Abstoßendes. Weißes Puder verlieh ihm eine Totenblässe, die von den roten Kreisen auf den Wangen noch hervorgehoben wurde. Die geschrumpften Augen waren schwarz umrandet, wodurch sie in ihrer Winzigkeit leblos, wie aufgemalt wirkten. Auf den Stock gestützt stand der alte Mann im Türrahmen, als wäre er jenem Grab entstiegen, in dem er Piets Meinung zufolge bald liegen würde.
Mutter und Vater klatschten eifrig, während Herr Kuckuck suchend umherschaute.
Stefanie wollte nicht von ihm entdeckt werden, da riss er schon freudig den Mund auf, wobei die gezwirbelten Bartspitzen in die Luft piksten. Aber sofort trat ein bestürzter Ausdruck in sein Gesicht.
»Oh, Stefanie, nicht!« Er rieb sich über die Wange und zeigte die weißrot beschmierten Finger. »Hab keine Angst vor mir, bitte, es sollte doch spaßig sein!«
»Na, das ging mal in die Hose«, sagte Piet abfällig.
»Ja, voll in die Hose!« Max presste die Lippen auf den Unterarm und erzeugte ein Geräusch, das nach heftigen Blähungen klang und die Mädchen zum Kichern brachte. Lisa, die jüngste von ihnen, kam hinter der Deckung eines Sofakissens hervor.
Herr Kuckuck rupfte ein weißes Tuch aus der Brusttasche, schrubbte sich damit das Gesicht und zeterte im Selbstgespräch: »Na sowas, bist mir ja ein toller Zauberer, der Kinder erschreckt! Zum Kuckuck mit dir, alter Mann!«
Da musste Stefanie lachen. Sie lachten alle. Die Eltern tauschten frohe Blicke, nur Piet äffte sein Gelächter.
Das Taschentuch verschmutzte in dem Maße wie Valentin Kuckucks Gesichtsfarbe zum Vorschein kam. Er benetzte es mit der Zunge, nahm schließlich die Brille ab und ließ sich von Max helfen, der ihm feste über den Nasenrücken und die geschlossenen Augen rieb.
Frech stibitzte Max plötzlich den Hut und warf ihn durchs Zimmer. Vater schimpfte, doch Herr Kuckuck mimte bloß den tadelnden Blick, als er das Tuch wieder an sich nahm.
Pina verlangte, auch einmal im Gesicht des Mannes herumwischen zu dürfen, der jetzt so harmlos wie ein Opa wirkte, der am Geburtstag des Enkelkinds unbeholfen den Clown gab. Doch Herr Kuckuck schüttelte den Kopf.
Seine Nase zuckte plötzlich. Die Nasenlöcher wurden groß und offenbarten ein Geäst weißer Haare.
Stefanie zog den Hut zurück, den sie herbeigeholt hatte und ihm überreichen wollte.
Im Zauberer schwoll offenbar ein Niesen an. Den Gehstock untergeklemmt, das Tuch mit beiden Händen wie ein Trampolin gespannt, hob er den Kopf: »Ha… ha… ha… «
Die Kinder gingen in Deckung oder verliehen begeistert ihrem Ekel Ausdruck, dass er vorhatte, sich in das Schmiertuch zu schnäuzen.
Stefanie hielt sich den Hut vors Gesicht.
Dann feuerte Herr Kuckuck ein Niesen in das Taschentuch, dass sie meinte, es müsse jetzt in Fetzen hängen.
»Wow! Was für ’ne Bombe!«, jubelte Max; Vater wünschte »Gesundheit!«, und Mutter fragte: »Ist jemand verletzt?«, woraufhin Lisa kichernd die Hand hob. Pina tat, als wischte sie sich Rotz aus dem Gesicht, und alle schauten freudig angeekelt zu, wie Herr Kuckuck das Gesicht aus dem Taschentuch hob.
Ein seltsames Lächeln bog seinen Bart, während er sie reihum anschaute und dabei das schmutzige Tuch in der linken Hand zusammenknüllte.
Als sein Blick Stefanie traf, drückte er die letzten Tuchzipfel in die Faust, bis nichts mehr herausschaute. In einer typisch zauberischen Geste rührte er die Luft darüber und streckte ihr die Faust hin.
Erst verstand sie nicht, aber dann schüttelte sie den Kopf: Sie würde kein vollgerotztes Taschentuch anfassen!
Seine Brauen gingen hoch, und er bot die Faust den anderen Kindern an, die zurückwichen, als halte er eine Spinne gefangen.
Schließlich zuckte er mit den Schultern, griff in die Faust und zog ein makellos weißes Tuch heraus, das er auffaltete und dem klatschenden, staunenden Publikum zuwarf.
Max entriss es Lisa, die es gefangen hatte, woraufhin ein Streit ausbrach.
Piet meinte in geringschätzigem Ton, dass er die Sache durchschaue. »Von wegen Zauberei«, sagte er, »alles bloß billige Tricks.«
Stefanie aber blickte schaudernd auf den schwarzen Hut, den sie fallengelassen hatte. Sie hatte ein Kitzeln auf der Hand gespürt und einen leichten Druck wie von einem großen Insekt. Es schüttelte sie noch, während sie hinabsah und erwartete, dass unter dem Hut etwas hervorkriechen werde.
Der Zauberer krümmte sich an seinem Stock und klaubte den Hut auf.
Nichts hockte darunter.
Etwas Verschwörerisches lag in Herrn Kuckucks Lächeln und in den kleinen, jetzt sehr lebendigen Augen. Er zwinkerte Stefanie zu, als er den Hut aufsetzte. Da wurde ihr klar, dass, was immer auf ihrer Hand gesessen hatte, noch im Hut steckte. Und er wusste es.
Valentin Kuckuck verneigte sich, so weit sein Gebrechen es zuließ.
Stefanie kletterte über die Sofalehne. Den Kissen-Thron verschmähte sie und setzte ein Lächeln auf, während die anderen Kinder herumalberten. Ein Insekt lebt in seinem Hut, ging es ihr hinter der Stirn umher, ein großes Insekt – und er will es so!
Der Gedanke, es den anderen zu verraten – Mama und Papa, die gewiss alles aufklären konnten, oder Piet, der mit einem Spruch das Unheimliche lächerlich machen würde –, kam ihr zwar, doch ihr Mund war wie zugeklebt. Sie rieb sich die Stelle auf der Hand, wo es sie berührt hatte.
Plötzlich spürte Stefanie Herrn Kuckucks Hand auf der Schulter. »Es ist alles gut, mein Kind«, flüsterte er.
Die Geräusche und Stimmen der Party versanken, und sie hörte das Flüstern des Zauberers so klar, als säße er in ihrem Ohr.
Kaum verließ seine Hand ihre Schulter, schnellten Lachen und lautes Gerede wie mit einem Fingerschnippen empor.
Und ja: Stefanie wusste, dass alles gut war, nichts Gegenteiliges hatte sie je gewusst.
»He, Leute!«, rief sie. »Ich will meinen Thron zurück!«
Als Herr Kuckuck auf dem roten Teppich ankam, sog sie sein Lächeln auf und freute sich darüber, dass er sich ihr im Besonderen zuwandte. Den Hut auf dem Kopf – eine Melone, fiel es ihr ein, und sie musste kichern, als der Hut sich in ihrer Vorstellung in die Frucht verwandelte –, das Gesicht noch fleckig von Puder und Rouge, stand er auf den Stock gestützt und ließ seine Anwesenheit wirken.
Die Eltern hatten auf den verbliebenen Stühlen Platz genommen und synchron die Beine übereinanderschlagen. Allmählich kehrte Ruhe ein.
»Für meine Darbietung …«, begann Herr Kuckuck, wurde aber sogleich von Piet unterbrochen, der spöttisch vorschlug, er solle »ein Karnickel aus’m Hut zaubern«.
In Stefanies Kopf rief von fern eine Stimme: Nichts aus dem Hut! Bitte nicht! Es war eine lästige Stimme, denn schließlich wusste sie, dass alles, alles gut war.
»Für meine Darbietung«, setzte Herr Kuckuck von Neuem an, »benötige ich Hilfe aus dem Publikum.«
Kinderfinger schnellten empor. Nur die Eltern saßen verknotet da, wie um zu signalisieren, dass nichts sie aus dieser Haltung befreien würde. Die Knopfaugen des Zauberers schauten funkelnd umher.
Piets Desinteresse schlug in Angriff um. Scheinbar hatte er den Plan gefasst, den Zauberer bloßzustellen, falls der ihn nach vorne holte. Aufdringlich warf er den Arm Herrn Kuckuck hin, hob sich aus dem Stuhl und äffte: »Äh, äh, äh!«
Stefanie strengte sich nicht an; sie rechnete fest damit, dass er sie auswählen würde. Und so war es.
Piet sank maulend zurück.
Unter Applaus trat Stefanie nach vorn. Ihr Herz klopfte, und ein wenig zitterten die Knie. Erwartungsvoll blickte sie Herrn Kuckuck an, der den Stock an die Fensterbank gelehnt hatte und mit kalten Fingern ihre Hände nahm.
Draußen dämmerte es; das leuchtende Rund der Deckenlampe erschien in der Fensterscheibe.
Der Zauberer sagte: »Sieben ist eine magische Zahl, Stefanie.«
Zwischenrufe wie »Ich bin auch sieben!« oder »Ich bin acht!« verkamen in Stefanies Ohren zu dumpfem Blöken.
»Wollen wir gemeinsam zählen?«, fragte der Zauberer.
»Okay.«
Sich bei den Händen haltend, holten sie Atem und zählten: »Eins. Zwei …«
Außer Piet stimmten alle mit ein. Zwischen den Zahlen rauschte das vielfache Einatmen, und der Chor schwoll an.
»… Drei. Vier …«
Am Gipfel würde etwas Magisches passieren, wusste Stefanie, ein echter Zauber …
»… Sechs – Sieben!«
Kein Knall, kein Rauch, nichts Großes geschah. Es kitzelte bloß unweit der kalten Finger, die ihre linke Hand hielten.
Die Idee von Krabbelbeinchen und tastenden Fühlern jagte Stefanie einen Schauer durch den Körper. Kurz taumelte sie, als sie hinabblickte: Aus dem Ärmel ihres Baumwollkleidchens kroch etwas hervor. Der Impuls, Herrn Kuckuck die Hand zu entreißen und es abzuschütteln, war kurz übermächtig. Doch dann verstummte der Alarm in ihr.
Von Staunen, dann Entzücken erfüllt, blickte Stefanie auf ein Tierchen hinab, das, kaum saß es auf ihrem Handgelenk, veilchenfarbene Flügel entfaltete. Es bewegte sich zitternd über den Hügel ihres Daumenballens. Ein zweites Tierchen entschlüpfte dem Ärmel, ein drittes.
Das Publikum applaudierte. Der Zauberer ließ Stefanie los, schritt rückwärts und hielt die Finger ausgestreckt.
Als die Schmetterlinge einer nach dem andern von Stefanies Hand flatterten, schienen sie eine unsichtbare Linie entlang zu tanzen. Der Anblick und das Kitzeln brachten Stefanie zum Lachen, und sie meinte, dass ihr größter Wunsch in Erfüllung gehe.
»O Mann!«, rief Piet da aus und zeigte auf den Tanz der nun sieben Schmetterlinge, die jener Linie folgten, die sich von Stefanies Hand zu den Fingern des Zauberers zu spannen schien. »Da ist ’ne Schnur! Und die Falter sind aus Krepp oder sowas!«
Stefanie machte den Mund auf, um ihm zu widersprechen, da erkannte sie, dass er recht hatte. Unter ihrem Blick schrumpften die Schmetterlinge auf das, was sie wirklich waren, und ein Faden glitzerte, den der Zauberer in kleinen Rucken aus Stefanies Ärmel zog, sodass die daran festgebundenen Stofffalter zappelten. Sie stürzten jetzt, weil Herr Kuckuck zu husten begann.
Vater schimpfte: »Niemand will deine Kommentare hören, Mister Oberschlau! Das war ein toller Trick – ein wirklich toller Trick, Herr Kuckuck, Bravo!«
Die anderen Kinder erklärten, sie hätten die Schnur auch gesehen; »Logisch«, meinte Max, »aber echt cooler Trick trotzdem. Kann ich jetzt mitmachen?«
Auf dem Teppich lagen die falschen Schmetterlinge wie verschmähter selbstgebastelter Kinderschmuck. Stefanie kam sich vor, als kapierte sie als Letzte einen Witz, über den alle anderen längst lachten.
Nur lachte niemand mehr.
Die Kinder auf der Sofa-Loge sahen erschrocken zu, wie Herr Kuckuck sich bog und abgehackte Brülllaute in die Faust spie. Die freie Hand wedelte Richtung Stock am Fenster.
Mutter sprang auf, mied aber zuletzt die Berührung und schickte Vater nach einem Glas Wasser.
Stefanie konnte Piet murmeln hören: »Muss der ausgerechnet hier abkratzen?« Sie sah das verzogene Gesicht ihres Bruders, die fesch gegelten Haaren, den blitzenden Ohrstecker … Plötzlich war sie sicher, dass Piet den Zauber zunichtegemacht hatte – nicht sie, sondern alle anderen kapierten nicht.
Sie stampfte auf, holte den Stock von der Fensterbank und legte den Knauf in Herrn Kuckucks zitternde Hand.
Der Zauberer richtete sich auf, und obwohl der Husten noch sichtlich von innen seine verschlossenen Lippen rammte, schenkte er ihr ein Lächeln.
»Wird es gehen, Valentin?«, fragte Mutter und reichte ihm das Glas Wasser.
Vater sagte: »Wollen Sie sich hinlegen?«
Herr Kuckuck trank und schüttelte den Kopf. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »entschuldigt, Kinder. Geh und setz dich ruhig, Stefanie. – Applaus bitte für Stefanie, sie hat das toll gemacht!«
Unter Schenkeltrommeln und Händeklatschen nahm sie auf dem Kissen-Thron auf dem Sofa Platz, wo ihre Gäste sie sogleich mit Fragen überfielen. Max wollte wissen, ob die Schnur schon die ganze Zeit in ihrem Ärmel versteckt gewesen sei. »Muss ja«, sagte er, und Pina drängte: »Komm schon, verrat’ mir den Trick, ich bin doch deine beste Freundin.«
Stefanie sagte bloß: »Immer muss Piet alles kaputtmachen. Das waren Schmetterlinge.«
Sobald auch die Eltern platzgenommen und die Beine verknotet hatten, wandte Herr Kuckuck sich wieder dem Publikum zu.
»Verzeiht mir, doch ich bin müde«, sagte er und erklärte, ein alter Zauberer gehe frühzeitig zu Bett.
Stefanie bemerkte, dass die Stofffalterkette in der Manege ebenso plattgetreten worden war wie Max’ Luftschlange. Sie sandte ihrem Bruder einen wütenden Blick.
»Einen letzten Trick habe ich dennoch für euch«, verkündete der Zauberer, schob das Kinn vor und zwirbelte die Bartspitzen. »Und wieder benötige ich Hilfe.«
Hände gingen hoch, ein vielfaches »Ich!« erfüllte das Wohnzimmer, das sich mittlerweile zur Gänze in den Fenstern spiegelte, als sei die Welt draußen nicht mehr da.
Herr Kuckuck ließ die Stockspitze über die schrumpfenden Eltern wandern, die flehenden Kinderblicke entlang, an Stefanie vorüber. Sie fing sein Zwinkern auf, und prompt machte sich ein warmes Gefühl in ihr breit.
Auf Piet verharrte die Spitze.
»Nun, junger Mann?«, sagte der Zauberer. »Bereit, etwas aus dem Hut zu zaubern?«
Piet hatte sich diesmal nicht gemeldet, saß mit verschränkten Armen da und stöhnte auf.
»Du musst aber!«, sagte Stefanie lauter als gewollt. »Ja, du bist jetzt dran, Piet!«
Als er sich nicht rührte, feuerten Kinder und Eltern ihn an: »Piet! Piet! Piet! …«
Er verdrehte die Augen, aber Stefanie erkannte hämisch, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg.
»Komm, junger Mann, nicht so schüchtern …«, der Zauberer lächelte, »es tut nicht weh. Es sind alles bloß Tricks.«
»O Mann!«, maulte Piet und erhob sich betont lässig aus dem Stuhl. Seine langen Arme baumelten, bis er die Hände tief in die Taschen der Jogginghose grub. Mit schiefem Mund murmelte er: »Aber ich will nicht, dass Sie mich anfassen.«
»Keine Sorge, mein Junge. Meine Hände werden dich nicht berühren.«
Der Zauberer trat beiseite und wies Piet einen Platz in der Manege zu.
Das Publikum klatschte. Max blies in die Faust und brachte eine Posaunenimitation zustande, die tatsächlich etwas von Zirkusflair hatte.
Sobald Piet vorne stand, wurde deutlich, wie sehr er den alten Mann überragte. Dieser Umstand ließ Piet offenbar auch innerlich wachsen, denn das Rot auf seinen Wangen verlosch.
»Kann losgeh’n«, sagte er und wippte auf den Fersen, »ich hab morgen ein Fußballspiel und nicht ewig Zeit.«
»Es dauert nicht lange, versprochen.« Herr Kuckuck blickte lächelnd zu ihm auf. »Nun, eine Berührung meinerseits ist nicht notwendig, mein Lieber. Dennoch … ich hoffe, es macht dir nichts aus …«
Er nahm die schwarze Melone ab und reichte sie langsam, ganz langsam zu Piet hinauf, der mit bloß halb belustigtem Blick Hilfe beim Publikum zu suchen schien.
Stefanie fiel auf, wie der Hut im Deckenlicht zusehends den Kopf ihres Bruders überschattete. Erneut rief eine ferne Stimme in ihr: Nicht den Hut! Bloß nicht den Hut! Doch Stefanie rief: »Komm, Piet! Ist nichts dabei! Nur ein harmloser Trick!«
Wieder skandierte das Publikum: »Piet! Piet! Piet!«
Vater sagte lachend: »Nun spiel schon mit!«
Piet neigte also den Kopf und empfing den Hut.
Die Gäste waren begeistert, wie er sich ihnen mit schiefem Grinsen präsentierte.
»Steht dir echt gut!«, war zu hören und: »Jetzt bist du der Zauberer! Zeig mal was!«
»Es braucht noch etwas«, sagte Herr Kuckuck zu den Kindern. »Na? Was fehlt wohl noch?«
»Ein Hunderter«, meinte Piet trocken und fächerte mit den Fingern. »Mindestens.«
Doch schnell war klar, was Herr Kuckuck meinte, denn mit spitzbübischer Miene nickte er zu seiner Gehhilfe.
»Den Stock!«, rief Max.
»Zauberstab! Zauberstab!«, riefen Pina und Lisa.
Stefanie saß kerzengerade und nickte eifrig, weil sie wusste, wie sehr ihre Freundinnen recht hatten.
Er gab den Stock in Piets Hand und machte Mutters Präsentier-Geste aus der Werbung. Dann, unter regnendem Applaus, brach er sein Versprechen und ergriff Piets Schulter.
Stefanie spürte flüchtig, wie diese Hand auf ihrer Schulter gelegen hatte.
Jetzt sagte der Zauberer etwas zu Piet, der daraufhin von ihm abwich.
Herr Kuckuck bat um Ruhe. Mutter machte Schscht!, und bald schauten alle gespannt nach vorn, wo Piet neben dem kleinen Mann reglos und mit brüchigem Lächeln stand.
Stefanie musste an ein großes, dummes Zirkustier denken, das von seinem Dompteur vorgeführt wurde – Schaut alle her, mein Tier hat einen Hut auf! Fast tat Piet ihr nun leid, aber sie wehrte sich dagegen.
»Uns Zauberern«, sagte Herr Kuckuck, »liegt ein Trick besonders am Herzen. Oder sollte ich sagen: Er liegt uns unterm Hut?«
Stefanies Augen wuchsen, gleichzeitig wollte sie am liebsten Lisa das Kissen wegschnappen, um sich selbst dahinter zu verstecken. Sie faltete fest die Hände.
Da streckte sich Herr Kuckuck und stahl mit einer schnellen Bewegung den Hut von Piets Kopf.
Das vielfache erschrockene Atemholen klang wie Fauchen.
Piet erschauderte sichtlich. Kurz bevor er sich vom Kopf schlug, was dort hockte, meinte Stefanie, dass es ein winziges Kaninchen sei, faltig und vertrocknet – die Alte-Mann-Version eines Kaninchens.
Das Tier klatschte zu Boden.
Stefanie starrte entsetzt in die Ecke, wo es gelandet war. Es bewegte sich die Sockelleiste an der Wand entlang.
Max rief: »Ein Grashüpfer! Wow, was für ‘n Brocken!«
Endlich setzten Applaus und Gelächter ein. Mutter rutschte von Vaters Schoß, wohinauf sie sich gerettet hatte.
Und Stefanie erkannte erneut, dass Max recht hatte: Es war kein Kaninchen, sondern ein fetter Grashüpfer, der jetzt einen Satz auf die Fensterbank machte, der die ganze Zeit schon in dem Hut versteckt gewesen war. Und sie hatte es gewusst, es bloß nicht wissen wollen.
Es gab keinen Zauber. Die Schmetterlinge waren nie lebendig gewesen.
»Ich bin wahrlich ein Kauz! Euch so zu erschrecken!« Kopfschüttelnd wünschte sich der Zauberer abermals zum Kuckuck, hinkte ans Fenster und fing das Insekt in der Melone.
Stefanies Gäste waren aufgesprungen und umringten ihn, verlangten, den Grashüpfer zu sehen, ihn auf die Hand zu bekommen, doch da saß der Hut schon wieder auf Herrn Kuckucks Kopf.
»Ein wirklich gelungener Trick, Valentin«, beglückwünschte ihn Vater und erkundigte sich erregt, ob das Tier denn still im Hut bleibe, ob es nicht zwicke oder so und wie sich ein Insekt überhaupt abrichten lasse. Max sagte, dass der Grashüpfer dem Mann bestimmt auf den Kopf scheiße, woraufhin die Mädchen kicherten. Mutter wahrte Abstand, aber schien dennoch freudig verblüfft.
Stefanie sah sich um. Piet war nicht mehr da. Neben dem Fernseher fand sie Herrn Kuckucks Stock, den sie aufhob und ihm reichte.
»Danke, Stefanie.«
Sie sah traurig zu ihm auf, und er zwinkerte ihr zu.
»Wir haben zu danken«, sagte Vater, und Mutter rief: »So Kinder, Jacken und Stiefel an und raus mit euch in den Garten!«
»Tschüss, Valentin«, sagte Stefanie leise und folgte ihren Freunden.
*
Später lag sie matt und grübelnd im Bett. Vater hatte noch bei ihr gesessen, und als sie nachgefragt hatte, warum alle Herrn Kuckuck Zauberer nannten, obwohl doch alles bloß Tricks gewesen seien, hatte Vater vom Jahrmarkt erzählt. Valentin Kuckuck sei Jahrzehnte lang – »ach was, über Generationen!« – auf dem örtlichen Marktplatz mit seiner Zaubershow aufgetreten. Für jeden Alteingesessenen sei er daher bloß der »Zauberer«. Vater hatte ihr erklärt, was alteingesessen bedeutet. Valentin sei dann krank geworden, hatte er weitererzählt, die Knochen, die Lunge, die Augen … Also sei er in den Ruhestand gegangen. »Aber«, hatte Vater geflüstert und Stefanie den Gutenachtkuss auf die Stirn gedrückt, »er hat mir anvertraut, dass er in Wirklichkeit ein echter Zauberer ist. Und dass er sich nichts sehnlicher wünscht, als eines Tages wieder in der Manege vom Zauberzirkus zu zaubern.«
Stefanie machte sich wenig Hoffnung, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Jedoch wollte ihr nicht einfallen, wie die Stofffalterschnur in ihren Ärmel gelangt war. Herr Kuckuck musste es irgendwie zustande gebracht haben, als er sie berührt hatte …
Über diesem Gedanken schlief sie ein.
*
Ein Gepolter weckte sie am nächsten Morgen. Aber es kam nicht wie sonst von oben durch die Zimmerdecke, sondern von nebenan. Von Piets Zimmer. Dann rief ihr Bruder nach Mama und Papa. Stefanie hatte ihn nie derart verzweifelt nach den Eltern rufen hören.
Sie fuhr hoch und wollte aufspringen und nachsehen, was los war, als ihr Blick aus dem Fenster zum Garten hinausfiel.
Am Gartentörchen stand Herr Kuckuck.
Raureif glitzerte auf der Wiese in der frühen Sonne, und auch das Gesicht des alten Mannes strahlte. Er winkte Stefanie zu, und sie winkte zurück. Seine Augen erschienen ihr größer als sonst.
Im Zimmer nebenan erscholl ein Husten, der eher Gebrüll war, aber Stefanie rätselte, warum Herrn Kuckucks Augen so groß waren.
Schließlich begriff sie: Er trug die Brille nicht! Die Gläser hatten seine Augen ganz klein aussehen lassen, wie verkehrte Lupen, aber jetzt trug er sie nicht mehr. Er kniff auch die Lider nicht zusammen.
Plötzlich musste Stefanie lachen, aber sie verbarg es in der Hand. Herr Kuckuck, der keinen Stock mehr hatte, vollführte einen enormen Luftsprung und schlug die Hacken zusammen. Stefanie meinte, ein Jauchzen zu hören. Aber sicher war sie sich nicht, zu laut dröhnte Piets Husten durch die Wand, zu aufgeregt die Stimmen der Eltern.
»O Gott, Piet-Schatz, was hast du? Was ist mit dir?«
Herr Kuckuck grüßte zum Abschied mit dem Hut, wirbelte herum und verschwand beschwingten Schrittes die Straße hinab.
Nebenan wimmerte Piet: »Meine Augen, Mama! Und mein Bein! Papa, ich spür das Bein nicht!«
Dann brach der Husten wieder aus ihm heraus.
Stefanie sank zurück und drückte sich das Kissen auf den Kopf, damit sie Piet nicht mehr hören musste. Sie vergrub sich tief in den Federn und schloss fest die Augen.
Im Dunkeln tauchte ein Bild auf von glühenden Sternen im Manegenhimmel. In ihrem Schein stand Valentin Kuckuck, der Zauberer, mit der schwarzen Melone und wallendem Umhang.
Stefanie grinste.