Читать книгу Caffe della Vita - Daniel Morawek - Страница 7

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Cattolica war ein ruhiges und verträumtes Dorf im Süden Siziliens. Die Küste lag etwa fünf Kilometer entfernt, und deshalb lebten dort nicht nur Bauern, sondern auch ein paar Fischer. Zu den besten Zeiten hatten hier um die neuntausend Menschen gewohnt, doch nach und nach waren die jungen Leute ins Ausland oder in die Städte gezogen, um Arbeit zu finden. Geblieben waren etwa dreitausend Einwohner, viele von ihnen bereits im Rentenalter. Nur im Sommer, da blühte der Ort für ein paar Wochen wieder auf, dann, wenn die Studenten aus Palermo in den Semesterferien ihre Eltern besuchten und wenn die Gastarbeiterfamilien aus Deutschland, Österreich oder auch aus England kamen, um ihre alte Heimat zu besuchen.

Aber jetzt im Juni, da war von dieser Lebhaftigkeit noch nichts zu spüren. Lediglich ein paar alte Männer saßen an den Hausecken und diskutierten den ganzen Tag über die alten Zeiten. Und natürlich saßen auch in den Cafés rund um die große Piazza immer ein paar Leute, aber ansonsten war das Städtchen ruhig, beinahe totenstill.

Niemandem fiel der fremde Mann auf, der schon den ganzen Vormittag durch die Straßen lief und der mit der Fototasche, die an seiner Schulter baumelte, leicht für einen Touristen gehalten werden konnte. Doch das harmlose Auftreten täuschte. Er war nicht einfach ein Urlauber. Es mochte sein, dass Gaetano bei seiner ersten Reise auf die Insel der Götter gerne mehr Zeit für Besichtigungen und andere Dinge, die Touristen gewöhnlich auf Sizilienreisen unternahmen, gehabt hätte. Er hatte sogar mehrere Reiseführer und Geschichtsbücher gelesen, bevor er seine Fahrt vom Festland aus angetreten hatte, und das, obwohl er eigentlich nur zum Arbeiten hierhergekommen war. Dennoch, die kulturellen Schätze der Insel hatten sein Interesse geweckt. Er begann sich bei seinen Studien über sich selbst zu wundern, dass er zuvor noch nie auf die Idee gekommen war, den südlichsten Teil seines Heimatlandes zu bereisen. Und nicht die jahrhundertealten Sehenswürdigkeiten waren es, denen seine Aufmerksamkeit galt, vor allem die lebhafte Geschichte des Inselreiches weckte seinen Forscherdrang. Denn die verschiedenen Völker, die in den letzten dreitausend Jahren auf Sizilien geherrscht hatten, hatten nicht nur architektonische und kulturelle Spuren hinterlassen, nein, ihn reizte vor allem ein ganz anderer, makaberer Aspekt. Gaetano schien es beinahe, als könnte an der Historie der Insel exemplarisch studiert werden, wie grausam die Menschen im Allgemeinen waren – egal, welcher Herkunft sie waren oder auf welcher Stufe gesellschaftlicher Entwicklung sie standen. Bis in die Neuzeit war eine Herrschaft unbarmherziger gewesen als die vorherige und auch die Bewohner Siziliens mussten im Laufe der Geschichte eine eigenwillige Haltung zur Gewalt entwickeln, um, allen Umständen zum Trotz, zu überleben.

Doch das erschreckte Gaetano nicht. Wenn er hier geboren worden wäre, bestimmt wäre auch er bei einer der ehrenwerten Familien gelandet. Ehre und Grausamkeit, Stolz und Rache – das alles waren Dinge, die sehr nahe beieinanderliegen konnten. All diese Tugenden würden sich wunderbar in Sizilien studieren lassen. Zwar hatte auch er Werke von Rousseau gelesen, als er jung war. All diese philosophischen Theorien, die Menschen seien von Natur aus gut und so weiter – welch ein Schwachsinn. Natürlich war so etwas einfach zu schreiben, wenn man tagaus, tagein auf einem Chateau in der Schweiz saß und Rotwein schlürfte. Doch war es nicht auch Rousseau, der, bevor er größeren Ruhm erlangte, seine fünf leiblichen Sprösslinge in ein Heim für Findelkinder gegeben hatte, da er selbst mit seiner wichtigen Arbeit so wenig verdiente, dass er seine Frau losschickte, um den Lebensunterhalt zu verdienen, sodass diese keine Zeit mehr hatte, sich um die Kindererziehung zu kümmern? Ha, das konnte Rousseau seinen Kindern erzählen, dass er von Natur aus ein guter Mensch sei. Die Realität sah anders aus.

Gaetano jedenfalls erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er das erste Mal einen Menschen tötete. Er war noch sehr jung, kaum einundzwanzig Jahre alt. Es war eine mondklare Nacht. Die Sterne funkelten im Meer und der Abzug klemmte, als er abdrücken wollte. Beinahe hätte sein Opfer fliehen können, doch er schlug den Mann schließlich mit dem Kolben seiner Pistole nieder. Hatte das aus ihm einen schlechteren Menschen gemacht, als er es zuvor gewesen war? Wohl kaum. Gaetano war sich sicher, schon immer genauso viel Schlechtes in sich getragen zu haben wie in diesem Moment. Schon als Kind hatte er sich immer nur um sich gekümmert, um seinen eigenen Vorteil. Irgendwann hatte ihm lediglich jemand einen Haufen Geld geboten, damit er einen anderen Menschen beseitigte – wahrscheinlich war das das Ventil, um all das Böse herauszulassen. Nein wirklich, in der Sekunde, als er das erste Mal einem anderen Mann, der bewusstlos am Boden lag, aus zwei Meter Entfernung eine Kugel durch den Kopf jagte, als er sich das erste Mal in seinem Leben richtig gehen ließ, sich selbst in eine Ausnahmesituation brachte und sich das erste Mal von allen gesellschaftlichen Konventionen (wie sie in normalen Situationen galten) löste – da wusste er, dass er die Essenz seines Menschseins erkannt hatte. In diesem extremen Moment konnte er nicht mehr leugnen, wie viel Böses er tief in sich trug. Die Frage war für ihn seit dieser Nacht also nicht mehr gewesen, wie die Menschen sich nach ihrer Geburt zum Bösen entwickelten, so wie bei dem alten Philosophen, nein, die Frage lautete nun für ihn, wie die Menschen es in ihrem Alltag anstellten, das Böse versteckt zu halten. In der sizilianischen Geschichte gab es massenhaft Beispiele, in denen das nicht funktioniert hatte, weil es keinen normalen Alltag gab. Das faszinierte ihn. Er würde wieder hierherkommen, wenn er seine Arbeit erledigt hatte, um die alten Tempelanlagen der Griechen, die Barockstädte im Süden (die ihre Entstehung dem großen Erdbeben von 1693 zu verdanken hatten, bei dem etliche Ortschaften komplett zerstört wurden) und die Kirchen der Normannen in Palermo zu besichtigen.

Er blickte auf seine Armbanduhr. Das Ziffernblatt war hell erleuchtet von der unbändigen Intensität der Sonnenstrahlen, sodass er sein Handgelenk ein paarmal drehen musste, bis er überhaupt die Zeit ablesen konnte. Es war kurz vor eins. In einer halben Stunde würde er sich mit seinem Auftraggeber treffen, doch was würde er ihm berichten?

Er betrat einen der kleinen Gemischtwarenläden auf der Hauptstraße, der Via Immacolata, und ging direkt auf den Inhaber zu, der hinter seiner mit Feuerzeugen, Postkarten, Heiligenbildern und Süßigkeiten vollgestellten Verkaufstheke stand.

»Entschuldigen Sie, ich suche nach dem Mann, der Predicatore genannt wird, Sie haben doch bestimmt schon mal von ihm gehört?«

Der Verkäufer rückte seine große Hornbrille zurecht und nickte dann.

»Diesen Wanderprediger meinen Sie? Klar, die ganze Stadt spricht von dem«, sagte er und blickte dann auf die blonde Frau, die in diesem Moment den Laden betrat.

»Und?«, fragte Gaetano.

»Und was?« Der Verkäufer starrte Carla an, als hätte er noch nie eine Frau gesehen.

»Na, ob Sie ihn schon irgendwo sichten konnten, wollte ich wissen«, hakte Gaetano nach.

Schließlich wandte der Verkäufer den Blick von der gut aussehenden Blondine ab, die gerade an einem der zahlreichen Regale, die in dem kleinen Verkaufsraum standen, einen Fotoapparat anschaute, und sah wieder zu Gaetano.

»Nein, gesehen hab ich ihn noch nie. Aber fragen Sie doch mal den Schwager meines Cousins, der kann Ihnen vielleicht weiterhelfen. Renato heißt er.«

»Ja, ja, schon gut.« Gaetano gab sich geschlagen. »Sagen Sie, haben Sie eigentlich auch Batterien?«

»Batterien? Letztes Regal, hinten rechts.«

Der Verkäufer machte eine Handbewegung, die Gaetano nicht zu deuten wusste, er hatte aber davon gelesen, dass die Sizilianer in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft eine ausgeklügelte Zeichensprache entwickelt hatten, mit der es sogar möglich war, sich ganz ohne Worte zu verständigen. Nur für den Außenstehenden waren die Gesten meist nicht zu verstehen. Gaetano ging aber davon aus, dass sein Gegenüber eine abfällige Bewegung gemacht hatte, um seinen Unmut zum Ausdruck zu bringen, dass Gaetano nicht mehr Interesse an seinen Informationen aufgebracht hatte.

Gaetano drehte sich um und lief an Carla vorbei, die mit dem Fotoapparat in der Hand auf die Theke zusteuerte. Im Augenwinkel sah er, wie sie bezahlte, als er sich durch eine Plastikschale mit Batterien in den unterschiedlichsten Größen wühlte.

»Sagen Sie, können Sie mir Informationen über den sogenannten Predicatore geben?«, fragte Carla den Verkäufer.

Gaetano war sofort hellwach. Er stellte sich hinter eines der Regale in der Mitte des Raumes, von wo aus ihn der Verkäufer und Carla nicht sehen konnten und er in aller Ruhe zuhören konnte.

»Wissen Sie, ich bin eine Reporterin vom Cronaca Meridionale«, log Carla den Mann an.

»So ein Zufall, der junge Mann dort hinten hat mich eben dasselbe gefragt.« Er zeigte in die hintere Ecke des Raumes, in der jetzt niemand mehr zu sehen war. »Nanu, wo ist er denn hin? Na, so was!«

Carla sah sich um, auch sie konnte niemanden entdecken.

»Vielleicht hätten Sie sich mit ihm zusammentun können, ich kann Ihnen nämlich auch nicht weiterhelfen«, sagte der Verkäufer.

»So … Wissen Sie denn, warum der Mann den Predicatore sucht? Ist er auch von der Presse?« Sie steckte die Kompaktkamera und die vier Filme, die sie gekauft hatte, in ihre Handtasche.

»Von der Presse? Das weiß ich nicht. Mag sein, er hatte auch einen Fotoapparat bei sich«, antwortete der Verkäufer.

»Na gut, können Sie mir sagen, wo sich das Caffè della Vita befindet?«, fragte Carla.

»Das Vita? Da müssen Sie gerade die Straße hinunterlaufen, über die kleine Piazza rüber, durch die kleine Verbindungsstraße und dann auf die große Piazza, da ist es. Wissen Sie, wir haben hier im Ort zwei Piazze, aber natürlich sind die direkt nebeneinander.« Er nutzte seine Hände, um ihr die Ausmaße der einzelnen Piazze anschaulich zu machen.

»Vielen Dank«, sagte Carla und verließ das kleine Geschäft.

Als sie aus der Sichtweite der Schaufenster war, trat Gaetano hinter dem Regal hervor, ging zum Tresen und legte die Batterien und einen Fünfeuroschein auf die Theke.

»Da sind Sie ja auf einmal wieder. Ich hätte schwören können, Sie hätten sich in Luft aufgelöst.« Der Verkäufer sah erstaunt auf.

»Sie müssen das nächste Mal einfach nur besser hinsehen«, sagte Gaetano und nahm das Wechselgeld entgegen.

Der Verkäufer erzählte noch eine Geschichte von einem seiner Neffen oder vielleicht auch von jemandem mit einem ähnlichen Verwandtschaftsgrad, doch Gaetano hörte ihm schon nicht mehr zu. Er dachte über die Journalistin nach und ob sie zu einer Gefahr für ihn werden könnte. Zum Glück gab es keine Gefahren, denen er sich nicht stellte, und wenn sie ein Problem darstellen sollte, wenn sie zu neugierig werden würde, würde er die Angelegenheit mit Freuden lösen. Wenn die Reporterin eine Schlagzeile will, dann helfe ich ihr, dass sie selbst zur Schlagzeile wird: »Reporterin des Cronaca Meridionale auf Geschäftsreise verschollen«.

Ob er noch einmal zurück zur Pension gehen sollte, um seine Beretta zu holen, bevor er sich mit dem Auftraggeber traf? Nein, dafür reichte die Zeit nicht mehr.

Er steckte die Batterien in seine Kameratasche und steuerte auf die Ausgangstür zu, als der Ladenbesitzer ihm hinterherrief: »Sagen Sie mal, sind Sie jetzt eigentlich Reporter oder nicht?«

»Reporter?«

Gaetano stand in der bereits geöffneten Tür und sah noch einmal kurz zu dem Mann hinter der Theke.

»Nicht wirklich«, sagte er und verschwand auf die Via Immacolata.

Caffe della Vita

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