Читать книгу Einführung in die Philosophie - Daniel-Pascal Zorn - Страница 5

Einleitung

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Wer sich zum ersten Mal mit Philosophie beschäftigt, sieht sich vor ein Problem gestellt. Philosophie, so will es eine Übersetzung1 des Begriffs, ist Liebe zur Weisheit. Ihr Versprechen ist, so scheint es, das Erringen von Weisheit oder zumindest die Annäherung an ein höheres Wissen. Ermutigt durch dieses Versprechen nimmt der Leser oder die Leserin den Text eines großen Philosophen – sagen wir Aristoteles, Kant oder Hegel – zur Hand. Doch was er oder sie dort findet, ist keine Verkündigung eines höheren Wissens. Stattdessen: Endlose Textwüsten, schwer verständlich geschrieben, eine verwirrende Vielzahl von Begriffen, die einem vage bekannt vorkommen, aber teilweise ganz anders verwendet werden, als man es gewohnt ist. Enttäuscht lässt man den Text sinken. Das soll die große Weisheit sein, die einem versprochen wurde? Man versteht ja noch nicht einmal, was diese Leute schreiben, geschweige denn was sie einem damit sagen wollen. Lange bevor man versteht, was ein philosophisches Problem sein könnte, erscheint einem der Zugang zur Philosophie selbst als Problem.

Es gibt verschiedene Wege, mit dieser anfänglichen Krise in der Lektüre philosophischer Texte umzugehen. Die einen verabschieden sich ganz von ihr und bilden sich ihre Meinung über sie: Philosophie ist unverständlich, weltfremd und darum für den Alltagsgebrauch nutzlos. Weil man nichts mit ihr anzufangen weiß, erscheint sie einem wie ein Glasperlenspiel, selbstbezogen und überflüssig. Sie gibt sich den Titel großer Weisheit, ist aber noch nicht einmal ausreichend weise, diese Weisheit verständlich zu vermitteln. Das Lächerliche in diesem Eindruck wirkt wie eine Erleichterung. Es hilft dabei, die Frustration der ersten Lektüreerfahrungen zu kompensieren. Nach und nach tritt an die Stelle der unbewältigten Lektürekrise das Bild eines philosophischen Hanswursts, der einem nichts anzubieten hat. Man belächelt noch ab und zu diejenigen, die sich die Mühe machen, die Texte zu verstehen. Selber hat man jedoch erkannt, dass der Kaiser keine Kleider trägt. Auch das fühlt sich ein bisschen wie Weisheit an – und so geht man seiner Wege.

Andere lassen sich nicht so leicht täuschen. Sie ahnen, dass die Texte, die sie nicht verstehen, nicht ganz ohne Grund als große Philosophie gelten. Also suchen sie einen Zugang. Das ist die Situation, für die Einführungen in die Philosophie geschrieben werden. Sie ist geprägt durch die Lektürekrise des Lesers oder der Leserin und damit von vornherein mit schwierigen Fragen belastet: Bin ich zu dumm für die Philosophie? Oder fehlt mir nur das richtige Werkzeug? Habe ich genug Ausdauer, Zeit, Kraft, Geduld, mir diese Werkzeuge anzueignen? Was, wenn ich den Text auch nach einer Einführung nicht richtig (oder gar nicht) verstehe? Wann weiß ich, wann ich das richtige Verständnis erreicht habe? Das Versprechen von Weisheit, das schon im Begriff der Philosophie zu stecken scheint, wird vom lohnenden Ziel zur persönlichen Prüfung. Denn wer nicht einmal den Text richtig versteht, wie soll derjenige – oder diejenige – eine darin liegende Weisheit verstehen? Wer zumindest den Text versteht, hat die Möglichkeit, der darin liegenden Weisheit nahe zu kommen. Aber wer noch nicht einmal das schafft, der hat ein für alle Mal die Gewissheit, dass er zu der Weisheit, die die Philosophie ihm verspricht, nichts taugt.

Das ist jedenfalls die krisenhafte Situation, in die man gestürzt werden kann, wenn man auf eigene Faust philosophische Texte liest. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, kann sie als Ausdruck einer einzigartigen Nachfrage nach Sinn und Bedeutung philosophischen Denkens verstanden werden. Wer in dieser Situation als Experte oder als akademische Lehrautorität auftreten kann, besitzt damit ein Pfund, mit dem sich potenziell endlos wuchern lässt. Das muss keineswegs böser Absicht entspringen. Vielmehr ergibt es sich aus dem System, das sich um das Rätsel der philosophischen Texte herum gebildet hat.

Ein Garten der Pfade, die sich verzweigen

Nehmen wir an, Sie möchten Kant lesen, scheitern aber am Text, weil er Ihnen nichts sagt. Also greifen Sie zu einer Einführung. Sie wurde verfasst von einer, wie Sie dem Klappentext entnehmen, Koryphäe der Kant-Forschung. Endlich ein Zugang zu Kant! Doch während der Lektüre dieser Einführung bemerken Sie, dass sich der Experte wiederum auf eine ganze Menge anderer Experten beruft. Dabei betont er keineswegs, wie Sie es erwartet haben, dass sich alle Experten einig sind. Vielmehr streicht er die Unterschiede im Kant-Verständnis heraus, stellt verschiedene Optionen zur Auswahl und deutet an, dass er die eine Option wählt, die von anderen Experten abgelehnt wird, während wieder zwei andere Experten den Text ganz anders lesen. Wer hat nun recht?

Um das zu erfahren, müssen Sie wohl oder übel auch die anderen Kommentare lesen. In denen finden Sie nun aber einen Streit darüber, was der Autor Ihrer Einführung wohl mit einer seiner früheren Auslegungen gemeint habe. Plötzlich ist nicht mehr der Text von Kant thematisch, sondern ein Text über Kant. Man hat die Ebene gewechselt und befindet sich nun mitten in einem Forschungsdiskurs über diesen Text. Etwas ratlos fragen Sie bei einem befreundeten Philosophen nach. Er empfiehlt Ihnen, zu einem der beiden Autoren, die sich über Ihren Ursprungsautor streiten, eine weitere Einführung zu lesen. Sonst würde man nicht verstehen, aus welcher Perspektive er den Autor Ihrer ersten Einführung kritisiert. Sie lesen die Einführung und stoßen auf eine ganze philosophische Schule, auf die dieser zweite Autor zurückgreift. Es hilft nichts – um seine Perspektive zu verstehen, müssen Sie sich ausgiebiger mit dieser Schule beschäftigen. Sie müssen wieder die Ebene wechseln, von einem Text über den Text über Kant zu einem Text über diesen Text.

Auch wenn ich es etwas überspitzt dargestellt habe – der Weg zu Kants Text führt Sie, je weiter Sie ihn gehen, immer weiter weg von Kants Text. Es ist ein bisschen wie in Kafkas Erzählung Das Schloß: Je mehr Sie versuchen, zu der Ihnen versprochenen Weisheit zu gelangen, desto weiter entfernen Sie sich davon. Oder es ergeht Ihnen wie dem Mann in der Fabel aus Kafkas Erzählung Der Proceß: Hinter jedem Torwächter, den Sie überwinden, steht noch ein weiterer, mächtigerer Torwächter. Der Text, zu dem Sie zunächst so selbstverständlich als Leser oder Leserin gegriffen haben, wird nun umstellt von Kommentaren und Kommentaren zu diesen Kommentaren und Kommentaren, die die Verhältnisse zwischen den Kommentaren kommentieren usw. Und wer die wichtigsten Lehrautoritäten nicht kennt, wie will derjenige zur akademischen Forschung beitragen können?

Man kann natürlich versuchen, sich in diesem Diskurs einzurichten. Dafür muss man zunächst akzeptieren, dass es unmöglich ist, sämtliche Verzweigungen der Forschung auch nur zu einem einzigen Philosophen zu überblicken. Man sucht sich also eine Nische aus, in der man forschen kann, meist ein ausgefallenes Thema oder eine originelle Abwandlung einer anerkannten Herangehensweise. Was anerkannt ist, wird in vielen Fällen in den Expertendiskursen bekannter akademischer Lehrer festgelegt. Der Diskurs ordnet sich dann nicht selten nach Maßgabe akademischer Prominenz an. Und weil man zu Beginn weder anerkannter Experte, noch bekannter akademischer Lehrer ist, sucht man sich ein Gravitationszentrum, um das die eigene Forschung kreisen kann. Man passt sich an, schwimmt mit dem Strom und bleibt relevant.

Oder man scheidet aus dem Mainstream aus, vertritt eine abweichende Forschungsmeinung und versucht sein Glück als Querdenker. Es gibt viele Geschichten über solche Querdenker, die durch harte Arbeit, glückliche Fügung oder die Förderung durch einzelne berühmte Philosophen für den gesamten Forschungsdiskurs wichtig wurden. Die Zahl dieser Geschichten verhält sich umgekehrt proportional zu der Zahl derjenigen Querdenker, die tatsächlich auf nennenswerte Weise gefördert oder auch nur für relevant oder wichtig gehalten werden. Die vielen Anekdoten über glückliche Fügungen verbergen den Umstand, dass sie außerordentlich selten sind.

Erkennbar wiederholt sich hier das Problem vom Anfang. Entweder man wendet sich gleich von der Philosophie ab und erklärt sie für irrelevant. Oder man beruhigt die Krise, in die die Lektüre philosophischer Texte einen stürzen kann, durch die Anerkennung anerkannter Forschungsdiskurse, die einem außerdem akademischen Rückhalt verschaffen. Im ersten Fall setzt man die Selbstverständlichkeit des Alltäglichen gegen die Irritation der Philosophie. Im zweiten Fall setzt man die Selbstverständlichkeit der Meinungen über die Philosophie gegen die Irritation der – allerdings immer leiser werdenden – Frage, was das alles mit dem Text zu tun hat, über den doch alle streiten.

Philosophie als Einführung

Die vorliegende Einführung in die Philosophie versucht, dem Leser oder der Leserin einen dritten Weg neben den beiden skizzierten vorzuschlagen. Als Alternative ist er auch an die adressiert, die mit der Philosophie bereits abgeschlossen haben oder die sich mit ihr vom Boden einer philosophischen Schule aus auseinandersetzen. Aber vor allem soll diese Einführung ein Angebot sein für den Leser oder die Leserin, die noch vor dieser Entscheidung stehen: Sie haben die Lektüre Ihres ersten philosophischen Textes noch vor sich oder Sie sehen sich gerade vor das anfangs skizzierte Problem des Zugangs zu diesen Texten gestellt. Für diese Situation will die vorliegende Einführung eine Handreichung bieten.

Einführungen in das philosophische Denken gehören von Beginn an zur Philosophie dazu. Man könnte sogar sagen, dass die Philosophie selbst nichts anderes ist als eine Tradition von Texten, die in die Philosophie – d. h. in ihre Vorstellung von Philosophie – einführen wollen. In diesem Sinne hat derjenige, der eine solche Einführung schreibt, so scheint es, eine unmögliche Aufgabe zu erfüllen: Er möchte in etwas einführen, das er schon auf eine bestimmte Weise vorausgesetzt hat – er möchte in die Philosophie einführen und vertritt dabei selbst bereits eine philosophische Perspektive.2

Wer eine Einführung in die Philosophie schreibt, der muss also eine Entscheidung treffen. Entweder führt er in die Philosophie auf eine Weise ein, die er dem Leser als eigene Perspektive anbietet: How I see philosophy. Das ebnet den Weg für Einführungen in die Philosophie, die ganz von einer beliebigen Philosophieauffassung des Autors der betreffenden Einführung abhängig sind. Sie führen nicht selten in den weiter oben skizzierten Forschungsdiskurs hinein, versuchen den Leser oder die Leserin für eine bestimmte Perspektive zu gewinnen und damit die eigene Relevanz zu erhöhen.

Doch eine solche Vorgehensweise gibt letztlich die eigene Verantwortung nur an den Leser oder die Leserin weiter. Wo diese eine Einführung in ein Fach, eine Disziplin, eine Denkweise erwarten, die sie bisher nur undeutlich unter dem Begriff »Philosophie« verstanden haben, wird ihnen eine Sichtweise auf die Philosophie präsentiert, zu der es potenziell unendlich viele Alternativen gibt. Wer solche Einführungen liest, der läuft Gefahr, sowohl die ungenannten Voraussetzungen, die stillen Überzeugungen, als auch die deutlich ausgesprochenen Meinungen über die Philosophie – und die Philosophen – vom Autor zu übernehmen. So ist es kein Wunder, dass wieder andere Einführungen in die Philosophie die philosophische Tradition in Denkschulen von Meinungen über Philosophie einteilen, deren weltanschauliche Auseinandersetzung bis heute andauert und tendenziell als unlösbar gilt. Die Vielfalt von Zugängen auf die Philosophie in den tradierten philosophischen Texten spiegelt sich in der Vielfalt der Zugänge auf diese Texte in der Einführungsliteratur. Was sich als Orientierungshilfe ausgibt, vervielfältigt die Pfade, die sich verzweigen, und lässt den Leser oft ratloser zurück als vorher.

Es gibt aber auch noch eine andere Möglichkeit, die vermeintlich unlösbare Aufgabe zu bewältigen, eine Einführung zu schreiben, die selbst einen philosophischen Standpunkt einnimmt. Anstatt einen bestimmten Philosophiebegriff als gegeben vorauszusetzen – und damit die Vorstellungen des Lesers von der Philosophie einschränkend vorzuprägen –, nimmt die vorliegende Einführung drei Vollzugsweisen in den Blick, die die philosophische Tradition insgesamt auszeichnen. Diese Vollzugsweisen sind so grundlegend, dass sie als Ausgangspunkt zunächst sogar banal erscheinen. Sie scheinen nicht recht zur Philosophie dazuzugehören, scheinen vielmehr zu denjenigen selbstverständlichen Voraussetzungen zu gehören, die man zu einem Philosophiestudium schon mitbringen muss. Die vorliegende Einführung wird sich bemühen, diese Vorstellung selbstverständlicher Voraussetzungen auf bestmögliche Weise philosophisch zu irritieren. Das tut sie, indem sie diese Voraussetzungen als philosophisches Problem betrachtet – und dabei ein Beispiel dafür gibt, was es überhaupt heißen kann, etwas als philosophisches Problem zu betrachten.

Philosophische Lektüre

Die erste Vollzugsweise ist die Lektüre. Sie ist Thema des ersten Teils der vorliegenden Einführung und zugleich die conditio sine qua non philosophischen Denkens. Die philosophische Tradition ist zu einem Großteil der Lektüre und Relektüre früherer Philosophen gewidmet, der Aneignung und Kritik der bereits vorliegenden Argumente und Denkfiguren. Nahezu jeder Philosoph liest andere Philosophen und gewinnt aus der Auseinandersetzung mit ihnen seinen eigenen Standpunkt. Soweit man den Texten entnehmen kann, übertreffen dabei philosophische Vorbildung, Aufmerksamkeitsspannen und Lektüredimensionen, Vielfalt und schiere Menge der gelesenen Texte heutige Lektüregewohnheiten bei Weitem. Das ist bei einer über zweitausendjährigen, beinahe ausschließlichen Schriftkultur kein Wunder. Nimmt man dann noch den heutigen Trend zur Digitalisierung, zur Verbildlichung des Sprachlichen, zur Abkehr vom Text und die Hinwendung zu intuitiveren Rezeptionsweisen hinzu, dann scheint die Zeit der genuin textlichen Auseinandersetzung mit der Philosophie vorbei zu sein.

Doch Lektüre bemisst sich nicht an einem linearen Verhältnis der Menge der Texte zur Weite des Wissens. Wer lernt, in seiner Lektüre auf bestimmte Aspekte zu achten, der kann das, was er in oder an einem Text lernt, auf alle anderen Texte anwenden. Verschiedene Aspekte der Lektüre lassen sich kombinieren und bringen neue, unerwartete Aspekte des gelesenen Textes hervor. Und so entwickelt sich in dieser Kombination eine Lektürekompetenz, die in relativ kurzer Zeit nicht nur viel mehr und komplexere Texte zu bewältigen imstande ist, sondern die auch mehr am einzelnen Text zu sehen und ihn zu anderen Texten in Beziehung zu setzen vermag. Wer in die Lektüre philosophischer Texte einführen will, der darf die Aufmerksamkeit des Lesers nicht mit vorgefertigten Schablonen lenken. Er muss diese Aufmerksamkeit vielmehr dazu befähigen, die eigenen Einsichten des vorigen Schrittes für den nächsten Schritt mit zu bedenken.

Wenn es also Ziel des ersten Abschnitts dieser Einführung ist, dem Leser oder der Leserin – provokativ gesagt – allererst das Lesen beizubringen, dann geht es weniger darum, ihnen vorgefertigte Textarten und Kategorien zur Bewertung philosophischer Texte an die Hand zu geben. Vielmehr soll es darum gehen, sie zur Lektüre philosophischer Texte zu ermächtigen – und damit auf die Einsicht hinzuweisen, dass sie es am Ende selbst sind, die sich zu dieser Lektüre, die dann ihre Lektüre sein wird, ermächtigen können. Dieses didaktische Interesse schwebt aber nicht in der Luft. Es wird zurückgebunden an den konkret gegebenen Text, der das Gemeinsame aller seiner Leser und Leserinnen ist.3 In dieser Kombination aus ermächtigender Didaktik und philologischer Strenge wird es möglich, hermeneutische Pathologien zu überwinden, die Generationen von Philosophen in unproduktive Kommentarregresse und erstarrte Ehrfurcht gegenüber den großen Philosophen geführt haben. Der Leser und der Text – in der Annahme dieses einfachen Verhältnisses besteht der erste Schritt in die Philosophie.

Philosophisches Gespräch

Die zweite Vollzugsweise der philosophischen Tradition ist die Diskussion. Auch wenn sie in der Gegenwart vor allem auf hochspezialisierten Fachkongressen und populärwissenschaftlichen Life-Style-Messen vollzogen wird, erschien sie doch in den vergangenen 2500 Jahren in verschiedenen Formen. So gab es schon vor Platons Entscheidung, durch die Form des Dialogs selbst in die Philosophie einzuführen, in Athen eine rege öffentliche Debatte, die sich auf Texte wie auf öffentliche Redebeiträge stützte. Sokrates’ Gespräche auf dem Marktplatz sind zum Symbol für »die Philosophie« geworden, in der Traktate und andere Werkformen lange Zeit nur Niederschlag dieser lebendigen Debatte waren.

Auch andere exemplarische Orte wie der Garten oder die Säulenhalle waren von der Antike bis weit in die Neuzeit Zeichen für den philosophischen Dialog in der Gemeinschaft aller an ihm Teilhabenden. Ein kleiner städtischer Platz in den Außenbezirken von Alexandria, eine weitläufige Gartenanlage in Süditalien, ein Schulzimmer in einer mittelalterlichen Kathedralenschule oder ein Salon in den Hinterzimmern der feineren Gesellschaft – Philosophen haben stets Räume gewählt, in denen das gemeinsame Denken möglichst frei zirkulieren konnte. Sie waren geschult im Gespräch, nicht nur rhetorisch und polemisch, auch analysierend, zuhörend und ergänzend – und ihre Fertigkeiten schlagen sich in den Texten nieder, die ihre Nähe zu stundenlangen Debatten mit Garten- und Hausgesellschaften oft nicht verbergen können.

Diese Praxis des freien Dialogs, die Aufmerksamkeit auf Begründung und Voraussetzung, nannte Platon, nach dem griechischen Begriff für das Gespräch, Dialektik. Blickt man mit einem dialektischen Verständnis auf den gegenwärtigen öffentlichen Diskurs, dann kann man den Eindruck gewinnen, dass die jahrtausendealten Kulturtechniken – bis auf wenige Fragmente – vergessen sind. Der heutige öffentliche Diskurs wird von dem beherrscht, was noch bei Platon Sophistik heißt, also von der selbstverständlichen Inanspruchnahme von Fehlschlüssen und logischen Tricks, um das Gegenüber in die Bestätigung der eigenen Sichtweise zu locken. Wo die Sophistik sich nicht durchsetzen konnte, beherrscht ein versteinertes Methodenverständnis die wissenschaftliche Debatte. Politischer und gesellschaftlicher und wissenschaftlicher und philosophisch-methodischer Diskurs – alle neigen dazu, sich gegenüber allen anderen zu verabsolutieren.

Im zweiten Teil dieser Einführung sollen dem Leser und der Leserin daher die Grundtechniken fairen, sachlichen und dialektisch aufmerksamen Diskutierens wieder nähergebracht werden. Dialektisch heißt dabei nicht gleich: platonisch oder aristotelisch, sondern es bedeutet, dass die im ersten Abschnitt erlernte Aufmerksamkeit der Lektüre auch im Dialog nützliche Beschreibungen hervorbringen kann. Zugleich stellt sie die selbstverständliche Vorherrschaft der sophistischen Rhetorik und des wissenschaftlichen Schubladendenkens in Frage. Wer gelernt hat, auf selbstkritisch reflektierte Weise zu diskutieren, der kann erfahren, dass Philosophie geschieht, wo wir uns begegnen, um miteinander zu sprechen.

Philosophisches Schreiben

Die im dritten Teil der vorliegenden Einführung behandelte Vollzugsweise der Philosophie ist die Voraussetzung für die erste: das Schreiben philosophischer Texte. Heute wird an vielen Stellen der Maßstab einer an der (natur)wissenschaftlichen Forschung orientierten Darstellung von Ergebnissen angelegt. Aber eine philosophische Schreibkultur, die einen philosophischen Text auf den mechanischen Ablauf »These – beliebige Argumentation – Ergebnis« zurechtstutzen will, ist nicht nur der Tod ihrer selbst, sondern auch das Ende von philosophischer Tradition.

Dabei war Philosophie die längste Zeit mit dem Experiment des eigenen Ausdrucks im Text beschäftigt. Manche ihrer Texte legen beredt Zeugnis davon ab, wie ihre Autoren versuchten, sich von einer verhärteten Form der Darstellung zu lösen und der Freiheit des Gedankens in der Freiheit des Schreibens Ausdruck zu verleihen. Das Schreiben von Philosophie lässt zudem erst eine Tradition entstehen, auf die wir uns beziehen können. Wer daher selbst irgendwann damit beginnt, philosophische Texte zu schreiben, der kann nachvollziehen, wie sehr das Lesen, das Denken und das Schreiben miteinander verbunden sind. Er oder sie lernt dabei nicht nur, wie die Philosophen, die er liest, zu lesen. Er lernt auch wie sie zu schreiben – und lernt dabei den Umweg kennen, den der Gedanke auf seinem Weg auf das Papier machen muss.

So erscheint das philosophische Schreiben in der Tradition eben nicht nur als Darlegung von Denkergebnissen oder Argumentationsketten, die diese oder jene Deduktion oder Explikation enthalten oder ermöglichen. Es ist auch ein Medium der Selbstklärung wie der Selbstproblematisierung. Im Text spiegelt sich der Autor als Sprechender – in ihm kann er sich, sein Denken, seine Begriffe, seine Überzeugungen kritisch in den Blick nehmen. Wo eine Philosophie des eingeschränkten wissenschaftlichen Blicks nur biographische Versuche erkennen kann, da stellt sich dann genau das Gegenteil ein: der Versuch, von der als selbstverständlich erfahrenen Selbsterzählung den Weg zu einer Befragung dieser Selbstverständlichkeit und dieser Erzählung zu finden. Wer so fragt, der findet sogleich ganz verschiedene Weisen, sich auf sich beziehen zu können. Und umgekehrt lernt der Leser oder die Leserin in diesen Weisen Möglichkeiten kennen, es ihm nachzutun.

Auch hier verbindet sich der experimentelle, fast literarische Aspekt philosophischen Schreibens aber mit einer Strenge, die der Literatur selbst ganz fremd ist. Das Festhalten an und Klären von Begriffen, die man in der eigenen Argumentation verwendet, der Anspruch, logisch in Übereinstimmung mit dem zu bleiben, was man voraussetzt, schließlich der Versuch, im eigenen Denken zugleich den Spiegel und die Überwindung der philosophischen Vorgänger zu finden – all das führt zu einem Schreiben, das sich selbst ständig disziplinieren muss.

Wer mit dem Leser des eigenen Textes in einen Dialog treten will, der muss diesen Leser mit einbeziehen, seinen Horizont bedenken, seine Fragen erahnen und seine Erwartungen durchkreuzen. Dass das schwieriger werden kann als gedacht, merkt, wer selber damit beginnt, philosophische Texte zu schreiben. Die eigenen Erfahrungen, der eigene historische Horizont, verschiedene Rahmenbedingungen und sprachliche Gewohnheiten finden ihren Weg in den eigenen Text. Damit erschließt sich für den philosophisch Schreibenden aber zugleich, warum ihm philosophische Texte anfangs so unverständlich erschienen sind.

Auch das Schreiben ist – wie das Lesen – durch die Abwendung von der Schriftkultur der letzten beiden Jahrtausende keine selbstverständliche Kulturtechnik mehr. Aber gerade deswegen soll in der vorliegenden Einführung – neben der Vorstellung verschiedener philosophischer Schreibweisen – die Funktion des Schreibens als kritischer Dialog mit sich selbst eine wichtige Rolle spielen. Wie die Lektüre, so muss auch das Schreiben wieder als eine Praxis, eine Fähigkeit und nicht nur als eine Darstellungstechnik verstanden werden, damit die Philosophie in Zukunft neue Wege finden kann.

1 Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1978, S. 13.

2 Aristoteles’ Protreptikos, Frgte. 51,1–5 R3, zitiert nach: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 20. Fragmente zu Philosophie, Rhetorik, Poetik, Dichtung Teil I, hg. v. Hellmut Flashar, Berlin 2005, S. 50–51: »[…] ob man philosophieren muss, ob man nicht philosophieren muss, (dazu) muss man in jedem Fall philosophieren.«

3 Rancière, Jacques: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über intellektuelle Emanzipation, übers. v. Richard Steurer, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2009, S. 35.

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