Читать книгу Regensburg am Schwarzen Meer - Daniel Weißbrodt - Страница 6
Sommer 2008
ОглавлениеEIN MIETSHAUS IM LEIPZIGER WESTEN, vier Stockwerke hoch und gebaut in den 1880er Jahren, Gründerzeit, Backsteinziegel und Stuck. Hinter dem Haus ein gepflasterter Hof mit ein paar Blumenkästen und einer Bank, drei Garagen und eine ehemalige Autowerkstatt.
Die Treppe zum Boden über der Werkstatt ist steil und das Geländer verbogen, die Stufen sind verrostet und die Tür ist nur angelehnt. Unter dem schrägen Dach riecht es nach Holz und nach Öl, Staub flimmert im Licht, das durch die Ritzen zwischen den Ziegeln fällt, und auf einem Regal verrosten Schraubenschlüssel und ein Hammer unter einer Staubschicht.
Hinten im Halbdunkel liegt auf grauen, alten Bohlen neben einem zerbrochenen Stuhl und einem rostigen Eimer noch immer das Boot. Es ist ein Faltboot, viereinhalb Meter lang und achtzig Zentimeter breit, mit grauem Gummiboden und dunkelblauem Verdeck, mit hölzernen Leisten und Spanten, und auch das Paddel ist noch da. Auf dem Kielbrett ist ein kleines Schild angebracht, auf dem steht »VEB Mathias-Thesen-Werft, Deutsche Demokratische Republik, 1984«, und auf dem Verdeck ein Aufnäher, »Kolibri IV«. Es hat zwei Sitze aus Sperrholz und ein kleines Ruder aus Aluminiumblech, es ist verstaubt und der Stoff ist mit einigen, schwarzen Stockflecken gesprenkelt, aber es scheint intakt zu sein und das hölzerne Gerüst ist honigfarben und sieht stabil aus.
Das Boot gehörte einer Frau, die schon seit ein paar Jahren nicht mehr im Haus wohnt. Sie war von unbestimmbarem Alter und hockte oft stundenlang auf dem Hof, mit Kreide schrieb sie in Schönschrift seltsame Botschaften auf das Pflaster, sie ordnete Zweige und Kiesel zu Mustern, murmelte unverständliche Sätze und sah mich und die anderen Mieter mit bösen Blicken an.
Irgendwann hatte es gebrannt in ihrer Wohnung, aus den Fenstern kam schwarzer Rauch und ein Feuerlöschzug stand vor dem Haus. Danach war die Frau verschwunden, niemand weiß wohin, wir haben sie nie wieder gesehen und nichts mehr von ihr gehört.
AM ABEND SITZE ICH IM SESSEL, vor mir ein Glas Rotwein, und überlege.
Seit Jahren liegt das Boot auf dem Boden und die Frau wird wohl kaum wiederkommen, um es abzuholen. Und selbst wenn, dann kann ich es mir ja trotzdem einfach mal für einen Sommer ausleihen, denke ich, sie wird schon nichts dagegen haben, und ich nehme den Atlas aus dem Bücherregal.
Mit dem Boot möchte ich also fahren, aber wo oder wohin?
Es ist nicht weit bis zur Elbe, aber das Stückchen Fluss von Torgau bis Hamburg sieht ganz klein und kurz aus auf der Europakarte und ich suche weiter. Die meisten deutschen und mitteleuropäischen Flüsse nehmen den Weg nach Norden, in die Ostsee oder in die Nordsee. Rhein und Weser, Oder und Wisła.
Ich suche weiter.
Die Donau fließt nach Südosten und an ihr – mit 2 857 Kilometern ist sie der zweitlängste Strom Europas – liegen von Deutschland bis zur Ukraine zehn Länder. Kein Fluss auf der Welt hat mehr Anrainerstaaten, alle paar hundert Kilometer kommt eine neue Grenze, ein neues Land, und das, denke ich mit dem Atlas auf den Knien, das könnte interessant werden.
Es ist das gleiche Wasser, an dessen Ufern die Menschen in Regensburg und in Wien, in Budapest und in Belgrad, in Ruse und in Galaţi leben, aber wie leben sie? Verbindet sie der Fluss, macht er sie zu Nachbarn oder sind die Sprach- und Landesgrenzen stärker, und was wissen und denken sie überhaupt voneinander?
Mit dem Faltboot auf der Donau, das klingt gut, denke ich, auch wenn ich kein geübter Sportler bin und genaugenommen bin ich überhaupt kein Sportler, ich arbeite im Archiv, ich sitze den ganzen Tag am Schreibtisch und wenn ich einmal in der Woche einer Straßenbahn hinterherrenne, dann ist mein durchschnittliches Pensum an Bewegung auch schon erreicht, doch die Strömung wird mich mit sich tragen wie ein Blatt. Ich kann paddeln und ich kann mich treiben lassen, ganz wie ich will, denn der Fluss fließt schließlich ohnehin.
Verfahren kann ich mich wohl kaum, aber ich bestelle mir trotzdem einen Wasserwanderführer vom Deutschen Kanuverband, »Die Donau und ihre Nebenflüsse«, und stelle mir vor, wie es wohl sein wird in Österreich und in der Slowakei, in Ungarn, Kroatien und Serbien, und im Wikipedia-Artikel »Donauschifffahrt« lese ich: »Die gesamte Donau ist inzwischen selbst für unerfahrene Bootsführer leicht befahrbar. Was noch fehlt, sind ausreichend Marinas«, aber einen Platz zum Anlegen, den werde ich schon irgendwo finden.
Bei Regensburg erreicht die Donau ihren nördlichsten Punkt und die Stadt liegt nur etwas mehr als dreihundert Kilometer südlich von Leipzig. Von Regensburg bis Belgrad sind es 1 210 Kilometer und wenn ich am Tag sechzig Kilometer fahre, dann dürfte das in drei Wochen eigentlich zu schaffen sein, denke ich, wenn die Bootshaut überhaupt noch dicht ist und das Boot fahrtauglich.
EIN PAAR TAGE DARAUF trage ich mit meinem Nachbarn das Boot zum nahen Kanal, wir legen es ins Wasser und es schwimmt. Ich steige ein und paddle ein Stück. Das Boot trägt mich und wiegt sich in den Wellen, es reagiert auf jede noch so kleine Bewegung, es schaukelt und ich fahre auf eine Brücke zu. Das sich in den Wellen brechende Sonnenlicht spiegelt sich an der Unterseite des steinernen Bogens und auf der Brücke steht ein etwa vierjähriges Mädchen, es hält sich am Geländer fest und winkt mir zu. Vorsichtig lege ich das Paddel ab, halte es mit einer Hand fest und winke mit der anderen zurück.
Links und rechts stehen Bäume und Gebüsch, der Verkehrslärm ist leiser als an den Straßen und auf den Bürgersteigen, Vögel fliegen am Ufer und ich bin ganz nah am Wasser und spüre seine Kühle durch die Bootshaut.
Zerbrechlich wirkt das Boot, zierlich wie ein Spielzeug mit seinem schmalen, hölzernen Gerippe und der dünnen Haut, die sich glatt und straff darüber spannt, aber es trägt mich. Leicht wie ein Korken schwimmt es auf dem Wasser, mit den Pedalen steuere ich das Ruder und die Bootsspitze neigt sich nach links und nach rechts, ganz wie ich es will.
Abgesehen davon, dass mir Wasser ins Gesicht spritzt und das Verdeck nass tropft, wenn ich das Paddel ungeschickt eintauche, abgesehen davon, denke ich, scheint Bootsfahren eigentlich ganz einfach zu sein.
AN EINEM VORMITTAG IM JULI sitze ich im Auto und fahre nach Süden. Ab und an regnet es aus tiefhängenden, grauen Wolken und nur gelegentlich scheint ein kleiner Fetzen blauer Himmel hervor.
Im Kofferraum liegen die beiden wasserdichten Packsäcke, in denen das Faltboot steckt, und der Rucksack mit dem Gepäck. Zelt und Schlafsack, Isomatte und ein kleiner Gaskocher, Topf, Tasse und Besteck, Notizbuch und Füller, Wörterbücher und der Wasserwanderführer.
In Regensburg baue ich oberhalb der Steinernen Brücke, einer mittelalterlichen Brücke mit vielen, kleinen Bögen, das Boot neben den ausgetretenen Stufen einer Treppe auf, die hinab zum Wasser führt. Danach knote ich Seile an Bug und Heck und binde sie an zwei alten, eisernen Ringen fest, die zu diesem Zweck zwischen den Steinen eingelassen scheinen, und lege es ins Wasser. Das Boot steht in der Strömung, das Wasser fließt und rauscht an ihm vorüber und will es mitreißen, aber die Leinen halten es fest.
Ich setze mich auf die Treppe. Das Wasser fließt schnell, viel schneller als ich es erwartet hatte, und im Fluss schwimmen Äste und Zweige, die rasch vorübertreiben. Die Donau ist etwa hundert Meter breit und spiegelt den graublauen Himmel.
Ich hole das Gepäck aus dem Wagen und belade das Boot. Als ich fertig bin, liegt es tief im Wasser.
Ich muss das Auto zur Mietwagenstation bringen und weiß nicht, ob ich das Boot einfach so hier liegen lassen kann. Wenn es irgendjemand losbinden würde, dann wäre die Fahrt zu Ende, noch bevor sie begonnen hat.
Zwei etwa fünfzehnjährige Jungs sitzen am Ufer, sie tragen schwarze, weite Kapuzenshirts und Jeans und halten jeder eine Colabüchse in der Hand, sehen aufs Wasser und schweigen.
Ich gehe zu ihnen.
»Hallo«, sage ich. »Wisst ihr, wie lange ihr noch hier sitzen werdet?«
»Weiß nicht«, sagt der eine etwas gelangweilt. »Warum wollen Sie das denn wissen?«
»Könntet ihr ein Auge auf mein Boot haben?«, frage ich ihn. »In spätestens einer Stunde bin ich wieder da.«
»Na klar«, sagt der andere. »So lange sind wir auf alle Fälle noch hier. Machen Sie sich mal keine Sorgen, wir passen schon auf. Machen wir doch, oder?«, sagt er und stößt seinen Freund in die Seite. Der nickt.
»Ja, das machen wir, geht klar.«
Ich fahre zur Autovermietung und stelle den Wagen auf dem Parkplatz ab, werfe den Schlüssel in den Briefkasten und gehe entlang des Flusses zurück zum Boot.
An der Steinernen Brücke strömt das Wasser durch die engen Bögen und die breiten Pfeiler scheinen es ein wenig zu stauen. Oberhalb der Brücke ist das Wasser geradezu glatt, durch die Bögen fließt es ein wenig abfallend und unterhalb schäumt und sprudelt es in Wellen und Strudeln.
Wenn das mal gut geht, denke ich.
Die Jungs sitzen auf der Treppe direkt neben dem Boot.
»Danke fürs Aufpassen«, sage ich und gebe ihnen fünf Euro. »Das war wirklich sehr nett von euch!«
Sie sehen mich und den Schein verwundert an.
»Danke, das ist krass! Echt krass!«, sagt der eine. »Wohin wollen Sie eigentlich fahren?«
»Nun, so genau weiß ich das auch nicht«, sage ich. »Erst einmal immer flussabwärts jedenfalls und dann werde ich ja sehen, wie weit ich es schaffe. Bis Belgrad wäre schön. Das sind ziemlich genau 1 200 Kilometer.«
»Und da haben Sie alles drin, was Sie brauchen?« Er deutet auf das Boot.
»Ja«, sage ich. »Hoffentlich.«
»Krass! Machen Sie so was öfter?«
»Nein«, sage ich. »Vor fünfzehn Jahren war ich zwar mal mit Freunden in den Masuren paddeln, aber das waren Seen und schmale Kanäle, in denen das Wasser steht. Auf einem Fluss bin ich noch nie gefahren«, sage ich und steige in das Boot. Es zittert in den Wellen und Wasser schwappt über das Verdeck, es schaukelt und ich bin mir nicht sicher, ob das Ganze nicht vielleicht doch einfach nur eine ziemliche Schnapsidee gewesen ist.
Immer wieder schlägt das Ruder zur Seite und ich kann es mit den Pedalen nicht zurück in seine Position bringen.
»Sagt mal, könntet ihr das Ruder festhalten, wenn ich losfahre?«, frage ich die Jungs, die auf der Treppe sitzen und mir interessiert zusehen. Sie nicken und beugen sich über das Wasser, halten das Ruder fest und ich binde die Leinen los.
»Scheiße, ist das alles schwierig«, sage ich.
»Haben Sie Angst?«
»Ja, klar habe ich Angst. Ich habe eine Scheißangst. Aber irgendwie wird es schon gehen, macht’s gut, Jungs, und vielen Dank!«, sage ich und stoße mich vom Ufer ab.
»Regensburg, Steinerne Brücke. Durchfahrt im 2. Joch von rechts, das erste Joch ist nur für Bergfahrer!«, steht im Wasserwanderführer. Ich weiß zwar nicht was ein Bergfahrer ist, bin mir aber ganz sicher, dass ich keiner bin und steuere auf den zweiten Bogen zu. Das Wasser reißt mich mit sich und ich paddle nicht mehr, sondern versuche nur noch, das Boot allein mit dem Ruder zu steuern, ohne die Geschwindigkeit weiter zu erhöhen. Die Bootshaut schrammt über den steinernen Wellenbrecher, der knapp unter der Wasseroberfläche liegt, und ich erwische das zweite Joch, das Wasser trägt mich hindurch und ich umklammere ängstlich das Paddel.
Unterhalb der Brücke gerate ich in einen Strudel und das Boot dreht sich. Hilflos treibe ich im Wasser und auf der Brücke stehen Menschen und sehen zu mir herunter.
Das war’s, denke ich, gleich saufe ich hier ab.
Aber dann benutze ich doch vorsichtig das Paddel und als das Boot wieder in der Strömungsrichtung liegt, beginne ich, flussabwärts zu fahren.
Meine Knie zittern. Keine Angst, sage ich mir immer wieder, ich darf einfach keine Angst haben, das wird schon, aber ich glaube selbst nicht recht daran.
Nach einer Weile wird das Wasser ruhiger. Noch immer fließt es schnell dahin, nun aber ohne Wellen und Strudel, und ich verlasse die Stadt.
Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt, sicherer und einfacher, aber das Boot wird nicht von einer gleichmäßigen und ruhigen Strömung langsam mitgetragen, es vibriert in den Wellen und Strudeln, es will sich drehen und abtreiben und es schaukelt, Wellen kommen von der Seite, von hinten und von vorn und hinter einer überspülten Buhne wird es von einer Gegenströmung herumgerissen. An der nächsten geeigneten Stelle halte ich an, denke ich, auch wenn im Wasserwanderführer keine Zeltmöglichkeit verzeichnet ist, aber ich will so schnell wie möglich wieder ans Ufer, ich möchte an Land sein und festen Boden unter den Füßen spüren, doch links und rechts ist das Ufer mit großen, lose übereinandergeschichteten Steinbrocken befestigt und ich sehe keine Bucht und keinen Steg. Hier kann ich nicht anlegen.
Hinter den steinernen Dämmen stehen Bäume und weit kann ich nicht sehen, ich sitze im Boot und es ist eine Art Froschperspektive, vor mir das blaue Dreieck der Bootsspitze und davor der Fluss.
Nach einer Stunde sehe ich ein paar Angler neben einem kleinen, qualmenden Grill am Ufer stehen.
»Komm her!«, rufen sie. »Es gibt Fisch!«
Aber es geht alles viel zu schnell und schon bin ich an der kleinen Bucht vorbeigefahren.
»Ich muss weiter«, rufe ich zurück. »Ein andermal bestimmt!«
»Gute Reise!«, rufen die Männer, lachen und winken.
Kurz darauf steht in einer Bucht ein Mann in T-Shirt und kurzen Hosen neben einem Wohnmobil, er ist etwa Mitte dreißig, hat die Hände in die Hüften gestemmt und sieht über den Fluss. Ich steuere ans Ufer und schlittere auf eine flache, steinerne Rampe, springe aus dem Boot und der Mann hilft mir, es ein Stück an Land zu ziehen.
Ich habe wieder Boden unter den Füßen. Er fühlt sich gut an, fest und hart und unnachgiebig, und erleichtert setze ich mich ins Gras. Etwas mehr als anderthalb Stunden bin ich unterwegs gewesen und zehn Kilometer gefahren.
Als das Zelt aufgebaut ist, bittet mich der Mann in den Wohnwagen und stellt zwei Flaschen Bier auf den Tisch.
»Ich arbeite in Regensburg«, sagt er. »Meine Frau lebt mit den Kindern in Baden-Württemberg und im Sommer wohne ich unter der Woche hier im Caravan. Das ist billiger als im Hotel und viel schöner sowieso. Fahren muss ich ohnehin, da kann ich auch den Wohnwagen nehmen, und hier drin habe ich alles, was ich brauche. Küche und Fernseher, Dusche und Bett«, sagt er. »Und du? Wo kommst du her? Und wo fährst du hin?«
»Heute Nachmittag bin ich in Regensburg gestartet«, sage ich. »Und wohin, das kann ich noch gar nicht sagen. Ich glaube, ich habe mich ein bisschen überschätzt. Eigentlich wollte ich bis Belgrad fahren. Vielleicht komme ich bis Budapest, vielleicht auch nur bis Wien.«
»Morgen musst du den linken Nebenarm nehmen, hier, siehst du, etwa fünfhundert Meter flussabwärts«, sagt er und breitet eine detaillierte Landkarte der Bucht auf dem Tisch aus. »Nur ein schmaler Kanal führt auf den See und kaum jemand kennt diesen Ort. Dort ist es ganz ruhig und idyllisch, ein Vogelparadies. Ein paar hundert Meter weiter geht’s dann wieder auf den Hauptstrom, das ist überhaupt kein Umweg, doch das solltest du auf keinen Fall verpassen«, sagt er und holt zwei neue Bier aus dem Kühlschrank.
»Belgrad«, sagt er und setzt sich. »Ich wusste gar nicht, dass Belgrad an der Donau liegt.«
»Ich auch nicht«, sage ich. »Aber bevor ich losgefahren bin, habe ich mir erst einmal den Flussverlauf im Atlas angesehen und einen Wasserwanderführer gekauft. Wien, Bratislava, Budapest, das kennt man ja. Aber danach …«
»Ja«, sagt er und nickt. »Budapest, dann Schwarzes Meer. Viel mehr weiß man eigentlich gar nicht.«
Draußen dämmert es und die Tür des Wohnwagens steht offen, wir hören die Vögel zwitschern und das Rauschen und Murmeln des Flusses und nach einer Weile bedanke ich mich für das Bier, verabschiede mich und lege mich ins Zelt.
Auf der dünnen Isomatte ist es hart und unbequem, neben dem Zelt raschelt irgendetwas im Gras und der Wind rauscht in den Bäumen, gelegentlich ist das Motorengeräusch eines Schiffes zu hören und erst nach einer ganzen Weile schlafe ich ein.
AM MORGEN IST DER CARAVAN verschwunden und ich hole Gaskocher, Topf und eine Wasserflasche aus dem Boot. Der kleine Dreifuß ist schnell aufgebaut, blaue Flämmchen brennen leise fauchend aus den Düsen und kurz darauf kocht das Wasser sprudelnd im Topf. Mit dem Kaffeebecher in der Hand gehe ich ein paar Schritte hinab zum Ufer und sehe über den Fluss. Ein Schlepper fährt vorüber und Wellen klatschen ans Ufer.
Ich will nicht wieder in dieses wacklige und schaukelnde Boot einsteigen und stattdessen koche ich mir einen zweiten Kaffee, aber auch der ist irgendwann ausgetrunken und ewig kann ich ja nicht hier sitzenbleiben, denke ich und habe großen Respekt vor dem Fluss. Paddeln ist wahrscheinlich ein bisschen wie Bergsteigen und der Fluss ist viel stärker als man denkt. Aber was kann ich jetzt anderes tun, als wieder ins Boot steigen und es aufs Neue versuchen? Kurz kommt mir der Gedanke, dass es ja recht hübsch hier ist, und ich sehe mich um. Wenn ich einfach hierbleibe?
Aber dann ziehe ich doch das Boot ins Wasser und steige mit zitternden Knien ein, fahre los und die Strömung nimmt mich auf. Nach einer Weile gewöhne ich mich an die Geschwindigkeit und an die Kraft des Wassers und der Fluss kommt mir schon nicht mehr ganz so bedrohlich vor wie gestern Abend.
Die Strömung scheint geringer zu sein, es ist nun eher ein gemächliches Dahintreiben und mir fällt auf, dass sich das Boot viel besser steuern lässt, wenn ich paddle. Wenn ich schneller bin als die Strömung, dann können mir die Strudel fast gar nichts anhaben, dann fahre ich einfach über sie hinweg, und nur, wenn ich mich treiben lasse, hat das Ruder eine gewisse Trägheit. Dann muss ich es schon eine ganze Weile, bevor sich die Spitze des Bootes in die Richtung dreht, in die ich fahren möchte, wieder gerade halten, sonst fahre ich Schlängellinien. Aber eigentlich ist es genau so, wie es auch jeder Fahrschüler in den ersten Stunden lernt. Wenn man nicht kurz vor der Motorhaube auf die Straße sieht, sondern dorthin, wo man auch hinfahren möchte, dann bleibt man nach einer Weile von ganz alleine in der Spur.
Ich überquere den Fluss und biege in den Seitenarm. Dort fließt das Wasser nicht mehr, es steht, und ein Milan schwebt weit oben am blauen Himmel. Algen und ein paar Plastikflaschen treiben im Wasser und es ist ganz still. Nur die Vögel zwitschern und auf einem abgestorbenen Baum sitzen ein paar Kormorane mit ausgebreiteten Flügeln reglos in der Sonne. Das Ufer ist nicht mehr mit grauen Steinblöcken befestigt, stattdessen steht dort Schilf, in dem Spatzen lärmen, und ein paar Seerosenblätter schwimmen auf dem Wasser.
Der Nebenarm verläuft parallel zum Strom, nach ein paar hundert Metern gelange ich über einen schmalen Kanal wieder zurück auf den Fluss und auch im Hauptarm hat die Strömung nun nachgelassen.
»Km 2 373,1 – Beginn des Rückstaus der Staustufe Geisling«, steht im Wasserwanderführer.
Das Buch ist sehr hilfreich. Alle Orte, Brücken und Zeltmöglichkeiten sind auf hundert Meter genau verzeichnet, dazu kommen kurze, nützliche Hinweise und Flussverlaufsskizzen, die Staustufen sind sogar mit kleinen Karten versehen und am Ufer stehen links und rechts Schilder, weiße Zahl auf schwarzem Grund, die die Flusskilometer anzeigen.
Die Donaukilometrierung beginnt in Sulina am Schwarzen Meer mit dem Kilometer 0 und folgt dem Fluss aufsteigend bis zu einer steinernen Tafel mit der Inschrift »Donau 2 779« am Zusammenfluss von Brigach und Breg bei Donaueschingen.
Eigentlich ist das alles ziemlich gut eingerichtet, denke ich, beinahe wie eine Straße ist der Fluss ausgeschildert, Schleusen werden auf blauen Tafeln angekündigt und Bojen – links sind sie grün, rechts rot – markieren die Schiffsrinne. Nach einem kurzen Blick in das Buch weiß ich immer, wo ich bin, und ich stoppe die Zeit und rechne aus, dass ich mit fünf bis sechs Kilometern in der Stunde vorankomme.
Links und rechts verbirgt ein mit kurzem Rasen bewachsener Damm das umliegende, flache Land und nur ab und an sehe ich die roten Ziegeldächer eines Dorfes oder die Spitze eines Kirchturms und links auf einem Hügel steht die Walhalla.
Ein paar Kilometer weiter steht das Wasser ganz. Die Donau ist nun kein Fluss mehr, sondern ein See, breit und ruhig. Ich kann mich nicht mehr treiben lassen, ich muss paddeln, um voranzukommen und schaffe nicht viel mehr als drei bis vier Kilometer in der Stunde.
Am blauen Himmel schweben nur noch ein paar kleine, weiße Wölkchen, die Sonne scheint und es ist warm geworden, Schweiß steht mir auf der Stirn und ich glaube, ich bekomme langsam einen leichten Sonnenbrand.
Ein großes Schiff kommt mir entgegen, dick und breit und lang. Vor sich schiebt es eine weißschäumende Bugwelle her und es kommt schnell näher. Das Schiff fährt in knapp hundert Metern Entfernung an mir vorüber und ich sehe die Wellen auf mich zulaufen. Sie sind einen guten halben Meter hoch und ich drehe die Bootsspitze in Richtung Flussmitte, so dass ich direkt in sie hineinfahre. Das Boot schaukelt, es hebt und senkt sich, liegt aber stabil im Wasser. Kurz darauf brechen sich die Wellen am Ufer und kommen zurück. Erst nach ein paar Minuten hat sich das Wasser wieder beruhigt und langsam, denke ich, langsam lerne ich, wie alles funktioniert, mittlerweile kann ich mir tatsächlich sogar schon beinahe vorstellen, in den nächsten drei Wochen im Boot unterwegs zu sein, und es ist nicht mehr weit bis zur Staustufe Geisling, der ersten von insgesamt dreizehn Donauschleusen in Deutschland und Österreich.
Die Skizze im Buch habe ich mir zwar immer wieder angesehen, verstehe sie aber nicht.
Am Horizont taucht eine graue Betonmauer auf, die sich über die gesamte Flussbreite spannt, flankiert von Türmen und großen Gebäuden, und ich binde das Boot an der ersten der eisernen Leitern in der langen Kaimauer am linken Ufer fest, klettere hinauf und sehe auf einem kurzgeschnittenen Rasen ein Schild stehen. »Zur Schleusung über Sprechstelle melden. Weisung über Lautsprecher abwarten«, steht darauf, aber ich gehe erst einmal nach vorn. Dort steht ein Turm mit einer verglasten Kanzel, der aussieht wie ein Flughafentower, und über dem breiten Doppelflügeltor der Schleuse leuchtet eine rote Ampel. Hinter der Anlage ergießt sich das Wasser neben dem Schleusenbecken rauschend und donnernd über eine etwa fünf Meter hohe Staumauer.
Ich gehe zurück und neben dem Schild hängt an einem Pfahl unter einem kleinen Dach ein altertümliches Telefon.
Ich hebe den Hörer ab und es klingelt.
»Grüß Gott!«, sagt eine Männerstimme.
»Guten Tag!«, sage ich. »Ich möchte geschleust werden, mit meinem Paddelboot, geht das?«
»Jaja, das geht«, antwortet der Mann. »In fünfzig Minuten kommt ein Frachter. Wenn die Ampel auf Grün schaltet, fährt zuerst das große Schiff in die Schleuse, danach rufe ich Sie aus und dann kommen Sie in die Kammer.«
»Danke!«, sage ich und lege auf.
Das scheint ja doch ganz einfach zu sein und gar nicht so kompliziert wie ich befürchtet hatte, und ich setze mich unter einen Baum in den Schatten und warte auf das Schiff.
Nach einer knappen Stunde kommt der Frachter und legt an der rechten Kaimauer an, ich stehe auf und sehe zur Ampel. Das Tor zur Schleusenkammer öffnet sich und die Ampel schaltet auf Grün, das Schiff fährt hinein und ich klettere die Leiter hinunter, steige ins Boot und mache die Leinen los.
»Das Ruderboot jetzt bitte in die Schleusenkammer einfahren!«, ertönt es aus einem Lautsprecher und ich paddle los. In der Kammer halte ich mich an einer in die Mauer eingelassenen Eisenleiter fest und hinter uns schließt sich quietschend und rumpelnd das schwarzstählerne Tor.
Das Schiff neben mir ist die »Doria«. Unter der Brücke liegen die Kabinen, in den Fenstern hängen Spitzengardinen, stehen Blumentöpfe und kleine Gartenzwerge aus Ton. Die »Doria« sieht beinahe so aus wie ein stählernes, weißgestrichenes, schwimmendes Einfamilienhäuschen und auf dem flachen Dach steht ein frischgeputzter, silberfarbener Mercedes.
Nach einer Weile beginnt der Wasserspiegel zu fallen. Langsam und Zentimeter für Zentimeter und Meter für Meter sinken wir immer tiefer. Die Mauer neben mir ist nach einer halben Stunde etwa fünf Meter hoch, nass und mit Algen bewachsen, und die Leiter, an der ich mich festhalte, ist glitschig. Aus kleinen Vertiefungen in der Wand tropft Wasser.
Das vordere Tor öffnet sich und wieder schaltet eine Ampel von Rot auf Grün. Hinter der »Doria« schäumt grünlichweiß das Wasser auf und sie fährt hinaus. Nach einer Weile, als sich das Wasser wieder beruhigt hat, folge ich ihr. Der Fluss fließt nun wieder, über etliche Kilometer steht dichter Auwald an beiden Ufern und als er sich lichtet, kann ich am linken Horizont schon hellblau die Berge des Bayerischen Waldes erkennen.
In einer Bucht mit Kiesstrand und einem schmalen Streifen Wiese, umgeben von Wald, baue ich das Zelt auf und zünde ein kleines Feuer an. Es ist ganz still, nur ein paar wenige Vögel zwitschern und das Feuer knackt leise. Ich sitze auf einem Stein und sehe über den Fluss und auf das gegenüberliegende Ufer, wo die Bäume in der Abendsonne leuchten. Ein Schwarm kleiner Fische steht im klaren Wasser in Ufernähe, ein Biber schwimmt an der Bucht vorbei, er scheint mich nicht zu bemerken und aus der Ferne ist leise das Motorengeräusch eines flussaufwärts fahrenden Lastkahns zu hören, das langsam näher kommt.
Am Bug der »Phoenix«, der Name steht in lateinischen und in kyrillischen Buchstaben an der weißen Schiffswand, hängt die deutsche, am Heck die weiß-grün-rote bulgarische Flagge. Vor das Schiff ist, wie ein Anhänger an einen LKW, ein Schubleichter gekoppelt, ein voll beladener Lastkahn ohne Brücke und Motor, eine schwimmende Wanne aus rostrotem Stahlblech.
Ich sitze am Ufer und habe Muskelkater in den Armen und den Händen. Die Finger, die den ganzen Tag das Paddel gehalten haben, krümmen sich auch jetzt am Abend noch und es fällt ein wenig schwer, sie gerade auszustrecken.
Ich habe einen Sonnenbrand und morgen, denke ich, morgen werde ich mir in Straubing Sonnencreme und einen Hut kaufen, mache mir ein paar Notizen und schreibe die Erlebnisse der ersten beiden Tage in meine Kladde.
IN DER STAUSTUFE STRAUBING, lese ich am Morgen im Wasserwanderführer, wird nur die Großschifffahrt geschleust, für Kanufahrer gäbe es stattdessen eine »leicht bedienbare Bootsgasse«, was immer das auch sein mag. Aber ich kann die Skizze im Buch schon etwas besser verstehen als gestern und fahre zur Bootsgasse neben der Schleuse.
Eine Öffnung ist mit einem Brett versperrt, neben dem Brett hängt an einem Pfosten eine Kette wie an einer altertümlichen Klospülung und auf einem Schild steht »Bootsgasse. Bitte ziehen«. Ich ziehe an der Kette, das Brett senkt sich und macht den Blick frei auf eine vielleicht zwanzig Meter lange, steile Rinne, etwa zweieinhalb Meter breit, durch die nun Wasser fließt. Die Bootsgasse.
So muss ich wenigstens nicht darauf warten, dass ein großes Schiff kommt, mit dem ich geschleust werden kann, denke ich und fahre vorsichtig hinein. Der Bug senkt sich, das Boot gleitet durch den Kanal und Wasser spritzt mir ins Gesicht, es ist ein bisschen wie Achterbahn fahren und kurz darauf schwimmt das Boot fünfeinhalb Meter tiefer im Fluss.
Jetzt sind es genau einhundert Kilometer bis zur Schleuse Kachlet und bis zum Beginn des Rückstaus fließt das Wasser nun auf achtzig Kilometern frei. Zwischen Straubing und Vilshofen liegt das letzte, größere, unverbaute Stück Donau in Deutschland.
In Straubing scheint eine flache, steinerne Rampe ein guter Anlegeplatz zu sein, aber seltsamerweise liegt die Rampe verkehrtherum im Fluss. Ich muss wenden und gegen die Strömung auf sie hinauffahren. Doch das geht ganz leicht und ich muss nur ein wenig schneller sein als die Strömung, schon lässt sich das Boot erstaunlich gut manövrieren und ich schlittere nicht mehr mit der Fließgeschwindigkeit über die Steine, sondern gleite ganz langsam und sacht ans Ufer. Nicht die Rampe liegt also verkehrt im Fluss, sondern ich bin bisher in die falsche Richtung an Land gefahren.
Der Bootsrumpf sitzt auf, ich springe heraus und hole mir, zum ich weiß nicht wievielten Male, nasse Füße.
Alle zwei bis drei Stunden fahre ich an Land und Wellen schwappen ans Ufer, das manchmal fest, manchmal sandig und manchmal schlammig ist, ich muss aussteigen und das Boot ein Stück weit an Land ziehen, ich stehe im Wasser und trocken bleiben die Füße beim Ein- und Aussteigen eigentlich nie.
Ich gehe hinauf in die Stadt und auf der Straße hinterlasse ich die feuchten Abdrücke meiner Sandalen, die in der Sonne schnell wieder trocknen.
In Straubing kaufe ich Sonnencreme und mache mich auf die Suche nach einem Sonnenhut. Am besten wäre ein ganz einfacher und billiger Strohhut, denke ich, aber ich weiß nicht, wo man so etwas bekommt.
In einem Laden in der Innenstadt gibt es Herrenhüte aus Filz, Schiebermützen und Jägerhüte ab fünfzig Euro und in einer Drogerie eine Art gehäkelte Omahütchen mit schmaler Krempe, die aber nur fünf Euro kosten. Auf dem Wasser sieht mich ohnehin niemand, denke ich, nehme ein Hütchen und lasse mir eine Tüte geben.
Dann gehe ich weiter und sehe ein Geschäft für billige Kleidung, eine Discounter-Kette. Dort gibt es Strohhüte für drei Euro und ich kaufe einen, werfe die Tüte mit dem Omahut schnell in den nächsten Papierkorb, gehe zurück zum Boot und fahre weiter.
Es ist eigentlich ganz hübsch, denke ich, mit dem Boot unterwegs zu sein. Straubing ist ein schönes Städtchen, aber ich wäre nicht auf die Idee gekommen, extra hierher zu fahren, um es mir anzusehen. So aber, ich fahre am Tag nur dreißig oder vierzig Kilometer, halte ich in Orten, die ich, reiste ich anders, schneller, nie kennenlernen würde.
Manchmal, wenn ich im Zug sitze und aus dem Fenster sehe, wünsche ich mir, auszusteigen und in die Städte und Dörfer zu gehen, die links und rechts der Strecke liegen. Wer wohnt denn da und wie lebt es sich dort? Doch kaum ist der Wunsch gedacht und formuliert, ist der Ort auch schon wieder verschwunden. Hier, auf dem Wasser und im Boot, ist es anders. Ich kann anhalten wo ich will und habe nicht das Gefühl, zu schnell zu reisen. Ich kann mir Zeit lassen und selbst wenn ich ungeduldig werde und möchte, dass es schneller vorwärts geht, muss ich mich dem Fluss beugen. Er ist ohnehin stärker als ich. Wasserwandern, Flusswandern ist tatsächlich ein sehr passender und guter Begriff für diese Art der langsamen und dabei keinesfalls langweiligen Fortbewegung. Ich fahre auf dem Fluss mit der Geschwindigkeit eines Fußgängers, schon mehr als eine Stunde bevor ich ankomme, sehe ich die Dörfer und Städte links und rechts des Ufers liegen, und nach zwei bis drei Stunden Fahrt tut mir ohnehin der Hintern weh, trotz des Kissens auf dem Sperrholzsitz, und ich muss eine Pause einlegen und irgendwo anhalten und aussteigen. Hier, am Oberlauf der deutschen Donau, liegen oft nicht mehr als fünf bis zehn Kilometer zwischen den Ortschaften und ich fahre ans Ufer und binde das Boot fest, spaziere durch einen Ort und kaufe mir eine Flasche Wasser und Brot, Obst und Gemüse oder setze mich in ein Café.
Seit ich unterwegs bin, habe ich den ganzen Tag über Hunger, ich könnte permanent essen und in einem kleinen Laden kaufe ich mir eine Tüte Haselnusskerne und eine mit Rosinen, lege sie neben den Sitz und greife während der Fahrt immer wieder hinein.
Am Abend ziehe ich das Boot an Land, binde die Leinen an einen Baum und steige das Ufer hinauf. Hinter dem Damm liegen Wiesen und Felder und in der Ferne ein paar Dörfer. Ich hole die Packsäcke und baue das Zelt auf, als ein Mann zu mir kommt. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, er trägt eine Jeanslatzhose über einem karierten Holzfällerhemd und ausgetretene Gummistiefel.
»Ist das Ihr Land, auf dem ich zelte?«, frage ich ihn.
Er nickt und geht ein paar Schritte in Richtung Fluss, betrachtet das Boot, das am Ufer liegt, und nickt erneut.
»Dees basst scho«, sagt der Mann. »Vor zwanzg Johr war da Fluuß no saudreggad! Do is da beim Fischn des Scheißbabbierl an da Schnur hänga bliebm.«
»Da ist es jetzt besser«, sage ich.
»Unsaoans hamats zwengdem Wassergebührn naufbrummt, damit de z’Straubing jazd a anständige Kläranlag ham. Saudeia is da Scheißdreeg seither. Ois is so deia wordn«, sagt er. »Des geht nimma lang guad! 20 000 Mark ham mia doomois zoihn miaßn, dass uns an Kanalisation ogschlossn ham. Aba an Grabn hama trotzdem soiba aushebm miaßn. Zwoahundert Metta ham mei Nachbar und i ausgrabn!«
Er macht eine wegwerfende Handbewegung, dann deutet er auf den Fluss und grinst.
»Mia han aba trotzdem drin gschwumma«, sagt er. »Trotz an Dreeg. Der hod uns ned scheniert. Des san fast dreihundert Metta und i bi jedn Tag auf d’Nacht oamoi durche gschwumma. Oamoi hi und wieda retour. Jedn Tag.«
Dann geht er.
Der beinahe volle Mond geht groß und orangerot hinter einem Hügel auf und spiegelt sich im schwarzglänzenden Wasser der Donau. Ein Feuer zünde ich nicht an. Es sieht zwar schön und romantisch aus, aber hinterher stinken die Klamotten doch wieder nur tagelang nach kaltem Rauch.
SEIT FÜNF TAGEN bin ich auf dem Fluss unterwegs und am Nachmittag sehe ich am südöstlichen Horizont eine Brücke, die sich über die Donau spannt, am Ufer stehen Kirchtürme und mehrgeschossige Häuser. Passau liegt bunt und glänzend in der Sonne, die Fassaden der Häuser leuchten gelb und rot und ockerfarben, an Kaimauern liegen weiße Ausflugsschiffe und Angler stehen am Ufer.
Ich halte nicht in Passau, die Stadt ist mir zu groß und zu unübersichtlich. In den kleineren Orten und in den Dörfern gibt es meist bessere Anlegestellen für mein Boot und der Weg zum nächsten Laden ist auch einfacher zu finden. Immer auf den Kirchturm zu und dort ist dann meistens auch ein Geschäft und eine Kneipe oder ein kleines Café.
Hinter Passau mündet von rechts der Inn in den Fluss. Das grünbraune Wasser der Donau und das kalkgrautrübe aus den Alpen fließen eine Weile nebeneinander her, dann vermischen sie sich. Das Land wird bergig, hohe Kuppen fallen steil zum Ufer ab und ich suche ein Schild, das die Grenze markiert. Ab dem Kilometer 2 223 ist das rechte Ufer österreichisch, aber ich sehe kein Schild und fahre über die erste der vielen Grenzen, die die Donau passiert, ohne erkennen zu können, wo sie verläuft. Einerseits bin ich ein bisschen enttäuscht, andererseits finde ich es ganz großartig, dass es keine Kontrollen mehr gibt und ich einfach von einem Land in das andere wechseln kann, ohne dass sich irgendeine Behörde dafür interessiert.
In Erlau spielen ein paar Männer Fußball und neben dem Sportplatz baue ich das Zelt auf. Als ich fertig bin, ist auch das Spiel zuende, die Männer gehen vom Platz hinüber zum Vereinshaus und ich frage einen der Fußballer, der vor dem Haus steht, ob ich vielleicht bei ihnen duschen könnte.
»Wasserwanderer?«, fragt er und ich nicke.
»Dahinein«, sagt er und deutet auf die Tür.
Eine Dusche! Heißes Wasser! Seife! Das abfließende Wasser unter meinen Füßen ist graubraun. Ich schließe die Augen, lasse das Wasser über mein Gesicht laufen und habe mir nicht vorstellen können, wie sehr man etwas derart Alltägliches und Gewöhnliches genießen kann. Danach trockne ich mich ab und ziehe saubere Sachen an, ich fühle mich geradezu unglaublich wohl und setze mich auf die Bank vor dem Vereinshaus.
In einer knappen Woche bin ich 175 Kilometer gefahren. Noch immer habe ich einen leichten Muskelkater in den Fingern und in den Ober- und Unterarmen, aber es tut nicht weh, es ist beinahe nur wie die Erinnerung daran, dass ich seit ein paar Tagen paddle, mich bewege, mich anstrenge.
Mittlerweile weiß ich, wo ich was im Boot verstaut habe, und auch das Be- und Entladen und das Auf- und Abbauen des Zeltes geht schon viel schneller als noch in den ersten Tagen. Ich bin geschleust worden und ich weiß nun auch, dass mich die Wellen der großen Schiffe nicht zum Kentern bringen werden. Mit dem Gaskocher kann ich mir Kaffee kochen und Büchsensuppen warm machen und in den Dörfern kaufe ich mir Milch und Brot, Obst, Gemüse und Wasser. Es macht immer mehr Spaß und ich freue mich, noch zwei Wochen unterwegs zu sein, öffne mir eine Flasche Wein, lehne mich zurück und schaue in den Abendhimmel, trinke und bin ganz und gar zufrieden mit der Welt.
AM MORGEN SCHEINT DIE SONNE, keine Wolke steht am blauen Himmel und noch ist die Luft frisch und kühl, aber auf dem Wasser gibt es keinen Schatten und es ist heiß.
Am späten Vormittag sehe ich kurz vor Obernzell ein in Ufernähe ankerndes Motorboot im Fluss liegen, in dem eine Frau und ein Mann sitzen, etliche Kajaks sind unterwegs und am Ufer stehen zwei Männer und ein paar Kinder unter einem Banner mit der Aufschrift »Start«. Die Kinder in den Booten sind etwa zehn Jahre alt und tragen Schwimmwesten, sie sitzen ganz alleine in ihren Hartschalenkajaks und paddeln mit voller Kraft.
Ein Junge startet auf gleicher Höhe mit mir, er legt sich ins Zeug und versucht mich einzuholen. Ich sehe zu ihm und paddle auch schneller. Seine Klassenkameraden am Ufer feuern ihn an und eine Zeitlang bleibe ich gleichauf, lasse mich dann aber zurückfallen und er gewinnt knapp. Als er die Ziellinie erreicht, legt der Sportlehrer die Hände zum Trichter an seinen Mund.
»Du kannst dir die Silbermedaille bei der Siegerehrung heute Nachmittag um vier auf dem Schulhof abholen!«, ruft er mir zu und klopft dem Jungen, der erschöpft am Steg anlegt und stolz zu mir herübersieht, auf die Schulter. Die Kinder lachen und winken und ich winke zurück und schwenke meinen Strohhut zum Gruß.
In Obernzell dann weiße Häuser mit Lüftlmalerei und hölzernen Balkonen unter roten Ziegeldächern hinter einer Hochwasserschutzmauer aus Naturstein. Eine barocke Kirche reckt ihre beiden Zwiebeltürme in den blauen Himmel und an einem Steg liegt ein schwarzes, altes Fischerboot festgekettet im Wasser, urtümlich wie ein Einbaum.
Die bewaldeten Berge werden immer steiler und höher, der Fluss mäandert durchs Gebirge und ein großes Passagierschiff mit drei Decks kommt mir entgegen. Menschen stehen an der Reling, winken und fotografieren mich.
Statt der bislang üblichen, großen, schwarzgrauen Steinblöcke am Ufer gibt es nun auch immer häufiger helle, fast weiße Strände aus Sand und Kieseln. Eine hölzerne, überdachte Fähre, die »Donaunixe Isa« heißt, pendelt von einem Ufer zum anderen, Motorboote ziehen Wasserskifahrer hinter sich her und neben dem Fluss verläuft der Donau-Radweg. Gruppen von Radfahrern mit Helmen und in bunten, enganliegenden Trikots fahren an mir vorüber. Einzelne Gehöfte, kleine Dörfer und weiße Kirchen liegen am Fuß der Berge zwischen frisch gemähten Wiesen, auf denen vereinzelt alte Obstbäume stehen, und auf den Terrassen der Wirtshäuser sitzen Motorradfahrer in ihren schwarzen, schweren Jacken und Hosen im Schatten großer Sonnenschirme, vor sich ein Weißbier.
An einem Steg lege ich neben Yachten und Motorbooten an, gehe ein paar Schritte das Ufer hinauf und lasse mich vor dem Rasthaus ins Gras fallen, breite die Arme aus, schließe die Augen und bin so erschöpft, dass ich beinahe einschlafe. Das kurze Gras duftet nach Wiese und Erde und kitzelt mich im Gesicht. Eine halbe Stunde bleibe ich so liegen, dann stehe ich auf und fahre weiter.
Die Donau windet sich in der Schlögener Schlinge durch eine felsige und bewaldete Berglandschaft und ein Ausflugsschiff fährt an mir vorüber. »Rousse« steht in lateinischen und kyrillischen Buchstaben am Bug des Schiffes. Ruse, Bulgarien, ist noch 1 700 Flusskilometer entfernt.
AM TAG DARAUF fahre ich am späten Nachmittag an die nächste Schleuse. Ein weißes Motorboot, gut fünf Meter lang, liegt an der Kaimauer und darin sitzen zwei junge Männer und zwei Frauen in orangefarbenen Schwimmwesten.
»In einer halben Stunde kommt ein Schiff«, sagen sie, als ich neben ihnen anlege, »dann bringen sie uns nach unten.«
»Wo fahrt ihr hin?«
»Zurück nach Linz«, sagen sie. »Wir haben nur einen kleinen Wochenendausflug gemacht, nach Passau. Gestern hin und heute zurück. Und du?«
»Aus Regensburg«, sage ich. »Und vielleicht kann ich es bis Budapest schaffen.«
»So weit?«
»Ihr fahrt doch sicher auch oft viel weiter als nur bis nach Passau?«, sage ich. »Mit so einem Motorboot geht das doch bestimmt ganz schnell.«
»Naja.« Sie sehen sich an. »Vor zwei Jahren waren wir mal in Wien und einmal auch in Pressburg. Das ist ja gleich hinter der Grenze. Aber eigentlich machen wir immer nur Wochenendtrips, samstags hin und am Sonntag zurück.«
Der Frachter kommt, das Tor öffnet sich und im Schleusenbecken legen wir je an einer Leiter an und warten.
Ein Mann in blauer Mechanikerkluft kommt auf der Kaimauer zu uns gelaufen.
»Das geht nicht!«, sagt er zu mir. »Ohne Schwimmweste können wir dich nicht schleusen.«
»Warum denn das? Ich brauchte doch bislang auch keine.«
»Das war in Deutschland«, sagt der Mann. »In Österreich haben wir jetzt Rettungswestenpflicht. Letztes Jahr ist hier drin einer ertrunken.«
»Ich kann schwimmen«, sage ich.
»Nein. Entweder du hast eine Schwimmweste oder du fährst wieder raus aus der Kammer. Dann musst du dir eben eine kaufen.« Auf dem Motorboot schwenkt einer der Männer ein orangefarbenes Bündel und winkt mich heran.
»Hier«, sagt er und reicht sie mir, »wir haben noch eine übrig.«
»Danke«, sage ich und hinter uns schließt sich das Tor. Draußen gebe ich ihm die Weste zurück, wir winken uns noch einmal zu und das Motorboot fährt davon. Bald darauf ist es hinter der nächsten Flussbiegung verschwunden.
In dreizehn Kilometern kommt die nächste Schleuse und es sind noch acht Staustufen bis zur slowakischen Grenze. Wo kriege ich jetzt nur eine Schwimmweste her? Außerdem sind die Dinger bestimmt nicht billig, aber es wird schon irgendwie werden, denke ich und fahre erst einmal weiter.
Tiefhängende, graublaue Wolken treiben am Himmel, darunter schnellziehende Fetzen von schwarzgrauen Wölkchen. Auf dem Fluss habe ich, anders als in der Stadt, den Himmel immer im Blick. Ich kann ihm nicht entgehen, ich bin ihm den ganzen Tag unmittelbar ausgesetzt und er spannt sich von Horizont zu Horizont in Blau und in Grau, in Weiß und Rosa, und das Wasser spiegelt ihn, die Sonne wandert von Ost nach Westen und schnell vergehen die Tage. Ich fahre und sehe in die Karte, ich muss mich orientieren und auf den Fluss achten, auf treibende Äste, auf überspülte Buhnen und große Steine, auf die Großschifffahrt und auf die schnellen Motorboote und ihre kleinen, tückischen Wellen, auf Strömungen und Strudel. Das Wasser drückt gegen das Boot, manchmal schlägt es wie mit Fäusten gegen die Gummihaut und drückt gegen das Ruder, das Boot erzittert in den Wellen und gleichmäßig bewege ich das Paddel, links, rechts, links, immer wieder, stundenlang.
Es beginnt zu nieseln und nach einer Weile wird der Regen stärker, ich ziehe mir die Spritzdecke bis vor den Bauch und streife das Regencape über. Der Himmel und der Fluss sind grau, rings um mich schlagen die Tropfen klein und weißperlend aufs Wasser und der Regen rauscht nieder. Ich lasse mich treiben und steuere das Boot lediglich mit dem Ruder, ein Graureiher hockt mit eingezogenem Kopf auf einem toten Baum, der im Wasser liegt, und der Regen hüllt mich ein, ich kann nur ein paar hundert Meter weit sehen und Fluss und Himmel verschwimmen im Grau des Horizonts. Wasser läuft durch kleine Ritzen ins Boot und unter das Regencape, nach einer Stunde bin ich durchnässt und durchgefroren und paddle eine Stunde ohne Pause, um wieder warm zu werden. Aus den Bergen dampft es.
Das Regencape ist eine leuchtendgelbe Plastikhaut und wenn ich die Ärmel hochkremple, dann sieht es von Weitem ganz bestimmt so aus als ob ich eine Schwimmweste trage, denke ich, als ich zum Schleusentelefon gehe und anrufe. Die Männer sitzen im Turm, wegen des Regens kommen sie nicht heraus und ich werde problemlos geschleust.
Am Abend lege ich am Ruderklub Linz an und trage das Gepäck die Treppe hinauf zum Haus.
Im Garten liegen ein paar Boote im Gras, daneben stehen drei Zelte. Ich gehe ins Haus und sehe einen Mann in dem großen Saal, in dem unzählige Kajaks und schlanke, hölzerne Ruderboote auf langen Gestellen liegen, die bis zur Decke reichen.
»Hallo«, sage ich. »Ich wollte fragen, ob ich hier übernachten kann.«
»Auf der Wiese, neben den anderen Zelten. Die Übernachtung kostet fünf Euro und die Duschen sind da hinten«, sagt er und deutet auf eine Tür. »Jetzt haben wir viel Platz. Es sind nur ein paar Camper hier. Vor drei Wochen war die TID bei uns, da war alles belegt. Das ist immer ein fester Termin, Anfang Juli kommt die TID.« Die TID, die Tour International Danubien, findet seit 1956 statt und ist die längste Kanu- und Ruderregatta der Welt. Jedes Jahr starten Ende Juni mehr als hundert Teilnehmer in Ingolstadt und fahren nach Sfântu Gheorghe am Schwarzen Meer. Dabei legen sie täglich Strecken von dreißig bis sechzig Kilometern zurück und Mitte September erreichen sie ihr Ziel.
»Und du«, fragt er und sieht mich an. »Warum fährst du allein? Warum fährst du nicht mit der TID?«
»Ich glaube«, sage ich, »dass man in einer Gruppe weniger mit den Leuten in Kontakt kommt als allein. Und ich möchte wissen, wie die Menschen entlang der Donau leben. Mich interessiert, was sie von ihren Nachbarn, die zehn, hundert oder tausend Kilometer entfernt leben, wissen. Ob die Donau sie verbindet.«
»Viel Glück«, sagt er und nickt. »Aber pass auf dich auf! Alleine ist es auch viel gefährlicher als in der Gruppe.«
Dann geht er.
DER REGEN HAT DIE DONAU anschwellen lassen. Um etwa zwanzig Zentimeter ist der Pegel über Nacht gestiegen und im Fluss treiben Zweige, Äste und ein ganzer Baumstamm. Das Wasser ist aufgewühlt und schlammigtrüb und scheint schneller zu fließen, aber es regnet nicht mehr und ich hole meine Sachen, steige ins Boot und fahre weiter.
Am rechten Ufer liegt ein Industriegebiet, ich fahre unter den Straßen- und Eisenbahnbrücken von Linz hindurch und das Wasser reflektiert das gelegentlich zwischen den Wolken durchscheinende Sonnenlicht in hellen Flecken an die Unterseite der stählernen Konstruktionen.
Nach zwei Schleusen – das Regencape geht auch heute beide Male problemlos als Schwimmweste durch – und 53 Kilometern erreiche ich am Abend Grein, ein kleines Städtchen in der Bucht einer Flussbiegung. Hinter dem Ort erheben sich bewaldete Berge und am gegenüberliegenden Ufer stehen Felsen.
Im Yachthafen lege ich an und gehe den Hügel hinauf zu einem Haus, vor dem zwei Männer und eine Frau auf der Terrasse sitzen. Sie sind etwa fünfzig Jahre alt, sie tragen teuer aussehende Segelkleidung, wollene Markensweatshirts und helle Hosen, und vor ihnen steht eine Flasche Wein auf dem Tisch.
»Ah, an Kanute!«, sagt einer der Männer, »Wuist hia übanachtn? Drinn lieagt a Listn, troag di ein«, und er deutet auf das Haus. Ich gehe hinein, schreibe meinen Namen in das Buch und werfe zwei Euro Liegegebühr in die Kasse. An der Wand hängt eine große Karte des Stromsystems der Donau und ich suche Grein. Ganz oben links finde ich die Stadt. Obwohl ich heute bereits den achten Tag gefahren bin und schon mehr als dreihundert Kilometer zurückgelegt habe, sieht das Stückchen Fluss zwischen Regensburg und Grein auf der Karte ganz klein und unbedeutend aus.
»Setz di«, sagt der Mann, als ich wieder herauskomme, stellt ein viertes Glas auf den Tisch und sieht mich fragend an. »Du trinkst do aan mit?«
»Kumm«, sagt die Frau, als ich zögere, »sei ned fad«, und deutet auf einen Stuhl.
»Seid ihr aus Grein?«, frage ich sie und setze mich.
»Naa, wia san aus Wien. Siagst des Schinackl da untn?«, sagt der Mann und deutet auf eine große Yacht. »Des is meins.« Wir sitzen auf der Terrasse, die Sonne geht langsam unter und die Felsen und Berge des gegenüberliegenden Ufers leuchten im Abendlicht.
»Grein hot den scheenstn Hafn in gonz Österreich«, sagt der Mann. »Deswegen kumman wia a imma wiada da hea und net nur wia. Nach Grein kumman sogoa Australier und Amerikaner, weus da scheenste Uat an da gonzn Donau überhaupt is. Host da den bestn Platz ausgsuacht, denst überhaupt findn konnst«, sagt er.
»Und du bist gonz allaan unterwegs?«, fragt die Frau. »Host denn goa ka Angst?«
»Nein«, sage ich, »nur manchmal.«
Die Männer lachen.
»Was wuist überhaupt weiterfoahrn? Was wuist bei de Tschuschn?«, sagt der eine. »Bleib do, hia is eh am scheenstn«, und der andere nickt.
»Nackert wird er wiedakumma«, sagt er. »Amoi war i in Pressburg, waaßt no, und gleich hams ma den neichn Wagn gstohln.«
»Audi ist eh a Kraxn, BMW hat vui mehr Sicherheit. Den knackns da ned so leicht.«
»Geh weida, Oida, doch ned beim Fünfa, do is da A6 vui bessa!« Der Mann winkt ärgerlich ab und die Frau stellt einen Karton mit Kräuterschnapsfläschchen auf den Tisch. Jeder der drei nimmt sich eins und dann halten sie mir die Kiste entgegen.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Von Schnaps werde ich immer so schnell besoffen.«
»Sei ned fad«, sagt die Frau und die Männer lachen.
»Kumm, los! Du waast da erste Deutsche, den i kennenlern, da kaan Schnaps trinkt!«, sagt der eine und ich nehme ein Fläschchen. Kurz darauf holt der Mann erneut den Karton hervor. Er sieht mich eindringlich an.
»Dass du di desmal a ned ziarst«, sagt er.
Eine Stunde und etliche Schnäpse später bedanke ich mich, gehe zum Zelt und lege mich in den Schlafsack. Mir ist ein bisschen schwindlig. Nein, mir ist nicht schwindlig, ich bin einfach nur ziemlich besoffen.
AM MORGEN HÄNGEN dicke, graue Wolken zwischen den Bergen, ich habe einen Kater und es regnet. Ich ziehe das Regencape über, schließe die Spritzdecke und fahre trotzdem los.
Immer wieder fahre ich ein Stückchen und mache zwischendurch lange Pausen, sitze am Ufer unter einem Baum und warte. Am Abend erreiche ich nach gerade einmal 23 Kilometern Ybbs. Unterhalb der Schiffswerft führt ein Kanal in den geschützt hinter einem Steinwall liegenden Hafen und ich mache an einem Steg fest, nehme meine Sachen und gehe in den Ort. Am Kanuklub, steht im Wasserwanderführer, gäbe es Übernachtungsmöglichkeiten. Es regnet noch immer, ich bin völlig durchnässt und vielleicht kann ich ja sogar im Haus übernachten, denke ich, denn bei diesem Wetter möchte ich nicht unbedingt im Zelt schlafen.
Das Haus sieht aus wie ein ganz gewöhnliches Einfamilienhaus, aber am Tor hängt ein Schild mit der Aufschrift »Kanuklub Naturfreunde Ybbs« und eine junge Frau öffnet.
»Sie können auf der Wiese im Garten zelten«, sagt sie.
Die Frau ist etwa dreißig Jahre alt und hat halblanges, blondes Haar, sie steht frischgeduscht in einem sauberem Shirt und Jeans in einem hellen Treppenhaus mit Stufen aus polierten Steinplatten und ich komme mir vor als hätte ich, ungewaschen, unrasiert und durchnässt, wie ein Bettler an einer fremden Haustür geklingelt und als sei allein meine Frage eine ziemliche Unverschämtheit.
»Dürfte ich vielleicht im Haus übernachten?«, frage ich sie trotzdem. »Ich brauche auch nichts weiter, ich habe einen Schlafsack und eine Isomatte. Und selbstverständlich bezahle ich auch dafür.«
»Nein«, sagt sie, »das geht nicht«, schüttelt den Kopf und führt mich auf die Wiese hinter dem Haus. Es regnet, ich stehe auf dem kurzgeschnittenen Rasen und durch die gläserne Terrassentür kann ich in einen großen, leer stehenden Raum sehen. Ein Kanu hängt neben gerahmten Fotos, neben Urkunden und Wimpeln an der Wand und in einer Vitrine stehen Pokale. Da drinnen hätte sie mich doch schlafen lassen können, denke ich und baue das Zelt auf, mache mir eine Dose Gulasch warm und sitze, mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt, auf dem schmalen, trockenen Streifen Terrasse und sehe dem Regen zu.
Hemd, Pullover und Hose sind trotz des Regencapes nass und auch in den Packsäcken werden die Sachen nach und nach ziemlich klamm. Ich lege mich in den feuchten Schlafsack, ich friere und höre den Regen rauschen.
ALS ICH AM MORGEN das Zelt abbaue und meine Sachen zusammenpacke, ist es trüb und kühl und ab und an regnet es. Am Nachmittag wird der Regen stärker und ich fahre bei Melk in einen Altarm hinein.
»Bootssteg nach 200 m, Bootshaus der Ruder-Union. Übernachtung auf Luftmatratzen möglich«, steht im Wasserwanderführer. Ich gehe hinauf zum Haus, vor dem schon ein Kajak auf der Wiese liegt. Daneben steht ein winziges, flaches Zelt und unter dem Dach sitzen auf der Terrasse eine Frau und ein Mann. Sie sind Ende vierzig und schneiden Gemüse in einen Kochtopf. Der Mann hat dichte, silberfarbene Locken, seine Füße stecken in Sandalen und ein T-Shirt, das über der kurzen Hose hängt, spannt ein wenig über seinem Bauch. Er sieht aus wie ein grau gewordener Weihnachtsengel. Die Frau hat kurze, blonde Haare, sie trägt Jeans und ein graues Sweatshirt.
»Hallo«, sage ich. »Bin ich hier richtig am Ruderklub? Ich würde gerne hier übernachten, wenn das möglich wäre.«
»Ja«, sagt der Mann. »Hier bist du genau richtig! So ein Scheißwetter«, lächelt er freundlich. »Da macht es wirklich keinen Spaß. Ich bin Bernd«, sagt er, reicht mir die Hand und deutet auf die Frau. »Sabine.«
Sie nickt nur kurz und er zeigt mir das Haus, die Duschen und den Raum, in dem ich übernachten kann.
»Wir schlafen im Zelt«, sagt er. »Du hast das Zimmer also ganz für dich allein.«
In dem holzgetäfelten Raum stehen auf steinernen Bodenplatten ein kleiner, schwarzer Ofen, ein Biertisch und zwei Bänke vor einem großen Fenster.
Ich hole die Sachen aus dem Boot, entlade es und ziehe es auf den Steg. Die zweite Spante von vorn sieht nicht gut aus. Einer der stählernen Haken sitzt nicht mehr in dem dafür vorgesehen Loch und das Holz ist gebrochen, aber ich habe nichts dabei, es zu reparieren. Durch das Verdeck ist viel Wasser hineingelaufen, so viel, dass ich tagsüber mit der Socke, mit der ich es während der Fahrt immer wieder aufgewischt habe, gar nicht mehr hinterhergekommen bin. Ich drehe das Boot um und ein Schwall Wasser läuft heraus. Es wird dem Holzgerüst guttun, denke ich, etwas abzutrocknen.
Im Haus spanne ich Leinen und hänge meine Sachen auf. Danach gehe ich über das Grundstück und suche unter den Bäumen nach Ästen und Zweigen. Nach einer halben Stunde lege ich ein Bündel Holz neben den Ofen, gehe wieder hinaus zu den beiden und setze mich zu ihnen.
»Scheißwetter«, sagt Bernd, »willst du ein Bier?«
Ich nicke und er geht ins Haus.
»Der Klub ist prima«, sagt er und zwinkert mir zu, als er mit zwei Büchsen in der Hand wiederkommt. »Wir sind heute Mittag hier angekommen und haben die Nummer angerufen, die an der Tür steht. Zehn Minuten später hat uns die Gabi aufgeschlossen. Wir können so lange bleiben wie wir wollen, und der Kühlschrank ist voll mit Bier. Kostet nur einen Euro, einzuwerfen in die Kasse des Vertrauens. Wir kommen aus Oldenburg«, sagt er, »und fahren mit dem Kajak durch die Wachau, von Melk nach Krems. Dann geht es weiter nach Wien. Das sind genau hundert Kilometer und wir haben eine Woche dafür eingeplant.«
»Die Wachau ist die schönste Ecke in Österreich«, sagt Sabine, »Weltkulturerbe. Wir machen immer solche Touren mit unserem Boot«, und sie deutet hinüber zu dem modernen, hellblauen Hartschalenkajak, das neben dem Zelt im Gras liegt.
Ich ziehe das Regencape über und gehe trotz des Wetters hinauf zur großen, barocken Benediktinerabtei, die auf einem Felsen am Ufer steht, spaziere durch den Garten und sehe über die Donau. Der Blick von hier oben ist ein ganz anderer als der aus dem Boot. Große Strudel gurgeln, die Wellen fließen schnell und scheinen geradezu zu drängeln und zu drängen, zu schieben und zu schubsen, als könnte jede von ihnen es kaum erwarten voranzukommen, und als wollte jeder Tropfen der erste sein auf dem langen Weg zum Meer.
Danach gehe ich zurück zum Bootshaus. Das Holz ist nass, aber mit ein paar alten Zeitungen, die in der Ecke liegen, geht es irgendwann, und nach einer Weile brennt im Ofen ein Feuer. Es wird warm und die Hemden, Socken und Unterhosen, die Pullover und der Schlafsack beginnen zu trocknen. Es wurde auch höchste Zeit, denke ich, alles einmal aufhängen zu können. Die Sachen sind schon seit Tagen klamm und feucht, der Strohhut schimmelt bereits und hat viele, kleine, schwarzgrüne Punkte auf der Krempe.
Gleichförmig trommeln die Tropfen auf das Dach und laufen an den beschlagenen Fensterscheiben hinunter. Ich sitze neben dem Ofen, ich habe noch immer einen leichten Muskelkater und meine Handflächen werden hart und schwielig.
Am Abend mache ich mir ein paar Notizen, aber der Stift erscheint mir winzig und filigran und ich befürchte beinahe ihn zu zerbrechen, wenn ich nicht vorsichtig genug bin. Seit zehn Tagen sind meine Hände nun schon das glatte und feste Holz des Paddels gewöhnt, zwei Meter lang und drei Zentimeter stark, gewöhnt daran zuzupacken und es durch das Wasser zu ziehen mit ganzer Kraft.
AM MORGEN HAT DER REGEN aufgehört, Sabine sitzt unter dem Dach auf der Terrasse, liest und nickt nur kurz zum Gruß, als sie mich sieht, und aus dem Zelt höre ich ein lautes Schnarchen.
Ich gehe hinunter zum Ufer und im Altarm ist das Wasser erneut um einen halben Meter gestiegen. Die Treppe und der Steg zum schwimmenden Ponton liegen halb unter Wasser. Der Fluss ist trüb, braun und schlammig und ich kann die steinernen Stufen nicht mehr erkennen, ziehe die Schuhe aus und taste mich barfuß hinüber. Das funktioniert und ich gehe zurück zum Haus und packe meine Sachen zusammen. Es ist tatsächlich alles getrocknet über Nacht.
Bernd schaut gerade aus dem Zelt, als ich mit den Packsäcken aus der Tür komme.
»Guten Morgen«, sage ich. »Heute haben wir Glück. Es regnet nicht mehr!«
Er reibt sich die Augen und sieht zum Himmel.
»Ja, das sieht gut aus«, sagt er fröhlich. »Dann kann ich ja auch aufstehen.«
Mit den Säcken in der Hand balanciere ich barfuß, langsam und vorsichtig durch das knietiefe Wasser, gehe zurück und hole nach und nach alles auf den Ponton. Das Boot ist abgetrocknet über Nacht, alles Wasser ist herausgelaufen und die Bootshaut innen nur noch ein wenig feucht. Ich fahre weiter und links breiten sich Weinstöcke terrassenförmig wie asiatische Reisfelder an den Hängen aus und kleine, weiße Häuser stehen am Ufer. Sabine hatte recht, denke ich, es ist tatsächlich sehr schön hier.
Die Donau fließt viel schneller als noch vor ein paar Tagen und nach nicht einmal vier Stunden fahre ich schon an Dürnstein vorbei, 27 Kilometer hinter Melk. Das Wasser steht so hoch, dass es beinahe den schmalen Uferweg überflutet, weißschäumend bricht es sich an überspülten Buhnen und vor einer Insel hat der Fluss Bäume angeschwemmt. Ineinander verkeilt liegen sie da, zehn Meter breit und drei Meter hoch aufgetürmt.
Dunkle Wolken ziehen tief über die Donau, als ich am Abend an einem kleinen Yachthafen anlege, etwa zwei Kilometer flussabwärts rauscht ein Regen nieder und ich gehe in das Hafenrestaurant und trinke ein Bier, fühle mich aber unwohl in dem sauberen und noblen Restaurant zwischen all den frisch gewaschenen Menschen in teurer Kleidung, trinke das Bier schnell aus und gehe zurück zum Zelt, sitze noch eine Weile auf einer Bank am Ufer und sehe über den Fluss.
WIEN. AM UFER STEHEN HOCHHÄUSER und ein Fernsehturm und ich fahre unter Brücken hindurch, über die Autos und eine Straßenbahn donnern, unter stählernen, hundertfach verstrebten und tausendfach genieteten Eisenbahnbrücken, unter Straßenbrücken aus gewölbtem grauen Beton und unter Hängebrücken, an deren gewaltigen Pylonen unzählige Drahtseile sich auffächern. Am Ufer liegen Kutter und Frachtschiffe, Ausflugsdampfer und ein kleines, graues Militärboot. Ich fahre durch Wien ohne anzuhalten, und am Abend erreiche ich Orth. Auf dem frisch gemähten Rasen steht ein altes, dreistöckiges, weißgetünchtes Restaurant mit einem steilen Ziegeldach und davor ein weitläufig umzäunter Biergarten, links ein Spielplatz mit einem hölzernen Piratenschiff als Klettergerüst und daneben ein paar Biertische und Bänke. Die Wiese neben dem Rasthaus zieht sich entlang des schmalen Nebenarms mehr als hundert Meter am Ufer entlang und ich fahre in die Bucht und lege neben ein paar Fischerbooten an. Einige der Boote sind ganz neu und doch von der gleichen Bauart wie die alten, grauverrotteten, die tief im Fluss liegen, voll Wasser gelaufen und schon halb versunken. Algen und Wasserpflanzen wachsen in den geborstenen Rümpfen.
Mit Kocher, Topf und einer Büchse Bohnensuppe gehe ich zu einer der vielen Bierbänke und mache mir mein Abendbrot warm. Kaum dass ich alles aufgebaut habe, kommt ein Mann in schnellen Schritten über die Wiese gelaufen. Er trägt eine Jeans und ein kariertes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, er hat ein rotes Gesicht und sieht mich finster an. An seinem Gürtel baumelt ein Geschirrtuch und noch bevor er neben mir steht, fängt er auch schon an zu schimpfen.
»Des kann doch ned wahr sein, des glaub i jetzt ned!«, brüllt er mich an. »Du setzt dich auf meiner Wiesen an meinen Tisch und bringst dir dein eigenes Essen mit! Des ist doch die Höhe, a Frechheit ist des! Bringst mich um meinen Umsatz!«
»Das ist ihre Wiese?«, sage ich. »Das wusste ich nicht.«
»Des alles gehört mir«, schreit er mich an und breitet die Arme aus. »Alles! Wahrscheinlich willst auch noch umsonst hier zelten?«, brüllt er und sieht mich herausfordernd an.
»Ja«, sage ich und deute auf den Waldrand. »Das Zelt steht schon. Dort hinten unter den Bäumen, wo es hoffentlich niemanden stört.« Der Mann macht den Mund auf und wieder zu, sagt aber nichts.
»Ist das da hinten auch ihre Wiese?«, frage ich ihn.
»Ja freilich ist des mei Wiesen«, sagt er, noch immer sehr grimmig. »Des ganze Grundstück gehört mir, des alles hier.«
»Es wird schon dunkel, ich bin mit dem Boot unterwegs und nirgendwo habe ich einen Rastplatz gefunden«, sage ich. »Darf ich hier zelten? Es ist nur für eine Nacht.«
Der Mann schweigt für einen Augenblick.
»Nimm deinen Krempel und verschwind«, sagt er dann und deutet auf den Waldrand. »Bis ganz nach hinten! I will dich hier vorn ned mehr sehn.«
Vor dem Zelt baue ich erneut den Kocher auf, aus dem Altarm steigt Nebel und langsam wird es dunkel.
AM MORGEN WEHT ein leichter Westwind. Das Wasser fließt, ich paddle und komme schnell voran. Am Himmel schweben ein paar kleine, weiße Wölkchen, am Ufer steht Wald und ich höre ein dumpfes Dröhnen, erst leise, dann aber schnell immer lauter werdend. Ich fahre mitten in der mit Bojen ausgetonnten Schiffsrinne, drehe mich um und sehe ein weißes Tragflächenboot, das rasch näher kommt, und paddle so schnell ich kann in Richtung Ufer.
Höre ich das gleichmäßige und beinahe gemütliche Stampfen eines Schiffsdiesels, das ruhig und geradezu beruhigend langsam näher kommt, habe ich immer genügend Zeit, an eines der Ufer zu fahren und den Schleppern, die mit kaum mehr als zehn Stundenkilometern auf dem Fluss unterwegs sind, auszuweichen. Aber nun hat mich das Boot in weniger als fünf Minuten eingeholt und als es an mir vorüberbraust, sehe ich, dass es sich fast ganz aus dem Wasser gehoben hat. Es scheint beinahe auf dem Fluss zu schweben und mit einer Geschwindigkeit von mehr als fünfzig Kilometern in der Stunde fliegt es nahezu über die Donau. Das ist schon etwas anderes als die trägen Dampfer, denke ich und nehme mir vor, in der nächsten Zeit die Schiffsrinne zu meiden und nicht mehr so bedenkenlos die Ufer zu wechseln, zumal der Fluss immer breiter wird und es mittlerweile schon eine gute Viertelstunde dauert, von der einen auf die andere Seite zu fahren.
Das Tragflächenboot verschwindet hinter der nächsten Flussbiegung und auf einem Frachter stehen zwei Männer am Bug, holen die rotweiß-rote österreichische Fahne ein und hissen die weiß-blau-rote Flagge mit dem Wappen der Slowakei.
Felsen stehen am Ufer und eine Libelle hat sich auf der Spritzdecke niedergelassen. Sie sitzt da, blassgrün, schwarz und dick, und fährt mit mir von Österreich in die Slowakei.
Wieder macht sich die Grenze am Ufer nicht bemerkbar, auch die Zollabfertigung, von der der Wasserwanderführer schreibt, scheint es nicht mehr zu geben und auf einer Anhöhe hinter den Hügeln sehe ich am Horizont schon die Silhouette der Burg von Bratislava.
Jetzt also beginnt der sogenannte Osten, wie in Deutschland der Einfachheit halber alles genannt wird, was jenseits von Oder und Bayerischem Wald liegt. Archaisch soll er sein, wild, korrupt und gefährlich, unberechenbar und kriminell, aber gastfreundlich und herzlich die Menschen, die dort leben.
Die wildesten Geschichten werden über ihn erzählt und alles scheint es dort zu geben, einfach alles – außer Alltag und Normalität. Ich bin zum ersten Mal in der Slowakei und obwohl die Landschaft sich nicht verändert hat, obwohl die gleichen grauen Felsen auf grünen Hügeln stehen und die gleichen bewaldeten Berge am Ufer liegen wie in Österreich, obwohl sich der gleiche blaue Himmel von Horizont zu Horizont spannt, scheint sich irgendetwas verändert zu haben. Ich weiß nicht, ob es der kleine, gelb gestrichene, zweistöckige Flachbau am Ufer ist oder der Angler, der in kurzen Hosen auf einer schräg im Wasser liegenden Betonplatte steht, ob es die Kräne am Horizont sind oder die Plattenbauten auf dem Hügel, aber ich fühle mich ganz und gar nicht fremd, sondern eher beinahe so, als käme ich nach langer Zeit wieder zurück nach Hause. Zu sehr erinnert mich all das an den Osten Deutschlands in den neunziger Jahren oder an Tschechien.
Vor etwas mehr als zehn Jahren habe ich in Südmähren als Deutschlehrer gearbeitet, in dieser Zeit habe ich die Sprache gelernt und auch wenn ich Vieles schon wieder vergessen habe, so werde ich mich doch wenigstens einigermaßen verständigen können, denn Tschechisch und Slowakisch sind eng miteinander verwandt.
Links unter der Burg liegt das Zentrum von Bratislava und am rechten Ufer sehe ich eine flach ins Wasser abfallende Betonrampe und lege an. Neben dem schmalen Uferweg steht das Tor in einem mannshohen Maschendrahtzaun offen und daneben hängt ein Schild, »veslársky klub«, Ruderklub, und ich gehe hinein.
Zwei etwa vierzigjährige Männer in kurzen Hosen und mit freiem Oberkörper sitzen im Schatten eines zweistöckigen Flachbaus auf Liegestühlen neben einem Klapptisch und ich erzähle ihnen woher ich komme und dass ich einen Zeltplatz und möglichst auch eine Dusche suche.
Einer der beiden steht auf.
»Wo ist dein Boot?«, fragt er.
»Unten am Fluss.«
»Warte«, sagt er, geht ins Haus und kommt mit einem Bootswagen zurück. »Wir holen das Boot, du solltest es nicht unten am Wasser liegen lassen, hier ist es sicherer. Und natürlich kannst du bei uns zelten«, sagt der Mann und deutet auf die große Wiese vor dem Haus, »das ist gar kein Problem«, und wir gehen zum Fluss.
»Veterán«, sagt der Mann und lacht, als wir am Ufer ankommen. »Den Typ kenne ich, das ist ein Kolibri IV aus der DDR. Alt, aber gut.« Er sieht sich das Boot an und entdeckt die gebrochene Spante.
»Das müssen wir reparieren«, sagt er. »Sonst geht bald noch mehr kaputt.«
»Ja«, sage ich. »Aber wie?«
»Im Bootshaus haben wir alles«, sagt der Mann. »Lass mich nur machen, ich kann das.«
Auf der Wiese zerlege ich das Boot, nehme die Spante und bringe sie ihm.
»Ich kümmere mich darum«, sagt er. »Du kannst solange dein Zelt aufbauen und wenn du fertig bist, zeige ich dir wo die Duschen sind.« Ich baue das Zelt auf und nehme die Taschenlampe in die Hand. Sie braucht neue Batterien, gestern Abend war das Licht nur noch ganz schwach, aber beim Öffnen drehe ich an der falschen Stelle und schon habe ich nur noch splitterndes Plastik in den Händen. Mir ist als griffe ich mittlerweile, ohne es zu wollen, mit dreifacher Kraft zu, werfe die kaputte Lampe in den Müll und gehe zu dem Mann, der mir die reparierte Spante in die Hand drückt.
»Das ist Bootsleim«, sagt er, »das müsste halten. Und bis morgen ist der Kleber getrocknet.«
Ich bedanke mich und gebe ihm einen Zehneuroschein. Die Brücke hinüber zur Innenstadt ist eine alte, stählerne Straßenbrücke und links neben der Autospur verläuft ein etwa zwei Meter breiter Fußgängerweg aus ausgetretenen, grauen Holzbohlen. Ich bleibe eine Weile auf der Brücke stehen, lehne mich auf das Geländer und sehe hinab auf den Fluss. Es ist ein warmer, klarer Sommerabend, im Westen schimmert der wolkenlose Himmel rötlich und die Stadt liegt in ein mildes Licht getaucht.
An einem Bankautomaten hebe ich slowakische Kronen ab, das Pflaster vor dem Nationaltheater ist noch warm von der Hitze des Tages und ich sehe mir die Auslagen der kleinen Buden an, in denen Souvenirs verkauft werden. Postkarten und Aquarelle mit Stadtansichten, Keramik und T-Shirts mit der Aufschrift »Kiss me, I am Slovak«.
Am Rande eines Brunnens sitzt ein junger Mann in einer grünen Hose und einer grünen Jacke. Sein Gesicht ist grün geschminkt, er ist barfuß und in der Hand hält er eine grüne, geschwungene Pfeife. Auf dem Kopf trägt er einen grünen Hut mit einer Sonnenblume und vor ihm steht ein Keramikbecher. Er bewegt sich ganz langsam, öffnet den Mund und schließt ihn wieder, geradeso wie ein müder, alter Karpfen an Land, und deutet dann auf den Becher zu seinen Füßen. Ich werfe eine Münze hinein und er verzieht das Gesicht zu einem breiten Grinsen, verbeugt sich und lüpft den Hut.
Ich gehe zurück zum Ruderklub, setze mich ans Ufer und blicke über den Fluss. 522 Kilometer bin ich nun gefahren, fast vierzig Kilometer an jedem der vergangenen vierzehn Tage.
Den ganzen Tag sehe ich den Fluss, ich treibe mit ihm, auf ihm, ich paddle und fahre und nun sitze ich am Ufer und betrachte die Wellen und das Wasser als sähe ich all das zum ersten Mal, ich könnte stundenlang so sitzen und der Donau zuschauen bei ihrem gleichmäßigen und ruhigen Fließen und als ich aufstehe und zurück zum Zelt gehe, ist es dunkle Nacht.
AM MORGEN IST DER LEIM getrocknet, die Spante macht einen stabilen Eindruck und ich passe sie wieder in das Boot ein. Das Haus ist verschlossen und die beiden Männer sind nicht zu sehen, aber auf der Terrasse steht unter einem kleinen Vordach der Bootswagen und ich bringe alles wieder hinunter zum Fluss.
Es sind noch fünfzehn Kilometer bis zur Staustufe Čunovo und die Skizze im Wasserwanderführer ist unübersichtlich, schlecht gedruckt und verwirrend. Anscheinend gibt es wohl eine Bootsgasse und eine Schleuse, aber die Skizze ist trotzdem nahezu unlesbar. Doch es wird schon irgendwie werden, denke ich und fahre erst einmal los.
Zehn Kilometer hinter Bratislava lege ich an einem Kiesstrand an, binde das Boot an einen Baum und gehe zu einem Kiosk, der aber außer Kaffee und Cola, Bier und Schokoriegeln nichts zu verkaufen hat. Abgesehen von mir und dem Kioskbetreiber ist niemand hier und ich setze mich mit einem Becher Kaffee an einen der Tische im Schatten.
Ein Pärchen kommt angeradelt. Sie sind vielleicht vierzig Jahre alt, holen sich ein Bier und fragen, ob an meinem Tisch noch ein Platz frei sei. Ich nicke und sie setzen sich.
»Wir sind aus Bratislava«, sagen sie und stellen sich vor. »Martin und Jana. Und du? Wo kommst du her?«
»Könnt ihr mich verstehen, wenn ich Tschechisch spreche?«, frage ich sie.
»Ja«, sagt Jana. »Wir sind ja beide noch in der Tschechoslowakei aufgewachsen, wir haben in Brno studiert und verstehen sehr gut Tschechisch. In den ersten Jahren, kurz nach der Trennung in zwei souveräne Staaten, da haben sich unsere beiden Länder ja etwas auseinanderentwickelt.« Gerade die Slowakei, als junger Staat, hätte sich von Tschechien abgrenzen wollen, um die nicht ganz unumstrittene Eigenstaatlichkeit zu betonen. Aber jetzt, nachdem einige Zeit vergangen sei und der Status quo eine Selbstverständlichkeit, nachdem die Slowakei und Tschechien Mitglieder der Europäischen Union geworden sind, hätten sie sich wieder aneinander angenähert, sagt sie. Martin nickt.
»Tschechischsprachige Filme laufen ohne Untertitel und ohne Synchronisation im slowakischen Fernsehen«, sagt er, »und die gegenseitige Verständigung wird wieder besser.«
Dann steht er auf, geht zum Kiosk und kommt mit einem Becher Bier zurück, den er vor mich stellt.
»Jetzt, am Mittag?«, sage ich. »Normalerweise trinke ich tagsüber überhaupt kein Bier und schon gar nicht bei dieser Hitze.«
»Das hat nur 10°«, sagt Martin und lächelt, »das tut keinem was.« In der Slowakei wird das Bier, wie in Tschechien, nicht nach dem Alkoholgehalt, sondern nach der Stammwürze eingeteilt. 10° bedeuten etwa 3 % Alkohol, nur das 12°-Bier hat, wie bei uns, fünf Prozent und als die Becher leer sind, stehe ich auf und hole eine neue Runde.
Danach steigen sie auf ihre Räder, winken noch einmal und ich gehe zurück zum Fluss.
Ein paar Kilometer darauf weitet sich die Donau zu einem gewaltigen See. Am Ufer liegen kegelförmige, vielleicht zehn Meter hohe Sandhaufen, zum Teil schon mit Gräsern und Büschen bewachsen und leicht in sich zusammengefallen, zum Teil frisch aufgeworfen und hellgelb, fast weiß in der Sonne leuchtend.
Links zweigt der Schleusenkanal für die Großschifffahrt ab, ich bleibe am rechten Ufer und auf einer Landzunge vor der Schleuse stehen buntbemalte, mehr als drei Meter hohe, fantasievolle Skulpturen, die in der Nachmittagssonne leuchten.
Die Bootsgasse ist unpassierbar. Baumstämme haben sich vor die Öffnung geschoben, der schmale Kanal liegt trocken und ich gehe zu einem großen, weißen Gebäude.
Ein dicker, schnauzbärtiger Mann in Uniform sitzt neben dem Haus im Schatten und ich frage ihn, ob ich geschleust werden könnte.
»Nein«, sagt der Mann, »das ist unmöglich. Die Schleuse ist außer Betrieb.«
»Keine Chance?«
Er hat die Hände vor dem Bauch gefaltet, sieht mich träge an und schüttelt den Kopf.
»Keine Chance!«
Ich gehe die Straße auf der Mauer entlang und finde links eine kleine Bucht. Von hier sind es etwa zweihundert Meter bis zur anderen Seite unterhalb des Stausees, wo ich das Boot wieder einsetzen könnte, und ich fahre in die Bucht und entlade das Boot, schleppe die Säcke nach und nach hinunter zur Einsatzstelle und als ich das Boot anheben möchte, stelle ich fest, dass es zu schwer ist. Ich schaue mich um und sehe einen jungen Mann, der in Badehose am Ufer sitzt, gehe zu ihm und erkläre, dass ich Hilfe brauche. Er nickt und steht auf. Gemeinsam tragen wir das Boot hinunter.
Das war nun endlich das letzte Hindernis, denke ich, das letzte Mal, dass das Wasser sich gestaut hat, es ist geschafft und ich sehe mich um. Links steht ein Auto unter Bäumen, ein Mann packt seine Angeln aus und zwei Kinder spielen im Wasser, sie plantschen, schwimmen und spritzen sich mit Wasser voll.
Man kann also baden in der Donau?
Das Wasser ist zwar ein wenig trüb, scheint aber auch nicht viel schmutziger zu sein als ein beliebiger Badesee zu Hause. In meiner Kindheit konnte man in Flüssen nicht baden. Sie waren mit Abwässern verdreckt, auf ihnen trieben Flocken schmutzigbraunweißen Schaums und schillernde Flecken von Öl und Benzin. Mehr Kloaken als Flüsse waren es und so bin ich auch jetzt nicht auf die Idee gekommen, in der Donau zu schwimmen, schließlich ist sie kein See. Seltsam, denke ich, wie lange diese Vorstellung prägend geblieben ist, denn das kühle Wasser tut gut, es wäscht mir den Schweiß von der Haut und ich bin erfrischt und fühle mich geradezu sauber, als ich wieder aus dem Fluss steige.
AUF DER GANZEN BREITE des Flusses liegen Gesteinsbrocken und das Wasser umsprudelt sie rauschend und weiß schäumend. Baumstämme haben sich zwischen den Felsen verfangen und ich lege am linken Ufer an und sehe über das Wasser. Es hilft alles nichts, ich muss ein weiteres Mal umtragen, denn durch dieses Wildwasser kann ich nicht fahren.
Als das Gepäck in der kleinen Bucht unterhalb der Stromschnellen liegt, gehe ich zurück zum Boot, aber es ist niemand zu sehen, der mir helfen könnte. Ich muss es allein schaffen, drehe das Boot um und hebe den Bug an, krieche darunter und lege es mir auf den Buckel. So funktioniert es und ich marschiere mit gebeugtem Rücken den zweihundert Meter langen Waldweg hinunter.
Die Sonne steht im Zenit, es ist heiß und außer dem Gezwitscher der Vögel und dem Zirpen der Grillen ist nichts zu hören. Sommerhitze liegt über dem Land und die Luft flimmert, ich paddle nicht mehr und lasse mich treiben. Schilf und Wald säumen das Ufer, ein paar Meter von mir entfernt schwimmt ein Biber, dann schlägt er laut klatschend seine Kelle aufs Wasser, er taucht ab und zum ersten Mal sehe ich einen Seidenreiher. Er steht am Ufer im flachen Wasser, er ist vielleicht einen halben Meter groß und weiß. Als er auffliegt, sehe ich, dass seine Beine schwarz sind, seine Füße aber leuchtend gelb.
Seit dem letzten Regen ist fast eine Woche vergangen, der Wasserstand ist um mehr als einen halben Meter gefallen und die flach über dem Wasser hängenden Äste der Weiden und das Schilf sind von feinen Schlammschichten überzogen, die in grauen Streifen die Pegel der vergangenen Wochen anzeigen.
Auf einer breiten Wiese neben dem Medveďov-Arm stehen unter Bäumen zwei große Zelte und ein Kleinbus und am Ufer liegen zwei Kanadier und ein Schlauchboot. Es ist schon spät am Nachmittag, die Schatten werden länger und das Licht milder und als ich das Boot an Land ziehe, sehe ich, dass das Ruder lose ist. Eine der drei Schrauben ist locker und eine fehlt.
Medveďov ist ein kleines Dorf, umgeben von Feldern, Wiesen und ein paar Flecken Wald. Ein großer, moderner Traktor fährt an mir vorbei, eine alte Frau trägt eine geblümte Einkaufstasche nach Hause und zwei Halbwüchsige in kurzen Hosen und mit freiem Oberkörper schlendern langsam über die schmale Straße.
Obwohl das Dorf in der Slowakei liegt, sieht es schon sehr ungarisch aus, oder doch wenigstens so, wie ich mir ein ungarisches Dorf vorstelle. Umgeben von flachem, weitem Land, in dem nur ab und an eine kleinere Baumgruppe steht, liegen die Häuschen beieinander, die meisten wohl in den 1950ern gebaut. Sie tragen ein flaches, pyramidenförmiges Dach, mit Ziegeln oder mit Wellblech gedeckt, in den Gärten wachsen Tomaten und Paprika, stehen Kirsch- und Pfirsichbäume, unter denen gelegentlich eine Ziege weidet, die den Kopf hebt und mich kauend aus großen, gelben Augen anglotzt, und auf einem Mast brüten Störche. Der Betonmast scheint keinen anderen Zweck zu erfüllen als den, ein Storchennest zu tragen. Es hängen keine Stromleitungen an ihm und am oberen Ende ist ein rundes, von vier Streben abgestütztes Stahlgerüst angebracht, das den Zweck des ansonsten üblichen, alten Wagenrades erfüllt.
In dem kleinen Laden im Ort gibt es keine Schrauben, aber auf einem Hof beugen sich drei junge Männer über den geöffneten Motorraum eines alten Ladas und auf meine Frage halten sie mir eine Werkzeugkiste hin, in der Schrauben in allen Größen und Formen liegen. Ich nehme mir drei Stück heraus und als ich sie frage, was ich ihnen dafür geben könnte, lachen sie nur.
»Diese drei Schrauben haben keine fünf Heller gekostet«, sagt einer der drei. »Also lass dein Geld stecken!«
Am Fluss schiebe ich ein paar Streichhölzer in die Löcher am Heck und schraube das Ruder wieder fest. Es scheint zu halten, aber die Feuchtigkeit der letzten Tage hat einigen der hölzernen Bootsteile wohl doch ein wenig zugesetzt und sie sind dunkel und aufgequollen. Danach gehe ich in die Kneipe und setze mich an einen Tisch auf der Terrasse vor dem Haus. Ein paar alte Männer sitzen beim Bier, im Hintergrund läuft ein Fernseher und im Schatten liegt ein Hund und döst. Ein Mann mit einer Sense auf der Schulter geht die Straße entlang und grüßt über den Zaun einen Nachbarn.
Niemand scheint es eilig zu haben in Medveďov, es wirkt beinahe, als hätte das ganze Dorf Sommerferien und wochenlang frei, Zeit, am Fluss im Schatten zu sitzen, zu baden, am Abend gemütlich nach Hause zu schlendern und ein paar Kirschen zu pflücken. Ganz sicher ist es nicht so, aber es fehlt einfach die Hektik und das Gehetztsein, wie ich es aus der Großstadt kenne, und ich lasse mich von der dörflichen Ruhe anstecken, trinke ein Bier, mache mir ein paar Notizen und gehe erst zurück zum Fluss, als es schon dämmert.
AM MORGEN ZIEHE ICH das Boot ins Wasser. Das Ruder sitzt wieder fest und reagiert auf jede kleine Bewegung der Pedale. Das Land ist flach und links und rechts am Ufer stehen Erlen und Weiden mit silbriggrün schimmernden Blättern, Zweige hängen im Wasser, manchmal steht in einer Bucht mit Sand- oder Kiesstrand ein Zelt und jemand winkt mir zu, ein Kanu liegt im Gras und zwischen zwei Bäumen ist eine Hängematte gespannt, in der ein Mädchen liegt und liest, auf einer Leine hängen Handtücher und am Ufer ankert ein Motorboot. Obwohl die Abstände zwischen den Ortschaften größer werden, wirkt der Fluss belebter als in Deutschland oder in Österreich, wo die mit Steinblöcken bewehrten Ufer es über weite Strecken verhindern, zu zelten oder zu baden.
Am Nachmittag höre ich ein leises Quietschen und Rumpeln, das immer lauter wird. Geräusche, als schabte Metall auf Metall, ein kreischendes Scheppern, das weit über den Fluss hallt, und nach einer Weile sehe ich ein Schiff. Auf dem rostigen Kahn läuft eine Eimerkette, ein Förderband mit Schaufeln, und neben dem Baggerschiff liegt ein Schubleichter, auf dessen tief im Fluss hängenden Heck schon zwei Kieshaufen liegen. Der noch unbeladene Bug hebt sich aus dem Wasser und der Kahn baggert die Schiffsrinne aus.
Ein paar Flussbiegungen darauf ist es wieder still und auf einer Buhne steht neben einer Gruppe Kormorane ein Schwarzstorch. Er hat einen roten Schnabel, rote Beine und sein Gefieder schimmert, abgesehen vom weißen Bauch, grünschwarz. Ganz ruhig steht er da, ich halte das Paddel still, um ihn nicht aufzuschrecken, und gleite lautlos und ohne ihn zu stören an ihm vorüber.
Am frühen Abend erreiche ich Komárno, wo man auf dem Gelände des Rudervereins neben der großen Brücke zelten könnte, wie der Wasserwanderführer schreibt. Vielleicht, denke ich, kann man dort duschen und vielleicht gibt es sogar eine Waschmaschine, denn mittlerweile habe ich nur noch wenige saubere Sachen, aus dem Wäschesack riecht es muffig und auch der Schlafsack ist schon lange nicht mehr frisch.
Am Strand vor dem Ruderklub, der eher aussieht wie eine Kneipe oder ein kleines Hotel, lege ich an und gehe ins Haus, aber die junge Frau hinter dem Tresen sieht mich skeptisch an und schüttelt den Kopf.
»Selbstverständlich bezahle ich auch dafür«, sage ich.
»Nein!«, antwortet sie barsch. »Nein, Sie können hier nicht duschen, bei uns kann man nur Zimmer mieten.«
»Und was kostet das?«
»Zweihundert.«
»Gut«, sage ich, »sehr gut!«, denn zweihundert slowakische Kronen sind nicht ganz sieben Euro. »Ich nehme ein Zimmer.« Die Frau schlägt das abgegriffene Heft auf, das vor ihr liegt, liest und sieht mich dann ein bisschen erschrocken an.
»Wir haben kein Zimmer mehr frei«, sagt sie entschuldigend und zuckt die Achseln.
»Das macht nichts«, sage ich. »Ich gebe Ihnen fünfzig Kronen, wenn Sie mir zeigen wo ich duschen kann. Einverstanden?« Sie nickt und führt mich zu einem Waschraum.
Bei der Gelegenheit wasche ich die Hose, die Unterhose und das Hemd gleich mit. Auch den angeschimmelten Hut nehme ich unter die Dusche, seife ihn gründlich ein und schrubbe die schwarzgrünen Sprenkel ab. Danach baue ich das Zelt auf der Wiese hinter der Brücke auf und nach dem halbstündigen Weg in die Innenstadt sind die Sachen auch schon wieder trocken.
Unterwegs höre ich neben Slowakisch auch Ungarisch auf den Straßen und alle Schilder sind zweisprachig. Im Süden des Landes, im Grenzgebiet, lebt die ungarische Minderheit, die etwa ein Fünftel der slowakischen Bevölkerung ausmacht.
Von den 37 000 Einwohnern der Stadt Komárno oder Komárom, wie es auf Ungarisch heißt, sind zwei Drittel Ungarn, in der 2003 gegründeten János-Selye-Universität wird auf Ungarisch gelehrt und vor dem Museum steht ein Bronzedenkmal für Mór Jókai, einen ungarischen Schriftsteller, der 1825 in Komárno geboren wurde. Der Kranz am Fuße des Denkmals ist neben den weiß-blau-roten Bändern der slowakischen Farben wie selbstverständlich auch mit den rot-weiß-grünen der ungarischen Trikolore umwunden.
Zwei Romajungs laufen mir hinterher. Sie sind vielleicht elf Jahre alt und der eine ist klein und dick, der andere hager und schlaksig. Der kleine Dicke hat einen Knüppel in der Hand, eine irgendwo gefundene Zaunslatte, und sie streunen durch die Stadt.
»Nazdar!«, rufen sie, »Hallo! Geben Sie uns Geld! Für ein Eis!«, und ich gebe ihnen ein paar Münzen. Sie laufen mir hinterher, reden auf mich ein und als ich meinen Fotoapparat auspacke, werden sie plötzlich sehr ärgerlich. Der kleine Dicke droht mir mit seinem Knüppel und dann verschwinden sie laut schimpfend in einer Seitengasse.
Ich gehe durch die Altstadt, lasse in einem Café das Handy und den Akku der Kamera aufladen, sitze faul im Schatten und mache mir ein paar Notizen. Als ich zurück zum Ruderklub gehe, dämmert es bereits, und als ich am Zelt ankomme, ist es dunkle Nacht.
AM MORGEN IST ES SCHWÜL, der Himmel ist mit dicken, weißgrauen Wolken bedeckt und Wespen schwirren summend und in schnellem Flug über das Wasser. Ein Gewitter liegt in der Luft und an der Hochwasserschutzmauer von Komárno steht auf Slowakisch, in roten, ungelenken Buchstaben, aber groß genug, dass man es auch vom rechten Ufer aus lesen kann, »Die Ungarn sind Scheißkerle!«
Am Nachmittag wird die Landschaft hügeliger, Wolken ballen sich zusammen und ein böiger Wind bläst über den Fluss. Immer dunkler wird es und hinter mir, noch weit im Westen, geht der erste Regen nieder. Es sind noch sieben Kilometer bis Štúrovo und ich paddle immer schneller. Der Regen kommt näher und als ich die große Brücke sehe, die Štúrovo am slowakischen mit Esztergom am ungarischen Ufer verbindet, ist er schon bis auf etwa einen Kilometer herangezogen. Als ich die Brücke erreiche, fallen die ersten Tropfen und ich ziehe das Boot schnell ans Ufer, binde das Seil um einen Baum und laufe hinauf zu dem Haus, wo unter einem Balkon drei Männer auf einer Terrasse sitzen.
»Ahoj!«, sage ich. »Da habe ich ja Glück gehabt. Gleich wird es ordentlich regnen!«
Einer der drei, ein etwa fünfzigjähriger, hagerer Mann, sieht mich finster an.
»Wo kommst du her?«, fragt er.
»Aus Deutschland.«
»Und warum sprichst du dann Tschechisch mit uns?«, fragt er ärgerlich in beinahe akzentfreiem Deutsch.
»Wir sind doch in der Slowakei«, sage ich, »und ich dachte, Sie würden eher Tschechisch verstehen als Deutsch.«
»Wir sind Ungarn«, sagt der Mann. »Selbstverständlich sprechen wir alle auch Slowakisch, aber wir sind Ungarn und wir sprechen lieber Deutsch als Slowakisch oder Tschechisch.« Die beiden anderen Männer nicken schweigend.
»Wo bist du losgefahren?«, fragt der Mann.
»In Regensburg, vor zweieinhalb Wochen.«
»Mit dem Ding da?«, fragt er und zeigt hinunter auf das Boot.
»Mit dem Ding da«, sage ich und nicke.
»Und was machst du, wenn du nicht gerade in dem alten Boot auf der Donau dein Leben riskierst?«, fragt er weiter und ich komme mir ein wenig vor wie in einer Prüfung, beantworte seine Fragen und warte ab, was er davon hält und wie sich das Ganze entwickeln wird.
»Dann bin ich wissenschaftlicher Mitarbeiter der Humboldt-Universität Berlin und arbeite an der Gesamtausgabe der Werke des Philosophen Friedrich Nietzsche«, sage ich.
»Aha«, sagt er, »bist du deswegen so«, er hebt den Zeigefinger an die Schläfe und dreht ihn, »so verrückt?«
Er grinst.
»Das kann schon sein«, sage ich und grinse auch. »Vielleicht ist das der Grund.«
Der Mann steht auf und zeigt hinunter zum Fluss.
»Du musst das Boot ein Stück höher den Strand hinaufziehen, hier in der schmalen Kurve gibt es viele Wellen von den großen Schiffen. Dort drüben«, und er deutet auf die Wiese neben dem Haus, »kannst du dein Zelt aufbauen und hier«, sagt er in einem Ton, der keine Widerrede duldet und zeigt auf eine Hütte aus Stahlblech, über der eine große, schwarze Tonne hängt, »hier kannst du dich waschen. Ich bin übrigens János, also Hans«, sagt er und gibt mir die Hand.
Das Gewitter ist weitergezogen, die Männer gehen und ich baue das Zelt auf, dusche und gehe danach in die Stadt.
An einem einfachen, einstöckigen Haus leuchtet eine Bierwerbung, ich gehe hinein und komme in einen dunklen, holzgetäfelten und gemütlichen Raum im Stile eines Irish Pub. Es läuft laute Rockmusik und das, denke ich, das ist ein guter Ort, meine restlichen slowakischen Kronen zu vertrinken.
Der Barkeeper ist muskulös und tätowiert, er trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo einer Heavy-Metal-Band und auf dem Kopf über den langen, blonden Locken ein schwarzes Tuch mit einem Muster aus vielen, kleinen, weißen Totenköpfchen.
Nach einer Weile stehe ich auf und gehe zur Bar.
»Ich hätte gerne noch eins«, sage ich, stelle das leer Glas auf den
Tresen und der Barkeeper sieht mich fragend an.
»Bist Du Engländer? Skandinavier? Woher kommst Du?«
»Aus Deutschland.«
»Du bist der erste Deutsche«, sagt er, »den ich kennenlerne, der
Tschechisch spricht. Dafür gebe ich dir eins aus.«
Er stellt ein volles Glas vor mich und nickt anerkennend.
»Ich selbst bin Slowake«, sagt er und legt seine mächtigen Unterarme auf den Tresen. »Und die Ungarn hier in der Stadt … Es ist nicht immer einfach. Die Ungarn sind stur und die Slowaken sind stur, aber am blödesten von allen stellen sich die Politiker an.«
Er grinst, zapft sich auch ein Bier und nimmt einen tiefen Schluck.
»Ein paar Deppen in Budapest sind auf die Idee gekommen, allen Auslandsungarn ungarische Pässe geben zu wollen«, sagt er. »Und unseren Hornochsen in Bratislava ist daraufhin nichts Besseres eingefallen als ein Gesetz zu fordern, dass Ungarisch in der südlichen Slowakei in Zukunft nur noch Zweitsprache sein dürfte. Jeder Hundefurz müsste also erst auf Slowakisch beschriftet werden, bevor sie die ungarische Variante daneben schreiben könnten.«
Er schüttelt den Kopf.
»Daraufhin haben unsere Ungarn natürlich laut zu schreien angefangen, dass sie diskriminiert werden. Und mit solchen Spielchen vertreiben wir uns hier im Grenzgebiet die Zeit, wie die kleinen Kinder«, sagt er und seufzt.
HINTER ŠTÚROVO ERHEBEN SICH Hügel und Berge und am Mittag sehe ich die Burg von Visegrád, die rechts auf einem steilen Kegelberg steht. Das Donauknie. Nun fließt der Fluss nach Süden und kurz davor zweigt rechts der Szentendre-Arm ab.
»Szentendre, alte serbische Siedlung, Künstlerkolonie, wichtiges Ausflugsziel«, schreibt der Wasserwanderführer und nennt eine Anlegemöglichkeit auf den Kiesbänken unterhalb der Stadt, warnt aber davor, »die Boote nicht unbewacht zurückzulassen.«
So ein Blödsinn, denke ich. Sollte ich mich ausgerechnet am letzten Abend neben mein Boot setzen und aufpassen, dass es nicht geklaut wird? Ich beschließe, die Warnung zu ignorieren und spaziere durch die kleine Stadt mit ihren alten Häusern und Kirchen, dem gepflasterten Marktplatz und einem grünen Anger. Szentendre ist mittelalterlich verwinkelt und ein Touristenort mit mehrsprachigen Speisekarten. Es ist auch recht teuer für ungarische Verhältnisse, aber ich setze mich trotzdem in ein Café am Markt.
Es sind noch 15 Kilometer bis Budapest und am liebsten würde ich weiterfahren, immer weiter die Donau hinunter, tagelang, wochenlang, bis ans Schwarze Meer, so sehr habe ich mich an den immer gleichen Rhythmus gewöhnt, an die immer gleichen und doch so unterschiedlichen Tage auf dem Fluss. Auch die unbequemen Nächte im Zelt auf der dünnen Isomatte stören mich nicht mehr, ich habe mich längst schon daran gewöhnt, kein Bett mehr zu haben und nur alle paar Tage eine Dusche.
Am Abend setze ich mich neben das Zelt und öffne mir eine Büchse Bier. Ich möchte mich vom Fluss verabschieden, auf dem ich drei Wochen lang zu Hause gewesen bin und der mich mit sich getragen hat über mehr als siebenhundert Kilometer, geduldig und breit.
Die Sonne versinkt hinter den Bäumen am Ufer und ich trinke und rede mit mir selbst und mit dem Fluss. Es ist mir egal, ob mich jemand hören und was er dann über mich denken könnte, denn ich bin traurig und ein bisschen betrunken, ich rede halblaut vor mich hin und sage dem Fluss, dass ich bei ihm bleiben will, dass ich wiederkommen und dass ich ihn vermissen werde, sein Rauschen und sein Murmeln, sein Fließen und sein kühles Wasser.
AM MORGEN SETZE ICH MICH in ein Café an der Uferpromenade und frühstücke. Eine ganze Weile bleibe ich so sitzen und kann mich nicht recht entschließen aufzustehen und zum letzten Mal loszufahren, bestelle mir noch einen Kaffee und noch einen, sehe über die Donau und erst gegen Mittag gehe ich hinunter zum Fluss, baue das Zelt ab und belade das Boot.
Hinter der ersten, großen Brücke am Stadtrand von Budapest verändert sich mit einem Male die Luft. Sie ist nun schwer, trüb und grau, Stadtluft, und die Silhouette der Häuser am linken Ufer versinkt in hellem Dunst.
Ruderer fahren stromaufwärts, sie ziehen angestrengt die Riemen durch und sehen konzentriert auf ihren Schlagmann. Auch rechts kommen nun die ersten Häuser in Sicht und kurz nach dem Kilometerschild 1 657 lege ich am Steg eines Ruderklubs an und setze mich an den Strand.
Nachdem ich eine Weile so gesessen habe, entlade ich das Boot, ziehe es an Land und zerlege es in seine Einzelteile. Es hat ziemlich gelitten. Zwei Spanten und eine der Sperrholzleisten sind gebrochen und wo das Verdeck schwarz und stockfleckig gewesen ist, klaffen Löcher im blauen Stoff. Eigentlich, denke ich, müsste man die gebrochenen Teile ersetzen, das Verdeck nähen und das Boot ganz neu aufbauen. Lange hätte es ohne eine Reparatur ohnehin nicht mehr durchgehalten und ich weiß nicht, ob ich es jemals wieder fahrtüchtig bekommen werde. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt noch Sinn hat, das kaputte Boot wieder mit nach Hause zu nehmen, aber ich möchte es auch nicht einfach wegwerfen und packe es in die beiden blauen Säcke, in den einen das hölzerne Gerüst, in den anderen die schwere Bootshaut. Der Schlafsack und das Zelt, die schmutzigen Sachen und alles andere kommt in den Rucksack. Nach einer Stunde bin ich fertig, setze den Rucksack auf und nehme den einen Packsack in die linke, den anderen in die rechte Hand. Ich kann kaum stehen, so schwer ist das Gepäck, und Schweiß läuft mir über die Stirn.
So schaffe ich das nie, denke ich, trage zuerst den Rucksack hundert Meter weit bis zur nächsten Kreuzung und hole dann die Säcke nach. Selbst auf diese Weise ist das Gepäck beinahe zu schwer, aber nach einer Weile gelange ich so an eine Bushaltestelle.
Bald darauf kommt ein Bus und ich steige ein. Der Fahrer schaut mit großen Augen auf das Gepäck und als ich einen Fahrschein bei ihm kaufen möchte, winkt er lachend ab und deutet auf einen der Sitze.
An einer großen Kreuzung dreht er sich um.
»Bahnhof?«, fragt er auf Deutsch.
»Ja«, sage ich und nicke.
»Nyugati«, sagt er, »Straßenbahn, Linie 6«, und deutet auf eine Haltestelle.
Ich steige aus und warte auf die Bahn.
Als sie kommt und sich die Türen öffnen, werfe ich das Gepäck hinein. Der Rucksack landet neben den Packsäcken und die Tür schließt sich. Die Bahn fährt los und ich stehe schreiend und gestikulierend neben dem Gleis. Sie hält wieder an und die Türen öffnen sich erneut, ich springe hinein und lasse mich auf einen Sitz fallen.
Am Bahnhof steige ich aus und schleppe die Säcke zum Schalter, stehe eine Weile an und dann druckt mir die Frau hinter dem Tresen die Verbindung aus. Der ICE über Wien, München und Nürnberg kostet 42 500 Forint. Das sind hundertachtzig Euro, aber ich habe nur noch hundert Euro und eine Hand voll Forint einstecken und das Konto ist leer.
»Und über Bratislava, Prag und Dresden?«, frage ich sie.
»Keleti«, sagt die Frau und zuckt die Achseln.
Ich fahre zum Bahnhof Keleti.
Schwitzend und keuchend stehe ich am Schalter und lasse mir die nächste Verbindung ausdrucken. Der EC über die Slowakei und Tschechien kostet 23 500 Forint.
»Kann ich in Euro bezahlen?«, frage ich.
Die Frau schüttelt den Kopf und deutet auf eine Wechselstube in der großen Bahnhofshalle. Dort zeige ich meinen Schein und der Mann tippt Zahlen in einen Taschenrechner und hält ihn mir dann entgegen. Auf dem Display steht 22 500.
Ich schüttle den Kopf, lasse mein Gepäck in einer Ecke stehen und gehe vor die Tür. Gegenüber dem Bahnhof ist eine Bank und ich gehe hinein, zeige meinen Schein und der Mann tippt Zahlen in einen Taschenrechner und hält ihn mir dann entgegen. Auf dem Display steht 23 500.
Ich nicke zufrieden und gebe ihm den Schein, nehme das Geld entgegen und gehe zurück in den Bahnhof, kaufe mir eine Fahrkarte und eine Flasche Wasser, sitze ein paar Stunden auf einer Bank vor den Gleisen und sehe den Reisenden zu. Züge fahren ein und Menschen hasten über den Bahnsteig, sie kommen und gehen, steigen ein und aus, werden begrüßt und verabschiedet.
Am Abend kommt der Zug und ich bin so erschöpft, dass ich schnell einschlafe auf meinem Sitz und nur ab und an erwache, kurz aus dem Fenster sehe und die Augen wieder schließe.
Am frühen Morgen steige ich in Prag um, zwei Stunden darauf noch einmal in Dresden und in Leipzig steige ich in die Straßenbahn. Eine Viertelstunde später bin ich zu Hause, lasse mich in den Sessel fallen und sehe die Post durch.
Rechnungen, Werbezettel und Zeitungen, und ich habe den Eindruck, dass mich all das irgendwie noch gar nichts angeht.