Читать книгу Elbenfürstin - Daniela Zörner - Страница 4

Prolog

Оглавление

Ungefähr 44 Jahre zuvor

Wenn nur diese quälenden Albträume endlich aufhörten. Dafür würde sie alles tun, hatte das verzweifelte Mädchen der alten Dorfhexe versichert und ihr zugleich einen hohen Lohn versprochen. Allein bei Erfolg natürlich, weshalb die Alte eine dreist geringe Anzahlung von Irma bekommen hatte. Das daumenbreite Schinkenstück, geklaut aus dem Vorratskeller des Bauernhauses, würde niemand vermissen. Die Kräuterhexe nahm es mit kehligem Knurren entgegen, was Irma, wie sie sich höchst ungern erinnerte, vor vier Tagen einen kräftigen Schauder über den Rücken jagte. Mit auflodernder Wut dachte sie an ihren Besuch bei der unheimlichen Alten. Irma war nicht umhin gekommen, dort sämtliche Einzelheiten ihrer Albträume zu schildern, bis ungewollt schwächliche Tränen flossen. Die schmeichelnden Gesänge der Göttinnen, ihre Einflüsterungen und verrückten Anweisungen waren nur der harmlose Auftakt gewesen. Denn das Mädchen verweigerte ihnen stur den eingeforderten Gehorsam. Bald schon rächten sich die Göttinnen. Ausnahmslos jede Nacht malträtierten Irma apokalyptische Albträume, bis sie glaubte, dem Wahnsinn zu verfallen.

Nie mehr, schwor sich die 19-Jährige nun, nie mehr würde sie sich solch eine Blöße geben. „Irma wird es euch allen zeigen“, murmelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Entschlossen schlug sie die kratzige Bettdecke zurück und schwang ihre Füße auf die groben Dielen. Leise öffnete sie die Schublade des wackeligen Nachttischs. Hinter der verhassten Bibel lag sicher versteckt das zusammengeknotete Taschentuch von der Hexe. Was genau es enthielt, war Irma egal, solange das Zeug seine Wirkung tat. Rasch streifte sie sich die zerschlissene Strickjacke über ihr hässliches lindgrünes Nachthemd, stopfte das Taschentuch in die Jackentasche und griff zuletzt nach den Holzschuhen. Dann lauschte das Mädchen regungslos. Dabei rief es sich sämtliche besonders laut knarrenden Dielen auf dem Weg von der Dachkammer bis zur Küche im Erdgeschoss ins Gedächtnis. Angespannt drückte Irma die Türklinke hinunter. Die kleinen, dreckigen Fensterscheiben des stockdunklen Bauernhauses ließen wenig Licht hinein, obwohl der Vollmond an einem wolkenlosen Nachthimmel leuchtete. „Wie bestellt“, dachte sie zufrieden. Das uralte Fachwerkhaus, von ihr insgeheim als „Miststall“ beschimpft, knackte und knarzte mit jedem Luftzug leise vor sich hin.

Nach einer atemlosen Ewigkeit schlich das Mädchen durch die Küchentür zu dem verriegelten Hintereingang. Es beglückwünschte sich zu seiner Klugheit, als der frisch geölte Türriegel ebenso geräuschlos aufglitt wie die gefetteten Türangeln. Draußen schlüpfte Irma in die Holzschuhe und betrat den verwüsteten Küchengarten. Am Vortag hatten die Schweine das nachlässig angelehnte Gartentor genutzt, um sämtliche Gemüsebeete umzupflügen. Das würde ihr Vorhaben, den Lohn für die Kräuterhexe zusammen zu stehlen, nicht eben leichter machen. „Soll die Hexe am Schinken ersticken!“ Doch nach einer Denksekunde hakte Irma den Punkt kalt berechnend ab. Solange sie niemand erwischte, würde der Bauer seinen Knecht verdächtigen. Dass der Knecht zugleich ihr Vater war, scherte sie nicht weiter.

Am hinteren Gartentor schlug sie den sommerlich staubigen Pfad zu einem Birkenhain ein, der hinter der Kuhweide lag. Unablässig beleidigte kloakiger Gestank nach Schweinekot und Kuhfladen ihre Nase. Bald, sehr bald sollte ihr elendes Dasein der Vergangenheit angehören. In wenigen Monaten, mit abgeschlossener Lehre, wollte Irma dem miesen Kuhdorf endgültig den Rücken kehren. Sie kannte nur ein Ziel: ein richtiges Leben in der Stadt beginnen.

So plötzlich sauste der Schatten haarscharf an ihrem Kopf vorbei, dass sie beinahe laut aufgeschrien hätte. „Ruhig, Irmaschatz, bloß eine eklige Fledermaus.“ Um ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen, erinnerte sie sich ihrer wichtigsten Siege: „Gegen alle Widerstände habe ich mir den Besuch der Realschule erkämpft. Gegen meine Rivalin habe ich die Lehrstelle als Apothekengehilfin im Nachbardorf erobert.“ Bei der Erinnerung an das Wie huschte ihr ein verächtliches Grinsen übers Gesicht. Ebenso hartnäckig würde sie gleich ihre Albträume beseitigen. Energischen Schrittes stapfte sie auf dem Pfad weiter.

Der Birkenhain begrüßte das Mädchen mit seinen sanft raschelnden Blättern und den melodischen Unkenrufen des nahen Teiches, ihrem Ziel. Ein letztes Mal rief es sich die Anweisungen der alten Kräuterhexe in Erinnerung: Geh bei Vollmond zum Froschtümpel. Öffne dort das Tuch und zieh die Nadel heraus. Lass einen Tropfen deines Blutes auf die weiße Wurzel fallen. Dann knote das Tuch wieder fest zusammen und knete es kräftig durch. Gib acht! Kein noch so kleiner Krümel darf herausfallen. Nun wirf das Tuch in den Tümpel. Sobald die Unken erneut rufen, sprich laut und deutlich deinen Willen in das Spiegelbild des Mondes.

Penibel, wie Irma es aus der Apotheke gewohnt war, befolgte sie jetzt Schritt für Schritt. Kurz darauf versank das Taschentuch langsam in der grützegrünen Brühe. „Wieso rufen die dämlichen Unken nicht?“ Unwillig erstarrte Irma zur Salzsäule, damit die glibberigen Viecher ihre Anwesenheit vergaßen. Gegen die sanfte Stille am Tümpel drängte ihr Seelenleid umso heftiger, sich endlich Gehör zu verschaffen, bemächtigte sich mit der Gewalt eines Orkans ihrer Sinne. Mit dem ersten Unkenruf brach albtraumhafter Wahnsinn als explosive Wucht eines Urschreis heraus: „Es gibt keine Göttinnen!“

Mit eingefrorenem Lächeln für gardinenverborgene Augen schob Irma den Kinderwagen entlang der schlammigen Dorfstraße. Sie kochte innerlich bis kurz vor dem Bersten. Heute war der Tag, dem allein sie entgegengefiebert und der ihre Geduld auf die härteste Probe ihres Lebens gestellt hatte. 21 Jahre alt, endlich volljährig. Doch statt des herbei gesehnten Lebens in der Stadt mit schicken Kleidern, Tanz und Theater und eigener Wohnung und… Sie unterdrückte die stetig lockenden Bilder heimlicher Tagträume, indem sie sich kräftig auf die Unterlippe biss. Seit dieser verhängnisvollen Vollmondnacht, in der sie die Göttinnen verleugnete, wandte sich das Schicksal gnadenlos gegen Irma. „Verfluchte Götter!“, stieß die junge Frau unbeherrscht aus, zuckte zusammen und blickte sich schnell um. Verkniffen lächelnd nickte sie der stocktauben Greisin vom Nachbarhof zu.

Verbissen schob die junge Frau weiter durch den Dreck, der sich inzwischen knirschend bis unter ihre nackten Füße in den Holzschuhen vorgearbeitet hatte. Irma zweifelte keine Sekunde daran, dass irgendwelchen Göttern alle Schuld an ihrem verpfuschten Dasein zukam. Erst die ungewollte Schwangerschaft, mit der ihre apokalyptischen Albträume zurückgekehrt waren. Die verfluchte Kräuterhexe hatte jede Hilfe verweigert, welchen Lohn Irma ihr auch dafür anbot. Danach die erzwungene Heirat und der Umzug in eine andere Dachkammer, genauso schäbig wie ihre alte Behausung, aber noch enger mit dem Ehebett darin. Schließlich hatte sich ihr Ehegatte als ebenso stur wie ihrem tumben Vater hörig entpuppt. Nur deshalb saß sie noch immer in diesem Dreckloch fest. Sicher, Irma war damals von der Hexe vor den Göttinnen gewarnt worden. „Niemand fürchtet etwas, an das er nicht glauben will“, flüsterte sie trotzig. „Aber ich werde mich euch niemals geschlagen geben, ihr werdet schon sehen!“

Das Baby wimmerte. „Sei still“, zischte Irma es an. Ungeduldig schlug sie den Waldweg hinter dem letzten Gehöft ein. Der Kinderwagen holperte jetzt über dicke Baumwurzeln und schlingerte durch tiefe Pfützen. Nun schrie das Baby seinen Protest darüber hinaus. Die junge Frau sah sich wachsam um, zog ihrer Tochter die vollgesabberte Decke über den Kopf und lenkte dann den Wagen nach schräg rechts. Dort zweigte der kaum erkennbare Pfad zur Hütte der Dorfhexe ab.

„Du weißt, was ich will“, fiel Irma mit der Tür ins abbruchreife Haus. „Also, was verlangst du dafür?“ „Der Preis, die mächtigen Dämonen herauszufordern, ist hoch“, murmelte die Alte, „ein lebendes, einjähriges Schwein.“ Die junge Frau riss über den absurd hohen Lohn die Augen auf. Wo sollte sie ein Schwein hernehmen? Doch dann fing sie sich. „Du wirst es bekommen.“ Die Kräuterhexe nickte. „Der Vollmond erscheint in elf Tagen. Ich erwarte dich eine Stunde vor Mitternacht.“

Stechender Schmerz, als die Hexe ohne Vorwarnung ihren Unterarm aufschlitzte, war nur der harmlose Anfang. Beim Anblick ihres eigenen, sprudelnden Blutes, welches rasch eine goldglänzende Schale füllte, überkam Irma heftiges Würgen. „Bist du so schwach?“, fragte die Alte tonlos, ohne den Kopf zu heben. Wortlos schüttelte die junge Frau ihren Kopf, während sie mit hartem Schlucken gegen die Übelkeit ankämpfte. Kalter Schweiß durchnässte ihr Unterkleid, obwohl sie jetzt nichts weiter am Leib trug. Das barbarisch glühende Feuer in der Mitte des festgestampften Erdbodens war für die winzige Behausung viel zu heiß. Die Alte gab eine schwarze Flüssigkeit an Irmas Blut, die es aufzischen ließ. Langsam schwenkte sie die Schale in ihren gefalteten, knorrigen Händen und stimmte dazu einen kehligen Gesang an, aus dem für die junge Frau keine verständlichen Worte hervorgingen.

Bald lief Irma der Schweiß über den gesamten Körper, brannte in der frischen Armwunde und brachte das geronnene Blut bis in die Handfläche hinunter zum Leuchten. Sie wollte es am Unterkleid abwischen. „Steh still, störe mich nicht“, raunte die Hexe. Suchend schaute sich Irma nach einer Ablenkung um. An den verrußten Deckenbalken schaukelten getrocknete Kräuterbüschel, zwischen denen Schatten wild tanzten. Doch die Feuerstelle zog Irmas brennende Augen mit Macht an und zwang sie unbarmherzig, in die Glut zu blicken.

Irgendwann beruhigte der neuerlich einsetzende Gesang ihre flatternden Nerven, bis er die junge Frau allmählich hypnotisierte. Und als die Alte eine Schale an ihre Lippen hielt, trank Irma gierig – ihr eigenes, verfluchtes Blut. Wie schwarz gebrannter Fusel ätzte sich die Flüssigkeit einen Weg hinein in ihren Körper. Sie glaubte zu verbrennen, wollte schreien. Wild gierende Flammen tanzten vor ihrem inneren Auge. Und da war noch etwas. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie etwas abgrundtief Böses zu sehen, glaubte zu spüren, wie es Besitz von ihrem nun gefügigen Geist ergriff. Doch anstatt der grauenerregenden Wahrheit gegenüber zu treten, sank Irma feige in Ohnmacht. Die Kräuterhexe goss etwas Öl in das Feuer und verließ die Hütte.

Im Schutz des wolkenverhangenen Abends schlich Irma abermals in weitem Bogen um das Dorf herum zur Hütte der Dorfhexe. Dort endlich angekommen, zog sie das penibel geschärfte Küchenmesser aus ihrem Beutel. Vorsichtig schob sie die altersschwache Brettertür auf. Innen gaben glimmende Torfstücke nur wenig tiefroten Schein ab. Schaudernd wandte die junge Frau schnell den Blick fort von der Feuerstelle auf das Lager der Hexe. Rasch trat sie näher und hielt ihr das Messer an die Kehle. „Was willst du, Verfluchte?“, murmelte die Alte. „Deine Rezepte. Ich weiß, dass du sie aufgeschrieben hast. Los, gib mir das Buch.“

Im Rausch boshaften Triumphs kehrte Irma zum letzten Mal nach Hause zurück.

Die abgewetzte Schultasche reichte vollkommen aus für die wenigen Dinge, die Irma mitzunehmen gedachte. Seelenruhig ging sie nochmals ihre dürftigen Habseligkeiten durch. Jürgen, ihr Ehegatte, ließ sich wie meist am Samstagabend in der Gaststätte des Nachbardorfs volllaufen. „Wertloser Tand.“ Sie schmiss den angelaufenen Schmuck, den angeblich schon ihre Großmutter getragen hatte, zurück in die Schublade mit den teils vergilbten Familienfotos. Schnell goss sie sich aus dem Wasserkrug noch ein halbes Glas ein. Wohl wissend, das in ihr zehrende Feuer würde sich dadurch nicht besänftigen lassen. „Mit diesem Preis für traumlose Nächte werde ich mich auch bald arrangieren“, dachte sie zwischen zwei Schlucken. Zuletzt zog Irma ihr bestes Kleid, den einzigen Mantel und ihre Hochzeitsschuhe an. Dick aufgetragener Lippenstift verlieh ihr verführerisch blutrote Lippen. Die würde die junge Frau brauchen, damit in der gottverlassenen Gegend ein Auto anhielt, um sie endlich aus dem Rattennest fort in die weit entfernte Stadt zu bringen. Ohne ihrem schlafenden Kind in der Wiege einen letzten Blick zu schenken, griff Irma nach der Tasche und verließ das Bauernhaus.

Erst in der Morgendämmerung, von herzzerreißendem Babygeschrei aus dem Schlaf gerissen, begriff Jürgen schlagartig, dass Irma ihn verlassen hat. Er musste nicht lange überlegen. Hier und jetzt bot sich die einmalige Chance, sein mieses Lebensblatt zu wenden. „Genug gebüßt für eine einzige, sündhafte Nacht.“ Die Wiege mitsamt seiner brüllenden Tochter auf den Armen stemmend, polterte er durch das Haus hinaus auf die Straße.

Eine Minute später stürmte der junge Mann in die Küche seiner Nachbarn und rief dem alten Knecht am Küchentisch zu: „Hier hast du die Hinterlassenschaft deiner missratenen Tochter!“ Dann stürmte Jürgen zurück, packte seinen Rucksack, marschierte kurz darauf munter pfeifend aus dem Dorf und verschwand für immer.

Endlose Minuten starrte der Knecht völlig verdattert abwechselnd zu seiner schreienden Enkelin und der Bäuerin am Herd. Plötzlich erschien in der offen gelassenen Hintertür die Kräuterhexe. „Dieses Kind gehört den Göttinnen. Und du wirst es aufziehen.“ Irmas Vater schnappte nach Luft. Doch bevor er seine Sprache wiederfand, setzte die Alte mit drohendem Unterton nach: „Tu, was ich dir sage, sonst sind wir alle verflucht.“ Damit drehte sie sich schwerfällig um und humpelte davon. Die Bäuerin bekreuzigte sich schnell, bevor sie eilfertig Milch für das Kind aufsetzte.

Sieben Jahre später kam ein Mädchen fröhlich singend von der Schule heim, hüpfte mit fliegenden Zöpfen durch den Küchengarten und rief: „Opa, Opa, ich habe den ersten Schmetterling gesehen!“ Der Bäuerin, die wartend am Küchentisch hockte, zog sich das Herz zusammen. „Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt“, schmetterte die Kleine und öffnete die Hintertür. „Hast du Opa gesehen?“ Erst als sie keine Antwort erhielt, schaute sie der betagten Bäuerin verdutzt ins Gesicht. Der Anblick von geröteten Augen und gequältem Gesichtsausdruck verwirrten das Kind. Langsam trat Irmas kleine Tochter näher. „Hast du geweint?“ Noch immer stumm, zog die Bäuerin sie auf den Schoß und umschloss den schmächtigen Körper fest mit ihren starken Armen. In der unheilvollen Stille nur mehr flüsternd fragte das Mädchen: „Wo ist Opa?“ „Liebes, dein Opa ist tot.“ Die Kleine begriff nicht. Und erst recht nicht das, was die Bäuerin als Nächstes mit tiefem Seufzen hervorbrachte: „Wir müssen deine Mutter suchen.“

Schleppenden Schrittes betrat das blasse Mädchen einen kurzen Plattenweg zwischen sommerlich verbrannten Rasenflächen. Ohne an der Hausfassade aus grauem Waschbeton hochzuschauen, drückte es schließlich widerwillig auf den Klingelknopf.

„Hast du wieder herumgetrödelt? Die Schule ist seit einer halben Stunde aus.“ „Die Lehrerin…“ „Ich will keine Ausreden hören, Kind.“ Niemals nannte Irma ihre Tochter beim Namen, sondern bestenfalls „Kind“, was bei ihr genauso klang wie „lästiges Ding“.

Mit gesenktem Blick, weil sich ihre Mutter das Sprechen während der Mahlzeiten verbat, würgte die Neunjährige hastig ein paar Löffel von dem schleimigen Milchreis herunter.

„Zuerst räumst du die Küche auf, danach erledigst du deine Hausaufgaben. Vergiss nicht wieder, den Abendbrottisch zu decken.“ Halb im Mantel drehte Irma sich nochmals für die täglich wiederholte Anweisung um: „Und sei leise.“ Dann schloss sie von außen die Wohnungstür ab und eilte zurück an ihren Arbeitsplatz in der nahen Apotheke.

Das Mädchen stieß mit leisem Seufzer die angehaltene Luft aus. Heute hatte ihre Lehrerin die wunderschöne Geschichte von einem kleinen Mädchen und seinem Schutzengel vorgelesen. „Warum habe ich keinen Schutzengel?“, fragte sie sich flüsternd. Dann hätte die Mutter sie vor einer Ewigkeit nicht ohne ihr geliebtes Spielzeug aus dem Bauernhaus gezerrt. Dann dürfte sie draußen spielen, so wie andere Kinder. Und ihre Zöpfe. Es gruselte die Kleine noch immer bei der Erinnerung. Gleich am ersten Morgen in dem neuen, fremden Zuhause war die fremde Frau mit einer riesigen Schere angekommen. Streng hatte sie gesagt: „Du glaubst doch nicht im Ernst, ich würde dir morgens Zöpfe flechten?“ Den neunten Geburtstag vor wenigen Tagen hatte ihre Mutter wohl vergessen. Und als sie zaghaft ein erstes Mal darum gebeten hatte, eine Klassenkameradin einladen zu dürfen, offenbarte Irma ihre unnachgiebige Herzlosigkeit. „Fremde Kinder kommen mir niemals in die Wohnung. Hast du verstanden?“

Aber einen Schatz besaß das Kind dennoch. Es öffnete seinen Tornister und zog vorsichtig das frisch entliehene Buch aus der Schulbücherei hervor. Niemals verpasste es die zwei Ausleihtage in jeder Woche, um immerfort staunend die vollen Bücherregale zu durchstöbern. So schwer es der Kleinen fiel, sich für nur ein Buch zu entscheiden, so schwer war es, das gelesene Buch wieder her zu geben. Manchmal träumte sie, in ihrem leeren Zimmer stände ein großes Regal mit ganz vielen Büchern, die noch niemand vor ihr gelesen hatte.

Das nennst du Schönschrift?“ Gnadenlos riss Irma eine Seite aus dem Schulheft, kaum dass ihr Mantel an der Garderobe hing. „Du darfst erst essen, wenn das ordentlich erledigt ist.“ Ihre Tochter wischte sich verstohlen über die tränenfeuchten Augen. „Heul nicht! Es ist zu deinem Besten.“ Damit ging sie ins Wohnzimmer und schaltete dort den Fernseher ein. Allabendlich fieberte Irma ungeduldig der Zeit entgegen, da das Kind endlich schlafen würde. Dann begannen ihre aufregenden Nachtstunden in der Küche. Über Jahre hinweg hatte sie sich in den dunklen Kreisen dieser Stadt einen guten Ruf als Giftmischerin aufgebaut. Das zerfledderte Rezeptbüchlein der Kräuterhexe war buchstäblich Gold wert – oder den Tod, wie man es betrachtete. Irma genoss es, Herrin über den Tod zu sein. Jedes neu gefertigte Elixier betrachtete sie geradezu ekstatisch. Natürlich wäre es ihr ein Leichtes gewesen, so auch das lästige Kind zu beseitigen. Allein die unbesiegbare Angst vor den rachsüchtigen Göttinnen hielt sie zurück.

Ihre Tochter aß allein eine Scheibe trockenes Brot. Der Früchtetee fehlte mal wieder. „Bist du noch nicht fertig? Putz dir die Zähne, aber ein bisschen fix“, rief Irma wütend um die Ecke. Gehetzt räumte das Mädchen den Tisch ab, wienerte ihn blank und verschwand aus den Gedanken seiner Mutter.

Schließlich schlich es auf Zehenspitzen in sein Zimmer, kroch unter die Bettdecke und flüsterte aus tiefstem Herzen: „Bitte, lieber Opa im Himmel, schick mir einen Schutzengel.“

Reglos wie eine Statue, unsichtbar für das menschliche Auge, verharrte die Elbe Elin an ihrem gewohnten Platz neben dem Fenster. Nacht für Nacht wachte sie mit endloser Geduld über dieses spindeldürre, einsame Menschenkind.

Elbenfürstin

Подняться наверх